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Die Ursache, weshalb die erhabene Lehre von der Reinkarnation oder Wiederverkörperung des Menschengeistes, welche für die Völker des Ostens eine allgemein anerkannte Tatsache ist, bisher unter den Völkern des Westens so wenig Anklang gefunden hat, ist, dass dieselbe von gewissen europäischen Autoritäten falsch aufgefasst und mit der sogenannten Seelenwanderung verwechselt wurde. Die Lehre der Reinkarnation bildet nicht nur die Grundlage der buddhistischen und brahminischen Weltanschauung, sondern ist auch eines der größten Religionsgeheimnisse des Christentums und im neuen Testamente im Leiden Christi sinnbildlich dargestellt. Nicht die sterbliche Persönlichkeit des Menschen, welche nur eine vorübergehende Erscheinung ist, reinkarniert sich, sondern der unsterbliche Geist im Menschen tritt auf der Bühne des Lebens in verschiedenen Gestalten auf, welche das Produkt seines Willens und seiner Gedanken sind. Inhaltsverzeichnis Vorwort des Übersetzers Vorwort von A. S. Reinkarnation und Willensfreiheit Einleitung Was versteht man unter Reinkarnation oder Wiederverkörperung? Was gelangt zur Wiedergeburt? Was gelangt nicht zur Wiederverkörperung? Kann der Mensch wieder zum Tier werden? Wie findet die Wiederverkörperung statt? Zweck der Wiederverkörperung Ursachen der Wiederverkörperung Beweise für die Wiederverkörperung
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Reinkarnations- oder Wiederverkörperungslehre
Annie Besant
Verlag Heliakon
2016 © Verlag Heliakon, München
Umschlaggestaltung: Verlag Heliakon
Bild: Pixabay (Sudarshan2023)
www.verlag-heliakon.de
Das Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verfassers unzulässig. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Inhaltsverzeichnis
Titelseite
Vorwort des Übersetzers
Vorwort von A. S. – Reinkarnation und Willensfreiheit
Einleitung
Was versteht man unter Reinkarnation oder Wiederverkörperung?
Was gelangt zur Wiedergeburt?
Was gelangt nicht zur Wiederverkörperung?
Kann der Mensch wieder zum Tier werden?
Wie findet die Wiederverkörperung statt?
Zweck der Wiederverkörperung
Ursachen der Wiederverkörperung
Beweise für die Wiederverkörperung
Die Ursache, weshalb die erhabene Lehre von der Reinkarnation oder Wiederverkörperung des Menschengeistes, welche für die Völker des Ostens eine allgemein anerkannte Tatsache ist, bisher unter den Völkern des Westens so wenig Anklang gefunden hat, ist, dass dieselbe von gewissen europäischen Autoritäten falsch aufgefasst und mit der sogenannten Seelenwanderung verwechselt wurde. Deshalb wurde bisher auch in Deutschland dieser Lehre wenig Beachtung geschenkt, trotzdem sie einen der wichtigsten Bestandteile jener Wissenschaft bildet, auf welcher die richtige Kenntnis der Natur des Menschen und seiner Stellung im Weltall beruht; denn ohne die Wiederverkörperung des Menschengeistes gäbe es für denselben keinen weiteren Fortschritt, als den er in einem flüchtigen Dasein auf Erden erlangen kann. Die Lehre der Reinkarnation bildet nicht nur die Grundlage der buddhistischen und brahminischen Weltanschauung, sondern ist auch eines der größten Religionsgeheimnisse des Christentums und im neuen Testamente im Leiden Christi sinnbildlich dargestellt. Nicht die sterbliche Persönlichkeit des Menschen, welche nur eine vorübergehende Erscheinung ist, reinkarniert sich, sondern der unsterbliche Geist im Menschen tritt auf der Bühne des Lebens in verschiedenen Gestalten auf, welche das Produkt seines Willens und seiner Gedanken sind. Wie und weshalb dieses geschieht, was dasjenige ist, welches sich wiederverkörpert, sowie der Zweck der Reinkarnation, alles dies findet sich klar und verständlich im vorliegenden Werke von A. Besant dargestellt, und es ist nur noch zu bemerken, dass die darin enthaltenen Lehren nicht auf Spekulation und Wahrscheinlichkeiten, sondern auf Erfahrung beruhen. Dieses Werk nebst den vortrefflichen Bemerkungen des Übersetzers kann daher allen denjenigen empfohlen werden, welche zu glauben fähig sind, dass die jetzige Spanne ihres Lebens nicht ihr ganzes Dasein umschließt.
