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Gestrandet weitab ihrer Heimat, hineingestoßen in einen unerklärlichen Konflikt und ohne zu wissen, wer Freund oder Feind ist: die Odyssee der Crew des Polizeikreuzers Scythe strebt ihrem Höhepunkt entgegen. Als eine alte Nemesis aus dem Verborgenen tritt, das äonenalte Werk einer rätselhaften Zivilisation zu scheitern droht und ein ehrgeiziger Anführer eine neue Machtbasis zu etablieren trachtet, müssen sich die Menschen auf der Scythe entscheiden: Rückkehr in die Heimat oder ein Schicksal im Exil?
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Seitenzahl: 466
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DIRK VAN DEN
DIE REISE DER
SCYTHE
3|RESONANZ
DIE REISE DER SCYTHE – Band 3: RESONANZ
wird herausgegeben von Amigo Grafik, Teinacher Straße 72, 71634 Ludwigsburg. Herausgeber: Andreas Mergenthaler und Hardy Hellstern, Verantwortlicher Redakteur und Lektorat: Markus Rohde; Lektorat: Kerstin Feuersänger; Korrektorat: André Piotrowski; Satz: Rowan Rüster/Amigo Grafik; Cover Artwork: Arndt Drechsler und Herminio Nieves; Print-Ausgabe gedruckt von CPI Moravia Books s.r.o., CZ-69123 Pohorelice.
Printed in the Czech Republic.
Copyright © 2019 Dirk van den Boom
Originalausgabe
Print ISBN 978-3-95981-531-4 (März 2019) · E-Book ISBN 978-3-95981-532-1 (März 2019)
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Was Bisher Geschah
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Epilog
Zwei junge Astronomiestudenten, Elissi und Jordan, entdecken ein seltsames Objekt, das sich mit großer Geschwindigkeit von außerhalb der Galaxis durch den Raum bewegt und als Nächstes im Territorium des Konkordats Halt machen wird. Sie werden einer Einheit von Wissenschaftlern auf dem Schiff Licht des Wissens zugeteilt, die im Auftrag der Astronomischen Autorität dieses sphärenförmige Objekt untersuchen wollen.
Auf der Jagd nach dem Schwerverbrecher Joaqim Gracen, der sich einer genetischen Veränderung unterworfen hat und nun nicht mehr am Aussehen erkennbar ist, verfolgen Captain Lyma Apostol und die Crew des Polizeischiffs Scythe seine Spur – bis zu dem Wissenschaftsschiff, das sich der rätselhaften Sphäre annehmen möchte.
Beide Schiffe werden in die Sphäre gezogen, in deren Inneren seit Jahrhunderten ein Kampf um begrenzte Ressourcen und das blanke Überleben herrscht. Die Sphäre indes macht sich wieder auf den Weg und nimmt die Erdlinge mit sich.
Sie erreicht einen Stern, der mit einem riesigen Konstrukt verbunden ist. Plötzlich wird die Sphäre angegriffen, sie wird geöffnet und Chaos bricht aus. Die Stabilität, die sich über die Jahrtausenden etabliert hat und der Saim als Anführer – als Messias – vorstehen wollte, ist Geschichte. Das tot geglaubte Volk der An’Sa erwacht wieder zum Leben und beginnt den Körper der Wissenschaftlerin Tizia McMillan zu transformieren. Gracen jedoch ist noch immer verschollen.
Währenddessen wird eine uralte Scythe innerhalb der Sphäre gefunden und Jordan trifft im Kern der Sphäre auf eine Präsenz, die sich selbst als Elissi identifiziert. Irgendetwas geht hier offensichtlich nicht mehr mit rechten Dingen zu …
Das Allererste, was die Crew der Scythe bewunderte, als der Polizeikreuzer aus der Sphäre hinaus in die Freiheit glitt, war der helle Schein der Sterne.
Dies war nicht der Sternenhimmel, den man von den Welten des Konkordats kannte, dies war etwas ganz anderes, ein faszinierender Anblick, der jeden erst einmal in seinen Bann schlug. So nahe am galaktischen Zentrum erfüllte der Schimmer der eng stehenden Konstellationen das Universum mit einem Leuchten, das auf einem Planeten die Nacht zum Tage werden lassen konnte. Das Sternenband glühte mit einer Intensität, die auf einfache Gemüter beängstigend wirken konnte. Auch die nicht sichtbaren Konsequenzen waren beeindruckend. Die allgemeine Strahlungsintensität hier war hoch, und die Frage, ob sich so nahe am Zentrum noch Leben entwickeln konnte, stellte sich in berechtigter Weise. Die Tatsache, dass der Sonnenherr auf dem Gestirn dieses Systems klebte und von irgendjemandem ja hier installiert worden war, deutete darauf hin, dass die Polizisten auf der Scythe noch eine Menge zu lernen hatten.
Dennoch, bei aller kühlen, wissenschaftlichen Betrachtungsweise: Für einen Moment überwältigte dieser Anblick sie alle.
»Allein die astronomischen und astrophysikalischen Daten, die wir hier aufzeichnen …«, murmelte Rivera, der als ehemaliger Kommandant eines Forschungsschiffes einen besonderen Blick auf dieses Szenario hatte. »In der Autorität gibt es genug Leute, die einen Arm gäben für die Chance, dem galaktischen Zentrum so nahe zu kommen und die Bedingungen hier zu studieren.« Er streckte einen Finger in Richtung des Kerns aus. »Wir wissen bis heute nicht, wer oder was genau im Zentrum unserer Galaxis alles zusammenhält. Was müssen Zivilisationen über dieses Phänomen erfahren haben, die ihm so viel näher leben?«
»Wie jene, die den Sonnenherrn erbaut haben?«, fragte Apostol, die nicht ganz so viel andächtige Begeisterung aufzubringen in der Lage war wie ihr Kollege.
»Ja, sicher«, bestätigte er. »Eines der großen Rätsel der Galaxis, und wir sind ihm, buchstäblich, so nahe wie kaum jemand zuvor. Das lässt Sie eher kalt, wie ich sehe.«
Apostol schüttelte sachte den Kopf. Sie wollte Riveras Begeisterung nicht mindern, und sie wollte nicht wie eine herzlose, mechanisch denkende und handelnde Offizierin dastehen. Es war alles schön und gut. Es gab einfach nur dringlichere Aufgaben.
Anstatt Rivera zu antworten, wandte sie sich an Inq, der einmal mehr als Datenschnittstelle fungierte. »Was haben wir hier draußen?«
Der Androide antwortete sofort. »Erst einmal eine Bestätigung der Daten, die Qesja uns übermittelt hat. Acht Planeten, alle unbewohnt, Stern der Klasse F. Darüber hinaus orten wir siebzehn Raumfahrzeuge, die zweifelsohne aus der Sphäre stammen und sich noch in der Nähe aufhalten.«
Apostol lächelte schwach. »Sie sind dem spontanen Impuls gefolgt, das Gefängnis zu verlassen. Jetzt wissen sie nicht, was sie mit ihrer neu gewonnenen Freiheit anfangen sollen. Was gibt es bei den Iskoten?«
»Zwei der kleineren Einheiten halten sich in der Nähe der Öffnung auf und verbreiten Saims Propaganda einer neuen Allianz, laden alle ein, sich dieser anzuschließen. Ein Iskotenraumer hat den Bereich um die Sphäre verlassen und scheint den gleichen Auftrag zu haben wie wir: Man schaut sich um.«
»Dann wollen wir brav sein und genau das auch tun. Egal was Saim vorhat, unsere Allianz erwartet Informationen, und die werden wir jetzt beschaffen.«
»Worauf sollen wir uns fokussieren?«, fragte Snead, der sich bisher schweigend seinen Kontrollen gewidmet hatte.
»Auf alles, was uns erklärt, was dieser Sonnenherr ist und was die An’Sa vorhaben. Erste Frage: Gibt es hier draußen noch Pfeilschiffe?«
Eine Frage, die nur schwer zu beantworten war, wie sich herausstellte. Die massive Hintergrundstrahlung erschwerte es, exakte Ortungsergebnisse zu bekommen. Das Gewitter, das vom galaktischen Zentrum ausgehend auf sie eindrang, war ausgesprochen mächtig, und die Anlagen der Scythe, gebaut, um in ganz anderen Umweltbedingungen zu funktionieren, standen vor einer großen Herausforderung.
»Captain, ich schlage Modifikationen an unseren Scannern vor, die ich gerne mit den Technikern so schnell wie möglich implementieren möchte«, meldete sich Inq nach kurzer Zeit. Apostol brauchte nicht lange, um ihm die notwendige Erlaubnis zu erteilen. Sie mussten sich anpassen. Je schneller sie das taten, desto besser.
Sie schauten sich um. Sie strengten sich an. Langsam entblätterte sich vor ihnen die Situation.
