Kaiserkrieger 8: Stürmische Himmel - Dirk van den Boom - E-Book

Kaiserkrieger 8: Stürmische Himmel E-Book

Dirk van den Boom

5,0

Beschreibung

Stürmische Zeiten brechen an. Die Götterboten etablieren ihre Herrschaft über Mutal, die Metropole der Maya, und setzen ihren Feldzug gegen die angrenzenden Städte fort. Angst und Widerstandsgeist werden geweckt und pflanzen einen neuen Geist der Kooperation in die Köpfe der Mayakönige, die sich nicht kampflos ergeben wollen. Doch auch innerhalb der Gruppe der Gestrandeten wird der Kurs des Kapitäns mehr und mehr hinterfragt. Als schließlich eine römische Expedition aus dem fernen Europa anlandet und ein Botschafter aus Teotihuacán sich für die Entwicklungen interessiert, droht das jahrhundertealte Machtgleichgewicht Mittelamerikas endgültig aus den Fugen zu geraten.

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Inhalt

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Personenverzeichnis

Weitere Atlantis-Titel

Eine Veröffentlichung des Atlantis-Verlages, Stolberg Januar 2023 Druck: Schaltungsdienst Lange, Berlin Titelbild und Umschlaggestaltung: Timo Kümmel Lektorat und Satz: André Piotrowski ISBN der E-Book-Ausgabe (EPUB): 978-3-86402-244-9 Dieses E-Book ist auch als Hardcover direkt beim Verlag und als Paperback überall im Handel erhältlich. Besuchen Sie uns im Internet:www.atlantis-verlag.de

1

Aritomos rechte Hand zitterte. Sie war klebrig von Blut und stank. Er musste sich anstrengen, das Messer nicht fallen zu lassen. Der Mann vor ihm gurgelte. Das Blut ergoss sich in einem weiteren Stoß aus der aufgeschnittenen Halsschlagader, der metallische Geruch wirkte betäubend. Der Mann zuckte noch einmal zusammen, seine Beine schlugen auf den Boden, die Fersen schabten durch den staubigen Boden, dann lag er still.

Aritomo ließ die rechte Hand sinken. Erneut war eine bewusste Entscheidung notwendig, den glitschigen Griff des Messers nicht aus der Hand gleiten zu lassen. Der Tote vor ihm hatte einen verzerrten Gesichtsausdruck, der sich nur langsam zu entspannen begann.

Schritte von draußen. Dann stand ein weiterer Mann im Türeingang. Er griff nicht an, überfiel keine Schlafenden im Dunkel der Nacht, versuchte nicht, ihn mit einem an eine Garotte erinnernden Mordinstrument umzubringen. Eine der Wachen. Einer der Guten. Aritomo spürte die Erleichterung, wie sie durch seinen Körper floss und das Messer aus seiner Hand wusch. Es fiel zu Boden und die Blicke beider Männer lagen für einen Moment auf Waffe wie Leiche.

»Zeitenwanderer Aritomo!«

»Hier«, sagte dieser mit schwacher Stimme und machte einen Schritt zurück in Richtung seiner Schlafstatt, von der er eben so brutal geweckt worden war. Er fühlte sich nicht gut. Gar nicht gut.

»Seid Ihr unverletzt?«

Unwillkürlich griff sich der Japaner an den Hals, fuhr die dünne Schürfwunde entlang. Er war verletzt, aber es würde heilen. Seine schnelle Reaktion hatte ihn vor Schlimmerem bewahrt. Der Tod musste warten, zumindest heute Nacht. Der war ihm allerdings sehr, sehr nahe gekommen und dessen kalter Atem ließ ihn trotz der warmen Nacht am ganzen Leibe erzittern.

»Es geht. Gibt es noch mehr?«

»Er war der Einzige.«

Der Mayakrieger stand abwartend im Raum, schaute erneut auf den Toten hinab, dessen Umrisse man im Schein der Fackel, die der Wachsoldat in die Luft hielt, gut ausmachen konnte.

»Ich kenne diesen Mann. Er ist ein Diener des Xicoc, eines Mannes, der zum Hof gehört. Der König muss davon erfahren!«

Es war eine Feststellung, ohne größere Emotion. Als ob er nichts anderes erwartet hätte. Aritomo schaute auf seine rechte Hand, besudelt, und bewegte die Finger, als müsse er herausfinden, ob diese sich trotz des langsam trocknenden Lebenssaftes noch bewegen ließen.

»Ja«, sagte Aritomo leise. »Aber er soll fortgebracht werden.«

»Ich sorge dafür. Herr …«

»Was?«

Aritomos Antwort war unwilliger ausgefallen als erwartet, doch der Krieger schien ihm das nicht übel zu nehmen.

»Der Wachmann vor dem Haus … Euer Gefährte … er ist tot.«

Aritomo holte tief Luft. Er hatte es befürchtet. Anders war dieser Vorfall hier nicht erklärlich. Er wollte es sich nicht ansehen, aber er musste.

»Zeig es mir.«

Der Krieger ging voran. Aritomo stieg über die Leiche, fühlte, wie seine nackten Füße vom Blut benetzt wurden, und er folgte nach draußen. Das Haus war den Zeitreisenden zur Verfügung gestellt worden, damit sie endlich der Enge des Bootes entfliehen konnten. Sie hatten selbst die Bewachung organisiert, doch offenbar nicht damit gerechnet, hier, auf freundlichem Boden, bereits eine Woche nach ihrem Umzug angegriffen zu werden.

Hybris war das richtige Wort dafür. Wie immer fand diese schnell ihre Strafe.

Aritomo stand schließlich vor dem Toten und widerstreitende Gefühle erfassten ihn. Natürlich kannte er den Mann beim Namen, ein Matrose namens Kato, ein einfacher, ein gehorsamer Soldat. Sein Hals zeigte tiefe Wunden, wo die Garotte ihn überwältigt hatte, die Zunge hing ihm aus dem Mund und die Augen hatte er weit aufgerissen. Aritomo beugte sich hinab und schloss die Augenlider. Sie waren so wenige, so entsetzlich wenige. Jedes tote Besatzungsmitglied stellte einen unersetzlichen Verlust dar.

Aritomo fühlte sich aber auch unfair behandelt. Eine absurde, nahezu alberne Regung, aber ja: Hier in Mutal waren sie doch die geehrten Gäste, die die Stadt vor ihren Feinden bewahrt hatten und ihre Macht zu einem nicht gekannten Zenit vergrößern würden. Und hier schlich sich ein Attentäter ein, ausgerechnet um ihn, Aritomo, ganz gezielt umzubringen. Den Mann, der beständig versuchte, auf Kapitän Inugami ausgleichend einzuwirken, den Mann, der die Maya nicht nur als Verfügungsmasse, als primitive Wilde wahrnahm, sondern als eine Zivilisation, mit der sie sich arrangieren mussten, wollten sie nicht sehr bald im Mahlstrom der Geschichte untergehen.

Aritomo war der Gute. Er hätte sich über ein Attentat auf Inugami nicht gewundert.

Aber er. Warum er? Das war definitiv nicht fair.

Es zeigte ihm aber auch, dass es einen wesentlichen Unterschied in der Art gab, wie er sich selbst sah und wie er von außen gesehen wurde. Für diesen Mann hier war er nur einer der Götterboten, die alles aus dem Gleichgewicht brachten und die althergebrachte Ordnung und Tradition infrage stellten. Eine gefährliche Vorgehensweise, würde sie doch unweigerlich den Zorn der Götter auf sie hinabrufen, Götter, an die deren Boten nicht so recht zu glauben schienen.

Aritomo hatte es nicht gemerkt. Nichts hatte er geahnt. Sorglos war er gewesen, dumm, naiv, verblendet, und damit von einer gefährlichen Nachlässigkeit, eines Offiziers der kaiserlichen japanischen Flotte unwürdig.

Es musste einen Stimmungsumschwung gegeben haben, irgendwo unter der Oberfläche von unterwürfiger Freundlichkeit, dem beständigen Respekt, der eilfertigen Art, die Wünsche der Götterboten zu erfüllen. Jemandem musste es zu viel geworden sein. Aritomo wusste, dass dies beim König von Mutal, dem jungen Chitam, der Fall war. Aber würde er jemanden anstiften, ausgerechnet ihn, den Ersten Offizier des Bootes, umzubringen – und damit die Stimme der Vernunft, die Inugami bisher immer noch von Entscheidungen hatte abhalten können, die zum Nachteil der Maya waren?

