Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Der Hive hat gesiegt. Die gigantischen Bauwerke der Eroberer stehen überall verteilt, plündern die Welten der Menschen aus. Der Hive kommuniziert nicht. Der Hive kooperiert nicht. Der Hive führt die Erde und alle besiedelten Welten stumm dem Abgrund entgegen. Um die Mahnmale der Eroberung haben sich die kläglichen Reste der geschlagenen Menschheit in Siedlungen eingefunden, die sie mit letztem Stolz Metropolen nennen. Obgleich nicht mehr als ein fader Abglanz alter Herrlichkeit, sind dies die Orte, an denen Hoffnung bleibt und die alten Legenden gepflegt werden. Einer dieser Mythen ist die Geschichte um den Letzten Admiral, der irgendwo, entrückt in Raum und Zeit, darauf wartet, geweckt zu werden und die Menschheit in die Freiheit zu führen. Als eine Gruppe von Abenteurern sich anschickt, dieser Legende nachzugehen, in der Hoffnung, den Hive doch noch besiegen zu können, stellt sich ihnen nicht nur die Macht der enigmatischen Bezwinger in den Weg. Nicht alle teilen ihren Traum. So beginnt es in Metropole 7 – und es droht, auch dort zu enden.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 469
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
DIRK VAN DENBOOM
DER LETZTE ADMIRAL 1: METROPOLE 7
wird herausgegeben von Cross Cult, Teinacher Straße 72, 71634 Ludwigsburg. Herausgeber: Andreas Mergenthaler; Verantwortlicher Redakteur und Lektorat: Markus Rohde; Lektorat: Katrin Aust; Korrektorat: Peter Schild; Satz: Rowan Rüster/Cross Cult; Cover Artwork: Arndt Drechsler; Print-Ausgabe gedruckt von CPI Moravia Books s.r.o., CZ-69123 Pohorelice.
Printed in the Czech Republic.
Copyright © 2019 Dirk van den Boom
Originalausgabe
Print ISBN 978-3-86425-867-1 (Oktober 2019) · E-Book ISBN 978-3-96658-005-2 (Oktober 2019)
WWW.CROSS-CULT.DE
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Wenn du ein Springer bist, musst du auch springen.
Ryk wusste das. Er hatte es von Kindesbeinen an gelernt. Wer sich nicht traute, konnte kein Springer sein. Wer kein Springer wurde, wühlte im Dreck, arbeitete in der Faktorei oder quälte sich für die Eiserne Gilde. Springen oder nicht, das war der Unterschied zwischen ein wenig Leben und bloßer Existenz.
Ryk hatte sich schon vor langer Zeit entschieden.
Doch vor jedem Sprung zerriss es ihm das Herz.
Und er erwartete den Schmerz durch den Schorf.
Er hielt sich mit einer Hand an der Stange fest, der Wind zerrte an seiner Jacke. Das schwere Bündel auf seinem Rücken, festgezurrt mit einem um den Brustkorb gewickelten Seil, erinnerte ihn an seine Mission. Von Siderit nach Stink, drei Stationen mit der Muskelbahn, deren Triebwurm die Rohstoffe aus ferneren Gefilden in den Hive brachte. Die fettig glänzenden Plastiksehnen zogen den Zug voran und übergaben die runden, uneben geformten Waggons den Klauen, die sie weiterzogen, mit immer größerer Geschwindigkeit. An der Kurve in der Nähe von Siderit-Ost wurde der Zug langsamer. Hier hing Ryk an der Stange und würde springen.
Er machte sich beinahe vor Angst in die Hose. Aber es gab keine Alternative. Ihm war aufgetragen, das Paket schnell zum Wachtmeister zu bringen. Schnell hieß, auf den Triebwurm zu springen und das Großmaul zu lähmen, um dann als blinder Passagier bis Stink mitzufahren und dort abzuspringen, fertig.
Fertig.
So einfach war es nie. Erprobt? Ja. Einfach? Oh nein!
Er kniff die Augen zusammen. Das schleifende, schmatzende Geräusch der sich nähernden Muskelbahn forderte seine ganze Aufmerksamkeit. Es kam auf den richtigen Moment an. Sprang er zu früh, landete er auf der Knochenschiene und wurde zerquetscht. Sprang er zu spät, war der Zug schon zu schnell und er würde vom Dach fliegen, ehe er sich verankern konnte. In der anderen Hand hielt er den Haken, von Papa Ka aus den »Resten« geschmiedet. Papa Ka hatte damals nur dafür verlangt, dass Ryk ihm einen blies. Ryk hatte bezahlt, er zahlte immer, und Papa Ka baute die besten Haken. Der salzige, schleimige Geschmack des Spermas in seinem Mund war nicht das Schlimmste, was er jemals gekostet hatte. Hivescheiße in der Faktorei war schlimmer.
Also springen. Der Lohn winkte, eine gute Bezahlung. Und ein fähiger Springer verlor seinen Haken nie, pflegte ihn gut. Mit etwas Glück würde er Papa Kas Dienste nie wieder in Anspruch nehmen müssen. Mit etwas mehr Glück würde der alte Scheißkerl bald verrecken.
Das Schmatzen wurde lauter. Ryk hörte genau hin. Irgendeine der Klauen musste beschädigt sein. Das charakteristische Quietschen war nicht zu überhören. Er würde es an den Clan der Springer melden müssen, als Warnung. Wenn eine Klaue den Geist aufgab, kamen die Kleinen Meister, es war eine automatische Reaktion. Niemand sollte in der Nähe sein, wenn die Reparatur begann, denn kein Kleiner Meister kam ohne eine Gruppe Großmäuler und ein Großmaul würde das tun, was es am besten konnte, wenn es Abfall witterte, der sich noch bewegte.
Ryk hatte das einmal mit angesehen. Er wollte dieses Erlebnis nicht wiederholen. Die Aussicht, einem dieser Exemplare gleich die Kehle durchtrennen zu müssen – nicht ganz, nur ein bisschen! –, machte ihm Angst.
Jetzt!
Er löste die Hand von der Stange und spürte den Wind, die Sekunden der Schwerelosigkeit, das sinkende Gefühl im Bauch, die aufsteigende Panik, die absoluter Kontrolle wich. Er traf auf, sank in das weiche Material des Waggons ein und ging in die Knie. Seine freie Hand grub sich in das Dach und fand Halt. Gut. Dann den Haken, schnell, routiniert. Das Metall bohrte sich in die Masse, er sah die feine, durchsichtige Flüssigkeit austreten und sich zu hartem Eiter verformen, der sich schorfig um den Haken legte. Blieb er länger als eine Stunde hier verankert, würde ihn Ryk nur mit einem Messer wieder lösen können.
Die Reise bis Stink dauerte keine Stunde. Wenn alles gut ging.
Er duckte sich. Klauen scharrten und Muskeln stöhnten, als der Zug die Kurve bei Siderit-Ost bewältigte und die Waggons sich ausrichteten. Ryk sah vor sich den Hive. Wie er sich Kilometer in die Luft erhob, war immer wieder beängstigend, Ehrfurcht gebietend. Wie schade, dass den Bewohnern des Hives völlig egal war, ob sie jemand anbetete oder respektierte oder nicht. Abfall, auch der bewegliche, war genau das. Sogar die Propheten hatten daran nie etwas ändern können und niemand schleimte sich beim Hive mehr ein als diese Irren.
Das Großmaul. Es saß vorne im Triebwurm, versunken im vordersten Hohlraum. Der Muskelzug war voller Räume, in denen die Waren gelagert wurden. Und das Großmaul vorne war der Pilot. Zumindest nahm Ryk das an. Man konnte sich nie ganz sicher sein.
Er musste sich bewegen. Er spürte, wie der Schorf auf seiner Haut aufzuplatzen drohte. Die dicke Creme half manchmal, aber die Kleidung scheuerte auf den Wunden. Er biss die Zähne zusammen. Keine Zeit für Wehleidigkeit.
Er arbeitete sich nach vorne, Haken und Messer bereit, bis er an die Lamellen kam, die den vorderen Teil des Wurms abschlossen. Erneut ein entschiedener Schlag mit dem Haken, dann riss er eine der Lamellen hoch. Es knirschte und blassrotes Blut sprudelte hervor. Es stank erbärmlich und Ryk war für den Fahrtwind dankbar. Er sah in die Kammer, direkt auf den knotigen, muskulösen Rücken des Großmauls. Es hatte das Gesicht nach vorne gerichtet, als ob es durch die geschlossene Wand etwas sehen könnte. Vielleicht konnte es das. Das Großmaul steckte mit dem Unterkörper im Triebwurm, verbunden durch Fleisch und Plastik und Metall, Teil des Muskelzugs und Passagier zugleich.
Jetzt schnell!