Es gab keine Pfeilschiffe in der Nähe. Das war beruhigend, jedenfalls nach dem, was ihnen im Inneren der Sphäre begegnet war. Was auch immer die An’Sa genau vorhatten, es war erst einmal erschreckend gewesen. Apostol war in letzter Zeit zu oft erschreckt worden, um noch Gefallen an diesem Gefühl zu finden, und sie fand sich in dieser Haltung mit der Mehrheit ihrer Besatzung, den alten wie den neuen Crewmitgliedern, absolut einig.
Sie blieben unbehelligt. Das war ebenfalls eine gute Nachricht. Keine bösartigen Angriffe. Keine mehr oder weniger subtilen Drohungen. Etwas ziellos umhertreibende Schiffe aus der Sphäre, die in losem Kontakt zueinander standen, Informationen austauschten, aber vor allem Spekulationen. Apostol lauschte den Konversationen. Es wurde deutlich, dass Ernüchterung einsetzte. Freiheit war eine feine Sache, doch als die Euphorie nun verschwand, blieben die harten Realitäten. Alte Raumschiffe, mühsam mit Spucke und Klebeband zusammengehalten, die meisten mit funktionsunfähigem Überlichtantrieb, so sie jemals einen besessen hatten, mit einer Besatzung, die niemals im freien Raum operiert hatte, weitab der Heimat, die für manche nicht nur Lichtjahre entfernt war, sondern Epochen.
Sie hatten kein Ziel. Das war die Essenz all ihrer Gespräche. Keine Antwort auf die Frage nach dem Wohin und dem Wozu.
So beobachtete Lyma Apostol, wie die ersten Schiffe, die ganz vorwitzigen von eben, langsam umzukehren begannen. Die beständige Propaganda Saims trug zweifelsohne ebenfalls ihre Früchte. Er bot ihnen Sicherheit an, Orientierung, eine Gemeinschaft, zumindest die kollektive Organisation der sonst so schmerzhaften individuellen Unsicherheit. Das zog. Das zog immer besser, je länger die Entflohenen da draußen umherflogen, Ressourcen verbrauchten ohne Ziel und Verstand, die unendliche Weite des Weltalls auf sich einwirken ließen, potenziert durch die bedrückende Nähe zum galaktischen Zentrum. Zu viel. Zu grenzenlos. Und hier, so nahe am Kern, zu hell. Es musste Angst machen. Darauf spekulierte Saim. Er sah das voraus, ergriff die Angst, drückte sie an sich. Er nahm sie wie Ton und formte daraus eine neue Gestalt, in der sie sich alle wiederfanden.
Saim war geschickt und bewies seine Intelligenz – und seine Flexibilität. Apostol kam nicht daran vorbei, sie musste ihm ein wenig Respekt zollen. Die Botschaften verfingen bei ihr nicht, aber ihr fehlte auch die jahrelange Sozialisierung als Insassin eines gigantischen Kerkers. Und aufgrund ihrer persönlichen Geschichte hatte sie ein anderes Verhältnis zur Freiheit. Sie schätzte sie als Gut, für das man jede Unwägbarkeit in Kauf zu nehmen hatte, wenn sie einen nur davor bewahrte, in den Händen grausamer Wissenschaftler zum Gegenstand widerwärtiger Experimente degradiert zu werden.
Lyma Apostol hatte mit der Ungewissheit keine Probleme. Aber wie es aussah, war sie mit dieser Haltung weitgehend alleine.
»Schau dir das bitte mal an!«, sagte Snead so leise, dass nur sie es hören konnte. Er drehte einen altmodischen, zweidimensionalen Schirm in ihre Richtung, der an einer flexiblen Halterung an der Sessellehne seiner Position angebracht war, exakt zu diesem Zweck: der Kommandantin etwas zu zeigen, das noch nicht jeder diskutieren sollte.
Apostol fing einen bezeichnenden Blick von Severus Inq auf. Es gab natürlich Besatzungsmitglieder, vor denen man prinzipiell nichts verbergen konnte.
»Sind das Monde?«, fragte sie nach kurzer Betrachtung.
»Sechs exakt gleich große, Energie abstrahlende Monde, die in exakt gleichem Abstand in geostationärem Orbit um den siebten Planeten kreisen? Lass dir das mal auf der Zunge zergehen.«
»Ich habe etwas Dummes gesagt.«
»Du hast etwas Unüberlegtes gesagt, vor allem angesichts der Tatsache, dass der siebte ›Mond‹ direkt auf unsere Position zuhält.«
Apostol nickte langsam. Da war es, das Ungewöhnliche, das Irritierende, auf das sie die ganze Zeit unbewusst gewartet hatte. Nicht ungewöhnlicher als der »Sonnenherr«, der immer noch in der Korona der Sonne saß und diese melkte, um die gewonnene Energie für … irgendwas zu verwenden. Aber irritierend genug, um Aufmerksamkeit zu erfordern. Und Ahnungen heraufzubeschwören.
»Schick das an die Eierköpfe. Lass die Bäuche auch draufsehen. Raumschiffe also?«
»Bälle aus reiner Energie. Ich erkenne keine materiellen Strukturen im engeren Sinne.«
»Wenn wir also näher rangehen?«
Snead nickte und sah sie auffordernd an. »Tun wir das?«
Das war die zentrale Frage, wie immer, und sie war diejenige, die sie zu beantworten hatte. Diesmal stellte sie das nicht vor Schwierigkeiten. Das war ihre Aufgabe: erkunden, nachgucken, und das für alle, die daheim geblieben waren – verdammt, sie bezeichnete die Sphäre bereits als Heimat! Wann hatte das denn begonnen?
»Wir tun es. Langsam. Vorsichtig. Mit aktiviertem Schutzfeld und Waffensystem. Du verstehst, die ganze Bandbreite an wirklich wichtigen Vorbereitungen, die uns ja schon beim letzten Mal nicht geholfen haben.«
Snead lächelte. »Beim letzten Mal warst du nicht vorsichtig.«
Sie erwiderte das Lächeln. »Ich bin bereit zu lernen.«
Die Scythe beschleunigte sanft.
Radek schaute besorgt auf die Uhr, suchte den Blick von Funshi Hatko, doch diese machte eine Geste, die er nicht verstand. Entweder hatte sie gerade mit den Schultern gezuckt oder ihm den Mittelfinger gezeigt, vielleicht machte das aber sowieso keinen Unterschied. Die Ingenieurin schien nicht zu bemerken, wie die Zeit verflog, sie war ganz darin vertieft, die technischen Anlagen zu studieren, die sie hier vorgefunden hatte. Für sie war die Tatsache, dass die Expedition länger als geplant dauerte, kein Problem. Je mehr Zeit sie hier unten zubrachten, desto mehr konnte sie herausfinden. An der Kraft ihrer Neugierde hatte der Arzt keine Zweifel, er empfand ja durchaus ebenfalls welche. Doch seine Sorge um Jordan war die stärkere Empfindung, und er wusste nicht, ob er damit gerade völlig allein war.
Der Resonanzbauch war ein treuer Begleiter, aber er neigte nicht dazu, besondere Solidarität oder Empathie zu zeigen. Als treuer Diener seiner Herrin hatte er ein distanziertes Verhalten an den Tag gelegt, seit die Verbindung zu Quara abgebrochen war. Er antwortete auf Fragen, aber meist eher einsilbig, und machte deutlich, dass er sich in erster Linie als Beobachter und Protokollant für seine Herrin sah, weniger als aktives Mitglied der Gruppe: Vor allem hatte er nicht die Absicht, sich aktiv an Radeks Sorgen zu beteiligen, was ihm der Arzt nicht einmal übel nehmen wollte.
Elissi wiederum war nur schwer ansprechbar. Jordan fehlte ihr, das signalisierte sie durchaus. Aber es war eine Sehnsucht, die aus starkem Pragmatismus genährt wurde: Ihr fehlte irgendwie der Widerpart oder das Äquivalent oder der Übersetzer, der Filter zur Realität, der ihr Orientierung gab und Dinge für sie verständlich machte. Das war zumindest die Interpretation des Arztes. Er verstand noch nicht ganz das Verhältnis der beiden jungen Leute zueinander, zumindest nicht, was sie für Jordan empfand oder wie sie ihn sah. Andersherum war es natürlich viel einfacher. Die meisten Männer waren leicht zu durchschauen, fand Radek, und er schloss sich selbst in diese Beobachtung mit ein. Frauen waren oft komplizierter. Und richtig komplizierte Frauen … Wie gut, dass er Arzt war. Wenn es wehtat, tat es weh, das war überall gleich. Er wusste dann im besten Fall, wie er helfen konnte. Jetzt aber hätte er gerne Hilfe gehabt, zumindest jemanden, der seine stetig wachsende Sorge um den Verbleib Jordans teilte, doch er wurde damit weitgehend allein gelassen.
Radek war kein Weichling. Aber es fehlte ihm ein wenig am notwendigen Gejammer. Das hatte für einen normalen Menschen nun einmal kathartischen Charakter. Und zu Selbstgesprächen neigte er nicht.
»Sollten wir nicht nach oben zurückkehren und Hilfe holen?«, fragte Radek nun Elissi. Die junge Frau hatte das Schicksal ihrer Mission in der Hand, und zwar buchstäblich. Die Sensorplatte des Aufzugs reagierte allein auf ihre Berührung, und wenn sie nicht wollte, dann blieben sie eben hier unten.
