Die Regeln der Gewalt - Peter Schmidt - E-Book

Die Regeln der Gewalt E-Book

Peter Schmidt

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Beschreibung

"Die Situation ist für die Mitglieder der deutschen Terroristengruppe "Kobra" verzweifelt. Durch den Fahndungscomputer des BKA in Wiesbaden gelingen der Polizei immer neue Erfolge. Das Netz wird immer dichter, es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis die Mitglieder erschossen werden oder im Zuchthaus sitzen. Fürs Überleben gibt es nur eine Möglichkeit: den Computer zu zerstören, um den Ermittlungen einen entscheidenden Schlag zu versetzen. Und das scheint unmöglich. Denn der Datenspeicher lässt sich nicht einfach sprengen, weil er 80 Meter tief in der Erde steckt und von einem Betonmantel umgeben ist. Nur durch magnetische Manipulation und entsprechende Code-Eingaben lassen sich die Daten löschen. Doch die Terroristen haben einen französischen Computerspezialisten aufgetrieben, der das Unmögliche für eine halbe Million vollbringen will. Aber in Wirklichkeit ist der Preis viel höher, und er ist auch nicht mit Geld zu bezahlen …" (Aus: krimicouch.de) –– "'Von einem gewissen Zeitpunkt an fühlt man sich nur noch als Chirurg, der ein Geschwür aufschneidet', heißt es an einer Stelle. Die damalige Sympathisantenszene, die bedrückende Paranoia der Terroristen, die mit brutalen Gewaltexzessen sediert wird – all das zeigt Schmidt in seinem spannenden Roman als ausweglosen Entwicklungsprozess konfuser Aktionisten, ohne dabei auf simple küchenpsychologische Erklärungsmuster zurückzugreifen." (Aus: Titel Magazin, Peter Münder: "Konfuse Kobra")

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Peter Schmidt

Die Regeln der Gewalt

Thriller

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

ZUM BUCH

PRESSESTIMMEN

Die Hauptpersonen

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WEITERE TITEL

Impressum neobooks

ZUM BUCH

Terrorismus in der Bundesrepublik: Die "Gruppe Kobra" zerstört den Zentralrechner des BKA, um ihre größten Schlag zu landen – doch das Ergebnis bestimmen immer die "Regeln der Gewalt" ...

"’Von einem gewissen Zeitpunkt an fühlt man sich nur noch als Chirurg, der ein Geschwür aufschneidet’, heißt es an einer Stelle. Die damalige Sympathisantenszene, die bedrückende Paranoia der Terroristen, die mit brutalen Gewaltexzessen sediert wird – all das zeigt Schmidt in seinem spannenden Roman als ausweglosen Entwicklungsprozess konfuser Aktionisten, ohne dabei auf simple küchenpsychologische Erklärungsmuster zurückzugreifen."

(Titel Magazin, Peter Münder: „Konfuse Kobra“)

PRESSESTIMMEN

http://autor-peter-schmidt-pressestimmen.blogspot.de/

„Auffallend an Schmidts dramaturgisch raffinierten Agenten-Storys sind – neben der Detailtreue – die skeptische Weltanschauung und eine geradezu undeutsch klare kühle Prosa.“

(stern)

„In den vergangenen dreißig Jahren schrieb Peter Schmidt neben Komödien und Science-Fiction-Geschichten vor allem Polit-Thriller, die internationales Niveau erreichten und für die er dreimal den Deutschen Krimipreis erhielt. Jochen Schmidt nennt Peter Schmidts Debütroman ‚Mehnerts Fall’ (1981) ‚das wichtigste Debüt im deutschen Krimi seit dem Erscheinen von Richard Heys Erstling 1973“ (Jochen Schmidt: Gangster, Opfer, Detektive, 1989/2009 [Tipp: Erstausgabe antiquarisch suchen]).

Rudi Kost und Thomas Klingenmaier sagten in ihrem 1995 erschienenem Autoren-ABC ‚Steckbriefe’ (antiquarische Suche lohnt sich): ‚Peter Schmidt hat hierzulande den Polit-Thriller salonfähig gemacht und ohne sonderliche Mühe einen Standard erreicht, der internationalen Vergleichen standhalten kann.’

Seine Geschichten aus der Welt der Geheimdienste sollte man sich heute, mit dem NSU-Desaster der Sicherheitsbehörden im Hinterkopf, noch einmal durchlesen.“

(Axel Bussmer „Kriminalakte“ – „Im Verhörzimmer“)

Die Hauptpersonen

Ralf Werders – mag keinen Schmutz und verlässt sich auf seinen Instinkt

Angelika Zeitler – ist der Kopf der Gruppe «Kobra» und hält alle Fäden in der Hand

Richard Fall – lässt sich zu leicht von seinem Übermut verleiten

Paul Walter, Vera Coprian – möchten in die Gruppe aufgenommen werden – aus verschiedenen Gründen

Vodreux – ist Spezialist und schlägt daraus Kapital

Sommer, Lummer – gehören zur Fahndungsgruppe Arm, die offiziell gar nicht existieren dürfte

1

Werders sah zur Wohnung im Hochhaus hinauf. Der Vorhang hinter der Balkontür war zugezogen und jemand hatte die Jalousien der Fenster heruntergelassen.

Immer vergessen sie die Jalousien, dachte er ärgerlich, es fällt auf, wenn hohe Mieten im Voraus bezahlt werden, ohne dass jemand dort wohnt.

Sein Blick glitt an den Fensterreihen entlang bis zur Dachkante und weiter in das hoch aufgetürmte Gewölk; es schien zu stehen, seine Färbung war bläulich, als werde es angestrahlt, oder wie vor einem Gewitter. Eine unangenehme Jahreszeit. Er hasste Schwüle und Gewitter, weil sie ihn nervös machten.

Sein Blick fuhr zurück, über die spiegelnden Fensterscheiben …

Sie bevorzugten Wohnungen, die dicht an einer Schnellstraße oder Autobahn lagen, möglichst mit der Tiefgaragenausfahrt direkt zum Zubringer (aber das war ein seltener Idealfall), und deshalb hatten sie diese hier gewählt – obwohl sie im Stadtzentrum lag und das nächste Polizeirevier nur 500 Meter entfernt war.

Er musterte die Scheibe der Balkontür in der gelben Hauswand über einer Leuchtreklame für Das weißeste Waschmittel seit der Weberei (wie eh und je ging es in diesem Land mehr um die Weiße der Hemden als um ein reines Gewissen). Es schien, als habe sich der Vorhang bewegt.