Nein, das ergab absolut keinen Sinn. Jemand anders musste die Initiative ergriffen haben, ein Traditionalist, der Chitam für nicht mehr als die Marionette ansah, die Inugami in der Tat aus ihm zu machen gedachte. Jemand, der nicht unterschied, sondern in allen Götterboten gleichermaßen die Bedrohung sah. So musste es sein.

Weitere Besatzungsmitglieder des Bootes waren nun erwacht, kamen ins Freie, rieben sich die Augen, fragten erst laut, verstummten dann, als sie die Leiche ihres Kameraden erblickten und den Ersten Offizier, wie er sich über sie beugte und ins Leere starrte. Auch die Mayakrieger hatten sich eingefunden, etwas abseits, in einer eigenen Gruppe, und sie sahen schuldbewusst drein. Wie auch immer es dem Attentäter gelungen war, so nahe an die Unterkünfte der Götterboten heranzukommen, es war doch ziemlich wahrscheinlich, dass dieser Hilfe dabei erhalten hatte.

Hilfe von einer der Wachen.

Aritomo sah auf, schaute die Mayakrieger an und spürte, wie Misstrauen und Furcht sich in ihm ausbreiteten. Er wusste, was für einen Weg er einschlagen würde, gab er diesen Gefühlen allzu freien Raum. Es war der Weg, der ihn fest an die Seite Inugamis führen würde, nur nicht getrieben von Allmachtfantasien und Größenwahn, sondern von beständiger Angst, dem Bedürfnis nach Sicherheit und der fälschlichen Annahme, dass immer mehr Macht das Gleiche wie Sicherheit bedeuten würde.

Das war eine Illusion, dessen war sich Aritomo sicher. Hier, in dieser Zeit, in all ihrer scheinbaren Überlegenheit, hatte sich dies gerade wirkungsvoll unter Beweis gestellt.

»Herr, wir haben einen Boten zum König entsandt«, fasste sich nun einer der Maya ein Herz und sprach ihn an. Aritomo nickte. »Das ist gut«, sagte er leise. Er winkte zwei weiteren seiner Matrosen, wies auf den toten Körper vor ihnen.

»Nehmt ihn mit. Säubert seinen Leib und richtet ihn für ein Begräbnis her. Ich werde selbst die Zeremonie leiten.«

Aritomo wusste nicht einmal, ob er dieses Versprechen würde einhalten können. Das war noch so ein Punkt, über den sie sich bisher niemals Gedanken gemacht hatten. Die reichen Maya, Männer und Frauen von Adel und Hohepriester, verschafften sich Ansehen durch elaborierte Grabmäler bis hin zu ganzen Tempelgebäuden für die Könige. Einfache Maya mussten sich mit simplen Bestattungen zufriedengeben, nicht für die Ewigkeit, vergessen und verloren, sobald ihre nächsten Angehörigen auch den Tod gefunden hatten.

Doch welche Vorkehrungen sollte man für tote Götterboten treffen?

Aritomo würde sich nun mit dieser Frage befassen müssen. Er ging davon aus, dass sie ihre eigenen Leute so begraben würden, wie sie es von zu Hause aus gewohnt waren. Alles andere erschien ihm derzeit absurd. Ein schwieriges Thema, aber eines, das nun plötzlich auf der Tagesordnung stand.

Und das viel früher, als es ihm lieb gewesen wäre.

»Wir müssen die Sicherheitsvorkehrungen verstärken«, sagte eine Stimme neben ihm, die er gut kannte. Es war der Brite Lengsley, der nun erschienen war, auf die Männer schaute, die die Leiche des Soldaten abtransportierten, und sich dann lauernd umsah, als würde er jeden Augenblick einen erneuten Angriff befürchten.

»Wir könnten ins Boot zurückkehren, da wird uns keiner angreifen.«

Aritomo sagte es, glaubte es aber nicht.

»Das stimmt. Es hält dort aber auch keiner mehr aus. Die Männer waren überglücklich, als sie endlich Unterkünfte außerhalb beziehen durften. Wir hätten nur dieses Haus nicht akzeptieren sollen, ohne uns genau mit allen Fragen der Sicherheit zu befassen. Es wurmt mich, Inugami recht zu geben, aber wir sollten unser Lager in die Anlage der Kriegersklaven verlegen. Sobald diese zurück sind, bieten sie uns einen guten Schutz, besseren jedenfalls, als wenn wir inmitten Mutals zur Zielscheibe werden.«

»Die Sklaven könnten uns erst recht umbringen. Danach wären sie frei«, gab Aritomo leise zu bedenken.

Lengsley lächelte freudlos.

»Inugami hat sie im Griff. Wenn sie uns töten, sind sie Sklaven Mutals. Ich bin mir nicht sicher, ob das für die meisten eine Verbesserung darstellen würde.«

Aritomo sagte nichts, gab dem Briten aber im Stillen recht. Inugami hatte die Armee seiner Janitscharen auf einen Feldzug geführt und sie hatten noch nicht gehört, wie der Angriff ausgegangen war – sie wussten nicht einmal, ob der Kapitän selbst noch lebte. Aritomo wusste, dass Inugami das persönliche Risiko nicht scheuen würde, um sich Respekt zu verschaffen, der über die Angst vor den wenigen Gewehren, Pistolen und der Kanone des Bootes hinausging.

Eines Bootes, das immer noch völlig unbeweglich auf der Spitze des Grabmals von Chitams Vater festsaß, ein Grabmal, das er nicht einmal nutzen konnte, da erst das Gefährt der Götterboten von dort verschwinden musste. Wann auch immer das möglich sein würde. Falls überhaupt. Es sah nicht danach aus.

Aritomo beobachtete, wie sich die Lage langsam beruhigte. Einige seiner Kameraden kehrten mit betroffenem Gesicht in ihr Zimmer zurück, andere redeten leise miteinander. An Schlaf war für ihn jetzt nicht mehr zu denken, zu sehr beherrschte die Erregung noch Denken und Atmen. Er musste sich reinigen, umziehen, etwas essen. Ein Becher Chi würde ihm guttun, nachdem die Sakevorräte des Bootes nun aufgebraucht waren. Aritomo wusste, dass Sarukazaki mit einer Destilliermaschine experimentierte, und niemand hielt ihn davon ab, seine freie Zeit auf dieses Projekt zu verwenden. Bisher jedoch, so hörte man, seien die Ergebnisse noch von eher überschaubarer Qualität gewesen.

Jetzt, in dieser Minute, hätte Aritomo auch zum schlimmsten Fusel aus der Giftküche des Technikers nicht Nein gesagt. Aber es blieb ihm nur der Chi, dessen Alkoholgehalt sehr niedrig war.

Aritomo wollte nicht Unmengen davon trinken.

Er wandte sich ab. Bedienstete säuberten sein Zimmer. Der Tote war herausgebracht worden, doch die Spuren des Kampfes waren immer noch unübersehbar. Der Japaner marschierte in den Waschraum, den die Zeitreisenden selbst errichtet hatten, mit einem steinernen Becken, nur grob aus einem Felsen gehauen, und einer einfachen Holzleitung, die Wasser an vier verschiedenen Stellen über dem Becken zur Verfügung stellte. Es gab einen richtigen Abfluss, den man auch verschließen konnte. Theoretisch war das Becken groß genug, um sich darin zu baden, und die Errichtung eines richtigen Badehauses gehörte zu den Plänen, die die Japaner seit ihrem Einzug hier verfolgten. Sie machten es sich richtig gemütlich. Eigene Zimmer, eigene Küche, eigenes Bad, ein Innenhof für sportliche Aktivitäten, eigene Wachen und eigene Attentäter, die ihnen des Nachts nachstellten.

Aritomo öffnete den Wasserzufluss. Das kühle Nass kam aus einem Tank, täglich dreimal gefüllt durch dienstbare Geister, die das Wasser aus einem nahe gelegenen Reservoir brachten. Er wusch sich das Blut von den Händen, dann reinigte er seine Klinge sorgfältig, die er vom Boden aufgeklaubt hatte und die seltsam schwer zu tragen gewesen war, so als ob der Tod des Attentäters an der Waffe zerrte und sie zusätzlich zu Boden zog.

Der Stahl war ausgezeichnet und würde nicht schnell rosten, aber es gab für ihn auf absehbare Zeit keinen Ersatz. Das Messer hatte sein Leben gerettet und allein schon deswegen hatte es intensive Pflege verdient.