Ryk ließ sich mit den Füßen voran durch die blutige Öffnung in den Triebwurm gleiten, fand Halt, balancierte sich aus und hob das Messer. Da, das Großmaul zuckte, als es seine Präsenz wahrnahm. Manchmal ging das schneller, manche waren schwerer von Begriff. In jedem Fall war es zu spät.
Ryks Klinge fuhr durch den Hals des Wesens, durchschnitt Knorpel, Röhren und Sehnen und hörte an der richtigen Stelle auf. Das Großmaul zuckte und der Kopf fiel zurück. Aus dem viereckigen, mit langen Metallzacken bewehrten Mund gurgelte etwas, Körperflüssigkeiten stiegen auf, an denen es erstickte. Würde Ryk den Hals ganz durchtrennen, würde er auch die Alarmleitung treffen, die links am Nacken saß und ein Funksignal auslöste – oder irgendetwas anderes. Dann würde der Triebwurm denken, sein Pilot sei tot. Und zu Recht. Kleine Meister würden kommen und mit ihnen weitere Großmäuler, sehr wütend, sehr mobil und sehr stark bewaffnet. Ryk hätte keine Chance.
Er packte in den offenen Hals und tastete nach der Alarmleitung. Sie saß fest und übermittelte unbeschädigt weiter beruhigende Impulse an den Triebwurm. Der kannte den Weg. Es war nicht mehr weit bis zur Heimat.
Ryk atmete aus. Es war gelungen. Einmal mehr. Die Spannung fiel von ihm ab, das Pochen seines Herzens wurde langsamer. Er kletterte wieder aus der Öffnung. In der Kammer stank es nach blutendem Großmaul. Hier oben, auf dem Wurm, war die Luft frisch und die Aussicht interessant. Er hockte sich auf die Haut, verankerte sich mit dem Haken, fand eine bequeme und sichere Sitzposition und entspannte sich.
Der Zug arbeitete sich vorwärts und manchmal, wenn man genau hinhörte, vernahm man das Stöhnen des Triebwurms, wie er sich voranquälte, gezogen und gepackt von Klauen, die eigene Fahrt durch beständige Muskelkontraktionen unterstützend und den Bauch voller Materialien und Rohstoffe, was auch immer aus den Biominen in den Hive gebracht wurde. Ryk wollte es gar nicht so genau wissen. Aber man hörte Gerüchte.
Dem Triebwurm tat alles weh. Eine Existenz beständiger Mühsal. Beinahe, nur beinahe konnte man Mitleid bekommen. Ryk empfand das manchmal so. Er war oft nahe an den Würmern und hörte ihre Qual. Warum genau man ihnen die Möglichkeit gegeben hatte, solche Laute auszustoßen, verstand der junge Springer nicht. Außer ihm hörte sie doch niemand. Und selbst wenn – wen sollte es kümmern?
Den Hive nicht. Die Menschen nicht, die an seinen Rändern irgendwie überlebten, ignoriert, solange sie nicht störten, aktiv gejagt, sobald die Biominen nicht genug abwarfen – wie gesagt: Es gab Gerüchte. Ryk hatte oft Zeit gehabt, die Laderäume zu inspizieren, und darin in schleimiges Gel eingepackte Dinge entdeckt. Was genau es war, wusste er nicht. Er hätte alles auspacken können, ohne bedroht zu werden. Wer einmal im Inneren einer Hivemaschinerie war und das Großmaul unter Kontrolle gebracht hatte, war sicher, bis er beim Hive eintraf. Erst dann wurde es gefährlich.
Der Hive wurde größer. Ryk legte sich auf den Bauch und spürte die Wärme des Muskelzuges durch seine Kleidung. Im Winter konnte man sich hier richtig aufwärmen, vor allem, wenn der Eisregen kam. Lag man eine Stunde auf dem Zug, war man aufgetaut und einsatzbereit. Im Sommer stand man besser. Es war Sommer, aber Ryk musste den Zug spüren, um zu wissen, wann eine der Beschleunigungsphasen begann. Die Schiene verlief von hier bis zum Hive nahezu schnurgerade und der Zug würde irgendwann demnächst seine Geschwindigkeit nicht nur drastisch, sondern auch sehr plötzlich erhöhen. Ryk wollte darauf vorbereitet sein und als erfahrener Springer wusste er die Anzeichen zu deuten. Kleine Muskelkontraktionen, eine andere Art von Stöhnen des Triebwurms, das erwartungsvolle Zittern der Kriechringe und Laufbeine unter dem Zug, mit dem er sich auf die hohe Geschwindigkeit einstellte. Ryk war ein Profi. Dies war sein hundertsechzehnter Sprung. Er hatte sie gezählt, wie alle Springer. Vom Strichtattoo aber sah er ab. Er wollte sich nicht ausmalen, wie die zahllosen Markierungen auf seiner Haut aussehen würden, wenn diese alt und schrumpelig wurde – falls er ein so hohes Alter überhaupt erreichen würde.
Für einen Springer, das musste er einräumen, wäre das doch eher ungewöhnlich.
Da, der Triebwurm jammerte. Er war so weit, wusste, was auf ihn zukam.
»Armer Wurm«, murmelte Ryk. Er holte tief Luft. Es war Zeit für die Worte, die seine Ausbildung stets begleitet und sich ihm für immer ins Gehirn eingebrannt hatten. Er sprach nicht laut, aber hörbar: »Mir ist zum Geleite, In lichtgold’nem Kleide, Frau Sonne bestellt; Sie wirft meinen Schatten, Auf blumige Matten, Ich fahr in die Welt«.
Das Poem der Routenspringer, das winzige Stück Kultur, das sich aus grauer Vorzeit bis in ihre Gegenwart erhalten hatte. Er wusste nicht, wer sich diese einfachen Zeilen ausgedacht hatte, sicher jemand, der in einer besseren Zeit gelebt hatte, für den eine Reise wie diese etwas Angenehmes gewesen war. Ryk mochte das Springen und er bildete sich ein, eines der angenehmsten Leben unter all seinen Zeitgenossen zu führen, wie viele seiner Profession. »Ich fahr in die Welt«. Das stimmte doch. Und die Sonne schien. Nur was genau »blumige Matten« sein sollten, konnte er sich nicht vorstellen. Der Hive war ein unübersichtlicher, bis in die Wolken aufragender, knorpeliger Gigant harter Bio- und Metallmasse, konisch geformt, dessen Abflugplattform der Sporenschiffe manchmal von Wolken verhangen war. Und alles, was zu seinen Füßen errichtet worden war und geduldet wurde, die ganze Metropole 7, war noch unübersichtlicher, chaotisch, wild, dreckig, heiß und kalt und ganz und gar ohne Blumen. Ryk war herumgekommen. Er war ein Springer, einer der besten.
Keine Blumen. Das könnte er jederzeit beschwören.
Der Muskelzug zog an. Ein plötzlicher Satz, ein Knirschen, als die Hornhaut über die Gleise schabte, doch Ryk war vorbereitet. Den Haken tief im Fleisch des Triebwurms, flach auf der warmen Oberfläche liegend ging der Ruck auch durch seinen Körper, aber ohne ihn hinunterzuwerfen. Der Wind pfiff plötzlich weitaus schärfer um seine Ohren. Die Umgebung verschwamm etwas. Wer einen Muskelzug zum ersten Mal sah, sein schwerfällig scheinendes Ächzen, das quälende Leid, wenn er Steigungen und Kurven anging, würde niemals glauben, zu welcher Geschwindigkeit er auf ebener, gerade Strecke imstande war.
Manche Springer, vor allem jene ganz am Anfang, hatten diesen Unglauben mit dem Leben bezahlt. Ryk war immer sehr vorsichtig gewesen. Es überraschte ihn manchmal immer noch, aber es war nichts, was ihn aus der Bahn warf. Hundertsechzehn Sprünge. Ryk wusste, wie es ging. Ihm machte keiner mehr etwas vor.
Der Rucksack lag schwer auf seinem Rücken. Keine Ahnung, was in dem sorgsam verschnürten Paket war. Er hatte den Auftrag von Birbir bekommen, der, wie alle wussten, für den Räderclan arbeitete, gerüchteweise für das Rad selbst, aber da war sich natürlich niemand absolut sicher. Ein Paket, schnellste Lieferung, für den Wachtmeister. Der Wachtmeister war wichtig, er war eine der wenigen Institutionen, auf die sich die verschiedenen Clans und Sekten in Metropole 7 einigen konnten, und sie alle kamen für seinen Unterhalt auf. Vielleicht war in dem Paket Nahrung, vielleicht Drogen, vielleicht Tauschware. Es war für den Wachtmeister und das war alles, was Ryk wissen musste. Birbir zahlte gut. Das war auch wichtig, denn Ryk sprang, um gut leben zu können, besser als die meisten anderen.