Nach dem Zeitplan war das nicht möglich. Er hatte die Zeiten im Kopf. Seit den Erfolgen Arms waren sie dazu übergegangen, auch das kleinste Stück Papier zu vernichten.

Arm … dachte er zähneknirschend, eine Fahndungsgruppe, die offiziell gar nicht existierte, weil sie außerhalb der Legalität arbeitete. Anders konnten sie ihnen nicht beikommen … nicht dem harten Kern.

Angelika plädierte noch immer dafür, Sommer, den Kopf der Gruppe, sofort zu liquidieren. Es war riskant, weil man ihn scharf bewachte – aber was war jetzt nicht mehr riskant? –, und er würde wohl doch einwilligen. Der Beschluss brauchte eine Zwei-Drittel-Mehrheit.

Richard neigte im Zweifelsfall immer zur Gewalt, auch wenn es riskant war, und Charlotte und Lena waren in Frankreich untergetaucht: sie würden erst nach der vereinbarten Kontaktaufnahme in Frankfurt wieder stimmberechtigt sein.

Eine echte Zwei-Drittel-Mehrheit betrug seit Birkes Tod 3,33 Personen, dachte er amüsiert. Es entsprach ziemlich genau seiner eigenen Auffassung – seiner Nase, seinem «Gespür»: zu 33 Prozent dafür und 00 Prozent Unsicherheit. Doch das sollte niemanden über seine Entschlossenheit hinwegtäuschen wenn es darauf ankam.

Werders blickte wieder an der Fassade des Hochhauses hinauf. Dann betrat er das Café neben der Bankfiliale. Er setzte sich in die Nähe des Fensters. Aber nicht an einen Fensterplatz.

Es genügte, die Balkontür im Auge zu behalten.

Er zahlte seinen Kaffee gleich. Es war sauberes Geld. Sie achteten jetzt sorgfältiger darauf als noch vor einigen Monaten.

Der Verschluss der Leinentasche neben ihm war geöffnet … er hatte es oft geübt: seine Hand fuhr mit schlafwandlerischer Sicherheit über den Griff des Browning-FN. Neun Millimeter, genau das richtige Kaliber, um Sommer vom Stuhl hinter seinem Schreibtisch zu reißen.

Werders hatte ihn nur einmal gesehen, bei einer Pressekonferenz, wo er sich harmlos im Hintergrund hielt. (Er hatte wie unbeteiligt auf einem der Klappsitze am Saalende gesessen, ein beleibter, untersetzter Mann mit dem Gesicht eines Buchhalters.)

Es war nichts … blinder Alarm! Die Regel schrieb vor, in Verdachtsfällen mindestens zwei Stunden zu warten. Das zermürbte auch den hartnäckigsten Beschatter. Wenn aber doch Sommers Leute oder das BKA dort oben waren, würden sie sich in Geduld üben müssen. Geduld war genau das, was sie nicht hatten.

Denn Geduld bedeutete Zeit. Und der Druck der Öffentlichkeit wurde stärker. Ihr sogenannter Druck. Was man ihr in der Tagespresse in den Mund legte. Sie glaubte, was sie glauben sollte. Man hielt sie dumm. Gegen eine Maschinerie, die alles dumm hielt, würde man nur mit Gegendruck ankommen können.

Es war das ehernste, das erste Gesetz, und es blieb gültig, solange noch etwas zu gewinnen war.

Werders zündete sich genüsslich einen Zigarillo an und bestellte Kakao.

Auf den Fahndungsplakaten wurde er als Pfeifenraucher geführt. Sie waren so naiv zu glauben, dass jemand, der einmal Pfeife geraucht hätte, nicht so leicht davon ablassen könnte. Aber es bedeutete ihm nichts. Er rauchte ebenso gut Zigarillos oder gar nicht.

Eine junge Frau betrat das Café. Sie setzte sich an den Tisch gegenüber. Sie zögerte einen Moment lang, welchen Platz sie einnehmen sollte. Als überlege sie noch, welche Schussrichtung die günstigere sein würde, wenn man es vermeiden wollte, die übrigen Besucher des Cafés zu gefährden, dachte er (es war beinahe unmöglich, in ihrer Situation nicht solche Gedanken zu haben).

Sie legte die Handtasche rechts neben sich, genau wie er. Ihr Gesicht, soweit man es unter der dunklen Brille erkennen konnte, schien ungeschminkt. Sie trug einen dünnen, schwarzen Stoffmantel – dessen rechte Seitentasche ausgebeult war.

Werders strich sich über die Stirn. Automatisch schob seine Hand sich in den Taschenspalt und blieb auf dem Metall des Abzugs liegen.

Dann stand er langsam auf. Gewöhnlich war das ein Risiko. Doch die Kellnerin bediente am Nachbartisch. Und er hatte seinen Kakao noch nicht bezahlt. Das brachte sie in die Schusslinie. Er hängte sich die Leinentasche um und ließ seine Hand darin.

«Ihr Kakao …», sagte die Kellnerin und stellte sich ihm in den Weg.

Werders zahlte mit der anderen Hand.

Draußen vor der Tür überblickte er schnell die Straße. Das Gewitter hatte die Stadt erreicht. Regentropfen klatschten auf den Gehsteig. Eine gelbe Straßensprengmaschine fuhr an ihm vorüber, gefolgt von vier Straßenkehrern in leuchtenden Uniformen und einem Lastwagen, der den Müll einsammelte. Werders überquerte in ihrem Schutz die Fahrbahn.

Vor ihm war die Treppe der U-Bahn-Station. Nicht in die U-Bahn, dachte er! In so einem Rattenloch war Birke umgekommen. Mochte die Frau im Café harmlos gewesen sein oder nicht, es gab nie eine andere Wahl, als seinem Instinkt zu folgen, wenn man überleben wollte.

Staub, den die Regenböen vor sich hertrugen, wirbelte ihn an, als er das Gitter des U-Bahn-Schachtes umrundete und in einem Supermarkt untertauchte. Er kannte das Geschäft: es besaß einen Ausgang zur anderen Straßenseite.

Werders läutete dreimal. Es war das vereinbarte Zeichen. Dabei legte er seine Hand auf das Auge des Türspions. Für alle Fälle. «Großer Gott», sagte das Mädchen.

Ein dunkler Haarschopf über dem mageren Hals erschien im Türspalt. Es schob die Tür weiter auf, und Werders konnte in den Korridor sehen.