Es half ihm auch, seine Gedanken zu sammeln und sich zu beruhigen. Als die Klinge sauber und trocken war, fühlte er sich etwas entspannter als noch vor wenigen Minuten. Auch die Waffe lag nun leichter in seiner Hand, gereinigt vom Geist des Mörders. Er vermisste einen Spiegel, in dem er sein unrasiertes Gesicht betrachten konnte. Die einzigen richtigen Glasspiegel waren als besondere Kostbarkeit im Boot geblieben. Die Maya kannten poliertes Metall, meistens Silber, das die Wohlhabenden als Spiegel benutzten. Es war ein interessanter Gedanke, dass diese viel wertvoller waren als die Exemplare der Japaner, allein schon vom Wert des Materials her. In seinem Zimmer hatte er einen, vor dem er sich rasierte.

Aritomo ertappte sich bei dem Gedanken an seine wenigen verbliebenen Rasierklingen und was er tun würde, wenn der Vorrat aufgebraucht war. Es war keinesfalls unüblich für einen Marineoffizier, sich einen Bart wachsen zu lassen, der sich dann mit den hiesigen Messern auch leichter stutzen ließ. Würde das sein ewig kindliches Vollmondgesicht männlicher machen?

Und warum sollte er gerade jetzt unnötige Gedanken daran verschwenden?

Er beendete seine Toilette. Als er ins Freie trat, war es immer noch dunkel, wenngleich es nicht mehr allzu lange bis zum Sonnenaufgang dauern würde. Sein Kreislauf hatte sich beruhigt und er fühlte, dass er sich eigentlich wieder hinlegen konnte, doch der Gedanke, in sein besudeltes Zimmer zurückzukehren, widerstrebte ihm.

Er trat auf den Innenhof. Dort waren jetzt nur noch Mayakrieger zu sehen sowie zwei Japaner, beide bewaffnet, die die Wache übernommen hatten. Sie nickten Aritomo nur zu, als dieser abwinkte. Keine Meldung. Es war alles geschehen, was heute Nacht zu geschehen hatte.

Er setzte sich auf eine Steinbank und schaute in den glasklaren nächtlichen Himmel. Niemand sonst schien seine Ruhelosigkeit zu teilen. Die Geräusche der Nacht waren wieder deutlich zu vernehmen. Bei Tagesanbruch würde sich der König ein Bild von der Situation machen und bereits jetzt, so vermutete Aritomo, würden Krieger den Adligen aufsuchen, dessen Diener der Attentäter gewesen war. Mayagerechtigkeit war manchmal sehr schnell und die Bestrafungen sahen nicht allzu viele Abstufungen vor. Wer nicht sprach, wurde gefoltert, bis er alles zugab, auch das, was er nie getan hatte.

Der Gedanke daran ließ Aritomo in dieser Nacht kalt.

2

Helmut Köhler fühlte, wie die Galle erneut in ihm hochstieg. Er klammerte sich an die Reling, starrte in den tosenden Abgrund der See, spürte, wie sein Magen ihm die Kehle emporkroch, als die Gratianus tief in das Wellental hinabglitt, und dann kam das vertraute Würgen und er öffnete seinen Mund. Heraus kam so gut wie nichts mehr, hatte er seinen Mageninhalt doch bereits vor einer Stunde vollständig Neptun geopfert, doch der heftige, krampfartige Brechreiz wollte nicht nachlassen. Sein verzweifeltes Stöhnen ging im Dröhnen des Sturms unter, und als der Krampf nachließ und er seine Augen wieder öffnete, die er gequält geschlossen hatte, hörte er auf, etwas zu entleeren, was längst leer war.

Er atmete tief ein, spürte, wie die momentane Schwäche etwas nachließ. Köhler war nicht der Einzige an Bord des Flaggschiffes der Expeditionsflotte, dem es so erging. Dies war der dritte Tag, den sie im Sturm feststeckten, und selbst der erfahrenste Seemann begann, an die Grenzen seiner Belastbarkeit zu kommen. Es gab nur wenig Schlaf, und wenn, war er unruhig, unterbrochen, in heftig schaukelnden Hängematten, die einen gegen den Kameraden oder die Wand und manchmal mit Wucht auf den Boden warfen. Es gab kaum etwas zu essen, und wenn, war es kalt, oft nass, und wer sich krank fühlte, schaffte es ohnehin kaum, etwas Festes zu sich zu nehmen. Köhler hatte gestern Schiffsgebäck in dünnen Wein getunkt und heruntergebracht, eine Stunde später war es denselben Weg in umgekehrter Richtung wieder zurückgegangen.

Ihrer aller Kräfte ließen nach. Sie waren den Sturm leid. Alle beteten sie um ruhiges Wetter, und sei es nur eine Pause in dem beständigen Toben und Brausen. Das Schiff war in einem besseren Zustand als seine Mannschaft. Die Gratianus jedenfalls zeigte keinerlei Anzeichen, sich den Gewalten nicht gewachsen zu zeigen.

Köhler sah hoch und blickte auf Navarch Langenhagen, der neben dem Gubernator auf der Brücke stand, festgebunden wie sie alle, denn es passierte oft genug, dass ein Brecher mit großer Macht über die Reling schlug und ein unachtsames Besatzungsmitglied mit sich riss. Schreie, Hilferufe, gingen unter im ohrenbetäubenden Rauschen von Wind und Wellen. Doch die festen, eng gewobenen Seile, die jeder zur Sicherung hatte und die an Führungsschienen neben der Reling entlangglitten, hatten bereits so manches Leben gerettet. Immer noch war es so, dass die meisten Seeleute nicht schwimmen konnten und bewusst nicht lernen wollten, um die Quälerei eines langsamen Todes in der See durch ein möglichst schnelles Ertrinken einzutauschen.

Köhler konnte schwimmen.

Und er wollte auch niemals aufgeben.

Sein Magen gab auch nicht auf. Er spürte, wie sich ein weiterer Krampf bildete. Er richtete sich auf, streckte sein Gesicht in die Gischt, fühlte, wie die kalte Feuchtigkeit gegen seine Haut klatschte und einen eisigen Schauer seinen Körper hinunterfahren ließ. Er war nass bis auf die Knochen, egal, wie fest er den dicken Ledermantel um seinen Körper gebunden hatte. Allein die Wassermassen, die seinen Kragen hinunterflossen, genügten, um ihn vollständig einzuweichen.

Die Übelkeit in seinem Bauch ließ etwas nach. Er schloss und öffnete die Augen, wischte sich mit der nassen Hand über das nasse Gesicht, was nichts bewirkte außer dem Gefühl, etwas getan zu haben, eine sinnlose Geste, Ausdruck von schwachem Trotz. Dann fühlte er, wie jemand an seinem Arm zog. Magister Aedilius stand neben ihm, der Bordarzt, einer der Absolventen der Medizinischen Akademie von Ravenna, jener Schmiede für Ärzte, die der Arzt der Saarbrücken dereinst ins Leben gerufen hatte und die die besten Mediziner der Welt ausbildete. Aedilius war kein junger Mann mehr, aber von kräftiger Statur und hatte auf vielen Schiffen gedient, bevor er für die Expedition eingeteilt worden war. Sein graubrauner Bart war durchfeuchtet und er trug eine Mütze, die seinen Glatzkopf wie eine zweite Haut umschloss.

Er sagte nichts. Er hätte schreien müssen, um sich verständlich zu machen. Sein Blick aber drückte Sorge und etwas Mitleid aus. Aedilius hielt Köhler eine Lederflasche hin, mit geschlossener Öffnung, und als er sie nahm, fühlte er eine angenehme Wärme in seiner Hand, Labsal genug, ohne dass er sie entkorken musste. Wärme und Trockenheit. Es gab wenig, was sich Köhler derzeit mehr wünschte.

Der Medicus nickte ihm auffordernd zu. Köhler wusste, was in der Flasche war: ein perfider Kräutertrunk, von dem alle sagten, dass er das Ekelhafteste sei, was sie jemals getrunken hätten. Köhler hatte genug von Ekel, sodass er den Nachstellungen des Arztes bisher erfolgreich entgangen war. Nun aber hatte Aedilius ihn erwischt.

Es gab kein Entkommen.

Er verzog das Gesicht und wollte den Kopf ein letztes Mal schütteln, doch der Arzt sah ihn entschlossen an und hob warnend einen Zeigefinger. Dann machte er eine gießende Handbewegung vor seinem Mund. Aedilius besaß Kommandogewalt in allen Dingen, die die Gesundheit betrafen. Er durfte sogar Langenhagen Befehle geben.