»Wer hilft?«, fragte sie leise.
»Wir könnten sehen, ob wir mit weiteren Tauchanzügen …«
»Das dauert lange. Aber ich bringe Sie gerne nach oben, wenn ich danach wieder hierher zurückkehren darf.«
Radek fühlte sich versucht, das Angebot anzunehmen, aber die Vorstellung, dass in der Zwischenzeit ein möglicherweise verletzter Jordan seine Hilfe brauchen könnte, hielt ihn davon ab, der Versuchung spontan nachzugeben.
Er sah sich um, doch niemand anders wollte auf Elissis Vorschlag eingehen. Keinen zog es nach oben, wenngleich auch aus höchst unterschiedlichen Gründen.
Radek bezwang sich. Warten also. Er ließ einen Dauerruf durch seinen Helm laufen, in der Hoffnung, dass er Jordan erreichen würde. Was ihn beruhigte: Der Anzug des jungen Mannes würde ihnen ein Signal senden, wenn sein Insasse tot war. Wenn er in Reichweite war und selbst noch einigermaßen funktionsfähig, was hier unten nicht von vornherein angenommen werden konnte.
Aber dennoch, das war etwas, an das man sich klammern konnte. Keine Todesnachricht war eine gute Nachricht. Radek wollte sich nicht ausmalen, was alles hätte schiefgehen können bis jetzt, er wollte lieber …
»Er kommt!«, sagte Elissi mit einer leisen Freude in der Stimme.
Der Arzt sah erst sie, dann das »Schwimmbecken« an, und er musste feststellen, dass das Schicksal seine Momente der Introspektion genutzt hatte, um das Problem zu lösen. Erst sah er nur einen Schemen, dann aber schälte sich die vertraute Gestalt eines im Tauchanzug steckenden Mannes aus der Flüssigkeit, und dann trat Jordan in die Station herein, tropfend und feucht, mit einem erschöpften Gesichtsausdruck hinter der Helmscheibe. Radek ging auf ihn zu, stützte ihn, und Jordan nahm die Hilfe sehr gerne an. Er war definitiv wackelig auf den Beinen. Ohne ein Wort zu sagen, rief Radek die Aufzeichnungen des Anzugs ab, vor allem die medizinischen Werte.
Als er das tat, spürte er Elissis Blicke auf sich ruhen. Sie hatte in manchen Dingen einen sehr sicheren Instinkt.
»Es geht ihm gut«, sagte er, nachdem er sich dessen vergewissert hatte. »Erschöpft, vielleicht sogar ein wenig überanstrengt, aber gesund. Körperlich intakt. Alles im grünen Bereich. Er bedarf der Ruhe. Und er hat definitiv zu wenig getrunken.«
Als sei das ein Stichwort, auf das Jordan nur gewartet hatte, führte dieser den Plastikschlauch zwischen seine Lippen und sog heftig daran. Die durchaus schmackhafte Flüssigkeit belebte ihn sichtlich. Der Tank war noch halb voll. Er hatte absolut zu wenig getrunken. Etwas musste ihn auf sehr profunde Weise abgelenkt haben. Radek hatte tausend Fragen, und nicht nur er. Auch Elissi legte ihre Hand mit einer fast schon fordernden Geste auf die Schulter ihres Freundes. Selbst Funshi Hatko hatte ihre eigenen Forschungen unterbrochen und trat zu ihnen. Dass der Bauch alles genau beobachtete, war selbstverständlich.
Es war bedauerlich, dass sie den Helm nicht öffnen konnten. Die Luft hier unten war nicht giftig, nur sehr dünn, und es war nicht ratsam, ihr allzu lange ausgesetzt zu sein. Doch Jordan war anzusehen, dass er langsam wieder zu Kräften kam. Er lächelte leicht, als er ihrer aller sorgenvolle Blicke wahrnahm.
»Mir geht es gut. Bin fertig, aber es geht mir gut.«
»Was hat Sie so lange aufgehalten?«, fragte Radek mit einem strengen Unterton.
»Nicht was. Wer.«
Jordan genoss die Situation ein wenig. Radek gemahnte sich zur Ruhe. Der junge Mann war derjenige gewesen, der diesen Schritt gewagt hatte. Er hatte sich das Recht erworben, die Sache ein wenig auszukosten. Solange er es nicht übertrieb.
Jordan übertrieb es nicht. Er kam sofort zur Sache. Er blickte Elissi an, berührte ihre behandschuhte Hand und drückte sie sanft. »Ich habe da unten jemanden kennengelernt, der behauptete, er sei du.«
»Wie bitte?«, platzte es aus Hatko hinaus, und alles in ihr drückte Unglaube und ein wenig Verachtung aus. »Was erzählen Sie da?«
»Das alles hier – der ganze schleimige Ozean voller Organbrocken«, erzählte Jordan völlig unbeeindruckt weiter. »Das alles ist ein … Wesen. Eine Art Biospeicher, wenn ich das richtig verstanden habe. Ein Bewusstsein. Und es hält sich für Elissi.«
Er sah immer noch seine Freundin an. »Du hast so etwas geahnt, oder?«, fragte er sie.
»Ich habe Probleme mit meinen Gefühlen«, gab sie zögernd zurück. »Aber ich habe niemals so viel und so Verwirrendes empfunden wie auf diesem Mond, in der Nähe dieses Ozeans, dieser … ich weiß es nicht.« Sie hauchte die letzten vier Worte, und sie waren getränkt in Ehrlichkeit und Verwirrung. Keiner konnte glauben, dass sie etwas vorspielte. Sie neigte ohnehin nicht dazu.
»Sie müssen das erklären, Jordan«, sagte Radek.
Der junge Mann ließ sich nicht bitten. Anfangs etwas stockend, als müsse er sich erst noch sammeln, dann aber immer flüssiger, begann er seine Erlebnisse zu schildern. Er wurde dabei nicht unterbrochen. So irre die Geschichte auch klingen mochte, niemand ließ sich ein Wort entgehen oder brachte Jordan durch unnötige Kommentare durcheinander. Auch Funshi Hatko behielt ihren eklatanten Unglauben zumindest verbal bei sich.
Irgendwann kam er zu dem Punkt, an dem sich das … Ding als Elissi vorgestellt hatte. Jordan hatte die gute Fähigkeit, die stockende und immer wieder Schleifen drehende Konversation so wiederzugeben, dass die Schleifen wegfielen, ihre Existenz aber nicht unerwähnt blieb. Radek bekam langsam eine Vorstellung davon, was es bedeutet haben mochte, mit dieser »Elissi« ein Gespräch zu führen – und welche Zeiträume dafür notwendig gewesen waren. Aus gutem Grund war bis zu seiner Rückkehr so viel Zeit verstrichen.
»Wie kommt sie dazu, sich als Elissi zu identifizieren?«, fragte er schließlich und zeigte auf die echte Frau, die alledem andächtig gelauscht hatte. »Das ist Elissi.«
»Ich habe diese Art von Frage nicht beantwortet bekommen. Ich habe den Eindruck, dass die Artikulations- und Denkfähigkeit der ›Kernelissi‹ nur langsam zunimmt. Sie ist aus einem langen Schlaf erwacht, anders lässt es sich nicht richtig erklären, und ihre geistigen Fähigkeiten sind eingeschränkt. Außerdem ist sie gleichzeitig einem Verfallsprozess ausgesetzt. Sie ist sehr alt.« Er schluckte, wirkte betroffen. »Sie ist erwacht, um zu sterben, wenn Sie mich fragen. Es ist … es war sehr bedrückend, mit ihr zu sprechen. Sie redete von einem Kampf der falschen Feinde – und sie meinte damit möglicherweise das, was die Zerstörungen angerichtet hat. Es war jedoch eindeutig, dass sie Erinnerungen an Verletzungen hat. Sie sei nicht vollständig. Sie sei betrogen worden, missbraucht, habe gekämpft und sich befreit, sei verletzt worden, sei davongerannt. Sie habe Schmerzen, wenngleich ich nicht weiß, ob sie das wirklich im körperlichen Sinne meint. In jedem Fall litt sie und leidet noch immer oder erinnert sich sehr lebhaft an diesen Schmerz. Es ging alles … sehr durcheinander.« Jordan sah Radek an. »Ich erwähnte, dass es einen Arzt in der Nähe gebe.«
»Die Patientin ist ziemlich groß«, murmelte dieser.
»Kernelissi konnte mit dem Konzept eines Arztes nichts anfangen. Niemand könne ihr helfen. Sie wirkte sehr …« Jordan warf einen kurzen Blick auf seine Elissi. »… sehr niedergeschlagen, fast depressiv. Hoffnungslos. Einfach sehr verletzt, auf mehreren Ebenen. Ich weiß gar nicht, wie ich das genau beschreiben soll. Aber sie hat mit ihrer Existenz abgeschlossen, wie eine Todeskandidatin, die langsam in die Bewusstlosigkeit hinabdämmert.«
»Wo kommt sie her?«, fragte Radek. »Wir brauchen mehr Daten, wenn ich auch nur die geringste Chance haben soll, ihr zu helfen.«
Jordan lächelte. Er freute sich auf die Antwort, das sah Radek ihm an. »Von hier.«
»Wie bitte?«, machte Funshi. Auch der Bauch kam einen Schritt näher, als könne er so besser verstehen.