Und um den Wachtmeister zu besuchen. Mit ihm zu reden. Ryk würde es niemals zugeben, aber er hätte den Sprung für diese besondere Gelegenheit vielleicht sogar umsonst gemacht. Birbir ahnte das sicher. Er hatte beharrlich verhandelt und hätte Ryk beinahe über den Tisch gezogen. Der Springer würde künftig besser aufpassen müssen.
Aber der Wachtmeister! Und dann auch noch Uruhard, der für seine Gelehrsamkeit bekannt war, eine Begabung, die nicht alle Springer gleichermaßen schätzten. Ryk aber hatte schon immer lernen wollen, schon immer Fragen gestellt, war schon immer allen damit auf die Nerven gegangen.
Was für eine wunderbare Sache! Ryk und der Wachtmeister! Direkt am Arsch des Hives, wo alles rauskam und alles reinging, hielt er Wacht, um zu melden, wenn etwas sich auf den Weg machte, was allen gefährlich werden konnte. Ein Schwarm Drachenkrieger, die herabstießen und aus der Luft töteten. Ein Trupp Großmäuler, um den Perimeter zu reinigen. Man wusste nie. Vielleicht sogar mal ein Hivekopf, aber so einen hatte man schon lange nicht mehr gesehen. Ryk wusste nicht einmal, ob sie überhaupt existierten. Andererseits: Der Hive funktionierte bestens, also musste es Köpfe geben, die dem am nächsten kamen, was unter ihnen als intelligent galt.
Denn die Menschen in Metropole 7 wie auf der ganzen Erde überlebten nicht, weil sie dümmer waren als der Hive, sie überlebten, weil sie viel intelligenter waren. Schwächer, ja. Hilflos in vielem. Fast ausgerottet, als die Stöcke gelandet waren und die Union vernichtet hatten, dieses grandiose, legendäre, halb vergessene Sternenreich der Menschen, das verlorene Utopia, das alte Schlaraffenland, damals, als die Menschen Terra noch regierten und nicht nur im Schatten der eingewachsenen und verwurzelten Stöcke mehr oder weniger überlebten.
Damals.
Lange her.
Ryk dachte oft daran, aber es war ein Schmerz, dem er sich nur dann aussetzte, wenn er seinen Verdienst in Gelbier anlegte und sich richtig zudröhnte. Anders war das nicht zu ertragen, nicht für einen Träumer wie Ryk, der viel zu viel Fantasie hatte, als gut für ihn war. Der zu viel wissen wollte.
Jetzt war auch nicht die Zeit für Fragen. Bald musste er abspringen. Blieb er zu lange, würde der Hive ihn verschlucken und das wäre sein Todesurteil.
Der Muskelzug raste auf den Hive zu und damit auch Ryks Ziel entgegen. Der Wachtmeister. Ryk war so froh. Verdammt, er hätte es getan, ohne dafür eine Bezahlung zu verlangen.
Der junge Mann grinste in den Wind.
So gesehen hatte Birbir möglicherweise doch nicht so gut verhandelt.
Er erreichte seine Endstation in etwa zur erwarteten Zeit. Muskelzüge waren im Regelfall erstaunlich pünktlich, wie ein Herzschlag, der auch immer zum vorherbestimmten Zeitpunkt kam, weil dies eben zum Funktionieren des Körpers gehörte. Ryk kannte sich aus. Dies war sein dritter Sprung nach Stink und er rümpfte bereits zehn Minuten vor Ende der Reise die Nase. Stink war weder ein origineller noch ein einfallsreicher Name für die Gegend direkt am Hivestock, aber er war auf seine wunderbar fantasielose Weise zutreffend. Was immer auch die Eroberer im Hive betrieben – niemand wollte es so genau wissen –, es produzierte Abfall, auch organischen, und während dieser für wenig nützlich war, außer als guter Dünger, stank er entsetzlich, auf eine besonders beißende und aggressive Art, als wolle sich der Geruch durch die Nase in die Eingeweide bohren und dort Eier legen.
Es gab Leute, die sich daran gewöhnt hatten, und gerade die Bewohner von Stink galten diesbezüglich als besonders widerstandsfähig. Ryk aber, als bloßer Besucher, gehörte zweifellos nicht dazu.
Er zog ein Tuch vors Gesicht. Es nützte nichts, aber er sah recht verwegen damit aus und man wusste ja nie, auf wen man traf. Stink war eine unsichere Gegend, regiert von einem Stadtherren, der sich selbst nur »Sire« nannte. Niemand mochte ihn. Damit passte er gut zur Gegend, denn niemand mochte Stink. Wäre der Wachtmeister nicht hier stationiert, gäbe es nur wenige Gründe, diesen Teil der Metropole aufzusuchen. Vielleicht noch die Bar der Hybriden, von der Ryk schon so einiges gehört hatte. Das Wahrzeichen aber war der Spindelturm, in dem der Wachtmeister residierte und der auch Anziehungspunkt für viele war, die etwas Ruhe und Sicherheit suchten, denn er wurde von allen Fraktionen respektiert, war unantastbar und niemand erhob Anspruch darauf, außer seinem wichtigsten Bewohner.
Ryk ließ sich vom langsamer werdenden Zug gleiten, eine schnelle, fast schon elegante Bewegung, und er löste dabei den Haken, der ohne großen Widerstand aus dem Fleisch des Triebwurms glitt. Der hatte wieder zu stöhnen begonnen. Er würde durch eine der zahlreichen Öffnungen in das Innere des Hives weiterfahren und vielleicht hatte er davor Angst. Vielleicht stank es darin auch bloß noch viel schlimmer als hier draußen.
Ryk hatte sein Ziel erreicht. Direkt neben der Strecke hatte der Stadtherr die Plattform für die Springer erbaut – das, was einem Bahnhof am nächsten kam. Eine wackelig aussehende Konstruktion aus Metallplatten und Schienen, kreuzweise angeordnet, mit einer Leiter versehen, die gut sechs Meter bis zum Boden reichte. Früher hatte es daneben noch alte Matratzen gegeben, für jene Springer, die den richtigen Zeitpunkt verpassten. Mittlerweile waren diese Buden gewichen, Teile des Slums, der mehr oder weniger Stink war.
Ryk sprang nicht daneben. Er sprang nie daneben.
Der hundertsiebzehnte Sprung. Er spannte seine Muskeln an und wappnete sich gegen das feuchte Gefühl des aufbrechenden Schorfs, das unausweichlich war. Er taxierte die langsam näher rückende Plattform und seine Intuition übernahm das Kommando. Entfernung, Geschwindigkeit, Krafteinsatz, Absprungpunkt, alles vermischte sich in seiner unterbewussten Wahrnehmung zu einem Signal, das er an seinen Körper schickte.
Jetzt!
Ryk sprang.
Eine perfekte Bewegung, ein perfekter Zeitpunkt, ein perfekter Einsatz seiner Muskeln. Er glitt durch die Luft, ohne Angst und die Plattform direkt vor sich.
Der Springer kam federnd auf dem Boden auf, fiel nicht hin und ruderte nur kurz mit den Armen, um das Gleichgewicht zu halten. Das gab Bonuspunkte, wenn jemand zusah, und er fühlte sich gut, obwohl die wunden Stellen scheuerten und brannten. Am Rand der Bahn, unweit der Plattform, saßen einige Dweller auf dem Boden und schauten ihn apathisch an. Sie kauten offenbar auf Scheißnüssen herum und waren von Ryks Tat kein bisschen beeindruckt. Die kleinen Kerne fanden sich im Abfall, der aus dem Hive fiel und den Gestank verursachte, der hier alles durchdrang. Doch die strenge Duftnote hielt die Süchtigen nicht davon ab, mit bloßen Händen durch den Mist zu gehen und sich die Nüsse herauszuholen, die eigentlich keine waren. Niemand wusste, was genau sie waren, und viele, sowohl jene, die sie kauten, als auch jene, die sie eklig fanden, wollten es auch nicht so genau wissen.
Unbestritten war die Wirkung. Der Kauer wurde abhängig und man fühlte sich wohl dabei, sehr wohl sogar, und vergaß den Hunger und die Angst vor den Großmäulern oder den Banden oder was einen sonst noch bedrohte. Durst empfand man aber interessanterweise und die Dweller labten sich am Brackwasser aus den Pfützen oder am eigenen Urin. Der Körper baute innerhalb weniger Monate massiv ab, die meisten verhungerten, ohne es zu merken.
Es ging ihnen gut.
Also störte sie niemand bei der allmählichen Selbstzerstörung.
So war es in der Metropole 7 nun einmal.
Ryk wollte nie so tief sinken. Sein Bruder war ein Kauer, er saß nur an irgendeinem anderen Straßenrand. Er wusste nicht genau, wo eigentlich. Vielleicht war er bereits tot, es war beinahe zu hoffen. Ryk wollte auch nicht mehr nachforschen, das Kapitel hatte er abgeschlossen. Aber er wollte nie so enden. Ein Grund mehr, weiterhin zu springen. Dadurch merkte er wenigstens, dass er noch richtig am Leben war.