Also ein Befehl. Köhler war Soldat. Er befolgte Befehle.

Er hob den Korken, schloss die Augen und nahm einen tiefen Schluck. Besser, es gleich hinter sich zu bringen und einen Tod in Würde zu sterben, mannhaft, ohne Angst.

Die brennende, faulige Flüssigkeit floss seine Kehle hinab. Er spürte, wie sein Magen fast sofort rebellierte. Er wusste nicht, was schlimmer war: der absolut widerwärtige Geschmack oder das ätzende Gefühl, als sich der Trunk mit seiner in Aufruhr befindlichen Magensäure verband. Er fühlte sofort, wie der Würgereiz begann, und setzte die Flasche ab, bereit, alles unmittelbar wieder …

Aber nichts geschah.

Köhler riss die Augen auf und lauschte in sich hinein. Eine seltsame, betäubende Wärme hatte sich auf seinen geschundenen Magen gelegt und der Brechreiz war nur noch ein lauerndes Gefühl irgendwo darunter, zugedeckt und alles andere als akut.

Es ging ihm beinahe … gut.

Aedilius sah ihn wissend an, lächelte, machte eine erneute, gießende Bewegung.

Köhler zögerte kein zweites Mal.

Er war ein Narr gewesen.

Er setzte die Flasche an und nahm bewusst einen tiefen Schluck. Es war immer noch ein unsägliches Gebräu, aber nun trank er es ohne Angst und böse Erwartungen. Es machte die Sache leichter. Das wärmende, betäubende Gefühl in seinem Bauch wurde verstärkt und es drängte den Brechreiz zurück, bis dieser beinahe nicht mehr wahrnehmbar war.

Er gab dem Arzt die Flasche zurück. Köhler konnte nicht ermessen, ob sein Gesichtsausdruck auf ausreichende Weise die Dankbarkeit kommunizierte, die er empfand, aber es schien, als sei die Nachricht angekommen. Aedilius nickte ihm zu, schenkte ihm ein Lächeln und wandte sich um. Einige Meter weiter stand ein Bootsmann und reiherte in hohem Bogen eine nicht einmal andeutungsweise verdaute Mahlzeit in die Wellen. Der Wind war unberechenbar. Mit stoischer Gelassenheit wischte sich Köhler ein zerkautes Bröckchen vom Ärmel. Sekunden später hatte ihn die Gischt vollständig gereinigt.

Aedilius lief auf den Bootsmann zu und präsentierte ihm die Flasche. Dem Gesichtsausdruck des Seekranken zufolge war auch dieser Kandidat bisher eher zurückhaltend gewesen, was das Gebräu des Arztes anging. Ein Fehler, wie Köhler nun einzuräumen bereit war. Er betrachtete mit Freude, dass der Bootsmann sich dem Fordern des Arztes unterwarf und kurz darauf der gleiche angenehm berührte Gesichtsausdruck auf seinen Zügen zu sehen war, den Köhler gerade gezeigt haben musste. Fast hastig nahm der Mann einen zweiten Schluck.

Köhler aber kehrte nun an seinen Platz neben dem Navarchen zurück. Ein weiterer hoher Offizier, Adrianus Sextus Cabo, stand auf dem Vorderdeck und gab dort die nötigen Befehle. Der nachtschwarze Himmel und die immer wieder über die Reling brausende Gischt machten es fast unmöglich, von hier zu erkennen, was sich im vorderen Teil des Schiffes abspielte. Es war später Nachmittag, aber die Sonne war nur ein schwach glimmender Schein hinter den dichten Wolkenbänken, die ein mächtiger Wind über den Himmel schob. Es gab nicht viel zu befehlen – die Segel waren fast alle gerefft worden, nur ein kleines Sturmsegel hing am Vordermast. Die Steuerung der Schiffe war vor allem deswegen möglich, weil die Dampfmaschine unter voller Leistung lief und damit dem Schiff genug Vortrieb gab, um mit dem Ruder tatsächlich Einfluss auf den Kurs des Schiffes auszuüben. Der Gubernator war ein muskulöser Mann, der fast so groß wie Köhler war, obgleich er nicht von den generell höher gewachsenen Zeitenwanderern abstammte. Er umklammerte das Ruderrad mit kräftigen Fäusten, trotz der Tatsache, dass es derzeit festgebunden war. Der Sturm kam direkt aus Westen und sie steuerten die Flotte direkt gegen den Wind. Ohne die Dampfmaschinen wäre dies ein ausgesprochen schwieriges Unterfangen. Es war auch so problematisch genug. Die Schiffe waren robust gebaut und hatten den Sturm bisher problemlos abgeritten. Wie immer war es der Faktor Mensch, der nachzulassen begann.

Helmut Köhler konnte dies zumindest für sich mit einiger Sicherheit behaupten.

»Wie geht es Ihnen?«, rief Langenhagen gegen den Lärm des Sturms und wandte Köhler sein nass glänzendes Gesicht zu. Neben dem Ruder hingen zwei Sturmlampen, die an kurzen Eisenketten nach links und rechts schwankten und unbeirrt ihr fahles Licht auf die Schiffsführung warfen.

»Aedilius!«, schrie Köhler zurück. Er winkte in Richtung des Medicus, der gerade einem weiteren Seemann seinen Kräutertrunk verabreichte, unbeirrbar und schwankend wie die Sturmlampen. Langenhagen grinste und nickte, hatte er doch von Anfang an seine Scheu vor dem Gebräu überwunden und war mit gutem Beispiel vorangegangen. Tatsächlich hatte Köhler ihn dabei beobachtet, wie er Schiffszwieback, Käse und heißen Wein zu sich genommen hatte, ohne alles gleich wieder von sich zu geben.

Köhler beschloss, sein Vertrauen in Aedilius nicht länger unnötig infrage zu stellen.

»Wo sind wir?«, rief er dann.

»Weit ab vom Kurs!«, brüllte Langenhagen zurück. Er zeigte in den Himmel. »Wir werden es erst wissen, wenn es richtig aufklart.«

»Was schätzen Sie?«

»Drei Tage sind vorüber. Der längste Sturm, den ich bisher erlebt habe, ging fünf. Ich glaube, wir haben es bald geschafft.«

Langenhagen klang zuversichtlich und sah auch so aus. Köhler nickte und hielt sich an der Reling fest, die das Achterdeck vor dem Rest des Schiffes abgrenzte. Es war nur die allernötigste Besatzung an Deck. Bootsleute prüften regelmäßig, ob alles gut festgezurrt war, und zählten, ob noch alle Leute da waren, die da sein sollten. Der Rest befand sich im Schiffsinneren und tat nicht viel mehr, als auf ein Ende der Quälerei zu warten.

Köhler entsann sich, dass die ersten beiden Wochen ihrer Reise absolut störungsfrei und friedlich verlaufen waren. Sie waren in den Atlantik vorgedrungen und es schien, als sei ihre Expedition unter einem guten Stern gestartet. Günstige Winde hatten ihr Fortkommen beschleunigt, die Schiffe waren problemlos zusammengeblieben. Die Laune unter den Männern war ausgezeichnet gewesen, voller Neugierde, eine große Lust auf das Erkunden und Entdecken. Als sich dann die Himmel zuzogen und der Sturm sich ankündigte, hatte niemand mit einem so katastrophalen und andauernden Wetterumschwung gerechnet. Dennoch hatten sie alles mit großer Zuversicht erwartet. Waren sie nicht die besten Seeleute des Imperiums? Waren ihre Schiffe nicht die besten der gesamten Flotte?

Und jetzt begann, auch die Stimmung zu kippen. Köhler hoffte, dass Langenhagen – der in Wirklichkeit den Rang eines Navarchen trug, sich aber gerne vornehmlich als Kapitän seines Schiffes ansah – recht behalten würde mit seiner Prognose.

»Gehen Sie unter Deck!«, rief Langenhagen. »Ich will wissen, ob alles in Ordnung ist. Und essen Sie etwas. Der Trunk von Aedilius hilft wirklich. Sie benötigen eine Stärkung. Heißen Wein, leicht verdünnt. Etwas Festes.«

Köhler nickte nur. Jetzt, wo der Kräutertrank seine Wirkung entfaltet hatte, spürte er in der Tat ein ganz anderes Rumoren in seinem Magen. Hunger. Das erste Mal seit drei Tagen eindeutig als Hunger zu erkennen. Er befolgte den Befehl sofort.