«Sie? – Nicht heute, ich habe Besuch …»

Ihre dünnen Beine tänzelten nervös. Sie trug eine dunkelblaue Strumpfhose, und Werders bemerkte, dass sie verknittert wirkte und dass sie unordentlich – offenbar hastig – hochgezogen worden war; mit dem Gummiband nach außen.

«Ein Kerl?», fragte er und zeigte in die Wohnung.

Sie nickte.

«Es ist der einzige Platz in der Stadt, den ich noch …»

«Tut mir leid.»

«Das könnte Ihnen Ärger einbringen.»

«Mir nicht. Ihnen!», sagte sie. «Hauen Sie bloß ab.» Dann schlug sie ihm die Tür vor der Nase zu.

Das also waren die sogenannten Sympathisanten! Das große, graue Heer der Gleichgesinnten. Wenn man sie brauchte, verdünnisierten sie sich. Es standen jetzt fünfzigtausend auf seinen Kopf. Und der Denunziant musste nicht einmal persönlich auftreten.

Ein Stellvertreter genügte, um die Provision zu kassieren, wie jedes Fahndungsplakat genüsslich mitteilte. Anonymität wurde ohnehin zugesichert. Und natürlich Strafmilderung, falls es sich um jemanden aus dem engeren Kreis handelte.

Er musste noch froh sein, wenn gleich nicht die Räder von Sommers Wagen unten vor dem Haus quietschten. Ihre einzige Versicherung waren die angedrohten Vergeltungsmaßnahmen. Deshalb achteten er und Angelika sorgfältig darauf, dass sie genauestens ausgeführt wurden. Sie ruhten nicht eher, als bis der Denunziant liquidiert worden war.

Es war eine unausweichliche Konsequenz bei diesem Spiel.

Werders ging hinunter und dann ein Stück die regennasse Straße entlang. Er fröstelte. Hotels würde er meiden müssen …

Seine Papiere waren zwar ausgezeichnet gefälscht und er trug ein halbes Dutzend verschiedener «Identitäten» mit sich herum, nach Belieben einzusetzen, aber es gehörte zu den eisernen Spielregeln, Hotels und Gasthäuser nur im äußersten Notfall aufzusuchen.

Die meisten Hoteliers hatten einen verkleinerten Abzug des Fahndungsplakats neben dem Eintragungsbuch liegen. Fünfzigtausend waren schließlich kein Pappenstiel. Wenn er morgen früh nicht mit Angelika und Richard in der Wohnung zusammentraf, bedeutete das, den Plan aufs Neue zu verschieben.

Bis dahin brauchte er ein Quartier. Es war ausgeschlossen, dass sie schon oben waren. Dann hätte das vereinbarte Zeichen im Fenster gehangen: ein leerer Bastkorb, wie er für Topfblumen gebraucht wurde. Werders betrat eine große Imbissgaststätte. Jetzt, in den Abendstunden, war sie fast leer.

Er setzte sich an einen Tisch vor der Spiegelrückwand. Der Aufgang zur nächsten Etage befand sich direkt neben seinem Stuhl. Er aß ohne Appetit ein Stück gegrilltes Schweinefleisch im Brötchen. Das Brötchen war zu weich, und die Soße über dem Fleisch schmeckte nach Einheitspampe.

Er dachte daran, dass Charlotte und Lena es sich in Paris jetzt gut gehen lassen würden, in teuren Restaurants. Nach dem Überfall auf die Bankfiliale hatten sie es sicher verdient. Man brauchte das: einmal auszuspannen und sich – wenn auch nicht völlig, so doch halbwegs – sicher zu fühlen.

Die Treibjagd gegen sie hatte ein unerträgliches Ausmaß angenommen. Er fragte sich, wie lange sie das durchhalten konnten.

Wenn sich sein Plan aufging und Charlotte in Paris den geeigneten Spezialisten anwarb, würde das Kesseltreiben bald ein Ende haben. Es würde den größten Rückschlag in der Terroristenfahndung seit dem Bestehen dieser Republik bedeuten.

Werders blickte unschlüssig über die Tische hinweg. Unangenehme Lage. Sie hatten diese Wohnung, aber es schien ihm zu gefährlich, sie zu benutzen. Er hatte immer dafür plädiert, in der Stadt noch eine Gartenlaube zu mieten.

Gartenlauben waren unverdächtiger. Niemand wunderte sich darüber, wenn sie wochen- oder monatelang nicht benutzt wurden.

Er hätte in das Waldstück gehen und den Blechbehälter mit den verschlüsselten Sympathisantenadressen ausgraben können … doch es wurde dunkel. Eine Taschenlampe besaß er nicht. Sie lag oben in der Wohnung, und die Geschäfte waren bereits geschlossen. In einer mondhellen Nacht hätte das Licht vielleicht ausgereicht. Aber das Gewitter hatte eine dichte Wolkendecke hinterlassen.

Seine Fingerspitzen tasteten in der Leinentasche nach dem Banknotenbündel.

Das Geld würde reichen. Er entschloss sich, ins Bahnhofsviertel zu gehen. Dort gab es genügend Mädchen, schöne, hässliche, alte, junge … es kam nicht weiter darauf an. Er würde bei einer die Nacht verbringen und sich dann morgens gegen elf in der Nähe der Wohnung aufhalten, um Richard und Angelika zu warnen.

Wenn Ranke, Wertmüller und Edda Frahm nicht eingesessen hätten, wären sie womöglich ganz anders vorgegangen und hätten die Wohnung gestürmt, vorausgesetzt, sie fühlten sich den BKA-Leuten überlegen – bei gesichertem Rückzug natürlich –, Ranke war darin Spezialist.

Aber die Zeiten hatten sich geändert; mittlerweile hinterließen sie Leichen in Kofferräumen, statt in Treppenhäusern oder auf Straßen, und zwei Drittel ihrer Aktivitäten beschränkten sich darauf, dem beinahe allmächtigen Fahndungscomputer in Wiesbaden Rätsel aufzugeben (in ihren Gedanken hatte er inzwischen so etwas wie den Stellenwert von Gottvater eingenommen).

Er blieb vor der Auslage eines indischen Geschäftes stehen. Ein kleines Schaufenster, vollgestopft mit Buddhas aus Messing, Steinpfeifen, Räucherstäbchen, Seidenschals, Schnitzereien und bestickten Lederwaren; an der heruntergelassenen Blechjalousie nebenan lehnte ein hellblondes Mädchen in schwarzer Lederkleidung und roter Strumpfhose; es verfolgte ihn mit spöttischem und zugleich aufforderndem Blick.

