Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Die Zeit des Erwachens ist gekommen. Zweihundert Jahre nach der Eroberung der Erde durch die insektoiden Skiir wird die vollständige Isolation der Menschheit aufgehoben. Die ersten Schritte in die galaktische Gemeinschaft konfrontieren die Menschen mit einer harten Realität: voller Intrigen, rivalisierenden Gewalten, Manipulationen und einer Hierarchie, in der man sich mühsam hocharbeitet oder untergeht. Widerstand brodelt gegen die Herrschaft der Skiir. Als ein mysteriöser Angreifer eine der Kernwelten des Imperiums attackiert und die gottgleichen Herrscher in der Verteidigung ihres Besitzes versagen, bricht die Krise aus. Die Menschheit steht vor der Wahl: gemeinsam mit ihren neuen Herren für den Erhalt des Reiches zu kämpfen oder die Gunst der Stunde zu nutzen und die Freiheit wiederzuerlangen …
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 451
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
DIE WELTEN DER SKIIR – Band 1: PRINZIPAT wird herausgegeben von Amigo Grafik, Teinacher Straße 72, 71634 Ludwigsburg. Herausgeber: Andreas Mergenthaler und Hardy Hellstern, Verantwortlicher Redakteur und Lektorat: Markus Rohde; Lektorat: Katrin Aust; Satz: Rowan Rüster/Amigo Grafik; Cover Artwork: Amigo Grafik; Print-Ausgabe gedruckt von CPI Moravia Books s.r.o., CZ-69123 Pohorelice.
Copyright © 2016 Dirk van den Boom
Originalausgabe
Print ISBN 978-3-86425-867-1 (September 2016) · E-Book ISBN 978-3-86425-897-8 (September 2016)
WWW.CROSS-CULT.DE
Das kleine Mädchen machte drei wackelige Schritte vorwärts. Mit seinen zwei Jahren war es noch nicht sehr sicher auf den Beinen. Es hatte ein leichtes Sommerkleid an, hellgelb mit aufgenähten roten Blütenblättern. Das Kind lief über eine grüne Wiese und die Sonne schien. In der rechten Hand hielt es eine gelbe Blume, fast von der gleichen Farbe wie sein Kleid, frisch gepflückt. Die kleine Dame lächelte dabei, ganz im Einklang mit sich selbst und der Natur, die sie umgab.
Flokhart Eder nahm das zumindest an.
Drei Schritte vorwärts, dann gefror das Bild. Es zitterte. Dann einen Schritt zurück. Wieder ruckelte es. Drei Schritte vorwärts. Ein endloser Zyklus. Das 3-D-Rama war mehr als zweihundert Jahre alt und eigentlich kaputt. Wie er es wieder in Gang gebracht hatte, wusste er auch nicht. Das kleine Mädchen war lange tot.
Es war seine Großmutter.
Eder drehte das 3-D-Rama in seinen Händen. Hinten stand in dünnen Ziffern ein Datum, kaum lesbar. 16.3.2098. Drei Jahre bevor die Skiir gekommen waren. Es gehörte zu Eders wertvollsten Besitztümern und allein schon deswegen würde er es hierlassen, wo er es wohlbehütet wusste.
Er stellte es behutsam in die Vitrine. Darin standen noch andere Preziosen aus der alten Zeit, sorgfältig gehütet, egal ob beschädigt oder nicht. Eder schaute noch einen Moment hinein. Die meisten Sachen gehörten seinem Vater, der die alten Dinge unablässig sammelte. Ein paar waren seine. Er würde sie sicher vermissen.
Die Holzbohlen quietschten, als er einen Schritt machte und einen letzten Blick auf seine gelöst lächelnde Großmutter warf. Er drehte sich um und schaute aus dem Fenster. Es war Sommer, wie damals. Vermutlich sein letzter Sommer, zumindest für lange Zeit. Staub tanzte im Sonnenlicht, draußen rauschten die Bäume. Vögel zwitscherten. Eine Idylle. Sein Haus. Sein Land.
Seine linke Hand fuhr über die Maserung des Tisches, neben dem er jetzt stand. Er hatte die Platte selbst aus dem Stamm geschnitten, den Baum selbst gefällt, die Bohlen abgemessen, die Oberfläche poliert, geölt und lackiert. Sein erster Tisch, vor gut zwanzig Jahren vollendet, unter den wachsamen Augen seines Vaters. Er sah vor seinem geistigen Auge seine Mutter am Tisch sitzen, in seiner Vorstellung genauso fragil und geisterhaft, wie sie im wirklichen Leben gewesen war, mit ihren spinnenartigen Fingern in eine Stickerei vertieft. Sie hatte den Tisch gemocht, jeden Abend an ihm Platz genommen, die weichen Sessel und Sofas verschmäht, ein Zeichen stillen Stolzes auf das, was ihr Sohn vollbracht hatte, eine immerwährende Anerkennung seiner Leistung. Wenn er irgendetwas vermissen würde, dann diesen Tisch und das Bild seiner Mutter, die für ihn irgendwie immer noch hier saß und ihn aus wachsamen Augen ansah. Sie war seit fünf Jahren tot. Er dachte nicht gerne daran.
»Eine gute Arbeit.«
Der hohe Lehnstuhl knarrte, als sein Vater sich bewegte, das verwitterte Gesicht der wärmenden Sonne zugewandt. Er bewegte sich nicht mehr viel, die Gicht machte ihm zu schaffen. Vor zweihundertdrei Jahren, als das 3-D-Rama aufgenommen worden war, wäre das kein Problem gewesen. Doch die Skiir hatten der Menschheit viel ihres Wissens genommen. Das würde sich bald ändern und Eder war das Symbol dieser Veränderung.
»Du hast mir geholfen«, sagte er zum Vater. Der schüttelte den Kopf.
»Ich habe ein Talent in dir entdeckt und es aufgeweckt. Mein Anteil daran war gering.«
Eder trat neben ihn und schaute aus dem Fenster.
»Wann?«
»Ich warte noch auf das genaue Datum. Der Rat wird mich benachrichtigen. Aber bald. Das Erwachen ist beendet. Die Skiir haben den Schirm schon abgeschaltet. Es kann sich nur noch um Wochen handeln. Ich bin in Bereitschaft, genauso wie das Team.«
»Ich vermisse das Grün beinahe. Nachts war es recht angenehm.«
Eder sagte nichts. Man konnte es so oder so sehen. Das Grün des Schirms als angenehmer Schutz, der der Menschheit Ruhe und Eintracht gebracht hatte – oder als Symbol ihrer Unterdrückung. Eder tendierte zur zweiten Interpretation, aber sein Vater wollte davon nichts hören. Er glaubte an den Segen der Skiir, zumindest sagte er das immer, mit monotoner Verlässlichkeit. Vielleicht war es auch nur ein Mantra, das ihn ruhig schlafen ließ, gerade jetzt, wo eine Zeit des Umbruchs bevorstand.
»Es wird sich vieles ändern«, murmelte er.
»Das geht mit dem Erwachen einher.«
»Schiffe werden landen.«
»Davon gehe ich aus.«
»Viele von uns werden neugierig sein.«
Eder seufzte. »Viele von uns werden sich diese Neugierde nicht leisten können. Wenn die ersten Trampfrachter die Erde anlaufen, werden Tickets für einen Flug so teuer sein, dass nur die Reichsten sie sich werden leisten können. Ein paar werden es wagen. Aber wer hier auf der Erde reich ist, ist da draußen arm. Wir werden Zeit brauchen.«
Sein Vater nickte und sah ihn an, die braunen Augen erfüllt von Zuneigung und Bedauern. Vielleicht auch ein wenig Missbilligung, so genau war das nicht zu sagen.
»Für dich gilt das nicht, oder?«
»Die Skiir fliegen mich. Die Delegation erhält Unterhalt. Ich habe eine offizielle Funktion.«
»Ja. Botschafter der Erde. Und du musstest zusagen.«
»Einer muss es tun.«
»Warum du, Flokhart?«
Der alte Streit, die alte Bitterkeit, die plötzlich wieder im Raum stand, der stille Geist einer jeden Unterhaltungen des vergangenen Jahrs. Sein Vater war immer ein Mann dieses Landes gewesen, verwurzelt mit dem, was er bearbeitet und aufgebaut hatte. Daran war nichts Schlechtes. Es war gutes Land. Aber nicht genug für seinen Sohn. Sie hatten diesen Disput geführt, als Eder zum Studium in die Stadt gegangen und danach in die Dienste des Prinzipats getreten war, in die Vorbereitungskurse, zehn Jahre vor dem Erwachen, als alle wussten, dass es bald vorbei sein würde.