Er war dankbar, als er den Niedergang über sich schloss. Es war hier unten etwas stiller als an Deck, das Brausen des Sturms trat ein wenig in den Hintergrund. Er sah, wie Matrosen ihn ansahen, ihm zunickten, oft müde an der Wand saßen oder zusammengerollt in den Hängematten, alle in unterschiedlichen Phasen von Erschöpfung, Langeweile oder Krankheit. Es herrschte aber Ruhe, ein wenig Fatalismus und es gab nur wenige Gespräche. Kein Würfelspiel. Keinen Lärm, außer dem gedämpften Tosen von draußen. Eine gewisse Disziplin in der Ermattung. Gut genug für Köhler, gut genug für das Schiff.

Er kam zur Kombüse. Der Schiffskoch, von allen in der Sprache der Zeitenwanderer Smutje genannt, schaute ihn erwartungsvoll an. Es war bezeichnend, dass der einzige Mann, der vom Sturm gesundheitlich absolut unbeeindruckt geblieben war, ausgerechnet der Herr über die Vorräte war, die alle nach der Zufuhr gleich wieder von sich gaben. Er zeigte seine Zahnlücken, als er Köhler angrinste und mit einer weit ausholenden Geste auf seine Vorräte wies. Der Mann war sein bester Kunde und kaute immer auf irgendwas herum. Auch jetzt bewegte sich sein Mund nicht nur entsprechend seiner Worte, sondern ebenfalls, um etwas zu zerkleinern. Köhler hätte dieser Anblick vor Kurzem noch Übelkeit bereitet, jetzt löste er aber beinahe so etwas wie Vorfreude bei ihm aus.

»Ein neuer Anlauf, geehrter Herr?« Der Mann triefte vor Scheinheiligkeit.

»Immer noch ein Magen aus Eisen, Vitelius?«

»Bronze, wie unsere tapfere Maschine. Etwas Wein?«

»Wasser und Zwieback.«

»Das ganz große Risiko, Herr. Ihr seid ein mutiger Mann, eine Zierde der Flotte, ein Abbild römischer Männlichkeit.«

»Hör auf zu quatschen.«

Der Smutje reichte ihm grinsend das Gewünschte und beobachtete mit einem gewissen lauernden Blick, was nun geschehen würde. Er zeigte sich rechtschaffen beeindruckt, als Köhler die Speise mit methodischem Kauen zu sich nahm und dann betont pikiert einige aufgeweichte Krümel vom Mantel pickte. Der Smutje lächelte wissend.

»Der Kräutertrunk des Medicus.«

»Kluger Mann.«

»Ich schwöre auf das Zeugs. Habe aber noch nichts davon getrunken.« Der Koch klopfte auf seinen Bauch. »Bronze, wie Ihr wisst.«

Köhler warf dem Mann einen abschätzigen Blick zu, freute sich aber wie ein Kind darüber, dass der Zwieback in seinem Magen keine Anstalten machte, diesen wieder zu verlassen.

»Hier unten alles in Ordnung?«

Wenn diese Frage jemand beantworten konnte, dann der Smutje. Er war einer der wenigen, die alles immer noch mit wachen Augen betrachteten. Und sich über das meiste auf seine Art sehr amüsierte.

»Mit Abstrichen. Ich glaube, einige langweilen sich beinahe.«

»Sobald der Wind nachlässt, setzen wir wieder die Segel, um Kohle zu sparen. Dann wird es wieder mehr als genug zu tun geben.«

»Das gilt aber nicht für die Legionäre. Denen ist nicht nur übel, die wissen absolut nicht, was sie mit sich anfangen können.«

»Da oben ist viel aufzuräumen. Wir werden Arbeitskommandos zusammenstellen. Auch die werden beschäftigt.«

Vitelius nickte und kratzte sich hinter dem Ohr. Offenbar fand er dabei etwas, das er für einen Moment aufmerksam betrachtete, ehe er es zwischen seine beschäftigten Kiefer schob. Köhler war sich einigermaßen sicher, dass so was nicht gesund sein konnte.

»Wie lange?«

»Der Trierarch meint, nicht mehr als zwei Tage.«

»Und wir sind weiter in Richtung Westen unterwegs?«

»Sind wir. Ob der Sturm die Flotte auseinandergetragen hat, dazu sage ich aber lieber nichts. Wir haben seit Beginn des Unwetters keinen Kontakt mehr mit den anderen Schiffen. Auf der Kurzwelle nur Rauschen. Wir werden auch hier warten müssen, was das Ende des Winds uns bringt.«

»Zwei Tage?«

Köhler lächelte.

»Wird es dir zu viel? Trotz eines Magens aus Bronze?«

»Ich habe seit drei Tagen nichts Ordentliches mehr gekocht. Ich bin erfüllt von Mitleid und Fürsorge für meine darbenden Kameraden. Die müssen wieder was richtig zwischen die Zähne bekommen.«

Köhler stimmte zu. Er ging allerdings davon aus, dass der Smutje bei seinem Lamento nicht zuletzt an seine eigenen Zähne dachte.

»Es wird schon.«

Köhler hob die Hand zum Gruß und wandte sich ab. Ein kurzer Durchgang unter Deck bestätigte die Aussage des Kochs. Es war alles ruhig, soweit man bei diesen heftigen Wellenbewegungen wirklich von Ruhe sprechen konnte. Er beantwortete einige Fragen – in etwa die gleichen, die er eben bereits diskutiert hatte – und verbreitete mehr Zuversicht, als er empfand.

Aber dafür war er auch der Zweite Offizier. Immer lächeln und winken.

Als er sich schließlich wieder nach oben gekämpft hatte, schloss er beinahe geblendet die Augen. Der Lichtstrahl, der kurz durch eine der dicken Wolkenbänke auf sie hinabgestrahlt hatte, war zwar genauso schnell wieder verschwunden, wie er aufgetaucht war – aber sein Herz machte einen Hüpfer, als er das Licht über die heftigen Wellen tanzen sah.

Ein gutes Zeichen.

Langenhagen nickte ihm zu, grinste fröhlich. Selbst der Steuermann wirkte entspannt, obgleich er das Steuerrad immer noch genauso fest umklammerte wie zu dem Zeitpunkt, da Köhler ihn das letzte Mal erblickt hatte.

Der Wind ließ nicht nach. Ein tiefes Wellental ließ Köhlers Magen wieder nach oben wandern, doch diesmal war alles unter Kontrolle.

Es wurde besser.

Es wurde jetzt alles besser.

3

Natürlich musste er ein Exempel statuieren.

Es ging nicht anders.

Der ehemalige König von Saclemacal machte keinen sehr erfreuten Eindruck mehr. Wesentliche Ursache dafür war, dass Inugami mit seinem Schwert den Kopf des Mannes von seinem Rumpf getrennt hatte, mit einem schnellen, gezielten und kraftvollen Streich der vorbildlich geschärften Waffe. Der Körper war mittlerweile ausgeblutet, lag in einem roten Teich, und der Kopf, von dem der Federschmuck abgefallen war, ruhte ein Stück weiter.

Der Mann hatte sich würdig verhalten und Inugami war in der Lage, dafür Respekt zu empfinden. Als sie die Stadt eingenommen hatten – nach kurzem, aber heftigem Kampf, bei dem den Verteidigern die Aussichtslosigkeit ihrer Lage sehr schnell deutlich geworden war –, hatte sich der König den Eroberern gestellt. Inugami wusste nicht, ob er auf Gnade gehofft hatte. Aber er war nicht in der Stimmung gewesen, diese wunderbare Chance zu einer symbolischen Handlung einfach ungenutzt verstreichen zu lassen. Er musste sicher nicht jeden König töten, dessen er habhaft wurde, aber dieser war ein notwendiges, ein nützliches Opfer.

So fiel der Kopf. Der König hatte sein Schicksal sofort erkannt und das Urteil völlig klaglos akzeptiert. Daher hatte Inugami ihm auch den Kopfschmuck, das Zeichen seiner Würde, gelassen. Es hatte den Akt der Tötung nur noch stärker gemacht. Das gekrönte Haupt fiel, vor den Augen aller, der Eroberten wie der Eroberer. Der Jubel der Mutalesen war laut gewesen und hatte echte Begeisterung enthalten. Für sie war Saclemacal ein Hort des Verrats. Die gerechte Strafe war gesprochen und exekutiert worden. Der Götterbote hatte den Kopf des Königs genommen und sein wundersames Schwert hatte einen so schönen, klaren Bogen beschrieben und seine Arbeit so glatt und still vollzogen, dass der Zauber dieser Klinge die Herzen der Krieger hatte höher schlagen lassen.