»Von hier. Sie sagt, dies sei der Ort, an dem sie geboren sei. Sie benutzte nicht den Begriff der Heimat, der scheint ihr auch fremd zu sein. Aber sie hat sich eindeutig im Weltraum orientiert und mit großer Bestimmtheit behauptet, hier erschaffen worden zu sein. Vor langer Zeit. Die Tatsache, dass sie wieder hierher zurückgekehrt war, überraschte sie nicht. Als sie die Kontrolle über die Sphäre mehr oder weniger verlor, muss die Sphäre selbstständig den Rückweg angetreten haben – eine Art automatische Reaktion auf den Mangel an klaren Befehlen. So habe ich es verstanden. Die Sphäre war, so scheint es, die meiste Zeit ihrer Reise völlig steuerlos und folgte nur einem programmierten Kurs, einer Notlösung, ohne eine eigene, definitive Absicht damit zu verbinden.«
»Ich bekomme langsam eine Ahnung von dem, worüber wir hier reden«, murmelte Funshi Hatko, die mit einem Male gar nicht mehr ungläubig wirkte. »Das wird all jenen nicht gefallen, die hinter dem Tun der Sphäre eine höhere Macht und einen tieferen Sinn vermuten.«
»Wer hat sie erschaffen?«, fragte Radek schließlich. »Konnte sie dazu eine Aussage machen? War es der Sonnenherr?«
»Nein. Also, ja, der technologische Ursprung ist offenbar der gleiche. Der Sonnenherr und die An’Sa – das sind jene, so wie ich es verstanden habe, die sie als die falschen Feinde bezeichnet. Aber es sind nicht jene, die für ihre Existenz verantwortlich sind, wenngleich offenbar ihre Technologie zum Einsatz kam. Nur wurde sie wohl von jemandem gestohlen, jemandem, der die Sphäre eroberte und die Kernelissi erschuf, um die Sphäre zu manipulieren. Jemand, gegen den sich auch die An’Sa gewendet haben.«
Radek runzelte die Stirn. »Wer kann das sein? Wer erbaut eine ›Elissi‹ und ein technologisches Meisterwerk wie die Sphäre und schickt beide auf eine jahrtausendelange Reise?«
Jordan schüttelte den Kopf. »Die Dauer der Reise war so wohl nicht geplant. Es hört sich so an, als sei das ein Unfall gewesen – oder eine Konsequenz der Kämpfe, die hier stattgefunden haben. Eine Flucht der Kernelissi, ein Akt des Widerstands. Sie war in diesem Punkt erstaunlich präzise, legte Wert darauf, dass es einen Zeitpunkt in der Vergangenheit gegeben habe, in dem sie einen klaren Willen hatte und diesen dann auch durchgesetzt habe. Doch die Kämpfe und die Folgen dieser Flucht haben die Handlungsfähigkeit der Kernelissi stark eingeschränkt. Ich habe den Eindruck, dass sie für das richtige Funktionieren der Sphäre von zentraler Bedeutung gewesen wäre. Oder dafür vorgesehen. Jedenfalls lief etwas ganz furchtbar schief. So entsetzlich, dass es in einer endlosen, scheinbar wirren Odyssee endete, die erst jetzt wieder ihr Ende gefunden hat.«
»Das ist alles schwer nachzuvollziehen«, sagte Radek vorsichtig. Er wollte auf keinen Fall auch nur andeutungsweise den Eindruck erwecken, dass er Jordan für einen Lügner halte – oder die Kernelissi, die er gar nicht gut genug begriff, um zu einem solchen Urteil kommen zu können.
»Wenn also der Sonnenherr oder die An’Sa nicht verantwortlich sind für dieses Konstrukt, wer hat dann all das hier gebaut und die Sphäre damit direkt oder indirekt auf ihren Weg geschickt?«, fragte der Arzt.
Jordan wollte sich am Kopf kratzen, scheiterte aber am Helm. Er seufzte leise. »Ich bin mir sicher, die Antwort wird Ihnen nicht gefallen, Dr. Radek.«
Der Arzt lächelte freudlos. »Mir gefällt so vieles nicht. Was haben Sie erfahren? Eine Andeutung? Eine Beschreibung?«
Jordan schüttelte den Kopf. »Nein. Viel besser. Einen Namen.«
»Und der lautet?«
»Dr. Joaqim Gracen.«
Jordan sah Radek für einen Moment abwartend an, dann, langsam, nickte dieser dem jungen Mann zu. »Sie haben absolut recht, Jordan«, sagte der Arzt heiser. »Das gefällt mir nicht.«
Vor allem aber war es völlig unerklärlich.
Es war eine schöne Wiedersehensfreude.
Zumindest glaubte Tizia das.
Sie blieb von alledem nicht unbeeindruckt. Es war, als würde ein Schauer von Strahlung durch sie hindurchströmen. Es war keine Strahlung. Es war nicht einmal etwas, das unmittelbar mit ihr zu tun hatte. Es war die Reaktion der Maschine auf die Rückkehr ihrer wahren Herren, der An’Sa. Tizia hatte aufgepasst und alles genau beobachtet. Sie war regungslos geblieben, nicht nur bezogen auf ihren paralysierten und geschändeten Leib, sondern auch in Bezug auf ihren nun sehr wachen Geist, der dadurch ungeahnte Autonomie entwickelte, dass die Maschine sich ganz der Verbindung, der Vereinigung mit dem Schiff der An’Sa widmete.
Informationen wurden ausgetauscht, und Tizia hörte mit.
Nein, es war mehr als ein Hören. Ihre Verbindung erlaubte ihr eine besondere Teilhabe, ein Einfühlen in die ausgetauschten Informationen, ein Erleben, nicht mehr begrenzt durch die Kontrolle der Maschine. Seit die An’Sa da waren, seit sie von Tizias Existenz wussten, hatten sie zumindest ihren Geist befreit. Die Kälte war noch da, aber es war nicht mehr als ein Gefühl im Hintergrund. Sie durfte denken, sie durfte zuhören, sie durfte fluchen, sie durfte sich Fragen stellen … es war, als hätte sich ein Band um ihren Kopf gelöst.
Wenn sonst für nichts, so war sie den An’Sa zumindest dafür dankbar. Solange sie es nicht rückgängig machten. Diese Angst blieb ihr bis auf Weiteres.
Bilder. Visionen. Es war wirklich ein Blick in die Vergangenheit, der sich ihr öffnete. Eine ungeahnte Möglichkeit, mehr zu erfahren.
Sie sah Ereignisse. Sie sah Schnabelwesen in großen Hallen, alle direkt oder virtuell verbunden mit Maschinen. Sie spürte ihre große Sorge, und sie empfing ein Gefühl von Aufrichtigkeit, das sie gleichermaßen irritierte wie erleichterte.
Sie bekam mit, wie die Herren der Maschine damals entsandt worden waren, um den Aufbruch der Sphäre zu verhindern. Sie sah An’Sa in dünnen, schwarzen Anzügen, wie sie in den Kern vordrangen, der ganz offensichtlich auf der Basis ihrer Technologie erbaut worden war, aber nicht mehr von ihnen kontrolliert. Die Sphäre war die ihre. Der Kern war des Feindes Erzeugnis. Sie wollten ihr grandioses Werk zurückhaben, doch sie schafften es nicht.
Wie sie gescheitert waren, obgleich ihre Truppen bis zum Steuerkern des Gebildes vorgedrungen waren, erzählte die kranke Maschine eindringlich, fast jammernd. Wie die Schnabelwesen nach ihrer Niederlage schließlich im Gefängnis eingeschlossen, umgeben von Feindesland und ohne jede Aussicht, ihre Mission noch erfüllen zu können, den Freitod gewählt und die Maschine instruiert hatten: Verteidige dich. Suche nach einer Intelligenz, die mit dir kompatibel ist. Integriere sie in die Maschine. Kämpfe weiter. Gib niemals auf!
Endlos lang hatte die Maschine auf den weitgehend funktionsunfähigen Schiffen ihrer Herren gewartet, und als Tizia gekommen war, die Erste seit Ewigkeiten, mit der die Maschine sich verbinden konnte, hatte sich, das war schwer zu verstehen, erneut ein Kreis geschlossen. Hier verwirrten sich die Visionen der Maschine, verbanden sich mit denen der An’Sa, die sie nunmehr aus ihrem Schlaf erweckten. Dies alles, so verstand Tizia, geschah keinesfalls zum ersten Mal.
Die Sphäre war an ihren Ursprungsort zurückgekehrt.
Und das hieß, dass das Ringen um die Herrschaft der Sphäre erneut begann.
Zum achten Mal.