»Warum du, Flokhart?«
Weil ihn die Eintönigkeit hier draußen verrückt machte.
Weil sein Planet ein Gefängnis war, seit zweihundert Jahren, mit einem ständigen, unerfüllbaren Versprechen auf Weite und Distanz da draußen, das nun endlich, endlich eingelöst wurde.
Weil er mehr sein wollte, mehr tun, mehr sehen und erleben als jemals ein Mensch zuvor auf dieser Welt. Weil er Verantwortung trug und die Neugierde ihn trieb.
Sein Vater verstand es nicht. Viele verstanden es nicht. Zweihundert Jahre hatten sie genügsam gemacht, übervorsichtig und zurückhaltend. Dankbar gegenüber den Skiir.
»Ich werde morgen abreisen«, sagte er dann und lächelte seinem Vater zu. »Ich weiß nicht, ob ich es vor dem Abflug noch einmal nach Hause schaffe. Sobald das Erwachen stattfindet, dürfen wir wieder elektronische Langstreckenkommunikation haben, nicht nur den Funk oder das analoge Telefon. Du könntest dir einen Informator anschaffen und wir könnten miteinander reden, als wäre ich hier. Ich kann dir Nachrichten aus dem Weltall schicken. Es nennt sich Hyperfunk.«
»Du bist dann aber nicht hier.«
Eder schüttelte den Kopf. Die Traurigkeit und der Trotz in der Stimme des Vaters machten ihm mehr zu schaffen, als er wahrhaben wollte.
»Nein, Pa, das bin ich nicht.«
»Wie lange wirst du fortbleiben? Kiri war drei Jahre fort.«
Kiri, Flokharts Schwester, hatte es gewagt, für drei Jahre in die Stadt zu ziehen, ehe sie, enttäuscht und pleite, hierher zurückgekehrt war. Sie bewirtschaftete das Anwesen, und ihr verkniffener Mund sagte alles über ihren Gemütszustand, was man wissen musste. Das Land hielt sie nun gefangen. Eder wollte ihr Schicksal nicht teilen.
»Sechs Jahre, Pa. Das weißt du doch. Nach sechs Jahren kehre ich zurück.«
»Das ist lang. Ich bin dann vielleicht schon tot.« Flokhart senkte den Kopf. Es war immer die gleiche Diskussion, bis zu diesem letzten Argument, dem Totschlagargument, der Waffe, die über die Zeit stumpf geworden war, die sein Vater aber mit dem Trotz des Alters schwang.
Eder legte seinem Vater eine Hand auf die Schulter und drückte sanft zu. Ja, es konnte gut sein, dass er ihn nach seiner Rückkehr nicht mehr lebend antraf. Aber er war bereit, diesen Preis zu zahlen, und er war nicht bereit, diese Diskussion ein weiteres Mal zu führen. Er hatte die Entscheidung vor langer Zeit getroffen und seinen Vater oft gesehen, vielleicht zu oft. Er hatte alles getan, um nicht im Streit auseinanderzugehen. Er hatte sich redlich bemüht. Doch wer konnte in den Kopf des knorrigen Alten blicken?
Sie umarmten sich und zumindest das fühlte sich richtig an. Es war gut, besser, als er befürchtet hatte, und er war froh, soweit man das in dieser Situation sein konnte.
Als er aus dem Haus hinaustrat, blinzelte er in die Sonne. Die Wärme auf seinem Gesicht war noch angenehm, es war Frühsommer, die brütende Hitze hatte noch nicht eingesetzt. Er sah Kiri entgegen. Sie erwiderte seinen Blick, ohne Vorwurf oder Urteil, vielleicht sogar ein wenig neidisch.
»Er wird dich vermissen.«
»Er klammert. Er macht sich Sorgen um mich.«
»Verübelst du ihm das?«
»Ich muss es wohl akzeptieren. Du kommst zurecht?«
Kiri lachte, es klang tief und angenehm, aber auch freudlos. Seine Schwester war nicht glücklich hier. Ihre Träume hatten anders ausgesehen. Doch Flokhart Eder konnte ihr nicht helfen, nicht mehr. Sie war hier versorgt und er hatte sein eigenes Leben zu leben. Er flog zu den Sternen, als einer der ersten Menschen, und das war wichtiger als der Trennungsschmerz seines Vaters oder die Unzufriedenheit seiner Schwester. Er ließ all dieses Kleine, Provinzielle nun hinter sich.
Er umarmte auch sie. Es war richtig. Gesten wie diese hatten Bedeutung.
Er nickte ihr zu und stapfte den Feldweg entlang, der zum Rand des weitläufigen Grundstücks führte. Ein letzter Spaziergang, so viel wehmütigen Rückblick gestand er sich ein. Es war ein Ritual, das er sich fest vorgenommen hatte.
Er sah nicht zurück zum Haus.
»Du strengst dich zu sehr an. Du musst dich entspannen. So lange üben wir das schon. Du kannst jeden mit einer einzigen Bewegung umbringen, aber du bist nie entspannt.«
Bixa Li atmete aus, die schweißbedeckte Haut schimmerte im Licht der kalten Lampe. Der Sportraum war klein, keine zwanzig Quadratmeter, und an seiner Decke hing ein uraltes Neonlicht, das hin und wieder flackerte. Ihr langes tiefschwarzes Haar war zurückgebunden und gab ihre hohe Stirn frei, die markanten Wangenknochen, die kleinen Ohren. Die braunen Augen blickten nach vier Stunden Schinderei müde drein. Der Sensei schaute sie freundlich an. Noch vor einem Jahr war er ein harter, rücksichtsloser Anleiter gewesen, den sie zu hassen begonnen hatte. Dann aber war sie besser geworden, immer besser – wie zu erwarten bei täglich vielen Stunden Training, danach acht Stunden Lernen, und schließlich acht Stunden Schlaf, und das in der Abgeschiedenheit einer Akademie, die außer ihr keine Schüler zu haben schien. Je besser sie wurde, desto freundlicher wurde der Sensei. Das hinderte ihn aber nicht daran, sie jedes Mal zurechtzuweisen, wenn es sich als notwendig erwies.
»Ich muss mich anstrengen«, erwiderte sie schwer atmend. »Ihre Ziele sind anspruchsvoll.«
Der Mann sah sie kopfschüttelnd an. Er zeigte auf die Matte und Bixa setzte sich gehorsam in den Schneidersitz. Sie wusste, dass sie stank, aber es gab keinen Grund, sich dafür zu schämen. Es war jeden Tag so gewesen, ein Jahr lang, außer wenn sie Schusswaffentraining erhalten hatte.
»Wer sagt, dass man sich immer abquälen muss, um anspruchsvolle Ziele zu erreichen? Am Anfang, ja, um die Grundlagen zu schaffen. Aber wenn man vieles schon kann und weiß, ist man im Grunde in der Lage, auch die leichten Wege zu erkennen. Bixa, ich habe nicht mehr viel Zeit. Du wirst bald abreisen. Willst du da draußen immer den schweren Weg gehen? Du wirst damit ein Stück weit kommen, aber irgendwann wird er zu steil und du wirst wie Sysiphos gegen die Anhöhe anrennen, ohne den Gipfel jemals zu erreichen.«
Er mochte die griechische Mythologie. Bixa hatte jede Geschichte gehört.
Sie reckte sich, streckte die schmerzenden Arme nach oben. Der Sport-BH zwickte, sie schien niemals einen richtig gut passenden finden zu können, egal, wie lange sie danach suchte. Der alte Mann sah ihr ins Gesicht. Das war immer bemerkenswert. Er starrte nie, niemals, auf ihre Brüste. Seit einem Jahr trainierte sie in oft sehr eng anliegenden Anzügen, und zu keinem Zeitpunkt hatte es auch nur eine angedeutete sexuelle Spannung gegeben. Dass ein Mann das schaffte, war ebenso verblüffend wie viele der alten Fertigkeiten, die der Sensei ihr vermittelte.
»Zelle eins meint, du wärst bereit. Die Examen verliefen zufriedenstellend.«
Das war immerhin eine gute Nachricht. Sie hatte alles gelernt, was eine Botschaftsassistentin zu lernen hatte, und gleichzeitig hatte man sie Dinge gelehrt, die eine aufstrebende Bürokratin normalerweise nicht wusste. Es war bemerkenswert, dass das überhaupt möglich war. Jemand im Prinzipat musste mit ihnen unter einer Decke stecken, anders war das nicht zu erklären. Sie fragte nicht nach. Was sie nicht wusste, konnte sie nicht verraten.