Eine würdige Tat. Eine notwendige Tat.

Inugami wandte sich um, das Schwert noch erhoben. Neben ihm stand Chitam, der König von Mutal; dieser Titel, so war nicht nur die Ansicht des Japaners, verlor mit jedem Tag an Wert. Tatsächlich war Inugami dabei, ihm die Macht, die dahinterstand, streitig zu machen. Um genauer zu sein: mit dem abgetrennten Kopf des unterlegenen Herrschers hatte der Kapitän auch eine Menge von Chitams Macht abgeschlagen und er schwenkte sein blutiges Schwert wie ein Zepter.

Schließlich senkte er den Arm mit der Klinge und verließ die Spitze des Tempels, auf dem er die Hinrichtung vollzogen hatte. Es würden allerlei Rituale folgen, die mit der Religion der Maya zu tun hatten und für die sich Inugami bis auf Weiteres nicht interessierte. Er ahnte, dass er diese Ignoranz nicht ewig beibehalten konnte, wollte er die Loyalität der Maya auch auf dieser spirituellen Ebene erlangen, wenn er anstrebte, dass diese ihm mit Körper und Seele in allen Dingen folgten. Aber er musste die Religion der Maya ändern. Die Praktiken, die ihm nicht weiterhalfen, mussten gehen: Menschenopfer etwa, die Entscheidung, Kriege nach dem Stand der Sterne zu führen und nicht dann, wenn es strategisch klug erschien. Er musste die religiösen Aspekte dort verstärken, wo sie ihm nützten, aber alles musste effizienter werden. Jede Eroberung würde von nun an die bisherigen militärischen Vorgehensweisen dieses Volks auf den Kopf stellen. Früher hätte man Saclemacal erobert, ein Exempel statuiert – ganz, wie Inugami es soeben exerziert hatte – und wäre mit Tribut beladen wieder abgereist, nachdem man einen neuen Herrscher installiert hatte, von dem man hoffte, dass er zu Lebzeiten keinen Ärger mehr machen würde. Das hatte manchmal funktioniert und manchmal nicht, die indirekte Herrschaftsausübung hing stark vom andauernden Prestige des Siegers ab sowie seiner Fähigkeit, eine permanente Drohkulisse aufrechtzuerhalten. Je länger das Exempel zurücklag, desto eher waren die einst Besiegten der Auffassung, dass ihre Niederlage als historisches Ereignis zu bewerten war und keine politischen Konsequenzen damit verbunden waren.

Inugami würde das nicht zulassen. Saclemacal würde nicht wieder frei sein. Die kleinere Stadt und ihr Umland waren der erste Baustein für sein neues Imperium. Er würde einen Statthalter einsetzen, der immer genau das tat, was ihm aus Mutal befohlen wurde. Die Straße zwischen den beiden Städten würde ausgebaut und er würde einen täglichen Botendienst einrichten. Die Kuriere würden zu Fuß gehen, aber jeden Tag die neuesten Nachrichten austauschen und Befehle weitertragen. Befehle, die ausgeführt wurden, da sonst die Konsequenzen sofort und unmittelbar zu spüren waren. Man baute ein neues Staatswesen nicht auf beliebiger Unverbindlichkeit auf.

Saclemacal würde somit fest im Griff Mutals verbleiben. Die Krieger der Stadt würden an der Seite Inugamis streiten. Der Weg war vorgezeichnet. Weitere Städte hatten sich am Angriff gegen Mutal beteiligt, weitere königliche Häupter hatten sich von ihren Schultern zu lösen. Die Gegenangriffe waren legitim, niemand in der Nachbarschaft konnte Mutal irgendeinen Vorwurf machen.

Inugami machte sich keine Illusionen. Sobald sich herumsprach, dass die eroberten Städte fest in das Herrschaftsgebiet Mutals inkorporiert werden würden, musste sich der Widerstand regen. Dann, dessen war er sich bewusst, würde der wirkliche Krieg beginnen, der Krieg um die absolute Vorherrschaft in Mittelamerika. Inugami wusste um die Risiken. Es konnte natürlich schiefgehen. Er war auf die Hilfe von Menschen angewiesen, die fehlbar waren. Aber wenn er es nicht versuchte, dann würde er sein Leben hier in der fernen Vergangenheit wegwerfen und eine Existenz in Unwürde verbringen. Andere mochten sich damit einrichten, ein Indianermädchen schwängern und alt und fett werden. Inugami war dazu nicht bereit.

Er vollbrachte Großes.

Er schrieb Geschichte.

Oder er würde zumindest bei dem Versuch sterben.

Er schritt die Reihen seiner Priesterkrieger entlang, nahm ihre Ehrenbezeugungen stumm entgegen. Die Männer würden belohnt werden. Diese Nacht war die ihre. Inugami würde die Zügel schleifen lassen, die Augen verschließen. Keine Plünderungen, keine Vergewaltigungen – aber bis zu dieser Grenze war alles erlaubt und die Stadt hatte dafür zu sorgen, dass die Krieger sich wohlfühlten.

Die gute Laune seiner Soldaten lag im Interesse jener, die durch sie beherrscht wurden.

Er verschwand im Palast des Königs von Saclemacal und ließ die Menge hinter sich. Hier, in den Gemächern des Toten, erwarteten ihn nur noch seine Leibgarde sowie die Diener des hingerichteten Königs, unterwürfig und bereit, seine Befehle auszuführen.

Hier wartete auch Achak, der General des Chitam, und nun, das wollte Inugami gerne annehmen, sein General, berauscht vom Sieg und vom Chi, dem er nach dem Triumph reichlich zugesprochen hatte. Mit gerötetem Gesicht stand er vor Inugami. Er hatte seine Rüstung gesäubert, sein langes Obsidianmesser, mit dem er voller Hingabe die Leiber seiner Feinde aufgeschlitzt hatte. Der Mann war alles andere als jung, doch die Schlacht schien ihm ungeahnte Energie zu bereiten. Er war durch die Reihen der Feinde gefahren wie ein Irrwisch und hatte ein Leben nach dem anderen genommen, und das mit einer dermaßen glühenden Begeisterung, die für einen Moment selbst Inugami unheimlich gewesen war. Es war, als hätte er einen Dämonen auf die Feinde losgelassen und hätte sich dieser mit größter Hingabe am Blut und Leid seiner Gegner gelabt, unersättlich und voller Kraft.

Achak war ein guter General. Er bereitete die Schlacht gründlich vor und war jederzeit bereit, noch effektivere Methoden des Mordens zu erlernen. Die kleinen Speerkatapulte hatte er mit Begeisterung eingesetzt. Er sprach bereits von größeren Modellen, mit denen man mehr als nur Speere abfeuern konnte, Schotter, viele spitze Steine, die wie eine Wolke des Todes durch die Reihen der Feinde fuhren und ihre Haut schlitzten, ihre Gesichter verstümmelten und sie vor Schmerz blind werden ließen, willige Empfänger des tödlichen Streichs aus der Hand von Soldaten, die nur noch beenden mussten, was die Geschosse begonnen hatten.

Achak hatte dies Inugami mit einer Leidenschaft gegenüber ausgemalt, der sich auch der Japaner nicht hatte entziehen können. Tatsächlich würden sie nach Ende der Siegesfeierlichkeiten mit der Konstruktion weiterer Waffen beginnen und damit ihre Schlagkraft stärken. Wie dem auch sei, der alte General war sein Mann, und das in jeder Hinsicht. Seine Loyalität zum König, zu Chitam, war nur noch Oberfläche. Sein Herz gehörte Inugami, und das so lange, wie dieser ihm die Gelegenheit gab, das Blut anderer Menschen in der Schlacht zu vergießen.

Inugami wollte ihm diese geben, und das reichlich.

Der General fiel auf die Knie.

»Herr, ich grüße Euch. Es ist eine Zeit des Triumphs.«

»Das ist es. Erhebe dich.«

Inugami winkte und alle verließen den Raum, mit Ausnahme Achaks, der sich schließlich auf einen Hocker setzte. Er war ein wenig wackelig auf den Beinen, hatte gut getrunken und der Rausch des Kampfes hatte sich in einen Rausch des Alkohols zu verwandeln begonnen.