An diesem Punkt hielt Tizia verwirrt inne. Zum achten Mal. Das klang in der Art und Weise, wie Maschine und An’Sa miteinander kommunizierten, gleichermaßen logisch wie völlig bescheuert. Tizia merkte, dass ihr ein wesentlicher Teil der Geschichte noch fehlte. Sie wagte es nicht, Fragen zu stellen, außer an sich selbst. Sie wollte nicht auf sich aufmerksam machen, weil sie nicht einmal ahnen konnte, was die tatsächliche und ungeteilte Aufmerksamkeit der An’Sa für sie eigentlich bedeuten würde. War sie nicht obsolet? Waren die Bemühungen der Maschine nicht gescheitert? Es lag doch nahe, sie einfach fortzuwerfen oder hier in diesem Ding versauern zu lassen, ohne ihr die letzte Gnade des Todes zu gewähren. Eine entsetzliche Vorstellung. Die Maschine, an diesen Gedanken klammerte sie sich, hatte ihr doch versprochen zu helfen. Aber was mochte diese »Hilfe« für sie bedeuten?
Und würden sich die An’Sa an dieses Versprechen halten?
Tizia vermochte nicht zu sehen, ob sich ihre Situation gerade verbessert oder verschlechtert hatte. Sie musste aber nicht lange warten, um der Aufmerksamkeit der An’Sa gewahr zu werden. Die Präsenz vieler Augen, virtueller Natur, aber unzweifelhaft auf sie gerichtet, drängte sich ihr mit einem Male auf. Die Maschine hatte von ihr berichtet, ihr Potenzial gelobt. Eine schale Anerkennung, für die Tizia mit Leid und Verstümmelung bezahlt hatte. Sie wollte keine weiteren Opfer bringen. Tod oder Freiheit. Klang das pathetisch? Das war ihr gleichgültig. Tod oder Freiheit, nicht für andere, nicht für eine höhere Sache, für kein Ideal, einfach nur für sich. War das zu viel verlangt?
Aufmerksamkeit lastete auf ihr, doch sie spürte weder Feindseligkeit noch Verachtung. Sie spürte eine plötzliche Fürsorge, ein Interesse. War da Mitleid – oder zumindest Verständnis? Gar Schuld? Das machte ihr beinahe Hoffnung. Oder war es allein ihre Einbildung?
»Einen Weg zurück«, sagte eine neue Stimme, nicht die der Maschine, sondern eine mit echter, mit lebhafter Intelligenz dahinter, »können wir dir nicht anbieten. Der Tod aber ist kein Weg nach vorne. Dürfen wir dir eine Alternative vorschlagen?«
Nach all dem Gebrabbel der Maschine war diese Art der Ansprache, der sinnvollen, zielgerichteten Artikulation, eine so wohltuende Abwechslung, dass Tizia plötzliche Hoffnung erfüllte. Von was für einer Alternative konnte da die Rede sein? Der Wunsch nach Tod trat plötzlich in den Hintergrund.
»Gebt mir meinen Körper zurück!«, dachte sie flehentlich. Es war ihr egal, wenn sie sich erniedrigte. Sie würde betteln, auf dem Boden kriechen, wenn es nötig war.
Wieder ein Gefühl, weit entfernt, schwach, wie mehrfach gefiltert. Bedauern. Interesse. Hoffnung. Was sollte sie nur damit anfangen?
Die Stimme sprach leise, wie zu einem Kind. Zu einer Kranken. Zu einer Sterbenden?
»Die Maschine war alt. Ihr Handeln war und ist verwirrt. Sie suchte so lange nach dem Geist, dem Gott, der ihr die Möglichkeit geben würde, ihre Mission auszuführen, dass sich ihre Programmierung veränderte, degenerierte. Es war ein verzweifelter Auftrag unserer verzweifelten Vorfahren. Sie tragen die Verantwortung. Wir wollen sie an uns nehmen. Es hilft nicht, sich bei dir zu entschuldigen, Menschenfrau. Es hilft nicht, dir die Umstände in jedem Detail zu erklären und um bloßes Verständnis zu bitten. Du wurdest verletzt. Eine unsägliche Verletzung. Eine durch uns – eine andere durch jemanden, der es erst ermöglichte, dass die Maschine deiner habhaft werden konnte. Wir werden dich auch nicht anlügen. Die Wahrheit ist, wie sie ist. Bist du bereit, mit uns den Weg dieser Wahrheit zu gehen? Er ist einer, der dich nach vorne führt.«
»Was bedeutet das? Und mit wem rede ich?«
»Ich habe keine individuelle Bezeichnung, wie kein An’Sa wirklich über eine solche verfügt. Du bist anders konfiguriert. Das einzelne Wesen ist für dich von Relevanz. Gib mir einen Namen.«
Tizia überlegte kurz, kam dann aber zu einer schnellen, beinahe überraschenden Erkenntnis.
»Nein«, erwiderte sie. »Kein Name. Ich mache dich nicht zu etwas, das du nicht bist. Du bist die An’Sa? Sie alle?«
»Ich bin einer, spreche für alle, die in der Kathedrale hierhergereist sind.«
»Euer Schiff?«
»Unser Altar des Wissens, unsere Kirche der Wahrscheinlichkeit.«
»Diese Worte sagen mir nichts.«
»Das verstehen wir. Du musst etwas für uns tun, damit wir etwas für dich tun können. Wir brauchen dich. Dein Schicksal kann Bedeutung haben. Ist dir dieses Konzept geläufig?«
Tizia verbarg ihre Enttäuschung nicht. Bei allem angeblichen Bedauern über das, was ihr zugestoßen war: Sie war immer noch Teil einer Mission, und sie hatte immer noch einen Preis zu zahlen. Die Ernüchterung, die sie nun wieder empfand, war so kalt wie jene Lähmung, unter die die Maschine sie immer wieder gesetzt hatte. So oft war sie betrogen worden.
Die andere Tizia, aufmerksam, leise, fast sanft, stimmte ihr zu.
Wenn sie beide einer Meinung waren, hatte das bestimmt eine Bedeutung.
Andererseits … ein Handel? Das war eine ehrliche Sache. Wenn er ehrlich gemeint war. Tizias Interesse war keinesfalls erloschen.
»Ich möchte niemandem dienen«, sagte sie dann.
»Das ist eine Lüge.«
Tizia wusste instinktiv, dass die An’Sa absolut recht hatten. Da war eine Macht in ihr, die ihr Befehle erteilen konnte, und zwar schon seit geraumer Zeit, schon bevor sie Teil der Maschine geworden war. Die Existenz der anderen Tizia in ihrem unsichtbaren Gefängnis in ihrer beider Kopf war der beste Beweis dafür, und dennoch, jedes Mal wenn sie darüber nachdenken wollte, entglitt ihr dieser Gedanke wieder. Seit sie mit der Maschine in Kontakt gekommen war, fiel es ihr leichter, darüber nachzusinnen, zumindest immer mal wieder für einen kurzen Moment der Klarheit. Die An’Sa befreiten ihren Kopf. War das bereits Teil des Geschäfts?
Tizia nahm es als Vorschuss.
»Du bist eine Sklavin. Wir können dich befreien.«
Da war es wieder! Die Maschine hatte es ihr bereits versprochen! Sie konnte sich nur auf die Schutzmaßnahmen Eirmengerds beziehen, mit denen ihre Loyalität gesichert werden sollte. Diese waren doch nie aktiviert worden …
Die An’Sa saßen in ihrem Kopf und lasen jeden ihrer Gedanken.
»Nein«, hörte sie die Stimme antworten. »Die Nanomaschinen, die dir von jenem Wesen gegeben wurden, das du mit dieser individuellen Bezeichnung versiehst, haben die Maschine aktiviert, sie dazu gebracht, dich an sich zu ziehen und zu integrieren. Sie halfen dabei, Affinität herzustellen, die zur Komplementarität wurde. Aber das meinen wir nicht. Du erinnerst dich nicht? Die erste Verletzung? Der erste Missbrauch?«
Tizia erinnerte sich nicht.
»Das wird sich ändern. Wir befreien dich.«
»Was ist mit meinem Körper?«
»Er ist zur Hälfte zerstört. Die Biomasse ist assimiliert.«
Tizia fühlte sich übel, wenn man so über ihren Leib redete. Die An’Sa kümmerte das wahrscheinlich nicht besonders. Oder? Da war wieder die Andeutung von Bedauern und etwas Schuld. Die Schnabelwesen waren möglicherweise einfach nur schlecht darin, Rücksicht zu nehmen. Das konnte sehr erfrischend sein, aber auch zu Missverständnissen führen.
»Du bekommst eine Alternative. Wir versprechen es.«
»Eine Alternative?«
»Wir erwägen Möglichkeiten. Wir eröffnen Wege. Deine Mobilität als Individuum ist von Bedeutung?«
Wie konnte jemand ernsthaft so eine Frage stellen?
»Sie definiert mich als autonome Existenz. Einschränkungen wirken sich negativ auf mein Selbstbild aus und verursachen Stress.«
Sie versuchte, es distanziert zu sagen, gelassen, doch sie konnte das damit verbundene Leid nicht recht unterdrücken, und die An’Sa vermochten zweifelsohne darin zu lesen.