Nicht einmal der Botschafter sollte davon erfahren, was seine rechte Hand zu tun vermochte, wenn es sich als notwendig erwies. Und welchen Auftrag sie hatte, abgesehen davon, ihm eine getreue und pflichtbewusste Hilfe zu sein.
Ihr zukünftiges Leben würde mehr als anspruchsvoll werden. Aber sie beklagte sich nicht. Sie hatte es ja so gewollt.
Sie öffnete und schloss die Hände in mechanischen Bewegungen. Die Rötungen und Abschürfungen hatten sich irgendwann in Hornhaut verwandelt und seit drei Tagen waren Kosmetiker und Dermatologen damit beschäftigt, die dicksten Schichten sorgfältig abzutragen und die dünneren durch Öle und Cremes aufzuweichen und wieder geschmeidig zu machen. Der Botschafter war nicht für diese Mission ausgewählt worden, weil er ein Idiot war. Eine nette, intelligente, kompetente Assistentin mit den Händen einer Kämpferin wäre ihm irgendwann aufgefallen. Sie wollten alles vermeiden, was Zweifel in ihm säen könnte, auch wenn er es irgendwann sicher herausfinden würde. Wenn die Zeit reif war. Wenn Flokhart Eder reif war.
»Das sagt Zelle eins«, murmelte Bixa nun. »Was sagen Sie?«
Der Sensei lachte leise auf, es klang wie das Glucksen eines friedlich dahinfließenden Baches, ein Bild, das den alten Mann ganz gut beschrieb. Er strich sich mit der flachen Hand über die Glatze, die sanft im Schein des kalten Lichts schimmerte.
»Die Skiir sind während der letzten zweihundert Jahre sehr zurückhaltend gewesen mit Informationen über die Mitgliedszivilisationen des Imperiums. Jetzt, wo das Erwachen bevorsteht, haben wir neue Daten erhalten, nicht zuletzt, um unseren Botschafter vorzubereiten. Ich weiß immer noch nicht, was davon stimmt und wie vollständig sie sind. Aber ich vermute, dass du in der Lage sein solltest, entsprechende anatomische Studien vorausgesetzt, etwa achtzig Prozent der Spezies des Imperiums auch ohne Waffen zu töten, wenn sich die Gelegenheit ergibt.« Er seufzte. »Aber versuche, es möglichst selten auszuprobieren. Es würde kein gutes Licht auf dich werfen.«
Bixa neigte den Kopf, um ein Lächeln zu verbergen. Der trockene Humor des Sensei war auch erst zum Vorschein gekommen, als die erste harte Phase des Trainings vorbei gewesen war. Sie hatte aber schnell Gefallen daran gefunden.
»Ich hoffe, meine Fähigkeiten niemals einsetzen zu müssen«, sagte sie leise.
»Die Skiir erlauben keinen bewaffneten Schutz des Botschafters. Du gehörst nicht zum Protektorat. Die Sternstation im Argos gilt als der sicherste Ort des Universums. Aber wer hört schon auf Propaganda?«
»Das irdische Militär wurde vor zweihundert Jahren aufgelöst. Ab jetzt dürfen wir möglicherweise wieder beim Protektorat mitmachen, da draußen«, erinnerte Bixa ihn und nahm sich ein Handtuch. »Oder habe ich da etwas nicht mitbekommen?«
Der Sensei antwortete nicht auf ihre Frage und lächelte nur, was Bixa nicht überraschte. Die Tatsache, dass der alte Mann sie hier in der Abgeschiedenheit ausbildete, um im Zweifelsfalle Aliens umbringen zu können, sprach für sich. Es mochte kein Militär mehr geben und im Straßenbild würde man Waffen vergeblich suchen, außer bei den Sicherheitskräften der drei Arme der Regierungsgewalt. Aber das hieß nicht, dass es nicht genug Menschen gab, die bereit und in der Lage waren, Gewalt gegen andere einzusetzen.
»Der Frieden der Skiir ist umfassend«, sagte der alte Mann schließlich und erhob sich ächzend. Er war Mitte siebzig und tat immer so, als würde er kurz vor dem Zusammenbruch stehen. Tatsächlich hatte er die gut fünfunddreißig Jahre jüngere Bixa erst vor zwei Wochen mit einer Wucht auf die Übungsmatten geschleudert, dass die Abschürfungen und Prellungen sie noch Tage danach an diese Niederlage erinnert hatten.
Aber sie ließ ihn gewähren. Der Sensei war ihre Familie. Seit sie in den Vorbereitungsdienst getreten war, hatte sie ihre wirkliche Familie und ihre Freunde nicht mehr gesehen, und war sie erst abgeflogen, würde es gar keinen Kontakt mehr geben, für sechs lange Jahre. Es war besser so, führte aber auch dazu, dass der alte Mann derzeit ihre einzige Verwandtschaft war.
»Wir hören auf für heute«, entschied der Sensei und sah auf die junge Frau herunter. »Geh schwimmen, lockere deine Muskeln. Heute kam die Nachricht vom Prinzipat. Der Gleiter bringt dich morgen in die Hauptstadt. Du sollst die beiden anderen Mitglieder der Mission treffen. Das wird deine erste Bewährungsprobe sein, mein Kind. Du wirst die perfekte Assistentin spielen und keine Bürokraten ermorden.«
Bixa zog einen Schmollmund. »Nur einen, Sensei. Zum Aufwärmen.«
Der alte Mann lächelte. Er wusste, wie weit seine Schülerin war, und seine Haltung drückte Vertrauen aus. Es war dieses Vertrauen, das Bixa immer wieder aufgerichtet hatte. Sie würde diesen speziellen Halt vermissen, dessen war sie sich sicher.
»Hast du noch Fragen, mein Kind?«
»Tausende. Aber ich werde sie mir alle selbst beantworten müssen. Ich habe Angst.«
»Ja, die hast du.«
Der Alte reckte sich. »Angst ist nicht gut, aber sie ist manchmal unvermeidbar.«
»Ist das eine alte fernöstliche Weisheit?«
Der Sensei grinste. »Du hast die asiatischen Gene. Meine Mutter war Gemüsehändlerin in Lissabon.«
Bixa grinste zurück. Seit die Skiir die Erde erobert hatten, gab es keine Ländergrenzen mehr, wodurch sich die weltweiten Migrationsströme noch verstärkt hatten. Ihr Vater hatte sich aus dem mit Frauen unterversorgten China nach Europa begeben und in Tirana ihre Mutter getroffen. Woher die Eltern des Sensei stammten, wusste sie nicht. Die Gemüsehändlerin wechselte ihre Nationalität jedes Mal und über seinen Vater sagte er gar nichts.
Es machte auch keinen Unterschied.
Er hatte sie gut ausgebildet.
Doch es gab etwas, was sie wirklich wissen wollte.
»Wie ist Ihr Name?«, fragte sie nun spontan, obgleich er diese Frage im vergangenen Jahr immer ignoriert hatte. Er sah sie für einen Moment nachdenklich an, dann lächelte er traurig.
»Sensei«, sagte er und wandte sich ab.
Der alte Mann ließ sie allein. Bixa blickte auf das feuchte Handtuch. Ja, sie hatte damit gerechnet, in dieser Woche abzureisen, aber morgen schon? War sie bereit? Sie dachte an ihr schmales Gepäck und an ihr kaum vorhandenes gesellschaftliches Leben. Sie schaute auf ihren nackten Oberarm, der immer noch feucht glänzte, und die feinen Rundungen kräftiger Muskeln, ein Versprechen von Effektivität, die sie bis zur Perfektion trainiert hatte. Ja, sie war so bereit, wie man sein konnte. Zumindest, was ihren Körper betraf. Ob man sich überhaupt richtig auf den Besuch eines gigantischen Habitats vorbereiten konnte, auf dem Vertreter aller Völkerschaften des Imperiums versammelt waren, um die Geschicke des Reiches zu lenken – innerhalb des Rahmens, den die Skiir ihnen steckten –, wusste sie nicht.
Bixa Li erhob sich. Der Trainingsraum roch nach altem Schweiß, altem Schmerz und einer körperlichen Erfahrung, die nur wenigen Menschen zuteilwurde. Wenn sie etwas auf der Erde vermissen würde, dann war es dieser Ort mit seinen alten Holzwänden, den knarrenden Dielen und den muffigen Polstermatten. Es würde bei den Skiir nichts Vergleichbares geben.
»Der Frieden der Skiir«, murmelte sie und schnaubte. Was der Sensei wirklich gemeint hatte, war kein Frieden, sondern etwas ganz anderes.
Friedhofsruhe.
Li verließ den Raum mit kraftvollen, fast schon graziösen Schritten, die eher an eine Tänzerin erinnerten denn an eine Kämpferin.