»Wie sieht Euer Plan aus, Herr? Was ist der nächste Schritt?«, artikulierte er mit der großen Sorgfalt eines Mannes, der wusste, dass er sich sehr konzentrieren musste, um klare Worte sprechen zu können.

»Tayasal, General, genauso, wie wir es besprochen haben.«

Achaks Augen leuchteten. »Der Feind wird vor uns im Staub kriechen. Der Kopf des Königs von Tayasal wird über den Boden rollen. Nichts und niemand stellt sich uns in den Weg. Ein weiterer grandioser Sieg, eine weitere Niederlage für den Feind. Dies ist die Zeit Mutals und Ihr, großer Inugami, seid der Prophet dieser Zeit.«

Der Japaner lächelte. Achaks Einstellung gefiel ihm.

»Du hast die vollständige Liste der Verluste?«

»Herr, keine hundert Mann haben wir verloren. Die Armee ist siegesgewiss und marschbereit.«

»Tayasal ist klein.«

»Yaxchilan ist groß und nahe. Es kann sein, dass der neue König dort auf Ideen kommt.«

Es musste einen neuen König geben, das war klar. Eine so große Stadt blieb nicht lange ohne Herrscher. Noch wussten sie nichts über ihn oder seine Pläne. Das würde sich in absehbarer Zeit ändern.

»Es fehlt ihm an Kriegern«, gab Inugami zu bedenken.

»Es fehlt ihm möglicherweise nicht an Dummheit. Ich rate, die Garnison in Saclemacal so klein wie möglich zu halten.«

Inugami setzte sich ebenfalls, sein Gesichtsausdruck nachdenklich.

»Ich befürchte einen Aufstand, General. Wir machen es jetzt anders. Wir erobern und sichern, wir verwalten und behalten. Verstehst du das, Achak?«

»Ihr habt es mir erklärt. Ich denke, dass 500 Männer genügen werden. Keine Euer Kriegersklaven aus dieser Stadt. Sie könnten ihre Loyalität überdenken. Wir nehmen sie mit auf den Feldzug.«

»Wir nehmen sie alle mit nach Tayasal. 500 Mann. Wer soll Statthalter sein?«

Achak hatte sich darüber offenbar noch keine Gedanken gemacht. Er runzelte die Stirn und war augenscheinlich bemüht, eine gescheite Antwort auf die Frage zu finden. Inugami drängte ihn nicht, nutzte die Pause, sich einen Teller mit Früchten zu füllen. Die Schlacht hatte ihn hungrig gemacht und die Tafel war reich gedeckt. Er fand es bemerkenswert, dass der alte General, obgleich er jedes Recht dazu hätte, nicht selbst nach dem Posten verlangte, der dem eines Königs gleichkam, solange Inugami nicht vor Ort war oder sich Probleme ergaben. Achak war niemand, der herrschen wollte – sein Ziel war allein, die militärische Grundlage für Herrschaft zu schaffen.

»Wir haben zwei Möglichkeiten, Herr. Wir setzen jemand von hier ein und stellen ihm einen General von uns an die Seite, der ihn im Auge behält. Die andere Alternative wäre, einen der Unseren einzusetzen und den hiesigen Adel ganz zu übergehen. Beides hat seine Risiken.«

»Wie lautet dein Rat?«

»Ihr strebt eine neue Art von Herrschaft an, neue Bande der Treue und eine dauerhafte Verbindung der Städte. Ein Imperium, wie Ihr es genannt habt. Ihr müsst Euch der Loyalität der Leute, die dieses Imperium für Euch regieren, gewiss sein.«

»Was sagt Chitam?«

Achak schien überrascht über diese Frage. Er hatte beim ganzen Gespräch den König von Mutal, der jetzt eigentlich auch König von Saclemacal war, offenbar gar nicht bedacht. Das war ein gutes Zeichen, wie Inugami fand. Es zeigte, wie unwichtig Chitam in den Augen seiner wichtigsten Gefolgsleute zu werden drohte. Der Zeitpunkt war nahe, den König abzusetzen und dieser Scharade ein Ende zu bereiten. Bald, sehr bald.

»Chitam hat sich mir gegenüber noch nicht geäußert. Er wird möglicherweise wie seine Vorfahren denken und handeln und jemanden aus der Stadt einsetzen, sich Treue schwören lassen und Tribut – und dann wieder abziehen.«

»Die Zeiten sind vorbei.«

»Ja, Herr.«

»Ich möchte einen der Unseren zum Statthalter ernennen.«

»So sei es.«

»Ich benötige Vorschläge. Jemand mit Verstand, der aber seine Grenzen kennt. Der außer Zweifel steht.«

Achak zögerte mit seiner Antwort lange genug, um Inugamis Misstrauen zu erwecken.

»Was ist das Problem, General?«

»Herr …«

»Sprich.«

»Wir können uns derzeit eigentlich nicht völlig sicher sein. Es gibt … nicht alle sprechen und handeln frei, nicht alle zeigen klar, wo ihre Treue tatsächlich liegt. Herr, die sichersten Kandidaten für ein solches Amt werdet Ihr bei jenen finden, die Euch persönlich so treu sind, dass sie wissen, was Verrat für sie bedeutet – und welch wunderbarer Lohn sie erwartet, wenn sie loyal sind und tun, wie Ihr es erwartet.«

Achak sagte nichts weiter und sah Inugami an, der sofort nachdenklich nickte.

Der alte Mann hatte selbstverständlich absolut recht.

In dieser Situation war seine Auswahl begrenzt. Sehr begrenzt. Aber er konnte das Beste aus der Situation machen. Er wollte seine eigenen Leute als Statthalter einsetzen, in den größeren Städten, die weiter entfernt und nicht sofort zu bestrafen waren. Aritomo würde eines Tages König sein, obwohl er es noch nicht ahnte. Aber nicht in so unmittelbarer Nähe Mutals. Das wäre Verschwendung von begrenzten Ressourcen. Saclemacal war leicht zu erreichen, schnell zu bestrafen, es war eine kleine Stadt mit begrenzten Ressourcen, kein potenzielles Zentrum des Widerstands. Im Grunde nur wichtig aufgrund seiner Symbolkraft als erster Baustein des neuen Reiches, als Siedlung selbst aber letztlich von vernachlässigbarer Bedeutung.

Inugami nickte und reckte sich.

»Hat jener Balkun die Schlacht überlebt? Der Mann, der Chitams Familie vor dem Feuer gerettet hat?«

»Er zeichnete sich durch Tapferkeit aus und ist unversehrt«, erwiderte Achak mit einem wissenden Lächeln. Der alte Mann schien seine Gedanken nachvollziehen zu können und zuzustimmen. Inugami lächelte zurück.

»Dann ruf ihn zu mir, General.«

4

Inocoyotl hasste es zu warten, mindestens genauso sehr, wie er es gewohnt war. Es gehörte zu den Vorrechten großer Herrscher, jeden warten zu lassen, der nicht vom gleichen Stand war, und so viele Mayakönigtümer es auch geben mochte, die Zahl jener, die ein Herrscher tatsächlich als gleichwertig zu akzeptieren war, war nicht groß. Wenn man zudem König einer der großen Städte war, nicht irgendwo in der Provinz, sondern in einem echten Zentrum militärischer, wirtschaftlicher und politischer Macht, dann mussten auch niedrigere Könige ausharren, bis man gerufen wurde, und niemand durfte sich etwas anmerken lassen. Darin unterschied sich ein Herrscher der Maya nicht von einem König von Teotihuacán und so erduldete er, was zu erdulden war.

K’uk’ Bahlam, König von B’aakal, war einer von den Großen. Nachdem Inocoyotl in der Stadt angekommen und mit großem Respekt empfangen worden war, hatte er einen Tag darauf gewartet, vom Herrn der Stadt vorgelassen zu werden. In dieser Zeit war es ihm vergönnt gewesen, sich in dieser Metropole in Ruhe umzusehen, und er hatte schnell erfahren, dass es neben B’aakal und Mutal nur wenige Städte gab, die diese Größe und diesen Reichtum erlangt hatten. K’uk’ Bahlam war ein Herrscher, der sich seiner Würde und Macht sehr bewusst war. Gleichzeitig war er es aber auch, der zu dieser Konferenz eingeladen hatte, und da er etwas wollte, verhielt er sich nicht halb so distanziert, wie man es ihm zugetraut hätte. Der König von Popo’ war bereits vor Inocoyotl eingetroffen, er war in etwa von gleichem Rang und Ansehen wie K’uk’, doch auch die anderen Herrscher, obgleich sie kleinere Flecken regierten, wurden respektvoll und angemessen behandelt. Inocoyotl mochte das großartige Teotihuacán repräsentieren, aber er war kein König und so war es nur recht und billig, dass er zu warten hatte.