Ein Wachmann des Sire nickte ihm zu. Er hatte unter der Plattform auf einem Hocker gesessen, gelangweilt und nur noch auf das Ende seiner Schicht wartend. Ryk trug das Abzeichen des Springerclans, er hatte freie Passage in der ganzen, weiten Metropole und so lange er sich an die Regeln hielt, wurde er nicht behelligt.
Ryk sah den Spindelturm von hier, er war nicht zu übersehen. Mit seinen gut zwanzig Metern überragte er fast alle Gebäude deutlich. Kein Grund, Zeit zu verlieren. Er orientierte sich, entschied sich für eine der schmalen Gassen und hielt auf das Bauwerk zu. Die Straßen hier waren eng und überbevölkert, es gab viel mehr Menschen als im Stadtteil Siderit, wo Ryk sein Zuhause hatte. Trotz des Gestanks war diese Gegend nicht ohne Attraktivität. Die Anhänger der Propheten waren besonders zahlreich, ihr oranges Kostüm weithin sichtbar. Sie dominierten das Straßenbild und ihre kahlen Köpfe wurden durch die grell geschminkten Augen dominiert. Sie hielten den Hivestock für einen Tempel, seine Bewohner für Götter und die Scheiße, die er auf sie regnen ließ, für einen Segen. Ryk kommentierte das nicht in ihrer Gegenwart, es war nicht seine Angelegenheit. Die Propheten lebten ganz gut mit dieser schönen spirituellen Interpretation ihrer fatalen Situation und die Gläubigen hatten etwas, das ihnen erklärte, warum sie so leben mussten. Sinn suchen und finden war ein ganz ordentlicher Ersatz, wenn die Suche nach Nahrung wieder erfolglos geblieben war. Ryk wusste das, doch er hatte den Sinn nie gefunden, weswegen er auf Muskelzüge sprang und dabei Kopf und Kragen riskierte.
Konsequenterweise war er selten hungrig.
Er bahnte sich seinen Weg durch die Menge. Einen Springer belästigte niemand. Eines der Privilegien, die Ryk genoss. Es machte ihn nicht zu etwas Besonderem, er war nur jemand aufgrund der Tatsache, dass er etwas Wichtiges mit sich herumtrug und dafür sein Leben aufs Spiel setzte. Die Stadtherren beschützten den Clan, der ihnen Nutzen brachte. Ryk war ein gut funktionierendes Instrument. Er neigte keinesfalls zur Selbstüberschätzung.
Der Spindelturm wurde bewacht, reihum von jeder Gruppe, die in der Lage war, zehn Kämpfer für eine Woche zu verpflegen und einigermaßen unter Kontrolle zu halten. Das waren nicht allzu viele, daher gab es wenige Überraschungen. Diese Woche, das erkannte Ryk schon von Weitem an den Helmen, waren es Wolkensamurai, denen ihre grimmigen Gesichter als Perma-Tattoos in die Haut gestanzt wurden und die sonst, so Ryks Erfahrung, meist ganz nett waren. Wenn man sie nicht provozierte. Sie trugen lange Schwerter und Dolche, mit denen sie täglich trainierten. In der Nähe des Hive benutzte niemand die ohnehin selten gewordenen Schusswaffen. Auf ihr Abfeuern reagierte der Invasor allergisch und schickte sofort einen Trupp Großmäuler, um nachzusehen. Leider drückte der Hive seine Neugierde grundsätzlich durch Gewalt aus. Also keine Schüsse beim Hive, das war eine eiserne Regel.
Der Sentyo war ein älterer Mann mit Bauchansatz, ein alter Kämpfer, verbraucht und am Ende seiner Laufbahn, die Tattoos faltig in seinem Gesicht, sodass das sonst so böse, aufgemalte Gesicht eher müde und traurig wirkte. Er hatte diese Aufgabe wahrscheinlich vor allem deswegen, weil wirklich niemand, der bei Trost war, den Wachtmeister angriff. Der Wachtmeister war nicht heilig, aber er war etwas, auf das sich alle geeinigt hatten. Wer ihn ärgerte, ärgerte demnach alle.
Der Sentyo sah Ryk an, nickte ihm zu und erkannte das Siegel von Birbir auf dem Paket und das Abzeichen des Clans auf seiner Jacke. Er winkte dem Isya, der der Einzige war, der einen Nichtwolkigen berühren durfte, ohne ihn dabei umzubringen. Der Isya durchsuchte Ryk fachmännisch, wobei er die entsetzliche, blutige und erschreckend realistische Tattoofratze direkt vor sich hatte. Man musste sich an die Wolkensamurai ein wenig gewöhnen, vor allem dann, wenn sie einen wirklich talentierten Künstler unter den ihren hatten. Der Isya verstand sein Handwerk und als er Ryk in die Pofalte und an den Sack griff, grunzte er sogar so etwas wie eine Entschuldigung. Ryk erduldete es, denn es war nichts anderes zu erwarten gewesen.
Der Isya war fertig, richtete sich auf und hob die Hände in die Luft, leer und gespreizt. »Er ist sauber, Sentyo.«
Der Hauptmann wies ihm den Weg, hinein in den Turm und die Wendeltreppe hoch ins Observationszimmer, in dem der Wachtmeister auch lebte – und das gar nicht schlecht, wie der junge Springer aus zahlreichen Schilderungen hatte entnehmen dürfen. Ryk grüßte die Samurai freundlich, was von allen mit einem Kopfnicken quittiert wurde. Die Wolkigen nahmen ihren Kodex ernst, griffen niemanden ohne ausdrücklichen Befehl ihres Sentyo an und begannen sich erst mit einer der anderen Banden zu streiten, wenn es um etwas wirklich Ernstes ging. Da sie aber gleichzeitig viele und gefürchtete Kämpfer waren, gab es selten etwas »wirklich Ernstes«, zumindest war es nie ernst genug, um einen richtigen Handel mit den Samurai zu beginnen. Ryk war das recht. Wenn der Turm von ihnen bewacht wurde, war er sicher, und so viele Orte gab es auf der Erde nicht, die das von sich behaupten konnten.
Er stieg die Treppe hinauf. Zwei junge Mädchen kamen ihm kichernd entgegen, die Haare zerzaust, die Kleidung unordentlich. Es gab solche und solche Wachtmeister und Uruhard, der aktuelle Amtsinhaber, war definitiv ein solcher. Ryk hatte ein gewisses Verständnis für ihn, es musste langweilig sein, ständig durch die Panoramafenster auf den Hive zu starren, nach Anzeichen von Gefahr zu suchen und ansonsten nur alles zu essen und zu trinken, was die Clans, Gilden, Gangs und Stadtherren ihm heranschafften, bis er genug hatte oder seine Augen zu schlecht wurden. Uruhard war seit zwölf Jahren im Dienst und sein Augenlicht hatte, so sagte man, genauso wenig nachgelassen wie sein Appetit, und Letzterer umfasste nicht nur Nahrung. Und so lieferten die Clans auch das, denn wenn es ein Gewerbe gab, das den Untergang der irdischen Zivilisation überlebt hatte, dann war es das leichteste von allen.
Es gab keine weiteren Türen. Die Treppe endete direkt in der Wohnung und ein Mann erwartete ihn bereits.
»Ah, der Springer, jaja!« Die volltönende, durchdringende Stimme des rundlichen Mannes mit dem dichten Vollbart dröhnte durch das große, runde Observationszimmer. Es roch nach Zimt und irgendetwas anderem und Ryk, der sich einiges auf seinen Geruchssinn einbildete, reckte die Nase erneut in die Luft, um ganz sicher zu sein. Ja, es war der Geruch von Sperma. In etwa das, was er erwartet hatte. Ein breites Bett an einer der Wände war zerwühlt und Ryk zwang sich, nicht hinzusehen. Eine breite, kräftige Hand griff nach ihm und zog ihn an der Schulter zu einer Kollektion alter Stühle und Sessel. Der Raum war groß, halbrund und mit breiten Fenstern, durch die das Licht fiel. Er war gemütlich eingerichtet, mit dicken Teppichen und einer Vielfalt an Möbeln, alle alt, aus der Zeit der Union und davor, sicher sehr wertvoll. Wenig davon gehörte Uruhard. Der Spindelturm wurde den Wachtmeistern möbliert zur Verfügung gestellt.
»Was bringst du mir, mein Sohn? Birbir schickt dich, richtig?«
Uruhard kannte natürlich seinen Namen nicht – jede Woche kam ein Springer mit Vorräten oder eine Karawane aus Siderit, Nihon, Sargland oder einem der anderen etwas besser organisierten Stadtviertel. Ryk war am Anfang seiner Laufbahn schon einmal hier gewesen, zusammen mit einem Kollegen, beide schwer bepackt mit vollen Rucksäcken. Aber er hatte nie etwas gesagt oder getan, das ausgereicht hätte, um Uruhard in Erinnerung zu bleiben. Also war er »sein Sohn«, was vom Alter her möglicherweise sogar passte. So richtig konnte Ryk aber unter der wuchernden Bartpracht nicht ermessen, wie alt dieser Mann tatsächlich war.