»Wir erkennen, dass das wahr ist. Wir erwägen Möglichkeiten. Ein Versprechen.«
Tizia überlegte kurz. Verrat und Versprechen, Hinhaltetaktik und Verletzung, alles war so, wie es war, und ihr Schmerz saß auf verschiedenen Ebenen, im Geiste wie im Körper. Aber das Gespräch mit den An’Sa war auf eine beruhigende, sehr sachliche Weise rational, nicht das irre Gekicher und »Kleine Fee«-Gewisper einer derangierten, viel zu lange allein gelassenen Automatik. Es war etwas, mit dem sie arbeiten konnte, etwas, das ihrer Denkweise entsprach.
»Ich soll helfen? Ein Geschäft auf Gegenseitigkeit? Kompensation?«
»Wir würden uns dankbar erweisen. Es ist eine große Mission, eine Aufgabe von Bedeutung.«
»Ich möchte schon jetzt vollständige Freiheit über meine Gedanken. Schaltet die lähmende Kälte ab. Eliminiert jeden hemmenden Einfluss der Maschine.«
Kein Zögern. »Gewährt.«
Tatsächlich wurde sie sich jetzt, als das eine Wort geäußert wurde, der Tatsache bewusst, dass die Kälte schon seit einiger Zeit, im Grunde seit Beginn ihres Gesprächs, erst in den Hintergrund getreten war, nun aber ganz verschwunden zu sein schien. Es war also in der Tat ein erster Schritt der versprochenen Befreiung, vielleicht ein Weg hin zur Wiedergutmachung. Sie wusste nicht, welche »Möglichkeiten« die An’Sa erwogen, aber sie traute einer Zivilisation wie der ihren zu, das Zerbrochene und Verstümmelte wiederherzustellen.
»Was kann ich tun?«
»Du bist ein neuer Faktor, eine große Chance, den Zyklus zu durchbrechen. Kein achtes Mal. Ein letzter Akt der Befreiung, nicht nur für dich. Wir werden dich einsetzen, um den Sonnenherrn zu befreien. Du kennst die Maschine. Du weißt, was Verwirrung ist. Du bist geeignet, mehr als wir. Du kannst heilen. Du sollst eine Heilerin werden und nicht allein sein dabei.«
Die An’Sa waren richtig schlecht darin, Dinge auf den Punkt zu bringen.
»Es bedarf noch jemand der Befreiung? Und dann ausgerechnet das Ding an der Sonne?«
»Das haben wir gerade gesagt. Es ist gut für uns alle, nicht nur für dich.«
Tizia ermahnte sich. Es war für die An’Sa offenbar nicht einfach, Konversation zu betreiben wie ein Mensch. Ständige und erneute gegenseitige Versicherung bereits einmal geäußerter Aussagen waren nicht für jeden gleichermaßen wichtig. Sie musste ein wenig aus ihrer Haut schlüpfen.
Die Tatsache, dass sie nur noch über die Hälfte dieser Haut verfügte, sollte ihr dabei helfen.
»Nun, Chuen, wie sieht es aus?«
Saim machte eine bewusste Anstrengung daraus, jede Ungeduld aus Stimme und Haltung zu verbannen. Es war gerade alles etwas viel für sie alle, und der Wissenschaftler war sichtlich nervös. Die Erwartungen des Ratsvorsitzenden lasteten schwer auf ihm, ebenso aber die Verantwortung für ein jahrtausendealtes Lebewesen, dessen Wiedererweckung absolut in den Sternen stand. Chuen war kein skrupelloser Mann, zumindest nicht so skrupellos wie Direktor Henk, sein direkter und derzeit abwesender Vorgesetzter. Er dachte tatsächlich über andere Konsequenzen nach als über die für sich selbst, was leider in vielen Situationen dem Fortschritt im Wege stand.
Dennoch, Saim musste mit dem Personal arbeiten, das ihm zur Verfügung stand. Solange Chuen Befehle ausführte, würde er dessen verquere Ethik ertragen, zumindest bis zu einem bestimmten Punkt.
»Herr, eine weitere Meldung der Iskoten«, murmelte ihm einer seiner Assistenten zu.
»Was gibt es?«
»Weitere Flüchtlinge sind in die Sphäre zurückgekehrt.«
Saim verbarg sein Amüsement. Die neue Strategie, die er sich zurechtgelegt hatte, begann Früchte zu tragen. Die Welt da draußen war so fremd und potenziell gefährlich. Hier drin kannten sie sich aus, im Schutz des Vertrauten. Dass die An’Sa und die neu angekommene Fruchtmutter sich bemerkenswert bedeckt hielten, half dabei. Saim musste ihnen für ihre Zurückhaltung beinahe richtig dankbar sein.
Der Ratsvorsitzende bekam langsam wieder bessere Laune. Die Sorgen hatten ihn in letzter Zeit doch ein wenig gelähmt. Jetzt aber fasste er neue Hoffnung. Mit etwas Glück würde er doch wieder jemand werden, der ein neues Zeitalter für sie alle anbrechen ließ.
Es würde aber helfen, mehr über das zu erfahren, was hier überhaupt vorgefallen war. Und dieser Gedanke brachte ihn zu Chuen zurück, zu seiner Frage und der Tatsache, dass der Wissenschaftler sie noch nicht beantwortet hatte.
Der Mann sah den Ratsvorsitzenden nervös an. Saim wusste ganz genau, warum. Chuen war so weit. Er hatte alle Vorbereitungen abgeschlossen, ganz wie befohlen. Es galt jetzt nur noch, auf den sprichwörtlichen Knopf zu drücken. Und hier verließ ihn ein wenig der Mut.
Das machte natürlich nichts. Dafür war Saim ja da. »Sie sind bereit, richtig?«
»Nun …«
»Chuen?«
»Ja, Herr.«
Saim legte dem Mann eine Hand auf die Schulter. Er spürte, wie der Wissenschaftler unter dieser Geste unmerklich zusammenzuckte. Gut.
»Ich habe größtes Vertrauen in Sie, mein Freund. Sie sind ein umsichtiger Mann, der immer alles bedenkt. Sehr sorgfältig. Ich bin von Ihnen überzeugt. Daher ist wirklich alles bereit, im guten Sinn. Jetzt gebe ich Ihnen den Befehl, dieses Wesen aus seinem Schlaf zu erwecken. Ich übernehme die Verantwortung. Jemand muss das tun, und es ist nicht immer eine leichte Bürde, aber ich trage sie. Ich, Chuen, nicht Sie. Sie tun, was ich sage, wie es Ihre gute Pflicht ist. Dafür kann Ihnen keiner Vorwürfe machen. Also, zögern Sie nicht länger. Beginnen wir.«
Saims kleine Ansprache zeigte die erhoffte Wirkung. Die Exkulpation war zielgerichtet, und sie berührte bei Chuen die richtige Saite. Es war immer einfacher, wenn man die Verantwortung nicht nur abschieben konnte, sondern derjenige, der sie einem abnahm, das auch noch ganz offen und ehrlich ankündigte. Alle hier im Labor, die Techniker und Kollegen, hatten es vernommen. Alles treue Gefolgsleute des Ratsvorsitzenden, der wie ein Phönix aus der Asche zu neuem Glanz erstrahlt war, zu neuer Autorität und damit auch zu neuer Legitimation. Chuen fühlte sich erkennbar besser. Saim war es egal, Hauptsache, es gab Fortschritte.
Der Tank mit dem, was alle für einen eingefrorenen An’Sa hielten, ohne sich dieser Tatsache letztlich absolut gewiss zu sein, war umgeben von einer komplexen Apparatur, die zu begreifen Saim weder Neigung noch Geduld hatte. Zahlreiche Zuleitungen verliefen in medizinische Geräte, und das, was sich in dem Tank abspielte – oder in Kürze abspielen würde –, war strengster Überwachung ausgesetzt. An Ressourcen mangelte es nicht für dieses Experiment, ein Grund mehr, warum Chuens Widerstand nur ein hinhaltender und gesichtswahrender gewesen war. Wann bekam man wohl wieder die Gelegenheit, mit so viel Spielzeug spannende Experimente durchführen zu dürfen?
»Wir beginnen«, befahl der Forschungsleiter, und seine Stimme vibrierte vor Anspannung. Saim machte einen Schritt zurück. Er wollte nicht im Wege stehen, und er würde sich nicht einmischen. Er sagte Eirmengerd nicht, wie er am effektivsten Leute umbrachte, und Chuen nicht, wie er diese aus einem jahrtausendealten Tiefschlaf erweckte. Saims Kompetenzen lagen woanders: Er war für das große Ganze und vor allem sich selbst verantwortlich.
Eine gespannte, umtriebige Atmosphäre legte sich auf das Labor. Gemurmelte Anweisungen schwirrten durch den Raum, die meisten für den Ratsvorsitzenden unverständlich. Die Labortechniker bewegten sich kaum von den ihnen zugewiesenen Plätzen, ganz in ihre Arbeit vertieft, nur Chuen wanderte von einer Station zur nächsten, prüfte, kommentierte, ermunterte oder diskutierte ein spezielles technisches Detail, das seines Augenmerks bedurfte.