Werders war nicht besonders attraktiv. Zu hager und ausgezehrt; sein langer Hals, die dicht stehenden Augen, die er hinter einer goldgeränderten Brille versteckte, das gescheitelte, schwarze Haar hatten ihm den Spitznamen «Habicht» eingetragen. Seit einem Streifschuss am linken Bein hinkte er manchmal, wenn auch nur leicht und meist bei Wetterumschwung; die Narbe musste Nerven unter der Hautoberfläche in Mitleidenschaft gezogen haben. Manchmal benutzte er sein Hinken, um sich zu verstellen.

«He, Langer, wie wär‘s.» Sie bewegte obszön ihre Hand vor der Strumpfhose. « Komm mit, ich mach‘s zum halben Preis …»

Sie stellte sich neben ihn, als er schon weggehen wollte, weil andere Passanten aufmerksam wurden, und umfasste mit einem Arm seine Hüfte.

«Hast du ‘ne eigene Bude?»

«Wir können ins Hotel. Bude nur für die ganze Nacht.»

«Genau was ich suche», nickte er.

«Fünfhundert.»

«Sechshundert – wenn du gut bist.»

«Na hör mal», lachte sie und hängte sich an seinen Hals. «Es ist drüben, zwischen den beiden Stundenhotels, über der Einfahrt zur Autoreparatur. Lass uns vorher noch was trinken gehen, ich kenne eine hübsche Bar.»

«Meinetwegen. Aber nur kurz.»

Die Bar lag in einer engen Seitenstraße. Mülltonnen, überfüllte Container und leere Obstkisten versperrten den Gehsteig. Manche Bars sahen eher aus, als bäten sie um Almosen. Ihre blinden Scheiben waren mit rotem Samt verhängt. Das Licht einer halben Leuchtschrift glimmte kläglich in einem Rhythmus, der mehr von den oxydierten, elektrischen Kontakten als vom Zeitgeber diktiert wurde.

Zwischen den Platten des Gehsteigs war eine blau schillernde Pfütze, wie ausgeflossenes Öl. Was für ein Schmutz …

Werders verspürte körperlichen Schmerz, wenn er Unrat sah.

Sauberkeit war noch immer die sicherste Gewähr dafür, halbwegs mit dem Leben zurechtzukommen. Wenn er sich die Hände öfter als andere wusch, dann nur deswegen, weil er schon den Gedanken an klebrige oder infizierte Hände nicht ausstehen konnte.

Sein Magen drehte sich um, wenn er ungespültes Geschirr im Waschbecken sah. Jede Art von Dreck bereitete ihm physische Pein … und erst recht politischer …

Noch immer hoffte er, dass es in diesem Staat allein einen großen Besen brauchte, um reinen Tisch zu machen. Nach allen Fehlschlägen der Vergangenheit war es allerdings nur noch eine schwache Hoffnung – eine die mehr glimmte als brannte, wie die Leuchtschrift über der Bar.

In dem kleinen Raum zwischen der Tür und dem schweren, braunen Filzvorhang mit der Ledereinfassung, an dem zahllose Hände ihren Schweiß hinterlassen hatten, griff sie kurz nach seinem Hosenschlitz.

«Schon in Fahrt?»

Er nickte.

«Gut so.»

Sie zog ihn zur Theke und ließ sich auf einen Hocker plumpsen. «Wie immer», sagte sie. Und mit einem Seitenblick zu Werders: «Keine Angst, das Zeug geht auf meine Rechnung.»

Die Wirtin stellte zwei Gläser hin. Es war ein amerikanischer Likör aus Whisky und Früchten. Werders pflegte jede Art von harten Getränken in sich hineinzustürzen. Er war nicht in der Lage, Schnaps oder Likör langsam auszutrinken – er konnte dann nicht mehr damit aufhören, obwohl niemand ihn einen echten Trinker hätte nennen können. Und jetzt war ohnehin nicht die richtige Zeit dazu.

Er brauchte einen klaren Kopf. Das Licht in der Bar schien aus dem Nichts zu kommen; es hatte einen fahlen blauen Schimmer. Er suchte vergeblich nach einer Lichtquelle.

«He, wen seh’ ich denn da …?» Sie rutschte von ihrem Hocker. Schon eine Weile hatte sie in das Dämmerlicht einer séparéeartig abgeteilten Tischecke geblinzelt. «Was hältst du von ‘nem flotten Vierer, Langer? Hab da was für uns entdeckt.»

«Nicht viel, ich würde lieber …» Werders folgte ihrem Blick, als sie zum Tisch ging.

Dort saß ein ziemlich bulliger Mann in einer abgewetzten gelben Lederjacke. Sein pelziges Haar sah dicht wie das eines Affen aus, seine Handrücken waren stark behaart. Er beugte sich über den Ausschnitt eines hübschen, aber rotgesichtigen Mädchens, das anscheinend zum Inventar gehörte.

Lummer! Durchfuhr es ihn. Aus Sommers Gruppe. Offenbar hatte der andere ihn beim Eintreten nicht bemerkt, sonst hätte es eine Katastrophe gegeben.

Werders wartete einen Augeblick ab, bis die Wirtin sich zum Regal wandte, um nach einer Flasche zu greifen. Dann verschwand er sachte hinter dem Filzvorhang.

Und als er bemerkte, dass niemand seinen Rückzug entdeckt hatte, schob er leise die Tür zu und verließ so unauffällig wie möglich das Lokal.

Er ging schnell bis zum Ende der Gasse, dann im Schutz mehrerer parkender Reisebusse über den Rathausplatz.

Lummer galt schneller Schütze. Und er pflegte nicht zu warten, bis jemand ihm diesen Ruf streitig machte. Er hatte Birke auf dem Gewissen. Das Hirn über die Kachelwand neben dem Fahrkartenautomaten verteilt …

Er benutzte den gleichen Browning-FN, Kaliber neun Millimeter, wie sie. Werders ging durch eine Toreinfahrt, bog in den nächsten Hauseingang und horchte auf Schritte …

Nichts, dachte er erleichtert. Plötzlich wurde das Bedürfnis nach einem Bett und einem heißen Bad übermächtig.

Herrgott noch mal. Da ist die Wohnung, und ich steh hier unten wegen einer Gardine, die sich bewegt hat …

Er trat langsam aus dem Schatten des Hauseingangs und ging weiter. Das Hochhaus lag am Anfang der Parallelstraße.

2

Werders fuhr mit dem Lift in die Tiefgarage und ging der Reihe nach jeden parkenden Wagen ab, seine Hand in der Leinentasche versenkt, den entsicherten Browning so in der Faust, dass er jederzeit durch den Taschenrand zielen konnte.