Es gäbe sicher schlimmere Väter. So wie der, von dem Ryk weggerannt war, sobald er es konnte. Sein erster, inoffizieller Sprung. Er zählte ihn nicht mit, aber so war es gewesen.
»Dieses Paket ist von Birbir, Herr, mit den besten Wünschen und Grüßen aus Siderit.«
»Der Herr des Räderclans! Ein alter Freund. Ein Mann von Macht und Weisheit.«
»Alle sagen, er sei gar nicht der Chef«, kommentierte Ryk, mehr zur Warnung als aus Rechthaberei. Niemand wusste, wer den Räderclan anführte, und obgleich jeder wusste, dass Birbir zum engeren Kreis jener gehörte, von denen einer der Chef sein musste, sprach es niemand laut aus. Offiziell gab es keinen Mächtigsten der Mächtigen und jede Andeutung in diese Richtung wurde hart bestraft. Man kam dann leicht unter die Räder, und das stimmte in diesem Fall auf so vielen Ebenen, dass Ryk sie alle gar nicht zusammenbekam. Auf dem Marktplatz von Siderit stand das Rad, dem niemand zu nahe kommen wollte. In seiner Blutrinne war schon mancher Körper zerdrückt worden, dessen Besitzer sich unbotmäßig verhalten hatte. Ryk wollte nicht dazugehören.
»Ach was!«, machte Uruhard und riss Ryk das Paket aus den Händen. Für ihn war jede Woche Weihnachten. Ryk wusste nicht, was das bedeutete, es war so eine Redensart. Weihnachten war mit dem Ende der Union untergegangen, wie er gehört hatte.
»Setz dich, mein Sohn. Iss und trink. Nimm dir einfach. Nimm dir.«
Ryk setzte sich und bediente sich. Der Tisch war mit allerlei Snacks übersät, alle halb angebrochen, Teil der Party, die mit seiner Ankunft ein Ende gefunden hatte. Uruhard war sofort intensiv mit seiner Lieferung beschäftigt und riss an der stabilen Verpackung. Er verhielt sich wie ein kleines Kind, fand Ryk.
»Ha ha! Sieh dir das an!« Uruhard hatte Plastikmüll aus dem Paket gezogen und darin eingewickelt einige in verschiedenen Farben schimmernde Karten. Er hielt sie dem Springer triumphierend vor die Nase, die Augen aufgerissen, sichtlich erfreut, nahezu begeistert. »Weißt du, was das ist?«
»Plastikkarten«, sagte Ryk wahrheitsgemäß. Er hatte den Mund voll. Wenn man etwas zu essen bekam, noch dazu umsonst, füllte man jeden Hohlraum, so schnell es ging. Eine zentrale Überlebensstrategie, nicht nur in Stink.
»Nicht irgendwelche! Schau dir das Symbol an! Das sind Zugangskarten des Admiralsstabs der Flotte der Terranischen Union! Echte Schmuckstücke! Birbir hat sie für mich besorgt, der alte Halunke. Er hat Verbindungen, da kann ein alter Mann nur von träumen.« Hätte Uruhard nicht mit zitternder Andacht seine Aufmerksamkeit ganz auf die unscheinbar wirkenden Exemplare konzentriert und damit Ryk nicht für einige Minuten komplett vergessen, hätte die Lobpreisung kein Ende gefunden. Ryk hatte es nicht so mit der Sprache, wie alle, die eine der wenigen Schulen nur von außen gesehen hatten. Er sprang und er machte seinen Job gut. Mit einem Triebwurm konnte man nicht reden, er stöhnte zu viel und ein Großmaul sprach trotz seines Namens kaum, vor allem dann nicht, wenn man ihm die Kehle halb durchtrennte.
Uruhard jedenfalls, das war dem Springer klar, war nicht nur ein Sammler, er war ein Genießer des Alten. Und Birbir hielt ihn bei Laune, indem er sinnlosen Schrott aus dem Müll der vergangenen Zivilisation fischte, sauber machte, in ebenso antike Plastikfolie einpackte und an ihn schickte. Es gab sicher Schlimmeres, Ryk war sich nur nicht so sicher, ob es wert war, dafür das Leben eines der besten Springer der Stadt zu riskieren. Aber bei wem sollte er sich beklagen? Er wurde bezahlt, das allein zählte.
Und Uruhard faszinierte ihn. Er hatte so viele Fragen!
»Welch wunderbare Stücke! Alle aus der Zeit den Alten Henderson, da bin ich mir sicher«, sagte der Wachtmeister nun und seufzte zufrieden auf.
Ryk glaubte nicht, dass sie so alt waren. Der Gründer von Metropole 7 war seit zwei Jahrhunderten tot, wenn man den Aufzeichnungen glaubte. Er war der Alte Henderson, weil er den heute Lebenden furchtbar entrückt erschien. Man wusste nicht einmal, ob man ihm für die Gründung der Stadt wirklich dankbar sein sollte. Im Falle von Stink waren Zweifel definitiv angebracht.
Uruhards Blick klärte sich, er sah Ryk mit großem Wohlgefallen an, nicht auf die Weise, wie Papa Ka ihn immer angeschaut hatte. Uruhard verfolgte andere Leidenschaften und mit diesen kam auch Ryk viel besser zurecht.
»Ein Grund zum Feiern, und ich feiere niemals alleine. Mein Sohn, ich habe eine gute Nachricht für dich: Ich lade dich zum Abendessen ein!«, verkündete der Wachtmeister. »Wir gehen in den Hybridclub. Sie spielen heute Abend Livemusik!«
Zweimal im Monat, das wusste Ryk, durfte ein Wachtmeister die Wacht für einen Abend verlassen, ein kleines Risiko, das man eingehen musste, um die Leute, die diesen Posten innehatten, nicht völlig wahnsinnig werden zu lassen. Es musste der Eindruck vermieden werden, sie säßen in einem Gefängnis, wenngleich einem goldenen. Uruhard lud ihn ein und Ryk sagte sofort zu. Der Hybridclub wurde von einem der Technoclans dieser Gemeinschaft unterhalten und diente … nein, so genau wollte Ryk nicht darüber nachdenken. Er würde früh genug damit konfrontiert werden.
Auch da hörte man Geschichten.
Aber das Essen sollte toll sein und niemand schlug einem Wachtmeister etwas aus, vor allem, wenn er die Rechnung beglich.
»Wir warten bis zum Einbruch der Dunkelheit«, kündigte Uruhard an. »Mach es dir gemütlich. Beim Hive, wie heißt du?«
»Ryk.«
Uruhard nickte lächelnd und für einen Moment lag ein seltsamer Ausdruck von Triumph auf seinem Gesicht, den Ryk nicht recht einzuordnen vermochte.
»Warte. Ich ziehe mich um. Ich will gut aussehen.« Er lachte laut. »Der Wachtmeister ist immer sexy, weißt du? Ha ha!«
Ryk durfte im Observationsraum warten, sich auf dem weichen Sofa lümmeln – er rutschte etwas zur Seite, als der Geruch von angetrocknetem Sperma hier besonders intensiv wurde – und bekam erneut Getränke angeboten. So ein Wachtmeister lebte schon komfortabel. Aber das wäre nichts für Ryk, jedenfalls so lange er noch jung war, vielleicht später, wenn er sich bewährt hatte und man ihn für vertrauenswürdig hielt … Es gab Springer, die das geschafft hatten, so sagten die Gerüchte. Eine Option, die er sich offenhalten wollte. Nett zu Uruhard und seinen Wachen zu sein und im Hybridclub darauf zu achten, dass er nicht allzu sehr über die Stränge schlug, konnte sich als sehr hilfreich erweisen. Erinnerung und Eindruck waren wichtig, seit es so gut wie keine funktionierenden Computer mehr gab, da niemand sie reparieren konnte und Elektrizität knapp war. Die Erinnerung an Menschen ganz besonders, denn es gab nicht mehr so viele, in Metropole 7 vielleicht noch zweihunderttausend, jedenfalls hatte Birbir diese Zahl mal ganz nebenbei fallen lassen. Trotzdem war sie eine Metropole. Von den zehn sogar die zweitgrößte. Traurig. Sehr traurig.