Friedhofsruhe. Deswegen war sie geworden, wer sie nun war.
Sie hasste diese Form der Stille mehr als alles andere auf der Welt.
»Das ist wirklich … ich kann es gar nicht glauben.«
Investigator-Augur Erster Klasse Tobias Markensen schaute auf die Leiche hinab. Der Körper lag noch genauso am Boden, wie sie ihn vorgefunden hatten. Der weiße Kittel war blutüberströmt. Die aus nächster Nähe abgefeuerte großkalibrige Waffe hatte vom Schädel des Toten herzlich wenig übrig gelassen.
Überall waren Blutspritzer, auf dem Schreibtisch, den Dokumenten, den Wänden, den ledergebundenen Büchern, den beiden Gemälden, die eine Zeit vor der Ankunft der Skiir zeigten. Das warf Fragen auf. Zum einen, warum Bilder in diesem Büro erlaubt waren, die vom Patronat als häretisch eingestuft wurden, und zum anderen, woher ein Wissenschaftler eine Handfeuerwaffe hatte, die ihrem Anschein nach weit über hundert Jahre alt sein musste, vielleicht noch älter.
Markensen griff an seinen Gürtel. Nur dem Protektorat war es gestattet, Waffen zu tragen. Dennoch war die Gewaltbereitschaft damit nicht ausgelöscht worden. Die zum Prinzipat gehörenden Investigatoren trugen zu ihrer Verteidigung leichte Elektrowerfer, die lähmten statt zu töten, außer der Getroffene war schwer herzkrank. Markensen war seit zwölf Jahren als Augur tätig und hatte die Waffe nie benutzt. Jetzt aber, angesichts dieses Schauspiels brutaler Gewalt, umklammerte er den Griff des Werfers.
Es gab aber kein Ziel. Das Team durchsuchte die Wohnung von Doktor Arnulf Torgen, dessen Überreste hier vor ihm lagen. Sie hatten bisher nichts gefunden. Die Scanner waren mit ihrer Arbeit fertig und hatten nichts festgestellt. Selbstmord. Das kam vor. Unter normalen Umständen hätte es Markensen nicht weiter hinterfragt. Er hätte höchstens ein wenig Zeit darauf verwendet, die Herkunft der Waffe zu klären, die ganz sicher auf der Liste der verbotenen Gegenstände stand. Aber dieser Tote war nicht irgendwer.
Torgen war Mitglied der diplomatischen Mission gewesen, die in Kürze die Erde verlassen und sie auf der Sternstation, dem Verwaltungszentrum der Skiir repräsentieren würde. Ein bekannter Wissenschaftler, ein Xenoanalytiker, eine echte Koryphäe. Und jetzt war er tot.
Markensen schaute auf den Toten hinab.
Das Prinzipat würde nicht begeistert sein. Er erwartete jeden Augenblick den ersten Anruf mit bohrenden Fragen, die er alle nicht oder nur unzureichend würde beantworten können.
»Toby?«
Er schaute hoch. Laskowski, sein Partner, trat neben ihn.
»Was ist?«
»Da draußen stehen ein Haufen Leute.«
»Die Absperrungen sollten sie abhalten. Wenn nicht, fordern wir Verstärkung an.«
»Nein, das ist es nicht. Einer ist der engste Mitarbeiter des Toten. Er behauptet, etwas aussagen zu wollen. Ich habe ihn durch die Datenbank gejagt und einen Treffer gelandet: Er ist die Nummer zwei auf der Liste.«
Markensen blinzelte verwirrt. Laskowski bequemte sich zu einer weiteren Erklärung.
»Er folgt auf Torgens Position. In der Botschaftsgruppe. Soll ich ihn reinlassen?«
»Ja. Aber nicht hierher. Ins Wohnzimmer. Sind unsere Leute da fertig?«
Laskowski nickte und Markensen winkte ihn fort, verließ das Arbeitszimmer des Toten und ging durch die Tür in den geräumigen Wohnbereich. Er wurde dominiert von einem großen, von Torgen selbst angefertigten Modell eines Skiir-Schiffes. Die charakteristische geschwungene Form, die entfernt an eine Qualle aus Metall erinnerte, war auch Markensen gut bekannt. Fünf davon hingen seit zweihundert Jahren im Orbit der Erde und bewachten die Menschheit. Die Skiir sagten, sie würden sie beschützen. Markensen fragte sich manchmal, vor wem eigentlich. Vor sich selbst offenbar nicht, denn es war ja nicht so, dass er als Investigator nichts mehr zu tun hatte.
Er bewunderte das Modell, das von Torgens Kunstfertigkeit zeugte. Man konnte die Skiir-Schiffe mit einem guten optischen Teleskop wunderbar beobachten. Torgen hatte sich Mühe gegeben, das Modell so detailgetreu wie möglich zu gestalten. Eine beeindruckende Arbeit, die sowohl die Eleganz als auch die martialische Kraft dieser Raumkolosse wunderbar ausdrückte.
»Drei Jahre!«, sagte eine Stimme und riss ihn aus der Betrachtung.
Er wandte sich um. Der Mann vor ihm war etwas jünger als der Tote, trug eine randlose Brille und hatte kaum Haare auf dem Kopf. Was noch stand, war, ebenso wie der Kinnbart, weißblond. Der Mann machte einen Schritt auf Markensen zu und wies auf das Modell.
»Drei Jahre hat Dr. Torgen dafür gebraucht«, sagte er. Seine Stimme klang belegt, etwas traurig. »Wussten Sie, dass die fünf Schiffe im Orbit nicht alle gleich sind? Eines ist etwas kleiner und hat andere Proportionen. Wir vermuten, dass es das Flaggschiff ist, aber genau wissen wir das natürlich nicht.«
»Ich wusste nicht einmal das«, gab Markensen zu. »Darf ich fragen …«
»Leybold. Harkin Leybold. Ich bin … ich war ein enger Mitarbeiter … sagen Sie, ist es wahr? Er hat sich selbst getötet?«
Markensen betrachtete den Mann. Seine Unterlippe zitterte leicht. Schweiß stand ihm auf der Stirn. Die Augen waren gerötet. Er bewahrte seine Beherrschung, aber er war emotional aufgewühlt.
»Die Ermittlungen haben gerade erst begonnen.«
Leybold machte große Augen.
»Sie meinen, es war Mord?«
»Die Ermittlungen haben gerade erst begonnen«, wiederholte Markensen und entschärfte den inhärenten Vorwurf durch ein Lächeln. »Wann haben Sie den Mann das letzte Mal gesehen?«
Leybold schloss die Augen, als müsse er sich konzentrieren, um diese Frage zu beantworten. Markensen kam zu dem Schluss, dass er keine Show präsentiert bekam. Der Wissenschaftler stand unter Schock und es kostete ihn sichtlich Mühe, das vor dem Ermittler zu verheimlichen.
Warum versuchte er es überhaupt?
»Gestern Abend. Ich kam noch auf einen Schluck vorbei – ich wohne nicht weit von hier. Der halbe Campus wohnt in dieser Ecke der Stadt. Wir sprachen ein wenig über die Arbeit, welche Aufgaben ich zu übernehmen hätte, wenn er demnächst abgereist wäre … und wir spekulierten ein wenig über das, was er dort oben erfahren würde.«
Leybold deutete vorsichtig nach oben – die Geste hatte sich universell eingebürgert für all das, was jenseits der Blockade und des Schirms im Weltall passierte, ein Universum, das für die Menschen der Erde vornehmlich aus dem Imperium der Skiir bestand, dem sie angehörten.
»Wie wirkte er auf sie?«
»Ein wenig aufgeregt, sicher erwartungsvoll – das alles ist eine einmalige Chance für einen Wissenschaftler, vor allem, da die Mission nur aus vier Personen bestehen darf. Jeder hätte dafür ge… ah…«
Leybold merkte schnell, wohin ihn die leichtfertige Äußerung bringen würde, die er gerade noch herunterschluckte. Markensen nickte verständnisvoll. Er verstand auch so, was der Mann meinte. Und er hatte nicht vor, es gegen ihn zu verwenden. So einfach war es meist nicht.
»Jedenfalls ging es ihm gut«, kam Leybold auf den Kern der Frage zurück. »Ich bin kein Psychologe, aber er wirkte absolut normal, wie unter diesen Umständen zu erwarten. Er machte Pläne. Er äußerte Erwartungen. Es klang nicht wie jemand, der sich umbringen wollte.«
Dann schwieg er und starrte auf das Skiir-Schiffsmodell, als würde er in der fein ziselierten Außenhülle des Raumschiffes Antworten finden auf die Fragen, die ihm jetzt sicher im Kopf herumkreisten.