Keiner der Wagen war besetzt. Er sah jedes Mal auf ihre Fußmatten und die Rücksitze.

Dann fuhr er mit dem Lift bis zur Etage, in der die Wohnung war.

Er schlug laut die Fahrstuhltür zu, öffnete die danebenliegende Tür der Abstellkammer, in der sich Reinigungsgeräte und eine Aluminiumleiter befanden, warf sie ebenfalls vernehmlich zu – und öffnete sie sofort wieder einen Spalt weit.

Dabei horchte er in den Gang hinaus.

Jetzt hätte sich eigentlich etwas rühren müssen, wenn Gefahr im Anzug war. Meist postierten sie ihre Leute hinter den benachbarten Türen, und wenn sie über Funksprechgerät die Nachricht erhielten, dass er hochkam, würde das Schlagen der Tür ein Signal sein, mit der Waffe in der Hand herauszustürmen.

Aber nichts geschah …

Er wartete zehn Minuten ab …

War wieder mal zu vorsichtig, dachte er und schob die Tür der Abstellkammer auf …

Die Wohnung besaß einen Vorraum, der durch eine weitere Tür verschlossen war. Als er aufgeschlossen und die Klinke gedrückt hatte, sah er, dass im Zimmer dahinter Licht war … es flackerte bläulich und schien von einem Fernseher zu kommen. Werders erstarrte …

Ein plötzlicher Schweißausbruch ließ ihn frösteln.

Jetzt wieder die Nerven behalten, ermahnte er sich. Wenn sie meine Waffe sehen, schießen sie sofort. Also würde er auch ohne Warnung schießen. Falls sie hinter ihm in den Korridoren warteten, war es besser, sich den Weg nach vorn freizuschießen und über die Balkone zu flüchten. Das war seine Chance …

Er drückte langsam die Tür zum Wohnzimmer auf. Im Fernsehsessel vor ihm schnarchte ein kleiner, graubekittelter Mann. Werders sah seine Goldzähne. Über den Bildschirm flimmerte eine Ballettrevue.

Der Hausmeister, dachte er erleichtert.

Als Werders sich bewegte, öffnete der kleine Mann wie durch Gedankenübertragung die Augen. «He … ach Sie sind’s», sagte er; dabei wischte er sich mit zwei Fingern über die Stirn, und Werders bemerkte erstaunt, dass er sich danach bequem wieder in den Sessel zurücksinken ließ. «Es ist nur …, weil so oft niemand da ist, schau ich hier schon mal nach dem Rechten.»

«Vor unserem Fernsehgerät?»

«Gehört zum Service.» Er grinste breit.

Werders fragte sich, woher er diese Frechheit nahm.

«Ich bin Küppers, der Hausmeister. Mit dem Zentralschlüssel lassen sich alle Türen öffnen.»

«Und das gibt Ihnen das Recht, hier einfach …?»

«Setzen Sie sich doch. Da am Sessel steht was zu trinken. Dosenbier.»

«Danke. Würden Sie jetzt vielleicht …?»

«Scheußliche Programme. Ganz scheußlich.» Er hob die Fernbedienung, um weiterzuschalten.

Werders machte ein paar Schritte zum Fernseher und schaltete ihn ab. Dann ging er an den Wäscheschrank, legte ein frisches weißes Hemd heraus (der Geruch von Waschpulver tat ihm gut), nahm aber seine Hängetasche nicht ab, sondern betrat das Bad.

Er wusch sich die Hände und sah in den Spiegel. Er hatte das Gefühl, dass der verdammte Kerl sich auf seine Kosten einen Scherz erlaubte.

Gegen solche Scherze war er allergisch. Erst recht, wenn sie ihn persönlich betrafen.

Als er fertig war, ging er ins Nebenzimmer, legte sich auf die Couch, nahm einen Zigarillo, hielt ihn eine Weile kalt im Mund und zündete ihn dann erst an. Von seinem Platz aus konnte er den Hausmeister in seinem Fernsehsessel nicht sehen … aber das Fernsehgerät war wieder eingeschaltet worden. Ein stummes Ballett, mit abgeschaltetem Ton, nur von dem gelegentlichen Zischen eines Ringverschlusses und den Schlucken aus der Bierdose unterbrochen. Werders betrachtete irritiert die geblümten Vorhänge zur Hofseite.

«Ist Ihre Verlobte verreist?», fragte Küppers durch die offene Tür.

«Wer? – ja, richtig. Bis morgen früh.»

«Aber nicht nach Südafrika, hab ich recht?»

Werders schwieg. Was sollte das nun wieder bedeuten? War der Kerl denn völlig übergeschnappt?

Er stand auf, drückte den Zigarillo aus, nahm etwas zu essen aus dem Kühlschrank – Zwieback, Dauerwurst, Ölsardinen: Lebensmittel, die sich lange hielten und daher während ihrer Abwesenheit nicht schlecht wurden – und legte alles auf den Esstisch hinter Küppers Rücken.

«Wollen Sie Bier?», erkundigte sich der Hausmeister. «Da unten steht noch genug von dem Zeug.»

Werders folgte seiner ausgestreckten Hand. Erst jetzt bemerkte er die Batterie der Bierdosen am Fußende des benachbarten Sessels, dänisches Bier in Halb-Liter-Dosen. Einige waren leer.

«Sie sind ja betrunken», sagte er «Und die Bierflecken auf dem Teppichboden …?»

«Das sickert ein und ist weg …»

Werders öffnete die Packung mit dem Zwieback, schnitt etwas Dauerwurst ab und aß schweigend. Dann nahm er eine Tageszeitung aus der Leinentasche. Er breitete sie vor sich auf dem Tisch aus und überflog die Kleinanzeigen im Gebrauchtwagenteil.

Ein roter Audi wurde angeboten – mit der etwas merkwürdigen Offerte: zu tauschen gegen älteres Mercedes-Coupe.

Sie haben also einen sauberen Wagen, dachte er zufrieden. Es machte vieles leichter. Der Satz war das vereinbarte Zeichen. Schon drei Tage alt. Er hatte sich das Exemplar der Zeitung in der Geschäftsstelle der Annoncenannahme besorgen müssen, weil die Luxemburger Grenze wegen der Fahndung nach einem Bankräuber genauestens kontrolliert worden war; schließlich wollte er nicht in eine Falle laufen, die einem anderen galt.

Das Fernsehgerät wurde lauter gestellt.