F. Hartmann.
Eine der meist umstrittenen, weil zu tief in das Leben des Einzelnen sowohl wie der Gesamtheit einschneidenden Fragen ist, jene von der Willensfreiheit des Menschen.
Bei der großen Wichtigkeit, welche die Entscheidung dieser Frage nach der einen oder anderen Richtung hin hat, und zwar nicht nur für das allgemeine praktische Leben, sondern insbesondere auch für den geistigen Fortschritt und die innere Entwickelung des Einzelnen, wie für sein Streben nach Vervollkommnung und endlicher Erlösung, kann dieselbe meines Erachtens nicht oft genug angeregt und von den verschiedensten Seiten betrachtet werden. Deshalb möge es auch einem Laien in der Philosophie gestattet sein, von seinem Standpunkte aus dieser Frage näher zu treten, und in kurzen Umrissen zu zeigen, zu welchem Resultate ihn eigenes Nachdenken aufgrund Schopenhauerscher und orientalischer Philosophie geführt hat.
Um jedoch nicht gleich von Anfang an Grund zu Missverständnis und Unklarheit zu geben, muss ich vor allem kurz den Standpunkt darlegen, von welchem ich den Menschen betrachte.
Nach meiner Überzeugung müssen wir strenge unterscheiden zwischen der Persönlichkeit oder dem Menschen, wie wir ihn vor uns sehen, und ihn nach seinen im alltäglichen Leben hervortretenden Gesinnungen und Handlungen beurteilen, also zwischen der Person — und zwischen der durch eine ungezählte Reihe von aufeinanderfolgenden Persönlichkeiten sich hindurchziehenden Individualität.
Der Unterschied zwischen Persönlichkeit und Individualität lasst sich schon durch die Tatsache beweisen, dass der Mensch imstande ist, über sich selbst zu urteilen, sich also gewissermaßen in Subjekt und Objekt zu spalten; was ja gar nicht möglich wäre, wenn nicht eine unbewusste, innere Differenzierung stattfinden könnte.
Die Individualität ist das Wesentliche, das Unsterbliche, der Kern der Persönlichkeit. Sie ist jedoch für uns Erdenmenschen unfassbar, unerkennbar und deswegen auch unerklärbar an sich, solange sie nicht in einer irdischen Persönlichkeit Form und Gestalt annimmt und sich so nach außen hin in der Sinnenwelt Ausdruck verschafft.
Dies schließt selbstverständlich ganz und gar nicht aus, dass eine solche Individualität auch nach ihrem Verschwinden vom irdischen Schauplatze und in den Zwischenperioden ihrer verschiedenen Erdenleben in anderen, uns unsichtbaren und unbekannten Daseinsformen fortlebt. Sie lässt sich wissenschaftlich nicht beweisen, nur intuitiv fühlen, und in wessen Inneren die Überzeugung von ihrem Vorhandensein nicht lebendig ist, dem wird keine noch so klare philosophische Demonstration genügen, um ihn zur Annahme ihrer Existenz zu veranlassen.
Durch die Verkörperung in irgendeiner irdischen Daseinsform, als deren höchste Erscheinungsform wir den Menschen kennen, tritt die Individualität nach außen in Sichtbarkeit; nur müssen wir uns hüten bei Betrachtung und Beurteilung derselben die sichtbare Form mit dem unsichtbaren Wesenskern zu vermengen. Leider sind wir gewöhnt, die beiden Begriffe (Persönlichkeit und Individualität) nicht nur nicht gehörig auseinander zuhalten, sondern — was noch schlimmer ist — den Menschen in erster Linie meist nur als Person zu fassen, der ihm zugrunde liegenden Individualität aber gar keine, oder doch nur oberflächliche Beachtung zu schenken. Darin liegt aber nach meinem Dafürhalten ein Hauptgrund, weshalb die Ansichten über die Willensfreiheit sich so diametral gegenüberstehen.
Der äußere Mensch mit allen seinen physischen und moralischen Eigenschaften, Neigungen, Leidenschaften, Begierden, usw., ist lediglich das Werkzeug, welches ein hinter ihm verborgener Lenker (die Individualität) sich selbst schuf, um sich nach außen in Raum und Zeit bemerkbar zu machen, seine Absichten zum Ausdruck und zur Geltung zu bringen, und auf diese Art höhere, für uns nicht sichtbare Zwecke vorzubereiten oder zu erfüllen. Die Bezeichnung der Menschen-Erscheinung als Person ist daher sehr treffend gewählt; denn sie ist ja in der Tat nur die Maske, durch welche ein anderes Etwas, — welches Kant als das Ding an sich, Schopenhauer als den Willen, E. v. Hartmann als das Unbewusste, die Inder als Jiva bezeichnen, — in Erscheinung und Tätigkeit tritt.