Es wurde Abend, die Sonne ging unter, doch hier, nahe dem Hort der Hybriden, gab es immer Elektrizität und damit auch Straßenbeleuchtung. Ryk schaute von seinem schönen Aussichtspunkt auf die aufflammenden Lichterketten hinab und fragte sich, wie die Stadt vor der Ankunft des Hives ausgesehen haben mochte. Gut, es gab eindrucksvolle 3-D-Fotos und auch noch einiges an Filmmaterial und wenn man die richtigen Leute kannte, konnte man auch so manches Privatmuseum besuchen und die Artefakte bestaunen, allen voran das Museum des bekannten Andhmergen Kros, der gleichermaßen als Kurator wie veritabler Spinner bekannt war. Aber es war etwas anderes, so etwas auch zu erleben, darin zu existieren, von all den fantastischen Möglichkeiten eines viele Sternensysteme umfassenden Gemeinwesens zu profitieren – oder es nur auf Postkarten zu bewundern und dabei nicht einmal zu erahnen, wie das Leben damals wirklich gewesen sein musste.
Ryk träumte oft von der Vergangenheit. Es war seine Droge, besser als das Kauen, aber in gewisser Hinsicht auch Sucht erzeugend. Das Leben in Metropole 7 wurde immer schwerer. Die Luft schien zunehmend auf den Lungen zu lasten, die Nahrungsmittel wurden teurer, die medizinische Versorgung – was von ihr noch existierte – degenerierte von den Resten echter Wissenschaft zu Hokuspokus und Quacksalberei.
Damals musste es besser gewesen sein.
Jedenfalls viel, viel besser als selbst das Leben eines Wachtmeisters, und dem Mann ging es wirklich sehr gut.
Dann war auch Uruhard so weit und Ryk kam sich neben dem Wachtmeister schäbig gekleidet vor. Uruhard trug einen maßgeschneiderten Anzug aus einem blauen Samtstoff, der bei Lichteinfall sanft schimmerte, mit einem blütenweißen Hemd und einer dicken Fliege um den Hals, die mit einem schreiend bunten Muster auf sich aufmerksam machte. Seine breiten Füße steckten in auf Hochglanz polierten Schuhen und in seiner rechten Hand hielt er einen schwarz schimmernden Gehstock mit einem silbernen Knauf. Er benötigte keinen Stock und war für sein Alter und seinen Umfang sehr behände, also musste es sich um etwas handeln, was reiche Leute ein »Accessoire« nannten, ein Wort, das aus einer sehr alten Sprache stammte und für Ryk bis eben keine besondere Bedeutung gehabt hatte.
Ryk sah nicht schäbig aus, aber er trug die Kleidung eines Springers: zweckmäßig, robust und bequem für lange Reisen. Sie war praktisch, aber nicht besonders elegant.
Es schien Uruhard nicht zu kümmern.
Sie verließen den Spindelturm und ihnen schlossen sich vier Wolkensamurai an, die nicht trinken durften, nicht wild fressen, keine Drogen nehmen und bei Frauen strengste Maßstäbe anlegten. Sie waren in dieser Gegend die beste Leibwache, die man sich vorstellen konnte. Die Luft war etwas frischer als tagsüber, aber der bleierne Geruch von Verwesung lastete immer noch auf allem. Ryk widerstand der Versuchung, tief Luft zu holen, denn er würde es schnell bereuen.
»Hier entlang, Ryk!« Uruhard zeigte in eine Richtung. Er schien bestens gelaunt.
Die Hybridenbar hörte man von Weitem.
Das tiefe Wummern der Bässe ließ den Boden erzittern und die Stroboskoplichter erhellten die ganze Straße vor dem Eingang. Neonschriften flimmerten und verheißungsvolle Ankündigungen scrollten über von hinten beleuchtete Elektronikwände. Die Straße vor der Bar war voll mit Nachtschwärmern, es herrschte eine gelöste, fast hysterische Stimmung, aufgeheizt durch die harten Rhythmen und die Drogen, die sie hier alle offen einwarfen, die meisten davon produziert und verkauft durch die Betreiber der Bar. Es war brechend voll, als sie näher kamen, wohl wie immer, denn hier kamen nicht nur die Vergnügungssüchtigen hin, die auf das ganz Exotische standen, sondern auch die reichen Kranken, die sich einige Minuten in einer der noch funktionierenden Medoboxen leisten konnten, den Resten der terranischen Gesundheitstechnologie. Gehegt und gepflegt von den Hybriden waren sie die Quelle ihres Einkommens und ihrer Macht, die einzige Möglichkeit, jenseits all der Quacksalber und selbst ernannten Naturheiler von einer Erkrankung erlöst zu werden.
Und teuer. So richtig teuer. Arschteuer, dachte Ryk, als sie näher kamen und die Menge sich vor den Wolkensamurai teilte wie Wasser vor einem mächtigen Schiff, mit einer Bugwelle aus Blicken, anzüglichen Bemerkungen, Neid und Bewunderung. Der Wachtmeister war überall ein gern gesehener Gast, aber niemand mochte Privilegien, vor allem dann nicht, wenn man in einer Schlange stand und darauf warten musste, irgendwo Einlass zu erhalten.
Ryk holte jetzt doch einmal tief Luft. Der ständige Hintergrundmief von Stink wurde hier überlagert durch die Aerosoldrogen und deren Reststoffe, die schwer, aber mit einer angenehmen und anregenden Süße in der Luft hingen. Sie wirkten in dieser Verdünnung so gut wie nicht mehr, sie machten vielleicht nur ein klein wenig glücklich, glücklich genug, um mit dem Geld, so man welches hatte, schön leichtsinnig umzugehen. Andere standen nur vor der Bar, um tief Luft zu holen. Sie würden sich den Zutritt niemals leisten können, Junkies aller Art oder einfach nur arme Menschen, die nicht wussten, wo sie sich sonst etwas Glück abholen konnten. Ryk kannte die Sorte, er hatte selbst einmal dazugehört. Er verachtete sie nicht, aber er wollte auch nicht mehr zu ihnen gehören. Und hier, in Gesellschaft des angesehenen und gut situierten Wachtmeisters, war klar, dass er nicht mehr zu ihnen gehörte, und der Springer war darüber sehr froh. Er genoss den Neid und die hungrigen Blicke der abgemagerten Nutten, die weitaus weniger anzubieten hatten, als das, was jenseits der Eingangstür der Bar auf sie wartete.
»Wachtmeister!«, sagte einer der Türsteher, selbst ein Hybrid. Der rechte Arm war durch eine Metallprothese ersetzt worden und auf der Haut seines Gesichts war eine Plastikplatine aufgegossen worden, über die Lichter huschten. Wahrscheinlich nur Kosmetik, aber eine wunderbare Zurschaustellung der Verschwendung wertvoller Ressourcen. Der Türsteher war breit wie hoch und er war nicht allein. Drei Defos standen ihm zur Seite, massive Gestalten mit deformierten Körpern, die ihnen ihren Namen gaben. Mutanten, die in der Hierarchie der Stadt ganz unten standen, die das Leid des Krieges in ihren Genen trugen und froh sein konnten, von den Hybriden als Schläger engagiert zu werden. Ryk mied sie, wo er konnte, mit einer fast schon kreatürlichen Scheu, für die er sich, manchmal zumindest, ein wenig schämte.
Doch es war klar: Hier kam keiner rein, der nicht durfte.
Der Wachtmeister durfte. Seine Begleitung auch. Man nickte Ryk nur freundlich zu. Er fühlte sich toll. Hier wollte er hin, wollte dazugehören. Hundertsiebzehn Sprünge und er hatte sich aus der Armut befreit. Wie viele mehr und er würde selbst in die Hybridenbar gehen können, ohne die Einladung eines reichen Gönners?
Mehr als weitere hundertsiebzehn. Weitaus mehr. Doch Ryks Entschlossenheit war groß. Man konnte sich in diesem Leben nicht allzu viele Ziele setzen, dieses aber war erreichbar, oder zumindest nicht völlig abwegig.
Die Musik drinnen war noch lauter und hämmerte mit nie gekannter Intensität auf seine Trommelfelle ein. Ryk war versucht, sich die Ohren zuzuhalten, aber er wollte nicht weich und schwach erscheinen. Im Halbdunkel der Bar, die nur von wenigen, bunten Lampen ausgeleuchtet war, und unter dem Blitzen der Stroboskope und sich drehenden Lichtbälle konnte man kaum erkennen, wenn er vor Schmerz das Gesicht verzog. Er wurde ohnehin nicht weiter beachtet. Der Türsteher hatte ihn durchgelassen, damit war seine Anwesenheit legitimiert. Es war ein massiver Defo gewesen, ein Mutant, dessen körperliche Präsenz sehr einschüchternd wirkte. Ryk war froh, an ihm vorbeigekommen zu sein. Sie durchquerten den Hauptsaal, in dem getanzt wurde und Dinge inhaliert und getrunken und sich anderweitig in beliebige Körperöffnungen eingeführt wurden – es gab hier alles, und die Auswahl animierte zu Experimenten. Hinter der breiten, geschwungenen Theke saß ein Hybrid, soweit man das sitzen nennen konnte. Sein Oberkörper endete in einer Art Wagen, der auf einer Schiene die ganze Theke entlangglitt. Der Bartender verließ diesen Ort niemals, sein muskulöser Körper war an die Bar geschmiedet, wie es nur Hybride konnten.