«Haben Sie nichts Besseres zu tun, als hier herumzusitzen?», erkundigte sich Werders.

«Meine Frau ist verreist», wehrte Küppers ab. «Und weil unser Fernseher in Reparatur ist, hab ich mir … Fräulein Norden hätte sicher nichts dagegen.»

Er hob eine weitere Dose vom Boden auf und öffnete sie zischend.

«Fräulein Ulla Norden», sagte er. «Früher wohnhaft in Mannheim, Steinstraße 43, wie auf dem Meldezettel angegeben.»

Werders faltete seine Zeitung zusammen, er legte verblüfft beide Hände auf den Tisch. «Was sagten Sie?», fragte er vorgebeugt. «Ihre Verlobte. So heißt sie doch?» Küppers wandte schwerfällig den Kopf nach ihm um.

Werders nickte. «In der Tat …»

Es war das, was in Angelikas Papieren stand. Sie achteten jetzt sehr auf saubere Papiere. Eine Frau gleichen Namens hatte vor einiger Zeit die Bundesrepublik verlassen, das machte es leicht, ihren Namen zu benutzen. Saubere Papiere, sauberes Geld, saubere Wagen. Der Fahndungscomputer in Wiesbaden war ein Meister in der Rekonstruktion von Spuren.

«Waren Sie nachmittags am Fenster?», erkundigte er sich.

«Nachmittags? Sicher, wer sonst? Hab Sie schon sehnsüchtig erwartet. Sie – oder einen Ihrer Freunde.»

«Welche Freunde?»

«Dies ist ein ausgezeichneter Standplatz für Sie», sagte Küppers, als habe er nicht verstanden. «Autobahnanschluss. Apartments. Niemand kümmert sich um den anderen. Hier sind Sie sicher.»

«Sicher, wieso?» Werders rechte Hand glitt auf den Oberschenkel und blieb dort liegen.

«Von mir haben Sie nichts zu befürchten.»

«Nun scheren Sie sich aber raus», sagte Werders ärgerlich. «Ich weiß wirklich nicht, wovon Sie reden.»

«Den Teufel werd ich tun. Wissen Sie – dass ich Ihnen auf die Schliche gekommen bin, war eigentlich purer Zufall. Die Schwester meiner Frau wohnt in Mannheim, Steinstraße 43.

Und ein Fräulein Ulla Norden, ihre Nachbarin, ist vor wenigen Monaten zu einem Freund nach Südafrika gezogen.

Der Kerl ist Ingenieur oder so was. Und dann natürlich Ihre Mietvorauszahlungen, bar, ohne Konto. Dadurch kam ich auf die Idee, mir einmal eines der Fahndungsplakate genauer anzusehen, die hier überall in der Stadt herumhängen.

Sie sind Werders, nicht wahr?

Das Foto ist allerdings schlecht. Also keine Angst –», er riss eine neue Dose auf und nahm einen tiefen Schluck – «und wie gesagt: von mir haben Sie nichts zu befürchten.

Bin diesem Staat gegenüber eher kritisch eingestellt, genauso wie Sie. Soll meinethalben verrecken an seiner Knauserigkeit.»

Er schlug sich mit der flachen Hand auf die Brust. «Lungenschaden. Hab früher in ‘ner Autolackiererei gearbeitet, bei der städtischen Müllabfuhr, aber es wurde nicht als Berufskrankheit anerkannt. Kein Pfennig zusätzliche Rente. Deshalb mach ich diesen miesen Job.

Das Ganze wird Sie natürlich ‘ne Kleinigkeit kosten. Ich könnte warten, bis Sie und Ihre Freundin Angelika Zeitler zusammen in der Wohnung sind. Das brächte mir zweimal fünfzigtausend Kopfgeld.

Aber ich will hier keinen Ärger. Sie können wohnen bleiben. Sagen wir – hundertzwanzigtausend bar auf die Hand, und ich weiß nicht mal mehr die Farbe Ihrer Haare.»

Er wandte sich zu Werders um. «He, hat‘s Ihnen etwa die Sprache verschlagen? Geld dürfte doch kein Problem sein, nach den letzten beiden Bankrauben in Köln …» Er drehte sich zum Bildschirm.

«Sie haben‘s aus der Zeitung?»

«Fernsehen.»

«Wer weiß sonst noch davon?»

«Niemand.»

«Und Ihre Frau ist also verreist?», fragte Werders, während er langsam aufstand, den Arm in der Umhängetasche. Seine Hand umspannte den geriffelten Waffengriff. «Ich werde in die Küche gehen und das Geld holen», sagte er. «Hundertzwanzigtausend. Das macht uns wirklich nicht ärmer.»

«Sag ich doch …»

Werders trat mit zwei Schritten an den Rücken des Fernsehsessels. Er hielt den Browning-FN so hinter das Ohr des Hausmeisters, dass die Kugel schräg in den Schädel eindringen würde – und drückte sofort ab. Der Knall war ohrenbetäubend. Wie er gehofft hatte, blieb das Geschoss stecken.

Küppers sackte nach vorn. Werders zog ihn am Kragen gegen die Lehne zurück.

Er betrachtete das Einschussloch neben seinem Ohr, eine saubere Wunde. Die umgebende Haut war bläulich aufgestülpt wie der Wulst einer hervortretenden Ader.

Der kleine Mann hielt seine linke Hand in der Tasche des grauen Kittels, als suche er dort nach irgendetwas. Nicht einmal die Andeutung einer Blutspur war an seinem Kragen zu sehen.

Nur sein Mund sah etwas entstellt aus – wie der einer Ratte, die der Schlagbügel der Falle getroffen hatte. Und in seinem hochgezogenen Mundwinkel schimmerte ein Goldzahn.

Danach ging er zur Tür, öffnete sie einen Spalt weit und horchte in den Gang hinaus.

Alles ruhig …

Nicht ungewöhnlich, wenn sich keiner um den anderen kümmerte. Die Leute in diesen Wohnsilos hörten nur noch ihre eigenen Stimmen. Es war die Unmenschlichkeit des Systems, die sie so weit gebracht hatte.

3

Sie fuhren langsam die Straße entlang, und als Richard vor der roten Ampel hielt, sah sie zum Fenster neben dem Balkon hinauf. Der Blumenkorb – das vereinbarte Zeichen – hing links am Rahmen.