Markensen schaute sich nachdenklich im Wohnzimmer um. Die holzvertäfelten Wände machten einen rustikalen Eindruck. Es war nicht direkt gemütlich, wirkte aber sehr bodenständig. Der Polizist lächelte still in sich hinein. Seit die Skiir den Menschen weite Bereiche der modernen Technologie verboten hatten, um von der zweihundert Jahre währenden »Reinigung der Seelen« nicht unnötig abgelenkt zu werden, war die ganze Welt bodenständig und rustikal geworden, ob sie es nun schätzte oder nicht. Das würde sich jetzt radikal ändern. Markensen war sich noch nicht sicher, ob es eine Verbesserung darstellte.
»Einer meiner Leute wird Sie sicher noch genauer verhören. Sie wollten aber mir unbedingt etwas mitteilen, wenn ich das richtig verstanden habe.«
Leybold nickte.
»Wie ich schon sagte, gestern Abend war alles ganz normal und ruhig«, erwiderte der Wissenschaftler. »Am Abend davor aber konnte man das nicht sagen. Torgen war sehr aufgeregt, als er ins Institut kam. Er wirkte unkonzentriert und fahrig, als würde ihn etwas sehr beschäftigen. Er sagte, er habe Besuch bekommen, von einer Gruppe … besorgter Bürger. Sie hätten Forderungen gestellt, was seine Arbeit bei der Mission angeht. Er habe sich diesen Forderungen verweigert und es habe eine lautstarke Auseinandersetzung gegeben, dann hätte er sie rausgeworfen. Er wirkte recht aufgewühlt.«
Markensen hörte aufmerksam zu. Das Erwachen hatte an allen Ecken und Enden Terras Sekten und politische Splittergruppen aus den Löchern kriechen lassen, ein Beweis dafür, wie selbst nach zwei Jahrhunderten die Bemühungen des Patronats nur teilweise auf fruchtbaren Boden gefallen waren. Manche erwiesen sich als harmlos und man ließ sie gewähren. Doch gemeinsame Einsätze von Patronat und Prinzipat häuften sich. Die Zeit der Ruhe neigte sich dem Ende zu, und Markensen fragte sich, wo die Irren alle überwintert hatten.
Dass es einige von ihnen zu Torgen geschafft hatten, wunderte ihn nicht. Man hatte wohl nicht ausreichend für seine persönliche Sicherheit gesorgt. Für Markensen war immer deutlicher, dass dies kein Selbstmord war. Es passte einfach nicht zusammen. Und ohne Motiv würde er die Sache nicht zu den Akten legen.
»Hat er die Gruppe identifiziert?«
»Nein, er wollte nicht weiter darüber reden.«
»Haben Sie diese Leute gesehen oder vorher schon mal von ihnen gehört?«
Leybold zuckte mit den Schultern. »Nein, es war das erste Mal, dass Torgen so etwas berichtete. Ich war überrascht und bestürzt.«
Markensen wechselte das Thema: »Besaß Dr. Torgen eine Waffe?«
Leybold zögerte mit der Antwort, kam aber zu dem Schluss, dass ein Toter kaum für etwas belangt werden konnte.
»Ja, ein Museumsstück. Eine alte Handfeuerwaffe. Ja, ein verbotener Gegenstand. Aber er hat mir versichert, sie unbrauchbar gemacht zu haben. Ein Liebhaberstück, ein Teil seiner Sammlung. Er mochte alte Dinge, aus der Zeit … Sie wissen schon.«
Markensen wusste es. Das Patronat sanktionierte Reminiszenzen an die Zeit vor der Inobhutnahme unterschiedlich.
Wer sich im privaten Rahmen damit befasste, wurde normalerweise in Ruhe gelassen. Selbst die Skiir hatten ein Konzept von Privatsphäre.
»Sammlung? Er besaß weitere Waffen?«
»Soweit ich weiß nicht. Aber er sammelte Dinge aus der Zeit vor der Inobhutnahme.«
Er benutzte politisch korrekt den offiziellen Begriff für die Eroberung der Erde durch die Skiir. Leybold war sehr darauf bedacht, vor einem Mitglied des Prinzipats die richtigen Worte zu wählen. Markensen kommentierte das nicht. Es würde zu Missverständnissen führen, wenn er zugab, dass er in Gedanken immer nur von der Invasion sprach, wie die allermeisten Menschen auf der Erde. Manche Demütigungen vergaß das kollektive Gedächtnis nicht so leicht.
»Hatte Dr. Torgen Feinde – persönliche Feinde?«
»Nicht, dass ich wüsste.«
»Familie?«
Leybold schüttelte den Kopf. »Sie haben sicher auch gehört, dass die Leute für die erste Mission nach dem Erwachen so ausgewählt wurden, dass sie keine enge Familie haben, von alten Eltern oder Geschwistern einmal abgesehen. Es ist für uns letztlich eine Expedition ins Ungewisse und man wollte Vorsichtsmaßnahmen ergreifen. Erst, wenn wir die nächste Stufe erreicht haben, werden die Skiir eine größere Anzahl von Menschen auf der Sternstation sowie Vertretungen auf anderen Welten gestatten, vor allem Handelsmissionen. Das wird aber voraussichtlich weitere zweihundert Jahre dauern.«
Markensen hatte davon gehört. Die Skiir bewerteten ihre Suzeränvölker nach einem komplexen Klassensystem, das mit der Inobhutnahme begann und irgendwann einmal mit einem den Herren fast gleichwertigen Status enden konnte. Abhängig von der Klasse gab es Privilegien: Einbindung in das Handelssystem, Technologietransfer und auch die Größe der Repräsentanz auf der Sternstation im Argos. Da ihre Herren eine sehr weitreichende zeitliche Perspektive hatten, war der Aufstieg langsam und verlief natürlich nicht ohne Gegenleistung. Worin genau diese im Einzelnen bestand, würde man der Gesandtschaft mitteilen, sobald sie an ihrem Ziel eingetroffen war, aber Markensen hatte im Grunde eine ganz gute Idee davon. Aktive Unterwerfung hieß umfassende und treue Beteiligung an den drei Säulen des Imperiums. Er war ein ganz gutes Beispiel dafür.
»Wer wird Dr. Torgen ersetzen?«, fragte Markensen ein wenig scheinheilig. »Es gibt doch sicher eine Liste von Nachrückern, man musste sich doch gegen alle Eventualitäten absichern. Nicht notwendigerweise Mord, aber etwa ein Tod durch natürliche Ursachen, ein Unfall, eine andere Krise …«
»Sicher, ja.« Leybold zögerte. »Ich kann natürlich nicht für das Prinzipat sprechen. Dort wird entschieden, wer jetzt Dr. Torgens Platz einnimmt. Aber es gibt eine Rangfolge, ja, und …«
Wieder das Zögern. Markensen ließ ihn noch einen Moment zappeln, beobachtete den Mann, schätzte ihn ein. Als er zufrieden war, stellte er seine Frage: »Dr. Leybold, darf ich vermuten, dass Sie die nächste Person in der Rangfolge gut kennen?«
»Ich befürchte es.«
»Sie befürchten?«
»Nun … ich bin es selbst.«
Leybold sah Markensen beinahe schuldbewusst an, ehe er den Blick senkte und sich in seine Fußspitzen vertiefte. Der Ermittler nahm es ihm nicht übel. Der weißblonde Mann hatte sich soeben endgültig zum Mordverdächtigen gemacht und er war intelligent genug, um das zu begreifen.
Er konnte es drehen und wenden, wie er wollte, jetzt wurde die Angelegenheit politisch.
Markensen seufzte.
Dieser Fall würde ihm keinen Spaß machen, das war schon einmal klar.
»Erhebe dich.«
Yolana tat, wie ihr befohlen wurde. Das lange gelbe Gewand hing ihr bis zu den Fußknöcheln herab und ihre schlanken Füße schauten darunter hervor. Der Steinfußboden war kühl, fast kalt, aber dies war kein Ort körperlicher Labsal, es war ein Ort der Erleuchtung. Der Oberste Indoktrinator schaute von seiner erhöhten Stellung auf der Empore auf sie hinab, das von einem dunklen Backenbart gerahmte, hagere Gesicht trug die Maske der Gnade. Siebenundzwanzig Masken musste ein Indoktrinator in seiner Ausbildung lernen, ein perfektes Arrangement der Gesichtsmuskeln, um exakt den Gemütszustand zu projizieren, der für den Moment angebracht war. Der Oberste hatte diese Kunst dermaßen perfektioniert, dass sie ihm in Fleisch und Blut übergegangen war. Ein Eingeweihter erkannte den Unterschied natürlich. Ob der Oberste überhaupt noch zur Mimik echter Emotion in der Lage war?