Es war seine Wahl gewesen. Die Hybriden zwangen niemanden. Er sah zufrieden aus und bediente die Gäste mit großem Eifer und steter Aufmerksamkeit. Er litt nicht, zumindest nicht sichtbar, und wenn er irgendwelche Leiden hatte, gab es hier ein Mittel dagegen. Vielleicht war er gelähmt geboren worden oder mit verkümmerten Beinen oder das Opfer eines schlimmen Unfalls – und die Hybriden hatten gerade eine Stelle an der Theke frei gehabt.
Ryk wusste, dass man nie zu schnell urteilen durfte. In Metropole 7 gab es immer eine Geschichte hinter der Geschichte und manchmal dahinter gleich noch eine. Sein Leben gehörte dazu und so widmete er dem Schienenmann, der gerade große Krüge mit Bier vor einer Gruppe grölender Gäste abstellte, nicht mehr als die nötigste Aufmerksamkeit.
»Hier!«, schrie Uruhard. »Hier!«
Er war kaum zu hören angesichts des Lärms, aber Ryk verstand seinen Hinweis.
Er wedelte in Richtung einer Tür und sie marschierten hindurch. Sie schloss sich hinter ihnen und dann herrschte plötzlich eine Stille, die Ryk genauso überfiel wie zuvor der Lärm. Die Schallisolierung war perfekt. In diesem Raum, fast so groß wie der Saal, den sie gerade verlassen hatten, standen viele Tische und Stühle und zwei Hybriden liefen als Bedienungen herum. Hier wurde gespeist, und zwar in Ruhe und mit einer gewissen Würde. Erleuchtet wurde der Raum durch Kristallleuchter, die von der Decke hingen, die Wände waren mit Holz verkleidet und der Teppich war weich und dämpfte jeden Laut zusätzlich. Ein sehr distinguierter Ort für sehr distinguierte Gäste. Mit einem Mal fühlte sich Ryk sehr fehl am Platz, während er sich mit der gleichen Intensität wünschte, hierhinzugehören.
»Setzen wir uns. Einen Tisch für … äh … sechs?« Uruhard sah die vier Samurai an.
»Wir stehen. Und wir sind nicht hungrig.«
Der Wachtmeister zuckte mit den Achseln. »Wie ihr wollt. Junger Mann!«
Sie setzten sich, die Samurai stellten sich in ihrer Nähe an die Wand und nahmen ihre Pflichten sehr ernst, wie man es von ihnen erwartete. Eine Hybridfrau näherte sich, der Schädel oben eine glatt polierte Metallplatte mit einem Sichtfenster, das einen Blick direkt auf ihr Hirngewebe erlaubte. Nicht für jeden ein Anblick, der den Appetit förderte, und Ryk machte sich lächerlich, indem er versuchte, nicht hinzusehen, ohne nicht hinzusehen. Das leicht amüsierte Lächeln der Frau beschämte ihn. Er war noch ein ziemlicher Trampel und musste einiges lernen. Hundertsiebzehn Sprünge halfen einem in manchen Situationen so gar nicht.
»Was essen wir?«, fragte er Uruhard beinahe schüchtern.
»Wir nehmen Fisch.«
»Was ist ein Fisch?«
Der Wachtmeister sah den Springer kurz verwundert an, dann aber erklärte er: »Ein Tier, das im Wasser lebt. Es gibt nicht mehr viele. Der Hive hat die meisten gefressen.«
»Es gibt ja auch nicht mehr viel Wasser«, bot Ryk hilfreich an. Regen war selten und wurde immer seltener, obgleich um die Hivestöcke immer Wolken kreisten. Das Gerücht besagte, dass die Invasoren das Wasser aus dem Himmel tranken. Eine seltsame Vorstellung, aber auch nicht seltsamer als die von Wesen, die im Wasser lebten. Das war alles schon sehr lange her, sicher zur Zeit der Union, als alles noch gut war und jeder nicht nur Fisch essen konnte, sondern auch genau wusste, was ein Fisch war, und es oft regnete.
Uruhard bestellte also für sie beide und Ryk war zufrieden.
Die Bedienung war zuvorkommend und auch der Kellner, der auf Gleisketten durch den Raum fuhr, die mit Gummischienen besetzt waren, sodass er leise dahinglitt, wirkte beinahe anmutig. Auf seinem Rumpf waren mehrere ausklappbare Tabletts angebracht, sodass er Speisen für mehrere Tische gleichzeitig transportieren konnte. Diese Möglichkeit hielt ihn aber nicht davon ab, viel Ehrgeiz in seine Fähigkeit zu legen, in seinen Händen weitere Teller und Gläser zu tragen. Es half, dass er neben seinen beiden normalen Armen zwei weitere, offenbar aus Metall und Plastik, zur Verfügung hatte, die unterhalb des Brustkorbs angesetzt waren. Auch dieser Hybrid schien mit sich, seiner Arbeit und seinem Äußeren absolut im Reinen zu sein. Er scherzte mit den Gästen, von denen er einige wohl schon öfter begrüßt hatte, zeigte große Fachkenntnis in Bezug auf die Weinkarte – das nahm Ryk zumindest an, dessen Weinkenntnis sich darauf beschränkte, dass er ihn als solchen erkannte, wenn er welchen im Mund hatte.
Die Gäste waren alle sehr leise und diskret. Man konnte ihnen ansehen, dass sie zur obersten Schicht gehörten und wahrscheinlich aus der ganzen Metropole kamen, um hier zu speisen. Dafür ertrug man auch Stink. Sie warfen dem Wachtmeister verstohlene Blicke zu. Ryk aber übersahen sie völlig. Das schmerzte nur wenig, denn er war sich gar nicht sicher, was er mit ihrer Aufmerksamkeit hätte anfangen sollen. Niemand von ihnen aber achtete auf Gleisketten oder transparente Schädeldecken.
Die Hybriden waren so. Warum? Diese Frage musste wohl jeder für sich selbst beantworten. Uruhard jedenfalls schaute den Maschinenmenschen weder fasziniert nach noch schien er sich in irgendeiner Weise unwohl zu fühlen. Ryk hingegen brauchte noch einige Minuten, um sich zu entspannen, was aber kein Problem war, denn das Essen dauerte ein wenig.
Er zuckte zusammen.
»Heute Abend, liebe Gäste«, hörten sie eine Stimme, die von überallher zu kommen schien, sodass nicht nur Ryk sich dabei ertappte, suchend umherzuschauen, »heute Abend begrüßen wir einen ganz, ganz besonderen Gast, eine Sängerin, wie sie die Erde leider nur noch selten hervorbringt. Wir sind sehr stolz, dass sie unter uns ist, stolz, dass wir alle in den Genuss ihrer überragenden Kunst kommen. Ihre Stimme ist uns allen ein Trost und ein Labsal und sie nimmt uns mit in eine Welt, die uns das Versprechen auf bessere Zeiten gibt. Meine lieben Gäste, ich darf Ihnen präsentieren: Exklusiv für uns in Metropole 7, die große, die unvergleichliche, die wunderbare Sia!«
Alle klatschten höflich, einige mit Enthusiasmus, denn sie kannten die Sängerin wohl, andere erwartungsvoll und solche wie Ryk mehr, weil sie nicht auffallen wollten. Er spürte Uruhards Ellenbogen am Arm, der Bärtige beugte sich zu ihm herüber. Seine Augen funkelten voller vergnügter Erwartung.
»Die ist toll. Eine Hybride, aber eine besondere. Nach alten Plänen aus der Union aufgerüstet, heißt es. Es gibt viele Gerüchte um sie. Ich habe sie bereits einmal genossen, wirklich eine ganz bezaubernde Stimme. Manche sagen, sie sei endgeil.«
»End…?«
Uruhard runzelte die Stirn. »Ein antiker Begriff aus der Union. So richtig gut, ja? Richtig gut. Richtig, richtig gut. Sia. Was für eine Freude. Wo bleibt eigentlich das Essen?«
Es war niemand da, um seine Frage zu beantworten. Dann wurde abgedunkelt, der hintere Teil des Saales erhellte sich und eine Wand glitt zur Seite und gab eine Bühne frei. Erwartungsvolle Stille senkte sich über den Raum und auch Ryk vergaß seinen Hunger, als die Scheinwerfer jemandem folgten, der gemessenen Schrittes auf die Empore stieg. Er hielt den Atem an, denn der Anblick war in jeder Hinsicht … er war …
Er hörte einfach auf zu denken.