Saim war zufrieden. Alle machten einen kompetenten Eindruck.
»Herr, wir haben die Anlage in Betrieb. Der Tank ist, soweit wir das beurteilen können, in einem generell funktionsfähigen Zustand, und das darin ruhende Lebewesen ist definitiv nicht verstorben. Ich kann aber keine Aussagen darüber machen, ob es nicht vielleicht gehirntot ist oder andere Beeinträchtigungen aufweist, wenn wir jetzt zur letzten Phase übertreten.« Chuen sagte es ganz sachlich, ihm war jedoch anzusehen, dass er noch einmal, ein letztes Mal, die Absolution für seine Taten benötigte. Saim war mehr als bereit, sie ihm zu geben.
»Dann schalten Sie!«
Es kostete ihn ja nichts.
Er bildete es sich vielleicht nur ein, aber das Summen intensivierte sich, und die Bewegungen der Labortechniker wurden etwas hektischer. Vielleicht war es auch nur seine eigene Aufregung, die ihm da einen Streich spielte. Dass er zunehmend gespannt war, hielt er für normal. Es war immer die Frage, welche Emotionen man zeigte und wie man sie kontrollierte, niemals, ob man auch welche hatte.
Der Tank knisterte und knackte plötzlich, als ob schmelzendes Eis brechen würde. Saim zuckte unwillkürlich zusammen, doch niemand bemerkte den kurzen Moment der Schwäche. Die Aufmerksamkeit aller war auf das Experiment gerichtet.
Erneut das Knacken. Saim reckte sich. Die milchige Scheibe, fast vollständig verdeckt durch allerlei Apparaturen, schien weiterhin unbeschädigt zu sein. Risse waren nirgends zu erkennen.
Chuen stieß einen Laut aus. Überraschung, aber auch Entsetzen. Saim war sofort alarmiert, machte einen Schritt nach vorne.
»Was ist?«, verlangte er zu wissen.
»Wir erhöhen die Temperatur schrittweise, aber irgendein Mechanismus hat die Kontrolle an sich gerissen«, sagte der Mann etwas besorgt. »Das ist grundsätzlich nicht schlecht, denn das bedeutet, der Tank ist funktionsfähig. Ich bin mir nur nicht sicher … ob es zu schnell geht.«
»Können Sie es eindämmen?«, fragte Saim.
»Nein, sieht nicht so aus.« Hilflosigkeit sprach aus der Stimme des Wissenschaftlers. »Wir sind seit einigen Sekunden nur noch Zuschauer.«
Saim versuchte, sich unbeeindruckt zu zeigen, aber er hasste es wie kein Zweiter, wenn die Dinge aus dem Ruder liefen. Er starrte auf den Tank, auf dessen metallener Oberfläche sich jetzt winzige Tropfen gebildet hatten. Erneut ertönte das knisternde Geräusch.
»Das ist doch keine Einrichtung der An’Sa«, sagte er dann, einer plötzlichen Eingebung folgend. »Das ist ein ganz normaler Tiefschlaftank, in den der Gefangene damals gesteckt wurde. Keine Technologie, die … ich meine …«
Chuen sah Saim bedeutungsvoll an. »Der Insasse ist erwacht. Er muss bei Bewusstsein sein. Und er kann …«
»… ihm fremde Technologie manipulieren? Sie unter seine Kontrolle zwingen?«
»Das ist eine naheliegende Schlussfolgerung.«
Saim machte einen Schritt zurück. »Dieses Labor ist isoliert?«, fragte er vorsichtshalber.
»Völlig.« Chuens Antwort kam schnell, fast hastig. Das deutete bereits an, dass er der Sache selbst nicht ganz traute. Was war eine solche Isolation wert? Niemand kannte das Potenzial eines An’Sa. Für einen ersten, flüchtigen Moment erahnte Saim, dass seine Entscheidung, die Erweckung anzuordnen, möglicherweise ein Fehler gewesen war.
Chuen schien seine Gedanken zu erraten. »Wir könnten versuchen, noch abzubrechen.«
»Versuchen?«
»Wir haben keine Kontrolle mehr über den Vorgang. Ich bin mir nicht sicher, ob es reichen wird, die Energieverbindung und anderen Zuleitungen zu kappen. Ich weiß es wirklich nicht.«
»Beordern Sie ein Team Iskoten hierher. Volle Rüstung!«, schnappte Saim und bemerkte, dass sein Befehl mit unnatürlicher Hast befolgt wurde. Die Besorgnis war allumfassend spürbar und die damit einhergehende Nervosität gleichfalls.
»Wir könnten den Tank zerstören«, schlug Chuen nun vor. Saim überlegte, dann aber, in erzwungener Ruhe und Gelassenheit, lehnte er den Vorschlag durch eine herrische Geste ab. So die eigene Niederlage einzugestehen, das war nicht seine Art. Und sie mussten wissen, was dort draußen geschah. Der An’Sa war nicht unsterblich, er musste geschwächt sein, und er war ganz sicher verwirrt.
Saim beschloss, seine Chance zu ergreifen. »Wir machen weiter. Zeichnen Sie alles auf. Wir brechen nichts ab.«
Chuen widersprach nicht. Einige der Techniker warfen sich zweifelnde Blicke zu, das entging Saim keinesfalls. Doch er konnte sich jetzt nicht mit den Besorgnissen irgendwelcher Subalternen auseinandersetzen. Es war schwierig genug, seine eigenen einigermaßen unter Kontrolle zu halten.
Schwere Schritte erklangen. Drei Iskoten polterten an die Laborschleuse, wurden eilig eingelassen, die Waffen erhoben. Einsatzbereit. Ihre bloße Anwesenheit, die stumme Drohung ihrer mächtigen Körper, wirkte bereits beruhigend auf Saim und verfehlte auch auf die anderen Anwesenden ihre Wirkung nicht.
»Behalten Sie das da im Auge!«, befahl Saim. »Es wird nur Gewalt angewendet zur Selbstverteidigung oder auf meinen Befehl.«
Die Anweisung wurde von den Iskoten sofort bestätigt.
»Der Tank geht auf!«, rief einer der Techniker.
»Greifen Sie in den Verschluss ein!«, zischte Chuen. »Das sind doch manuelle …«
Es knackte und knisterte erneut, und dann gab es ein seltsam befriedigendes, dumpfes Geräusch, mit dem sich uralte Gummimanschetten voneinander lösten, wie ein Seufzen der Erleichterung. Die Abdeckung des Tanks teilte sich in zwei Hälften, mit kurzen, ruckartigen Bewegungen, und Saim erwartete ein Knirschen oder dass etwas herabrieselte, doch nichts dergleichen geschah.
Er ging den einen Schritt, den er nach hinten getan hatte, wieder vor. Jetzt obsiegte doch die Neugierde.
Etwas summte, und der Körper des Tankinsassen wurde aufgerichtet, ein quälend langsamer Vorgang. Die Facettenaugen des Wesens starrten, und wie bei dieser Art von Augen üblich, erkannte man nicht, ob sie etwas wahrnahmen oder sich dahinter nur Leere verbarg.
Der Kopf bewegte sich, drehte sich sacht zur Seite. Andächtige Stille trat ein. Das Wesen war zu einer eigenständigen Bewegung in der Lage. Es lebte zweifelsohne und kontrollierte seine Motorik. Das war mehr, als …
Es öffnete den Schnabel.
Es schrie.
Ein klagender, durchdringender Laut. Saims Hände fuhren an seine Ohren, doch es nützte nur wenig. Er taumelte zurück. Der Schrei wollte nicht enden, fuhr ihnen allen durch Mark und Bein. Allein die Iskoten mit ihren Helmen waren unbeeindruckt, hoben aber instinktiv die Waffen. Sie feuerten nicht. Sie wurden nicht angegriffen. Niemand wurde angegriffen. Da war ein Wesen, das eine endlose Pein oder eine endlose Erleichterung aus sich hinausbrüllte.
Der Ton verebbte. Es wurde wieder still. Saim ließ seine Hände sinken. Der Körper des Erwachten war erschlafft, der Kopf zur Seite gelegt. Doch er atmete, das war gut zu erkennen.
»Ich habe stabile Werte«, sagte Chuen ungläubig. Er sah sich um, als wolle er dafür noch von irgendwem eine Bestätigung hören. »Stabile Werte. Es geht ihm gut. Es hat geklappt.«
»Kontrolle? Haben Sie Kontrolle?«, fragte Saim schnell.
»Die Anlagen funktionieren einwandfrei und reagieren auf Befehle«, gab der Wissenschaftler blitzschnell zurück. Die Freude war ihm anzusehen, mehr noch die große Erleichterung, ein Gefühl, das Saim durchaus zu teilen bereit war.