Kein Problem.

Er hatte seine Zeit genutzt.

Die Gerüchte um die seltsamen Götterboten hatten sich während seines Aufenthaltes konkretisiert. Es war nun schwer, alles nur als Hirngespinst abzutun. Inocoyotl freundete sich mit dem Gedanken an, dass sein gnadenvoller göttlicher Herrscher ihn exakt zu einem Zeitpunkt hierher entsandt hatte, als sich etwas sehr, sehr Seltsames zutrug. Er hegte größte Achtung gegenüber seinem König und hatte keinen Zweifel an dessen Weisheit und Voraussicht. Aber er würde, nach seiner Rückkehr und so sein Herr gute Laune hatte, einige Fragen haben. Möglicherweise würde Metzli sogar von sich aus enthüllen, ob dies alles ein Zufall oder Absicht war. Inocoyotl jedenfalls fühlte sich zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort, und sosehr er auch an göttliche Fügung glaubte, vertraute er doch eher der Tatsache, dass ein König manchmal mehr wusste als sein treuer Diener.

Die gute Laune und die Gnade seines Königs zu erhalten, hing nicht zuletzt vom Erfolg seiner Mission ab. Inocoyotl hatte allerdings das Problem, dass er nicht genau wusste, was eigentlich als Erfolg gelten sollte. Er saß tief in Gedanken im Warteraum, alles andere als gelangweilt, als ihn ein Diener aufrief, das Audienzzimmer zu betreten.

Er dankte und folgte dem Mann.

K’uk’ Bahlams Audienzzimmer war nicht groß. Der König selbst aber war es, ein massiger Mann mit einer dermaßen dominierenden Nase, dass Inocoyotl für einen Moment seine Manieren vergaß und sie unwillkürlich anstarrte. Von ihm wurde nicht erwartet, sich auf den Boden zu werfen. Er repräsentierte eine Macht, vor der auch die höchsten Mayakönige gesunden Respekt empfanden. Dennoch mangelte es dem Botschafter nicht an Ehrerbietung. Er verbeugte sich tief und richtete sich erst wieder auf, als ihn Bahlam dazu aufforderte, sich zu setzen.

Der König war nicht allein. Ein Schreiber saß neben ihm und würde die wichtigsten Aspekte des Gesprächs aufzeichnen. B’aakal war für sein sorgfältig geführtes Staatsarchiv bekannt. Und neben dem König saß ein zweiter Mann würdigen Auftretens, mit einem ähnlich prachtvollen Federschmuck angetan. Inocoyotl konnte sich nicht sicher sein, aber er ging davon aus, dass dies der König von Popo’ war, dessen Namen er aber noch nicht gehört hatte. Es war manchmal schwierig, bei den Maya den Überblick zu halten. Sie hatten so viele wichtige Herrscher.

Doch wenn die Gerüchte stimmten, dann gab es Bestrebungen, diesen Umstand zu ändern.

»Ich grüße den Gesandten aus Teotihuacán«, dröhnte Bahlams volltönende Stimme. »Setzt Euch und bringt uns Kunde Eures großartigen Herrn.«

Inocoyotl verneigte sich erneut und nahm Platz. Da der Herr von Popo’ nicht mit ihm zu kommunizieren schien, richtete er seine ganze Aufmerksamkeit auf die joviale Gestalt Bahlams. Von dieser ließ er sich allerdings nicht täuschen. Bahlams Körper war groß und weich, sein Wille aber härter als der beste Obsidian.

»Edler König, edle Majestäten, ich entsende Euch die Grüße meines Herrn und freue mich, Euch in bester Gesundheit anzutreffen. Die Freundschaft meines Herren und Königs ist unverbrüchlich und seine Segenswünsche begleiten Euch. Teotihuacán sieht Euch als Familie an und uns vereint ein Band, das durch die Zeitalter reicht. Ich danke Euch für den freundlichen Empfang, die erwiesene Gastfreundschaft und die Möglichkeit, vor Euch zu treten.«

K’uk’ Bahlams breites Gesicht wurde noch breiter, als er seine Lippen zu einem Lächeln verzog und auf diese Weise sein Wohlwollen ausdrückte.

»Wir danken Euch, Gesandter. Es ist ein erstaunlicher Zufall, dass Ihr exakt zu dem Zeitpunkt hier erscheint, da eine große Krise sich anbahnt und ich eine Versammlung hoher Würdenträger einberufen habe, um dies zu besprechen.«

Inocoyotl ließ sich nichts anmerken. Es war bemerkenswert, dass Bahlam exakt die gleichen Gedanken hegte wie der Gesandte selbst. Sein Respekt vor dem massigen Mann wuchs noch ein Stück.

»Ein Zufall, in der Tat. Ich hörte von diesem Treffen erst auf meinem Weg hierher.«

»Ihr seid also nicht direkt als Beobachter geschickt worden, als Teilnehmer der Beratungen?«

»Nein«, sagte Inocoyotl die Wahrheit. »Mein Auftrag war allgemeinerer Natur. Ich sollte die Beziehungen zu unseren Freunden, den Maya, stärken und viele Städte besuchen. Es war nicht meine spezifische Aufgabe, an dieser Konferenz teilzunehmen, ich wusste von ihr nichts und mein Herr auch nicht.«

Beim letzten Halbsatz war er sich nicht so sicher, aber das konnte er natürlich nicht zeigen.

Bahlam nickte. »Aber dann seid Ihr hierher geeilt.«

»Es erschien mir angebracht. Bin ich erwünscht?«

Bahlam lachte auf. Es war bemerkenswert, welche Erschütterungen die kurze Regung an seinem Leib auslöste.

»Sehr sogar. Die Götter schauen wohlwollend auf uns hinab. Wir könnten die Hilfe unseres großzügigen Freundes, Eures Königs, eines Tages gebrauchen.«

Inocoyotl erwiderte darauf nichts und verbeugte sich nur. Er wusste, dass er über weitreichende Vollmachten verfügte. Sein König würde möglicherweise alles stützen, was er hier sagte, auch das, was er nicht für richtig hielt, allein schon, um sein Gesicht zu wahren. Allerdings würde in einem solchen Fall der Kopf seines Gesandten nach seiner Rückkehr nicht mehr allzu sicher auf den Schultern sitzen.

Inocoyotl hing an seinem Kopf. Er musste größte Vorsicht walten lassen.

»Ich habe bisher nur Gerüchte gehört, edle Majestäten.«

»Es begann mit Gerüchten. Doch es ist nun weit mehr als das.«

»Wollt Ihr mich informieren?«

»Das ist der Zweck dieser Zusammenkunft.«

Bahlam erhob sich. Inocoyotl wollte es ihm sogleich nachtun, doch der König winkte ab. Es war erstaunlich, mit welcher Flexibilität er sich zu bewegen in der Lage war, als wären all die Fettmassen an seinen Knochen in Wirklichkeit Muskeln. Inocoyotl runzelte die Stirn. Möglicherweise waren da in der Tat mehr Muskeln, als es den Anschein hatte. Er wollte dem Mann nicht im Kampfe gegenüberstehen. Das konnte überraschend ausgehen.

Und Inocoyotl hing wirklich an seinem Kopf.

Bahlam breitete die Arme aus und sprach.

»Vor vielen Wochen kamen die ersten Hinweise, dass sich in Mutal erstaunliche Dinge ereignet hätten. Von Götterboten war die Rede, die eines Tages aus dem Himmel erschienen wären, gebracht von einem seltsamen Gefährt, einem metallenen Behältnis von beeindruckender Größe, das Tempel unter sich zerdrückte. Wir nahmen diese Gerüchte nicht allzu ernst, sie klangen etwas … hysterisch.«

Inocoyotl grunzte lediglich. Wer würde es Bahlam verübeln? Das war auch seine erste Reaktion auf die Geschichte gewesen. Visionen von Priestern, die dem Chi zu stark zugesprochen hatten und leichtgläubige Menschen beeindrucken wollten, um ihre Nützlichkeit unter Beweis zu stellen.