«Okay», sagte sie. Ihre Stimme klang hart und trocken, wie immer, wenn sie nervös war. Es gab diese Augenblicke, die erfahrungsgemäß kritisch waren: zum Beispiel Einfahrten in Tiefgaragen. Oder Treppen zu U-Bahn-Schächten. Sommer war in der Stadt, das wusste sie. Sie mussten auf eine Spur gestoßen sein.

Arm arbeitete auf Hochtouren, um sie zu erledigen …

Diese Burschen machten sich geradezu einen Sport daraus. Es hieß, dass sie freiwillig auf die Bezahlung von Überstunden verzichteten. Und sie gingen an jedes beliebige Telefon, tippten ihren Code ein, wenn sie Informationen vom Zentralcomputer in Wiesbaden abrufen wollten, neueste Daten, um sie jederzeit in Beziehung zu setzen zu dem, was sie gerade erfahren hatten.

Zu winzigen, beinahe unbedeutenden Fakten, die nur im Zusammenhang einen Sinn ergaben, der dann aber sogar in prozentualer Wahrscheinlichkeit ausgedruckt wurde.

Angelika steckte ihre Hand in die Umhängetasche, als sie zwischen den Betonsäulen der Tiefgarage ausstieg. Parkende Wagen, durch deren spiegelnde Scheiben man nichts erkennen konnte, jagten ihr immer einen Schauer über den Rücken.

Richard war da viel unbekümmerter. Er vertraute auf seine schnelle Hand. Anders als sie selbst und Werders glaubte er, dass man Paul Walter ohne Vorbehalte in den engeren Kreis aufnehmen könne.

Sie hielt Walter für einen Spitzel des BKA. Er war im September auf einer Wahlveranstaltung der Grünen zu ihnen gestoßen, ein junger Mann mit flachem Negergesicht und wulstigen Lippen, obwohl seine Haut so weiß war, als habe er sein halbes Leben in einem verdunkelten Büro zugebracht.

Er trug fast immer Marengo-Sakkos, für einen Burschen seines Alters ziemlich ungewöhnlich. Falls es ein Spitzel war, würde er erst zuschlagen, wenn er genügend Namen, Standorte und Pläne gesammelt hatte. Deshalb ließen sie ihn lieber in Heidelberg zurück.

Die Wohnung hier in Frankfurt war eines ihrer sichersten Quartiere. Natürlich gab es keine Beweise. Sie verließ sich lediglich auf ihren Instinkt. Etwas in der Art, wie er sie manchmal anblickte, machte sie stutzig. Es war kein Verbrecherblick. Sie war nicht sonderlich hübsch – erst recht jetzt nicht, mit ihren künstlichen Sommersprossen neben der Nase und dem hochgebundenen, rötlichen Haar. Sie wirkte damit wie eine «junge alte» Matrone.

Dass sie hier in Frankfurt, im Hurenviertel, zur Welt gekommen war – sozusagen ein Betriebsunfall ihrer Mutter, dem sie nur deshalb ihr Leben verdankte, weil sie sich vor einer Abtreibung gefürchtet hatte –, beschäftigte ihn weitaus mehr.

«Kinder von Huren sind oft besonders empfindlich für soziale Ungerechtigkeiten», hatte er erklärt. «Manchmal neigen sie sogar zur Gewalttätigkeit. Das beweisen die Kriminalstatistiken.»

«Sie lesen Kriminalstatistiken?»

Darauf war er sehr verlegen geworden.

«Entschuldigen Sie, ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten.» Plötzlich musste ihm bewusst geworden sein, wie ungehörig es war, in dieser Art über ihre Herkunft zu sprechen.

Richard öffnete die Fahrstuhltür, und sie fuhren hinauf. «Geh du voran und schieß den Gang frei», scherzte er, als sie in der Etage hielten.

Es gab ein einfaches Zeichen, um sich gegenseitig die Ankunft zu signalisieren, und sie achteten streng darauf, dass es nur im engeren Kreis bekannt war: sie nannten es «steckengebliebene Klingel», ein Dauerton von genau zwanzig Sekunden. Man sah dabei auf die Uhr. Manche Leute neigten dazu, zwei- oder dreimal zu läuten, das war kein verlässliches Signal.

Werder trug den üblichen grobgestrickten Pullover unter der Jacke, der ihn etwas fülliger aussehen ließ als auf den Fahndungsplakaten.

Sie sah ihm immer gleich an, wenn etwas nicht stimmte.

«Da im Sessel», sagte er undeutlich und zeigte mit dem Daumen nach hinten.

Sie saßen um den runden Glastisch im Wohnzimmer. Angelika hatte Skizzen ausgebreitet. Die Luft im Raum war stickig und der Tote saß noch immer in derselben steifen Haltung da, als sehe er fern. Nur sein Gesicht war um eine Spur fahler geworden: so grau wie sein Kittel …

«Für Wiesbaden benötigen wir ein neues Standquartier», sagte Richard. Er trug jetzt ein kariertes Flanellhemd und schien der einzige zu sein, der mit Appetit von den Eiern auf Schinken aß, die Angelika für sie gebraten hatte.

«Sommer erledigen wir noch von hier aus», schlug Werders vor.

«Dann plädiere ich dafür, Paul Walter in den engeren Kreis aufzunehmen», erklärte Richard, während er weiter aß.

«Walter ist ein Spitzel», sagte Angelika. «Ich spüre das.»

«Einbildung. Dein überzogenes Misstrauen.»

«Lassen wir ihn Sommer erledigen», meinte Werders nachdenklich. «Als Einstand. Das würde er nicht wagen, wenn er für Arm oder das BKA arbeitete.»

«Wir sollten Charlottes und Lenas Rückkehr aus Frankreich abwarten, ehe wir einen Beschluss fassen», wehrte sie ab.

Natürlich war das nur eine Ausflucht, und die anderen schienen es zu spüren. Sie hätte auch in Lenas Anwesenheit nicht für Walter gestimmt.

«Übrigens habe ich gestern Abend hier in einer Bar Lummer getroffen, Sommers rechte Hand», bemerkte Werders.

«Wir wissen schon, dass sie hier sind», nickte Angelika. «Reden wir nicht um den heißen Brei herum. Dieses ewige Führungsgerangel ödet mich an. Wir haben uns darauf geeinigt, dass ich die Leitung der einzelnen Aktionen übernehme, solange nicht abgestimmt wird.

Und ich sage: Paul Walter bleibt draußen.»

Richard ließ nicht locker: «Nach Birkes Tod benötigen wir frisches Blut ….»

«Lassen wir ihn Sommer erledigen», wiederholte Werders. «Das qualifiziert ihn für den engeren Kreis.»