War sie es?
Yolana war jünger als der Oberste, gerade siebenundzwanzig geworden, und obgleich ihre Ausbildung formal vor vier Jahren beendet worden war, hatte man sie für weitere Studien auserwählt. Vier Jahre lang bereitete sie sich nun auf das Heiligste vor, das Erwachen, und ihre Rolle darin war gleichermaßen umfassend wie erhebend für sie. Nun ging sie die letzten Schritte der Vorbereitung: ein gemeinsames Reinigungsritual mit dem Obersten, einige Tage der Abschottung und dann würde sie zum ersten Treffen in die Hauptstadt reisen. Ab da war sie auf sich allein gestellt.
Natürlich gab es das Patronat überall im Reich der Skiir. Sie alle teilten den gleichen Glauben. Aber dennoch war es dort … anders. Wie sollte sie neben einem Indoktrinator bestehen, der auf eine vieltausendjährige Tradition zurückblicken konnte? Auf Terra hatte man die irdischen Religionen erst vor zweihundert Jahren verboten und bis auf sehr wenige Ausnahmen ihre Gotteshäuser mit Plasmabomben eingeebnet.
In einem solchen befand sie sich gerade. Das Hauptindoktrinat der Erde hatte sich einen schönen Ort für seinen Sitz ausgesucht und zumindest von außen im alten Zustand erhalten. Früher hatte hier das »Papst der Katholiken« gesessen, so hatte sie es gelernt. Was genau dieses »Papst« war, hatte man ihr nicht gesagt. Kenntnisse über die irdische Vergangenheit vor der Inobhutnahme waren der Zensur des Patronats unterworfen. Auch deren Vertreter selbst durften nicht mehr wissen als unbedingt notwendig, wenngleich dies oft mehr war als das, was in den Schulen gelehrt wurde. Wie dem auch sei, das »Papst« war lange nicht mehr existent und jede Spur war schon lange aus den Gängen und Hallen des Vatikans entfernt worden. Vielleicht fand sich noch etwas in den Archiven, aber Yolana hatte sich niemals besonders dafür interessiert.
Das war Vergangenheit und jetzt ging es um die Zukunft.
Ihr Herz klopfte. Sie stand vor dem Obersten, der ihr nur zunickte, ohne weitere Worte zu verlieren. Der abschließende Ritus der Reinigung würde für sie von besonderer Bedeutung sein. Denn sie würde die seltene Gelegenheit bekommen, einem Skiir zu begegnen.
Die fünf Schiffe im Orbit waren die Orte, in denen sich ihre Herren die letzten Jahrhunderte aufgehalten hatten. Dort residierte auch der Reichsverwalter, der über das System herrschte. Es gab sehr wenige Anlässe, zu denen er auf die Planetenoberfläche hinabkam, eigentlich fast nur zum Jahrestag der Inobhutnahme, dem er meist völlig passiv beiwohnte. Skiir hielten keine Reden, sie waren generell nicht sehr kommunikativ, zumindest nicht während der Inobhutnahme. Yolana wusste, dass es da draußen anders war, dass Interaktion einen neuen Stellenwert bekam, war das Erwachen erst in all seinen Einzelheiten vollzogen. Bis jetzt übermittelten die höchsten Herren schriftliche Botschaften, Anweisungen und Regeln und überließen es ihren Untertanen, sich damit zurechtzufinden. Sie gaben die Ordnung vor: Das Prinzipat, das die Welt regierte, das Patronat, das den Geist reinigte und das Protektorat, das beschützte und behütete. Yolana hatte gelernt, dass es überall im Reich so war, dass die Namen variierten und es einige lokale Varianten gab, vor allem bei den ganz alten Suzeränvölkern, den ersten, die von den Skiir in Obhut genommen worden waren. Aber das Prinzip des Lebens und Regierens war überall das Gleiche. Es war die Ordnung, die sie predigte und der sie ihr Leben verschrieben hatte.
Es waren die Angehörigen des Indoktrinats, die, wenn überhaupt, in den Genuss der Anwesenheit eines Skiir kamen, allerdings nicht die des Reichsverwalters, sondern des Erfüllers, der für das seelische Wohl der in Obhut Genommenen ebenso verantwortlich war wie für das seiner eigenen Leute. Das Indoktrinat nahm eine Schlüsselstellung innerhalb des Patronats ein, seine Reinheit und die Aufrichtigkeit seiner Bemühungen waren von außerordentlicher Bedeutung.
Und Yolanas Aufgabe umso mehr, wie man ihr in den letzten Jahren immer und immer wieder erklärt hatte.
Sie verließen die Halle, die den Mittelpunkt des Doms ausmachte und an deren Wänden nicht nur in überlebensgroßen Buchstaben zentrale Zitate aus der Doktrin zu lesen waren, sondern auch idealisierte Darstellungen der Skiir. Wie sie die Menschen lehrten und anleiteten, wie sie ihnen halfen, wie sie sie schützten, wie sie ihnen Gewissheit gaben und Ordnung in einem chaotischen Universum. Wie sie ihre Entwicklung förderten und einzelne Ausgewählte emporhoben und sie mit Segnungen beglückten, von denen normale Sterbliche nur träumen konnten. Es waren schöne Bilder, voller Liebe und Sanftmut, in angenehmen Farben gehalten. Yolana konnte sich an ihnen niemals satt sehen.
Der Oberste führte sie in die Kammer, ganz oben in der runden Wölbung des Doms, in die eine zusätzliche Decke eingezogen worden war, sodass ein halbkugelförmiger Raum entstand, der allein dem Erfüller vorbehalten war, wenn er denn auf Erden wandelte. Die Halbkugel des ursprünglichen Daches war abgetragen und durch eine nach oben hin zu öffnende moderne Konstruktion ersetzt worden. Die Fähre des Erfüllers schwebte direkt darüber, und damit wusste jeder, der in Rom durch die Straßen ging, dass Terra gesegnet war.
Yolana war gesegnet.
Sie wurde erhoben, und das in ihren jungen Jahren. Es war ein Vorgang, mit dem sie niemals gerechnet hätte.
Ihr Herz klopfte immer noch. Ihre Wangen glühten. Das weite Gewand wärmte nicht besonders, aber trotzdem spürte sie Schweiß auf ihrer Haut. Sie sprach die Formel der Ruhe, und sie zeigte Wirkung. Ihr Puls raste nicht mehr so sehr, als sie die Wendeltreppe bis zum unteren Zugang zur Kammer emporstieg und vor der schmalen Tür verharrte, die sie einlassen würde, wenn es dem Erfüller beliebte. Der Oberste hatte sie am Fuße der Treppe entlassen und sie lächelnd verabschiedet. Er wusste, welches Geschenk sie nun erhalten würde, und sicher war er sogar ein wenig neidisch darauf.
Wachpriester, Indoktrinatoren der Gewalt, standen am Eingang und ließen sie ohne weitere Umschweife durch.
Sie betrat die Kammer mit gesenktem Kopf.
Es war angenehm kühl hier und sie fühlte, wie Gänsehaut ihre Beine emporstieg.
Sie schaute auf den Boden, eine glatte, absolut makellose und peinlich saubere weiße Fläche. Drei Schritte ging sie, bis zur Markierung, die sie mit den Spitzen ihrer großen Zehen berührte. Sie atmete langsam, zwang sich zur Ruhe. Nur nicht aufblicken. Sie musste auf das Wort warten. Das lernte man als Erstes, gleich zu Anfang.
Der Erfüller ließ sie nicht lange so stehen. Die sanfte Stimme erfüllte den Raum und erzeugte eine durchdringende, erhebende Resonanz in ihr. Sie labte sich am Wohlklang der Worte und das Gefühl der Glückseligkeit, das sie mit einem Mal erfasste, spülte jede Angst hinfort. Dies war der Erfüller. Wovor sollte sie Angst haben?
»Schau mich an, mein Kind.«
Sie folgte der Aufforderung. Was sie sah, entsprach so gar nicht den Abbildungen, die in den Lehrwerken des Indoktrinats standen und die jeder Mensch auf der Erde kannte. Natürlich, die äußere Form stimmte: eine Art Grille, mit graziösen Fühlern und zwei großen Armen, die am nach oben gerichteten Oberkörper saßen. Dieser wurde nach unten hin schmaler und endete in zwei Beinpaaren. Der Leib war mit sanften, Gaze ähnelnden Tüchern bedeckt, die die exakten Formen des Körpers verhüllten und dem Skiir ein ätherisches Aussehen gaben. Er war groß, fast drei Meter, wenn er sich aufrichtete, und der konisch nach vorne zulaufende Kopf mit den Mandibeln wurde dominiert von zwei schwarz schimmernden Facettenaugen. Ja, der Erfüller entsprach den Abbildungen bis ins kleinste Detail. Doch ein Bild konnte niemals den persönlichen Eindruck ersetzen, diese Überwältigung durch eine höhere Präsenz, die die Kammer erfüllte wie etwas Greifbares.