Versteht man sich einmal zu der oben bezeichneten Auffassung von dem Wesen des Menschen, so ist die Annahme der Lehre von der immer neuerdings notwendigen Wiederverkörperung der Individualität in persönlicher Form und Gestalt nicht nur nahe liegend, sondern geradezu zwingend. Diese Lehre, welche uns den Schlüssel zur Lösung so vieler Rätsel und scheinbarer Widersprüche im menschlichen Leben gibt, ist auch ganz besonders geeignet, in die hier in Rede stehende Frage Licht zu bringen.
Wenden wir uns nun unserem eigentlichen Thema zu, so ist es klar, dass, wenn wir uns über den in uns herrschenden Willen näher orientieren wollen, wir dessen Spur bis dahin zurückverfolgen müssen, wo er zuerst für den außenstehenden Beobachter sinnenfällig, in irgendeiner äußerlich sichtbaren und greifbaren Form erkennbar wird; d. h. bis zu dem Augenblicke, in welchem er als Wille zum Dasein auftritt. — Die Frage, ob es außer den für unsere physischen Sinne wahrnehmbaren Formen der Willenserscheinungen auch noch andere, unseren groben Sinneswerkzeugen nicht wahrnehmbare gibt, mag hier unerörtert bleiben.
Schopenhauer führt den Beweis, dass, wenn wir uns in die Erforschung des Wesens der Daseinsformen vertiefen, als das letzte für unseren Verstand noch Erkennbare nur mehr der Wille übrig bleibt, und zwar der Wille zum Dasein in einer bestimmten Form und unter bestimmten Daseinsbedingungen. Weiter führt keine Verstandesspekulation; hier muss jedes Grübeln und Forschen Halt machen. Zur Ergründung dessen, was dieser Wille ist, woher er kommt, in welcher Weise er wirkt usw., dazu reichen die Kräfte des Menschenverstandes nicht aus; ja sie können schon deshalb nie und nimmer dazu ausreichen, weil sie so gut wie die übrigen Eigenschaften, Fähigkeiten und charakteristischen Merkmale seiner Persönlichkeit nur die Schöpfungen eben dieses Willens sind. Sie alle zusammen vermögen daher den Willen ebenso wenig zu erklären und zu erkennen, wie der Topf den Töpfer, wie ein Gebäude seinen Baumeister.
Wenn wir vom freien Willen im Allgemeinen reden, so verstehen wir hierunter freilich in der Regel nicht diesen Willen zum Dasein; gleichwohl erschien es mir notwendig, zuerst auf diesen hinzuweisen; denn er ist ja die Grundursache, weshalb wir im Einzelfalle gerade so und nicht anders wollen, und uns einbilden, für unsere Person uns einer völlig freien und unbeschränkten Willensentscheidung zu erfreuen. Wir verstehen unter dem freien Willen gemeiniglich dies, dass der Mensch, als Person, in seiner gegenwärtigen Erscheinungsform auf Erden die Fähigkeit und das Privilegium völlig freier Willensbestimmung über sein gesamtes Denken und Handeln besitze. Diese Auffassung findet nicht bloß die kräftigste Unterstützung durch die Lehre der christlichen Religion, welche sagt, der Mensch sei von Gott geschaffen, und mit freiem Willen ausgestattet worden; d. h. er sei frei und uneingeschränkt in seiner Wahl zwischen Gut und Böse, besitze überhaupt eine unbeschränkte, daher in jeder Beziehung verantwortliche Bestimmungsfähigkeit über sein Denken, Wollen und Handeln — sondern sie entspricht auch den allgemeinen Lebensanschauungen, und unsere gesamte Rechtspraxis ist auf sie gegründet.
Ich will hier nicht näher auf den Widerspruch eingehen, welcher in den Begriffen geschaffen und frei liegt; ist es doch bei näherer Betrachtung einleuchtend, dass das Geschaffene eben nicht anders sein und wollen kann, als wie es in der ihm anerschaffenen Natur liegt.