Ryk sah eine hochgewachsene, gertenschlanke Gestalt in einem langen Kleid alleine dastehen, die Arme an der Seite entspannt herabhängend, die Haare hochgesteckt, sodass sie fast an einen Hivestock erinnerten. Sie hatte ein längliches Gesicht, absolut ebenmäßig, auf unnatürlich perfekte Weise symmetrisch und auf den ersten Blick konnte Ryk an ihr absolut nichts entdecken, was nach einem Hybriden aussah. Arme, Beine, wohlgeformte Knöchel, ein flacher, trainiert wirkender Bauch, der sanfte Schwung von Brüsten und Schultern – man konnte schon etwas romantische Wehmut bekommen, wenn man sich Sia ansah, und Ryk war alles andere als davor gefeit. Das Kleid war hochgeschlossen, der Kragen umschmiegte ihren schlanken Hals. Das war mal eine Frau, die so weit von ihm entfernt war, wie sie es nur sein konnte. Sie gehörte in die Welt der Reichen und vor allem der Schönen und er fühlte sich bei ihrem Anblick vor allem eines: deplatziert.
Dann sah er an ihrem Hals etwas aufblitzen, als sie den Kragen wie einen Schal entfernte, der bisher kunstvoll darumgewickelt gewesen war. Ihr ganzer Hals schimmerte silbern, wie aus Metall gegossen, und während sie lächelte, öffnete sich eine Membran und ein heller, tragender Ton erklang, wie eine Fanfare, die einem das Herz öffnete und die Sinne schärfte. Und dann erst merkte Ryk, dass das ihre Stimme war, verstärkt und wahrscheinlich verändert, aber mit einem ganz eigenen Timbre. Egal ob künstlich erzeugt oder aus normalen Stimmbändern, der Ton schnitt mit Eleganz und Unaufhaltsamkeit durch den Saal und niemand konnte sich dem Bann entziehen, mit dem Sia sie alle mit einem Mal belegte.
Stille. Alle Gäste erstarrten. Sie lauschten.
Und Sia sang.
Konnte man das singen nennen? Ja, sicher, das war es, aber gleichzeitig auch so viel mehr als alles, was Ryk jemals gehört hatte, sogar im Vergleich zu jenen, die damit auch woanders ihr Auskommen verdienten. Das war nicht einfach eine Klasse besser. Das war von einer anderen Welt und aus einer anderen Zeit. Ein akustisches Konstrukt aus der alten Union? Ein Lied, dessen Schönheit mit der Perfektion ferner Vergangenheit verknüpft war? Ryk glaubte es sofort.
Es war aber völlig egal.
Denn sie war einfach nur göttlich.
Ryk war kein religiöser Mensch – dafür gab es auf diesem Gebiet zu viele herumwandernde Irre –, aber jetzt, als er dieser Stimme lauschte, deren glasklare Klänge ihn völlig lähmten und in einer von ekstatischer Anspannung erfüllten, absolut unbeschreiblichen Starre gefangen hielten, musste er an einen Gott glauben. Egal wie die Hybriden diese Frau verbessert und umgebaut hatten, das war mit Technik nicht zu erklären. Das war Talent. Das war ein Segen. Das war ein Geschenk. Es war eine Gnade, an diesem Ort zu dieser Zeit zu sein, und es war der Gesang, der sie nun alle gleich machte. Jede Silbe war eine soziale Revolution. Jede Tonfolge, jeder Oktavsprung eine religiöse wie politische Offenbarung. Es lag darin Hoffnung, Liebe, Trauer, Verzweiflung und schlichte Perfektion, und das waren viele Gefühle auf einmal, die leicht überforderten.
Sie sang und sang, ohne nachzulassen, jeder Ton eine in sich ruhende, absolut makellose Perfektion menschlichen Ausdrucks.
Ryk heulte wie ein Kind.
Er wusste nicht, wann er das letzte Mal so empfunden hatte. Ob er jemals so empfunden hatte. Die Tränen flossen aus seinen Augen und er schluchzte hemmungslos. Er schämte sich nicht. Überall wurde geweint. Nur die ganz Harten, die innerlich abgestorben waren, regten sich nicht. Die Samurai trugen ihre in die Haut eingearbeiteten Masken und galten als selbstbeherrscht, doch die behandschuhten Hände verschwanden kurz unter den Augenrändern, um die Feuchtigkeit wegzuwischen. Wolkensamurai waren keine Maschinen.
Sia war keine Maschine.
Sie war so lebendig. Sie bewegte sich mit eleganter Geschmeidigkeit durch den Raum, trug ihr Lied in alle Ecken, an alle Tische und beglückte jeden für einen winzigen, intimen Moment mit ihrer Aufmerksamkeit. Sie stand auch für eine Sekunde neben Ryk. Es war die längste und schönste Sekunde seines Lebens und als sie sich abwandte und ihre Wanderung wieder aufnahm, weinte er erneut, denn sie ließ ihn allein und schenkte ihre Gunst einem anderen und das tat furchtbar weh.
Er hörte den Wachtmeister schluchzen.
Uruhards Bart war nass von Tränen. Er schaute Sia verklärt nach, er war verliebt, wie sie alle, jeder auf seine Weise. Das Lied verklang irgendwann und eine andächtige Stille senkte sich über alles. Jeder lauschte den letzten Tönen nach, wollte sie nicht loslassen, nicht zurückkehren in das belanglose Geschwätz schiefer, kratziger, unvollkommener Stimmen, das nach dieser Darbietung in ihrer aller Ohren wie eine akustische Beleidigung klingen musste. Auch Ryk sagte nichts. Selbst der Wachtmeister, der sonst gerne plapperte und dessen tiefe, volle Stimme ihren eigenen Reiz hatte, schwieg. Er schnäuzte sich mehrmals.
Dann, leise, begann das Gemurmel der Unentwegten. Der Service wurde wieder aufgenommen. Auch Ryk bekam seinen Fisch. Er wusste nicht genau, was der Kellner vor ihm abstellte, und sah Uruhard an. Der trocknete seine Augen, sammelte sich, begutachtete die Speise, atmete ein und sprach. Seine Stimme war etwas zittrig, Zeugnis der emotionalen Aufgewühltheit, die er noch nicht gänzlich überwunden hatte.
Ryk wusste, wie er sich fühlte.
»Wolfsbarsch mit Kapern-Brösel-Kruste, Pellkartoffeln und eine Sahne-Basilikum-Soße«, belehrte ihn der Wachtmeister nun heiser, der im Übrigen das gleiche Gericht erhielt. »Als Nachtisch Schokoladenmousse. Aus Schokolade.«
»Aus was sonst?« Ryks Stimme klang ebenfalls belegt und rau. Er hasste sich sofort dafür.
Uruhard schüttelte den Kopf. »Wenn du wüsstest.«
Ryk aß. Erst zögerlich, sich seiner mangelnden Tischmanieren bewusst, aber niemand schaute ihm dabei zu, also tat er, was er für richtig hielt. Es schmeckte. Es war so gut wie Sias Gesang, nur zum Essen. Er versank darin. Er genoss. Was für ein Abend. Was für ein ganz besonderer Abend! Es gab Leute in den Metropolen, die im Müll und den Trümmern und dem ganzen Leid lebten, und andere, die derlei jeden Abend serviert bekamen.
Hundertsiebzehn Sprünge und Ryk war von einem solchen Leben noch sehr weit entfernt. Wenn ihn etwas ernüchterte, dann diese Erkenntnis.
Er aß trotzdem alles auf, denn es war einfach perfekt. Er genoss die Schokoladenmousse, die eine Komposition eigener Art war und ihm zeigte, was Schokolade wirklich sein konnte. Er hatte nie zuvor in seinem Leben etwas Ähnliches zu sich genommen. Auch Uruhard war ganz in das Essen vertieft und sprach kein Wort, sein Gesicht ein Ausdruck höchster genießerischer Konzentration.
Ryk musste an sich halten, um nicht den Teller abzulecken.
Es war alles wie ein Traum.
Sia sang noch zweimal und es war jedes Mal neu, erfrischend, vertraut, schmeichelnd, umstürzend und aufbauend. Es war, als würde ihre glasklare Stimme wie ein scharfes Messer durch seine Seele schneiden und all das Gute herauslassen, das durch langjährige Verkrustungen in ihr verborgen lag. Ein befreiendes Gefühl. Ein Strahl des Lichts, eine Droge aus Klängen, und es wurde niemandem zu viel und keiner wollte, dass es jemals aufhörte. Was es tat, wie alles, was zu gut war, um wahr zu sein.
Auch die Bewirtung fand irgendwann ein Ende. Es gab noch Wein und Ryk trank in Maßen, nicht, weil es ihm nicht schmeckte – Uruhard hatte die perfekte Auswahl getroffen –, sondern weil es zu den ehernen Regeln eines Springers gehörte, keine Substanzen zu sich zu nehmen, die seine Fähigkeiten beeinträchtigen könnten. Er hatte sonst nichts, sie waren sein Kapital. Es wäre Dummheit, das für die Freude eines kurzzeitigen Rausches wegzuwerfen.