»Behandeln Sie ihn!«, wies Saim an und zeigte auf den offensichtlich Bewusstlosen. »Isolieren Sie ihn. Halten Sie mich auf dem Laufenden.« Er zögerte. »Kennen wir die Sprache der An’Sa?«
»Es gibt Aufzeichnungen aus der Zeit vor dem Suizid«, erklärte Chuen. »Unser Sphärenstandard ist zudem leicht zu erlernen. Ich bin zuversichtlich.«
Es war ihm anzusehen, wie froh er war, diese drei Worte aussprechen zu können. Saim sagte nichts mehr, wandte sich ab und ging. Die iskotischen Wachen ließ er vor Ort.
Man konnte niemals vorsichtig genug sein.
Der Siebte wusste genau, was er brauchte.
Er wusste genau, wen er brauchte.
Und diesmal wollte er alles anders machen, denn er war es leid.
Es war, wie jedes Mal, im Grunde eine einfache Rechnung, die er aufmachen musste, nur mit so vielen Variablen, dass es immer wieder irritierend war, was alles schiefgehen konnte. Diese Kette an kleinen und größeren Katastrophen zu beenden und damit auch eine weitere Reise der Sphäre unnötig zu machen, war das Ziel seiner allmählichen Annäherung, und schon wieder war es anders als all die vorherigen Male.
Die Scythe kam ihm entgegen.
Der Siebte unterdrückte seinen Unwillen. Er konnte sich von seiner Frustration nicht leiten lassen, dafür war sein Plan einfach zu wichtig. Er musste es nehmen, wie es kam. Und es kam ihm entgegen. Es war eine Chance, und er würde sie ergreifen, doch er spürte die wachsende Anspannung in sich, die ihn abzulenken drohte.
»Die Scythe hat uns geortet.« Es war eine Feststellung, doch die Blase nahm es als Frage und antwortete mit einem bestätigenden Gong. Der Siebte nickte. Es ergab keinen Sinn, sich verstecken zu wollen. Er war ohnehin gezwungen, mit der Crew des Schiffes Kontakt aufzunehmen. Vor allem mit zweien von ihnen.
Also tat er, was nicht zu vermeiden war. Diesmal würde es anders laufen als die vorherigen Male, denn der Siebte hatte aus dem Scheitern seiner Vorgänger gelernt. Er musste ein wenig über seinen Schatten springen, aber darauf hatte er sich vorbereitet, so gut es eben ging. Das Universum verlangte nach Veränderung, und wenn es um mehr als eines ging, war der Druck besonders hoch.
Er wollte gerade den Polizeikreuzer rufen, da nahm jemand anders Kontakt mit ihm auf, und der Siebte verzog das Gesicht, als er sah, wer es war. Der Vierte. Er machte sich manchmal zum Sprecher seiner Brüder, und gerade jetzt, wo ein neuer Zyklus begann und es an der Zeit war, einen weiteren Versuch zu starten, meldete er sich natürlich. Der Siebte hatte die irrige Hoffnung in sich genährt, die anderen würden einfach mal schweigen und ihn machen lassen, aber das war natürlich illusorisch gewesen.
Er konnte den Vierten nicht abweisen. Ein jeder verfügte über eine voll funktionsfähige Blase und konnte ihm ins Handwerk pfuschen. Die Vereinbarung war: Der Aktuellste unter ihnen handelte und leitete die notwendigen Maßnahmen, aber alle anderen blieben stets informiert, um zu kooperieren. Der Siebte, getrieben vom eigenen Unwillen über die bloße Existenz seiner Brüder, hatte diese Übereinkunft möglicherweise nicht ganz so getreulich umgesetzt, wie von ihm erwartet wurde.
»Mein Bruder«, grüßte er den Vierten herzlich. Das Abbild des Mannes erschien vor ihm, ein Blick in den Spiegel, vielleicht mit ein paar Furchen mehr – und ganz sicher versehen mit dem Mal des Scheiterns, sonst wäre der Vierte schließlich auch der Letzte gewesen. Der Vierte nahm sich und dem Schicksal genau das immer sehr übel.
»Du hast dich nicht gemeldet«, kam die Anklage. Immerhin, darauf konnte er sich bei jedem Gespräch mit den anderen verlassen: Es ging immer gleich zum Kern des Problems. Small Talk lehnten sie alle gleichermaßen ab.
»Ich war im Begriff, das zu tun.«
»Du warst im Begriff, die Scythe zu erobern.«
Der Siebte verbarg sein Mitleid mit dem Vierten. Diese Begrenztheit des Denkens war für ihn nur schwer zu ertragen, vor allem, da es im Grunde seine eigene war. Er konnte fast dankbar sein für die Existenz seiner Brüder – die zeigten ihm, wo er über sich hinauswachsen musste. Dafür gab es viele Anlässe, wie es schien.
»Nein, diesmal nicht«, sagte er.
Der Vierte stutzte für einen Moment, um die Information zu verarbeiten. Sie passte ganz sicher nicht in sein Weltbild. »Was ist deine Absicht? Du hast das ernst gemeint, den … den ›weichen Ansatz‹ oder wie du es nennst?«
»Ich werde mit den Leuten der Scythe reden. Ich habe die Absicht, gemeinsame Interessen auszuloten. Sobald wir das Siegel geöffnet haben, werden wir unsere Position den Gegebenheiten anpassen. Wir haben das letzte Mal etwas übertrieben, wie wir alle wissen. Der Sonnenherr hindert mittlerweile selbst uns an der Annäherung. Wir brauchen definitiv Hilfe und Ablenkung, um in die Nähe des Sonnenherrn zu kommen. Du musst bereit sein, wie alle anderen.«
»Gemeinsame Interessen?«, spuckte der Vierte aus. »Du bist wahnsinnig! Lyma Apostol ist nicht unsere Freundin! Sie ist unser größter Feind, unsere Nemesis, sie hasst uns abgrundtief, sie würde alles …«
Der Siebte hob eine Hand, um die einsetzende Tirade zu unterbrechen. Er hatte für so was jetzt wirklich keine Zeit. »Ich habe dich informiert. Die Vereinbarung ist klar. Ihr werdet passiv bleiben, solange ich aktiv bin und die Strategie bestimme. Dann wird der Plan in Kraft gesetzt, sobald sich die Chance ergibt.«
»Du wirst bald dem Achten folgen müssen, wenn du wirklich die Absicht hast …«
»Ich habe dich informiert«, insistierte der Siebte. »Und ich werde in Kürze auch mit dem Achten in Kontakt treten. Jetzt läuft mir wirklich ein wenig die Zeit davon, lieber Bruder. Ich wäre dir sehr verbunden, wenn du mich bis auf Weiteres nicht mehr stören würdest. Ich habe ein durchaus schwieriges Gespräch vor mir – und du bist mir keine Hilfe.« Er machte eine betonte Pause. »Keiner von euch ist das im Moment.«
Er unterbrach die Verbindung, ehe der Vierte noch ein Wort herausbringen konnte, atmete tief ein und wieder aus, musste sich etwas beruhigen. Diese Idioten regten ihn auf. Er durfte sich davon nicht aus der Fassung bringen lassen. Es stand zu viel auf dem Spiel.
Die Konversation mit dem Vierten hatte ihn nur ein klein wenig aus dem Konzept gebracht. Er benötigte nicht mehr als einen Moment, um sich zu sammeln. In dieser Zeit flogen die Blase und Scythe weiter aufeinander zu. Er konnte es jetzt nicht mehr hinauszögern.
Eine wischende Handbewegung, und der Ruf eilte durch das Vakuum. Es war, wie er es erwartet hatte: Momente später etablierte die Scythe eine Verbindung. Als er das Abbild Lyma Apostols vor sich sah, spürte er für einen Augenblick die Welle des Hasses, die ihn erfüllte. Sie war seine Schwester und doch sein größter Feind. Und sie teilten noch etwas, ein Geheimnis, das er auf ewig zu bewahren trachtete. Es war dieses eine Ereignis, das seine sonst so meisterliche emotionale Stabilität bedrohen konnte.
Fort mit diesem Gedanken!
Dass er sich auf der einen Seite zu ihr hingezogen, auf der anderen von ihr abgestoßen fühlte, würde ihr Gespräch vereinfachen. Er blieb in der Mitte, im perfekten Gleichgewicht.
Er erkannte sie.
Sie erkannte ihn nicht. Die Blase verbarg in diesem Moment noch sein wahres Aussehen. Sein Avatar hatte mit ihm selbst wenig zu tun, aber er gefiel ihm gut. Ihn zu erschaffen, war ihm eine Freude gewesen, und ihn präsentieren zu dürfen, dem kritischen Auge des Publikums ausgesetzt, erfüllte ihn ebenfalls mit Freude. Er würde bald darauf verzichten müssen.
»Ich bin Captain Lyma Apostol vom Polizeikreuzer Scythe. Wir bestätigen Ihren Ruf.«
Gleichzeitig übermittelte die Scythe Sprachdateien. Der Siebte bedurfte ihrer natürlich nicht, aber er wartete besonnen ab, bis die Übermittlung abgeschlossen und genug Zeit für eine »Verarbeitung« verstrichen war, um nicht zu aufdringlich zu erscheinen.