Wer frei von aller Voreingenommenheit und unabhängig von anerzogenen und allgemein verbreiteten Anschauungen offenen Auges sich selbst und seine Nebenmenschen beobachtet, der wird sich bald überzeugen, dass er selbst ebenso wenig wie seine Mitmenschen völlig frei handelt, und dass sich unsere so genannten freien Willensentschlüsse und Handlungen bei näherer Zergliederung stets als beeinflusst, und demnach als unfrei herausstellen. Man glaubt zu schieben, und man wird geschoben. Die tägliche Erfahrung an uns selbst und an anderen sollte doch als Beweis dafür genügen! Ich möchte den Menschen kennen, der von sich sagen kann, er habe immer und jederzeit genau so gehandelt, wie er gewollt und sich vorgenommen hatte! Wie unzählige fromme Entschlüsse blieben unausgeführt, wie viele Millionen von Anläufen zur Lebensbesserung ersticken schon beim ersten Versuche zur Ausführung, nicht weil es an dem ersten und aufrichtigen Willen fehlte, sondern weil Nebenumstände sich unserem Willen entgegenstellen, denselben schwankend und zuletzt hinfällig machen, sodass das Sprichwort: Der Weg zur Hölle ist mit guten Vorsätzen gepflastert, in der Tat seine Berechtigung hat.
Diese Schwäche und Schwankungsfähigkeit, diese Beeinflussbarkeit und Abhängigkeit unseres persönlichen Willens liegt aber nicht in den Nebenumständen als solchen, sondern eben in der Beschaffenheit unseres ganzen persönlichen Seins, welches durch den individuellen Willen zu sein, und zwar gerade so zu sein, wie wir sind, uns beeinflussbar, abhängig, schwach und schwankend erscheinen lässt. — Schopenhauer sagt daher ganz richtig: Der Mensch tut allezeit nur, was er will, und tut es doch notwendig. Das liegt aber daran, dass er schon ist, was er will, denn aus dem, was er ist, folgt notwendig alles was er jedes Mal tut. —
Wir müssen daher einen strengen Unterschied machen zwischen dem Willen an sich (d. h. dem nicht in Erscheinung getretenen Willen, oder dem Willen zum Sein) und zwischen dem in bestimmte Erscheinungsform getretenen Willen oder dem Willen zum Dasein. Ersterer ist frei und verantwortlich; letzterer, als das Werk oder Geschöpf des ersteren, kann sich stets nur so äußern, wie ihm durch jenen vorgezeichnet ward, ist also unfrei.
Da der Wille für uns nicht erkennbar ist, wenn und solange er sich nicht in Taten umsetzt, so darf es nicht befremden, dass ich hier von Taten des Willens spreche; denn nur an der Hand dieser können wir über den Willen urteilen.
Endlich dürfen wir nicht in einen sehr allgemeinen Fehler verfallen und wollen mit wünschen verwechseln. Auch im Sinne von guten Vorsätzen wird das Wort Wille unrichtig gebraucht und sollte stets durch Wunsch oder Bestreben ersetzt werden. Dies würde zur Klärung des Begriffes und zur Richtigstellung unserer Ansichten über den freien Willen wesentlich beitragen. —
Je eingehender wir über alle derartigen Vorgänge bei uns selbst und bei anderen nachdenken, um so richtiger erscheint die von Schopenhauer aufgestellte Behauptung, dass all unser bewusstes und unbewusstes Handeln, Tun und Lassen sich auf Reize und Motive zurückführen lasse. Ja, je genauere Rechenschaft wir uns über unser Verhalten in den jeweiligen Lebenslagen abzulegen bestrebt sind, um so mehr werden wir zur Einsicht kommen, dass es sich in allen sogenannten Kollisionsfallen — also gerade in solchen Momenten, in welchen die Freiheit des Willens besonders klar zutage treten musste — nicht um einen wirklich freien Willensakt, eine freie Wahlentscheidung, sondern vielmehr lediglich darum handelt, welches von mehreren gleichzeitig auf uns einwirkenden Motiven das stärkere ist, um uns zur Vornahme oder zum Unterlassen irgendeiner Handlung etc. zu bestimmen. Wir wählen daher strenge genommen im einzelnen Falle nicht zwischen zwei oder mehreren möglichen Entschlüssen, oder einzuschlagenden Richtungen an sich, sondern wir wägen — (ob bewusst oder unbewusst, bleibt sich ganz gleichgültig) — lediglich ab, ob dieses oder jenes Motiv stärker auf uns einwirkt, und je nachdem dies der Fall ist, entscheiden wir uns, um nicht selten nach kaum getroffener Wahl, aber nicht zu spät, unseren Irrtum einzusehen und den Entschluss zu bereuen. Das Abwägen der Motive ist das Primäre und der daraus resultierende Entschluss das Sekundäre; also gewissermaßen die notwendige Folge. Inwieweit aber im Einzelfalle ein Motiv oder Reiz stärker oder weniger stark auf uns einwirkt, das können wir nicht vorausbestimmen, das ist von tausenderlei Nebenumständen abhängig, die ihrerseits selbst wieder je nach Zeit und Umständen einen ganz verschiedenen Einfluss auf uns ausüben.