Angelika erhob sich, sie spürte, wie schwach ihre Position war. Es gab keine wirklichen Verdachtsmomente gegen Paul Walter.

Sie ging zum Balkonfenster und schob den Vorhang zurück. Von hier oben aus konnte sie das Dach des Hauses sehen, in dem sie geboren war.

Eine kleine Ewigkeit war vergangen, bis sie sich getraut hatte, dorthin zurückzukehren. Es diente noch immer demselben Zweck, und die Mädchen im Eingang hatten sich über ihre Neugier amüsiert.

«He, willste Quartier nehmen?», hatte eine ihr hinterhergerufen. «Mit deinem Kopf machste ‘nen guten Schnitt.»

Lautes Gelächter … nun hatten sie hier endlich mal was zu lachen!

«Bei einem Schlag gegen ihren Zentralcomputer hätten wir alle Trümpfe in der Hand», sagte sie, als sie zum Tisch zurückkehrte. «Wie schon seit langem nicht. Das dürfen wir nicht aufs Spiel setzen. Wiesbaden hat absolute Priorität. Wenn sie davon Wind bekommen, war alles umsonst.»

Angelika begann von dem Rest der Eier mit Schinken zu essen, und benutzte den kleinen Löffel aus dem Zuckertopf dazu; sie aß vorgebeugt, das verdammte Färbemittel für die Sommersprossen um ihre Nase juckte (wie immer, wenn sie erregt war), und sie versuchte, das Zucken um ihre Mundwinkel zu verbergen. Es gab keinen Grund zum Optimismus. Ob mit oder ohne Walter. Ob Sommer am Leben blieb oder nicht. Selbst wenn sie den Zentralcomputer ausschalteten, würde sie das niemals in die Position wie noch vor wenigen Monaten zurückbringen.

Zu viele ihrer Freunde waren nach der allgemeinen Hatz auf der Strecke geblieben, einige saßen in Haft. Es wirkte demoralisierend auf das Heer der Sympathisanten – von dem sie ohnehin manchmal glaubte, dass es nur in ihrer Einbildung existierte …

Im Grunde hatte sie den Glauben an eine breite Volksbewegung längst verloren. Die logische Konsequenz daraus wäre gewesen, herauszufinden, wie man am besten seinen Kopf aus der Schlinge zog. Es gab nur wenige Möglichkeiten. Aber daran wollte sie jetzt nicht denken …

Sie hatten den Toten in der Wohnung zurückgelassen.

Irgendwann würde man ihn dort finden. Alle nur denkbaren Spuren waren sorgfältig beseitigt worden, obwohl sie planten, nach Sommers Ermordung noch einmal dorthin zurückzukehren.

Sommer besaß ein Haus in Königstein, einem kleinen Kurort nördlich von Frankfurt, und er fuhr die 30 Kilometer von seinem Wiesbadener Büro täglich nach Hause.

Es hatte sie einige Mühe gekostet, das herauszufinden, da man seine Adresse sorgfältig geheim hielt. Sie nahmen an, dass er sich während der Arbeit in Frankfurt genauso verhalten würde, weil es eine gute Straßenverbindung gab und die Strecke noch kürzer war.

Er würde «heim in Mamis Schoß» kehren, wie Richard zu sagen pflegte, um sich von den Nervenanspannungen der Terroristenjagd zu erholen.

Was ihm nicht viel weniger als das Genick brechen wird, dachte sie verächtlich.

Der Motor des Audis schnurrte leise, es war eine Hundert-PS-Maschine, stark genug, um jeden Verfolger abzuhängen, und Richard galt als ausgezeichneter Fahrer. Von der Autobahn bogen sie auf die Bundesstraße 8 ab.

Sie verspürte wieder diese Kälte in der Magengegend, die sie immer überkam, wenn es schwierig und gefährlich wurde – und wenn sie sich im Einklang mit den Zielen befanden … den alten Zielen, an die niemand mehr glaubte. Ihre Nervosität dauerte meist nur Sekunden.

Ein Stich im Solarplexus, und alles war vorüber.

Ihre Stimme wurde wieder kühl. Sie handelte dann wie ein Automat, der in der Lage war, sich selbst zuzusehen, den präzisen Bewegungen, Handlungsanweisungen und raschen Entschlüssen: als würden sie durch Lochstreifen oder Magnetbänder abgerufen. Diese Fähigkeit – beinahe emotionslos zu sein, wenn es darauf ankam – hatte ihr die eindeutige Führungsrolle gesichert.

Sie bogen ein, die Straße fiel vom Berg steil ab, vorüber an bewaldeten Hängen, in deren Dunkel jetzt nicht einmal mehr die Stämme der Fichten auszumachen waren. Streusand lag über dem Asphalt. Die Wagenreifen wirbelten ihn gegen das Bodenblech. Hier und da leuchteten Fenster von einzeln stehenden Häusern, aber immer weit weg. Sie passierten eine stillgelegte Tankstelle.

Angelika zeigte nach links, «In den Waldweg.»

Werders schaltete das Deckenlicht ein, als sie im Schutz des Weges parkten, und kontrollierte seine Waffe. Richard nahm das zusammengerollte Plakat mit der Kordel und die Polaroidkamera und steckte beides in die Umhängetasche, um nachher seine Hände freizuhaben.

«Es liegt hinter dem Hügel», sagte sie. «Wir überqueren einen Bachsteg. Seht zu, dass ihr ihn beim Rückzug nicht verfehlt, das Wasser ist tief, man kann es nicht durchwaten.»

Während sie ausstiegen, fuhr sie fort:

«Es gibt einen Posten am Straßeneingang, keinen vor dem Haus. Sie rechnen nicht mit dem Waldweg. Er vertreibt sich die Langeweile in der Kneipe Am Eck. Vom Fenster aus kann er jedes ankommende Fahrzeug sehen. Er wird herauslaufen, falls er Schüsse hört, und Richard könnte ihn dann zwischen den Abfallcontainern in Empfang nehmen, wo es genügend Deckung gibt.»

Sie gingen schweigend nebeneinander her, bis der silberne Bachlauf auftauchte.

Richard Fall in der schlaksigen Art, die für ihn charakteristisch war. Eine braune Tolle hing ihm weit in die Stirn, seitdem die neuesten Fahndungsplakate ihn mit kurzgeschnittenem Haar zeigten. Von allen in der Organisation war er ihr der liebste.

Hinter seinem Unernst verbarg sich allerdings ein Hang zur Gewalttätigkeit, den sie oft für bloßen Selbstzweck hielt.