Yolana fiel auf die Knie, ganz unbewusst, ohne dazu aufgefordert worden zu sein, ohne echte Notwendigkeit. Die Skiir erwarteten Gehorsam und Respekt, aber keine permanenten Gesten der Unterwerfung. Sie waren anatomisch nicht dazu in der Lage, auf die Knie zu fallen. Wenn sie Respekt erwiesen, beugten sie ihren Oberkörper.
Dennoch. Ihr war, als sei es das Richtige.
Sie atmete die Präsenz des Erfüllers ein wie frische Luft. Ein Glanz erfüllte sie von innen, durchströmte ihr ganzes Selbst, und so machte der Skiir seinem Titel alle Ehre. Es war diese Essenz, die er ausstrahlte, die Loyalität und Anbetung auslöste und nach der alle Gläubigen im Indoktrinat strebten. Einmal in den Genuss dessen gekommen, was das Reich der Skiir und seine vielfältigen Völkerschaften zusammenhielt, würde Yolana diesen speziellen Moment als ihre kostbarste Erinnerung für immer im Herzen halten. Doch es gab noch mehr, eine Steigerung, ein spezielles Geschenk, das nur den Angehörigen des Patronats vorbehalten war. Sie nährte die Hoffnung darauf tief in sich. Vielleicht wurde ihr diese besondere Gnade zuteil.
»Steh auf.«
Sie tat es natürlich sofort und senkte auch nicht wieder den Kopf. Ihre Augen sogen den Anblick des Erfüllers auf wie ihre Seele die spirituelle Präsenz. Die großen Facettenaugen richteten sich auf sie. Natürlich war es eigentlich unmöglich, darin irgendeinen Ausdruck zu lesen, doch Yolana wollte so unbedingt Güte und Anerkennung in ihnen sehen, dass sie sie tatsächlich wahrzunehmen glaubte.
»Du stehst vor einer weiten Reise und hast eine verantwortungsvolle Aufgabe. Ein Gesandter, der als Erster nach dem Erwachen eine Suzeränwelt verlässt, fühlt sich oft verloren und überfordert. Du wirst ihn daran erinnern müssen, wem er dient, warum er dient und was das Wohl des Ganzen ist.«
»Ich verstehe«, sagte sie. Natürlich war das nur ein Aspekt ihrer Arbeit. Neben dem Seelenheil war sie auch damit betraut, dem Patronat eigene Berichte über die Vorgehensweise des Gesandten zu übermitteln, da man der angeblichen Transparenz des Prinzipats nicht traute. Es war immer gut, eigene Leute zu haben.
Nicht einen Moment kam ihr in den Sinn, was diese kleinen Intrigen und Scharaden, begrenzt auf die unwichtige, randständige Erde, eigentlich für die Politik des Reiches im Ganzen bedeuten mochten. Zu sehr war sie erfüllt von der erhabenen Präsenz des Skiir, zu beseelt von dem Gedanken, seinen Auftrag ausführen zu dürfen. Es war weder Raum für Zweifel noch für Nachfragen.
»Die Verantwortung ist noch größer, als du denkst«, sprach der Skiir nun mahnend. »Wenn du zurückkehrst, gehörst du zu jenen, die von der Glorie der Skiir verkünden müssen, in die du wie niemand sonst Einblick gewonnen haben wirst. Du wirst im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen. Dein Leben wird ein öffentliches sein, deine Existenz ein Werkzeug der Verkündung. Du bist dessen gewahr?«
»Das bin ich«, erwiderte Yolana stolz. Wer sein Leben diesen wunderbaren Wesen und ihrer segensreichen Mission von Frieden und Ordnung widmete, konnte sich nichts Besseres wünschen. Sicher, es würde Mühsal bedeuten und manches würde ihr lästig sein. Doch so lange sie den Schimmer des Wohlwollens in sich trug, mit dem die Skiir ihre Kinder in ihre sanfte Obhut nahmen, würde sie jede Herausforderung meistern, dessen war sie sich sicher.
»Ich sehe, dass du bereit bist.«
Ein Lob aus dem Munde des Erfüllers, die höchste Anerkennung, von der ein Mensch träumen konnte. Yolana traten Tränen in die Augen, so sehr wühlten diese Worte sie auf. Dies war ein besonderer Moment in ihrem Leben und sie würde diese kostbare Erinnerung mit größter Sorgfalt in sich bewahren. Die Tatsache, dass man ihr, wie jeder Mitarbeiterin des Indoktrinats, bereits die Segensmaschine ins Gehirn eingesetzt hatte, würde dabei helfen. Die Maschine zeichnete alles auf, was sie sah, hörte und sprach, und auch diese Begegnung war ab jetzt für immer in ihr Gedächtnis eingebrannt.
Wahrlich, so fand Yolana, das Schicksal hatte sie reich beschenkt. Und was für ein wunderbarer Segen war es, dass das Patronat auf der ganzen Welt Waisen in die Heime aufnahm, um sie zu Verkündern der Skiir zu machen. Anstatt in Einsamkeit und Ungewissheit ihre jungen Leben zu gefährden, wurden sie zu behüteten und erhobenen Kindern des Erfüllers. Es gab keinen besseren Beweis dafür, dass die Inobhutnahme das Beste war, was sich in der ansonsten kläglichen Geschichte der Menschheit abgespielt hatte.
»Empfange nun den Kuss!«
Ja! Ja! Er wurde ihr gewährt! Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Das Undenkbare wurde wahr, ihr kühnster Traum verwirklicht. Es gab nichts, absolut nichts, was von größerer Bedeutung war als der Kuss. Es war keine Gnade, kein Segen, diese Worte reichten nicht aus – es war einfach so unbeschreiblich, dass sich Yolanas Gedanken in ihrer Vorfreude zu verwirren begannen.
Yolana trat gehorsam vor, unterdrückte das Zittern ihres Körpers, nahm die vorgeschriebene Stellung ein, legte den Kopf in den Nacken und öffnete den Mund. Der Skiir neigte ihr seinen langen Hals zu. Der herbsüße Körpergeruch des Erfüllers war nun überwältigend, wie eine Parfumwolke, die sie beide umgab, und ihr schwindelte. Sie öffnete den Mund, so weit es ihre Kiefer zuließen, und schloss die Augen. Sie sah nicht, wie die schmale, vorgewölbte Mundöffnung des Skiir sich langsam an ihre Lippen senkte. Sie fühlte, wie die Mandibeln aufgeregt auf ihren Wangen tanzten, wie kleine Beinchen, die die Haut tastend berührten, als wollten sie die Konsistenz und Beschaffenheit durch winzige, trippelnde Bewegungen erforschen.
Dann der plötzliche, heiße Schmerz, als der Mundstachel des Skiir sich in ihren Gaumen bohrte, dort für einen Moment verharrte und sich dann ebenso abrupt wieder herauszog. Yolana taumelte zurück, als die Mandibeln ihr Gesicht losließen. Sie schmeckte Blut, doch das bemerkte sie kaum. Das Gift des Stachels sorgte dafür, dass sich die Wunde sofort wieder schloss.
Der Kuss. Jetzt entfaltete er seine Wirkung.
Ihr wurde heiß und ihr Leib begann zu zittern. Die Ekstase, die sie nun in Wellen erfüllte, war mehr als ein sexueller Höhepunkt. Es war, als würden sämtliche körpereigenen Drogen, alle Endorphine, die es gab, auf einmal ausgeschüttet, und die vom Skiir injizierten Stoffe noch dazu. Sie sackte zu Boden und zitterte am ganzen Körper, als die Emotionen jede bewusste Körperkontrolle ausschalteten. Ihre Arme und Beine trommelten unkontrolliert auf dem Boden, ihr Unterleib reckte sich hoch und fiel zu Boden, sie wand sich wie eine Schlange und aus ihrer Kehle klangen Laute, die sie nie zuvor gehört hatte. Sie sah nichts mehr, hörte nichts, nahm den Geruch des Skiir nicht wahr, als ihr Körper sich in heiliger Lust verzehrte. Wellen heißer Glückseligkeit, des vollkommenen Rausches, durchliefen sie und fast meinte sie, ihr Herz würde stehen bleiben, dann ebbte das Gefühl allmählich ab. Ihr Körper kam schweißgebadet zur Ruhe. Für einige Augenblicke lebte sie in der Erinnerung an diesen unbeschreiblichen Ausbruch. Sie atmete schwer und blinzelte, ihr Blick klärte sich langsam. Benommen wischte sie sich Speichel aus dem Mundwinkel, vermischt mit Blut aus der Wunde, die der Skiir in ihr geschlagen hatte, eine heilige, segnende Verletzung, die sie mit Wonne empfangen hatte.