Dieses Abwägen der Motive geht nun freilich in den allermeisten Fällen so gewohnheitsmäßig und mit solcher Raschheit vor sich, dass es uns nur in wichtigeren Fällen zum klaren Bewusstsein kommt. Schon in dieser, nicht zu leugnenden Tatsache liegt der Beweis, dass wir uns bei der weitaus größten Anzahl unserer Handlungen mehr von einer Art instinktiven Triebes als wie von einer freien Willensentschließung leiten lassen.
Hieraus ersehen wir, dass vermöge des uns anerschaffenen oder durch unseren Willen zum Dasein uns eigentümlichen Charakters, die jeweilig vorhandenen, auf uns einstürmenden inneren Motive in ganz verschiedener, ja oft geradezu entgegengesetzter Art auf die einzelnen Personen wirken. Dazu gesellen sich dann noch äußere Einwirkungen der verschiedensten Art von Seite unserer Umgebung und der momentanen Verhältnisse, welche für sich wieder ganz verschieden auf den einzelnen wirken, und einen zwingenden Einfluss auf die Art unserer Entschlüsse und so genannten freien Willensäußerungen ausüben. Mit anderen Worten: infolge der uns anerschaffenen oder durch unseren Willen zum Dasein uns eigentümlichen persönlichen Charakters werden wir unter bestimmten gegebenen Umständen und Verhältnissen gerade so und nicht anders handeln, als wie wir eben handeln; ja wir können eben deswegen gar nicht anders handeln, weil wir sonst ganz anders geartet und beanlagt, d. h. ein ganz anderer Mensch sein müssten.
Der so genannte freie Wille entpuppt sich also bei genauerer Prüfung mehr und mehr als eine kluge Überlegung und kalte Verstandesarbeit. Je gewandter und schlagfertiger der Verstand des einzelnen ist, um die jeweiligen Verhältnisse klar zu überblicken und nach ihrem Werte zu beurteilen, umso weniger schwankend und zaghaft wird das Handeln eines solchen Menschen sein1; desto freier wird sein Wille erscheinen. Nur die ungeheuere, blitzartige Schnelligkeit des Gedankens und die meist ganz unbewusst und gewohnheitsmäßig vor sich gehende Gehirntätigkeit bei der Mehrzahl solcher Entschlüsse lässt uns im gewöhnlichen Leben ganz vergessen, dass bei allen diesenEntscheidungen und Willenskundgebungen der Verstand die Hauptrolle spielt, und nur in ernsten, verwickelten Fällen tritt dies deutlich zutage. Aber gerade in solchen Momenten zeigt es sich dann deutlich, dass wir uns nur durch Abwägung der verschiedenen Pro und Kontra zu einem bestimmten Entschlüsse oder Willensakte drängen lassen. Ein Wille aber, welcher durch außer ihm liegende und von ihm nicht lenkbare Motive bestimmt und beeinflusst wird, kann doch wahrlich nicht als frei bezeichnet werden! Und ich bin der Ansicht, dass, je eher und je gründlicher wir uns von der Wahrheit überzeugen, wir Menschen im gewöhnlichen Leben ebenso wie die Tiere nur auf Reize und Motive hin handeln — wenn uns auch unser etwas vollkommener organisiertes Gehirn zu richtigerer Abwägung und Beurteilung der Motive befähigen mag — um so besser für uns sein wird. Ich halte diese Erkenntnis für das einzig richtige und wirksame Mittel, um uns von dem irrigen Glauben an die Freiheit des persönlichen Willens zu befreien, und uns dann allmählich zum Begriff des wahren freien Willens durchzuarbeiten. Erst dann kann und muss es uns aber auch gelingen, uns wirklich freizumachen.
Aus dem Gesagten ergibt sich schon, dass meine bisherigen verneinenden Behauptungen sich nicht gegen den freien Willen an sich richten, sondern lediglich dagegen, dass wir ihn als ein, jeder einzelnen Persönlichkeit für jede einzelne ihrer Handlungen unfehlbar zur Verfügung stehendes und diese durchaus bestimmendes Gut zu betrachten haben.
Ich habe schon gleich eingangs auf die dringende Notwendigkeit hingewiesen, einen möglichst genauen Unterschied zwischen Persönlichkeit und Individualität festzuhalten. Nachdem ich nun der Persönlichkeit die absolut freie Willensbestimmung abgesprochen habe, wird es sich nun fragen, kommt diese Eigenschaft dann doch wenigstens der Individualität zu?