Es war … das war der Kuss. Es gab kein Wort, in keiner irdischen Sprache, das dieses transzendierende, lustvolle Erlebnis ausreichend beschrieb. Es war das großartigste Geschenk, das ein Skiir einem Menschen geben konnte.
»Es geht dir gut?«, fragte der Erfüller.
Es ging ihr nie besser. Und bis zum nächsten Mal, sollte es das geben, würde ihr Leben aus dem stillen Verlangen nach einer Wiederholung bestehen, das wusste sie nun. Sie gehörte den Skiir, und sei es nur, um einen zweiten Moment dieser Art genießen zu dürfen.
»So geh und tu unser Werk, mein Kind.«
Nach einigen Minuten trat Yolana benommen aus der Kammer, die Tür schloss sich hinter ihr. Etwas tapsig ging sie die Treppe hinab, noch ganz gefangen von den Eindrücken dieser außerordentlichen Begegnung. Als sie unten ankam und der Oberste sie mit einem wissenden Lächeln in Empfang nahm, fühlte sie sich diesem mit besonderer Intensität verbunden. Auch er hatte die Gnade einer persönlichen Begegnung mit dem Erfüller genossen, sicher auch den Kuss, vielleicht schon mehrmals, als Lohn für die Mühen seiner exaltierten Stellung. Sie beide teilten diese Erfahrung in ihren Herzen, unerreichbar für all jene, die ewig auf eine solche Gelegenheit hofften, dieses Ziel aber möglicherweise niemals erreichen würden. Der Erfüller war nicht freigiebig mit dieser besonderen Gunst. Yolana war ausgezeichnet worden, und so stand sie, gerade dem Status als Akolythin entwachsen, auf einer Ebene mit dem Obersten.
Das war verwirrend, es gemahnte zur Demut. Artig verbeugte sie sich vor dem alten Mann, ehe sie sich zurück in ihre Klause begab, um in Ruhe und völlig ungestört über all das nachzudenken, was ihr heute widerfahren war.
Als sie in die enge Zelle kam und sich auf das schmale Bett setzte, die Stille der dicken Wände um sich aufnahm und nach ihren Gefühlen forschte, fand sie Glück, Zufriedenheit, Selbstsicherheit und Dankbarkeit. Ihre rechte Hand landete schließlich zwischen ihren Beinen, sie begann sich zu massieren und sich selbst eine Freude zu bereiten, die nur ein schwacher Abklatsch der orgiastischen Entladung gewesen war, die ihr der Kuss geschenkt hatte. Doch es half, die Erinnerung daran wachzuhalten, und sie ließ sich Zeit, gab sich ganz dem Gefühl hin.
Und der festen Entschlossenheit, dem Erfüller auf dieser Mission mit jeder Faser ihres Bewusstseins zu dienen.
Der Konferenzraum war schlicht, doch erstaunlich gemütlich eingerichtet. Die um den Tisch gruppierten Sessel waren bequem, alle Materialien hier machten einen handverlesenen und hochwertigen Eindruck. Die Fensterreihe im sechsten Stock bot einen fantastischen Ausblick auf die weißen Häuser Rabats und das rege Treiben auf den Straßen. Kein Laut drang hinauf, nur das leise Säuseln der Klimageräte war zu hören. An der Wand hingen großformatige Darstellungen der Inobhutnahme, keine idealisierten Gemälde, sondern Fotos, die zeigten, was damals geschehen war. Sie ließen natürlich das eine oder andere aus, vor allem den kurzen und sehr heftigen Krieg, der in der umfassenden Niederlage der Menschheit geendet hatte.
Fünf Personen saßen um den Tisch. Einige hatten Getränke vor sich stehen, hinter denen sie sich etwas zu verbergen schienen, andere sahen die Teilnehmer einen nach dem anderen ruhig und forschend an. Es war nicht das erste Mal, dass sie aufeinandertrafen, zumindest galt dies für die meisten unter ihnen. Aber die Situation hatte schon etwas Besonderes.
Flokhart Eder trug dem Anlass angemessen einen schlichten Anzug und wirkte von allen am ruhigsten. Bixa Li in ihrem Bürokostüm sah etwas verschlafen aus. Als Einzige hatte sie ein Keyboard vor sich aufgebaut, um Protokoll zu führen, falls das von ihr verlangt wurde. Das Haar streng zurückgekämmt und mit sehr dezentem Make-up wirkte sie effizient und gleichzeitig unauffällig, wie ein Teil der Einrichtung. Dr. Leybold rutschte unruhig auf dem Sessel hin und her, fuhr sich durch das weißblonde Haar und fühlte sich offenbar unwohl. Im Gegensatz zu Torgen, der sich gelassener verhalten hätte, hatte er die anderen noch nicht kennengelernt. Yolana Iksen schließlich war in ihrem langen weißen Gewand mit den feinen Schleierapplikationen eindeutig zu identifizieren. Ihr schmales, von blonden Locken umrahmtes Gesicht wirkte so engelsgleich wie ihre ganze Erscheinung. Sie hatte eine unterschwellige, sexuelle Ausstrahlung, die durch ihre Kleidung, die verhüllte und gleichzeitig versprach, noch betont wurde. Doch von den Männern schien niemand darauf zu reagieren und Bixa Li war ein Bürokratieroboter.
Der Fünfte stand am Fenster und schaute auf Rabat, ohne ein Wort zu sagen. Da sie alle aufgrund seiner Einladung hier waren, warteten sie höflich, doch ihre Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt. Der Präsident des Prinzipats der Erde war noch nie ein Mann schneller Worte gewesen. Niemand wusste genau, auf Basis welcher Kriterien die Skiir ihre Unterlinge auswählten, vor allem jene, die sie mit der Leitung der drei wichtigsten Reichsinstitutionen bedachten. Präsident Jerome Diaz jedenfalls war nicht auserkoren worden, weil er über eine bemerkenswerte Eloquenz verfügte.
Er drehte sich um, das bärtige Gesicht schimmerte im Licht der Deckenbeleuchtung. Er schwitzte trotz Klimatisierung. Seine Augen waren groß und standen weit auseinander, aber waren ständig in Bewegung. Als er schließlich zu ihnen trat, legte er seine Hände, erstaunlich gelenkige, fein manikürte Pranken, auf die Rückenlehne eines Sessels. Es war schade, dass er so wenig sprach, denn seine Stimme hatte ein sehr angenehmes tiefes Timbre, das den Raum durchdrang, ohne dass er besonders laut werden musste. Diaz erweckte auf Anhieb Vertrauen.
Eder konnte ihn gut leiden.
»In drei Tagen reisen Sie alle ab und ich weiß nicht, ob ich neidisch sein soll oder nicht. Vorgestern sprach ich mit den Skiir über den Zeitplan des Erwachens. Sie erklärten mir, dass wir ab sofort die Erlaubnis hätten, die Erde zu verlassen und das Reich zu bereisen. Angesichts der Tatsache, dass wir über nicht ein funktionsfähiges Raumschiff verfügen und wir den Faltantrieb nicht bauen könnten, selbst wenn es uns gestattet wäre, weil uns die technologischen Grundlagen fehlen …«
Diaz schüttelte den Kopf.
»Jedenfalls werden irgendwann – so sagte man mir – erste private Frachterlinien die Erde für sich entdecken und man wird dort sicher auch Passagen buchen können. Ich habe seit drei Wochen Zugang zum galaktischen Informationsnetz, eine Gnade unserer Herren. Wissen Sie, was ein normales Ticket auf einem Trampfrachter zur Wega kostet?«
Jeder wusste, dass die Wega die nächste Skiir-Station hatte und dass der nächste bewohnte Planet noch weiter entfernt lag. Aber der Verkehr nach Terra würde über die Wega laufen, einem kleineren Handelsknotenpunkt mit einem Umschlagsterminal.
»Zweitausendfünfhundert Creds!«, platzte es aus Diaz heraus. »Das Monatsgehalt des Präsidenten des Prinzipats, also das meine, beträgt vierhundertfünfzig Creds. Und das ist nur bis zur Wega – ohne Rückfahrkarte! Nur der Transport!«