Die Rettung der Welt nach G. - Etela Farkašová - E-Book

Die Rettung der Welt nach G. E-Book

Etela Farkašová

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Beschreibung

Krankhaft sensitive, vom Normalen abweichende Wesen erspüren zuweilen die Unzulänglichkeiten der Welt viel intensiver als andere, und ihre Reaktionen können extrem sein. Angst und Sorge um die Welt überdecken dann ihre übrigen Emotionen, und das ist auch der Fall der Protagonistin G., die von ihren Befürchtungen bezüglich der Zukunft der Welt dazu geführt wird, sich um deren Rettung zu bemühen. Von den Strategien, die eine derartige Person im Rahmen ihres eigenartigen Megaprojekts vorbereitet, erzählt die Prosa Rettung der Welt nach G. von Etela Farkasova, einer slowakischen Autorin, die bereits drei Dutzend Bücher auf ihrem Konto hat und dafür mit mehreren prestigeträchtigen Auszeichnungen geehrt wurde. Mit dieser Prosa, die von einer Jury zu den besten zehn Büchern des Jahres 2020 in der Slowakei eingereiht wurde, nimmt sie erneut Stellung zu den aktuellen Problemen unserer Zivilisation, betrachtet kritisch deren Werteorientierung und regt zum Nachdenken an.

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Etela Farkašová

Die Rettung der Welt nach G.

Übersetzung aus dem Slowakischen

von Elena Ehrgangová

ROMAN

Das Taschenbuch (herausgegeben vom Anthea Verlag in Berlin) wurde mit der Unterstützung des Übersetzungsfonds von SLOLIA (Zentrum für Literatur in Bratislava, Slowakei) herausgegeben.

Literki Verlag

Die Rettung der Welt nach G.

Das feine Fädchen vibriert kaum erkennbar, die Vibrationen sind so winzig, dass sich G. nicht sicher ist, ob sie real sind oder ob es ihr nur so scheint. Im Moment des Erwachens kann sie sich nicht auf die Schärfe ihrer Sinne verlassen, diese Momente erregen ihren Unwillen, denn sie verjagen sie aus der angenehmen, behaglichen Welt, in der sie durch nichts beunruhigt wird und in der sie Nacht für Nacht das findet, um was sie sich tagsüber so vergeblich bemüht: eine Welt der Sicherheiten, der unverrückbaren Ordnung, in der es nicht zu Störungen kommt, in der Dinge und Menschen nicht dem Verderben, der Zersetzung und bösen Zufällen ausgesetzt sind, denn es gibt niemanden und nichts, was Wunden oder Verwüstungen zufügen würde, oder was die Dinge aus dem Gleichgewicht brächte, was Unrecht und Gewalt verüben könnte. Ein Raum der vollkommenen Ordnung und Ausgeglichenheit, zu welchem verderbliche Kräfte oder Katastrophen keinen Zutritt haben, in dem nichts ausgebessert werden muss, weil es dort nichts auszubessern gibt.

Die Augenblicke des Erwachens zwingen sie zum Eintritt in die andere, kompliziertere, wenig behagliche und vor allem unzuverlässige Tageswelt, zu der sie kein Zutrauen haben kann, die sich pausenlos gegen ihren Willen und ihre Vorsätze stemmt, in der sie sich nicht sicher fühlt, ständig überrascht und bedroht wird – so empfindet sie es. G. seufzt – die unangenehmen Momente des Erwachens, man muss sie jeden Morgen erneut bewältigen – es ist widerwärtig!

Durch das angelehnte Fenster fächelt ein leichter Lufthauch, das Fädchen zittert wieder, dreht sich wie in einem seltsamen Tanz. Die Schläfrigkeit fällt plötzlich von ihr ab, ungläubig reibt sie sich die Augen: an der Wand gegenüber verfangen sich bereits zwei Fädchen. Nun weiß G., dass ihre Augen sie nicht täuschen, schmerzvoll konzentriert sie sich auf die wirbelnde Bewegung des im Entstehen begriffenen Knäuels – es begrüßt sie so feindselig im neuen Morgen und bezichtigt sie der Machtlosigkeit.

Es überfällt sie der starke Wunsch die Zeit anzuhalten, wenigstens für den Bruchteil einer Sekunde – anhalten und in die geordnete Welt der Träume zurückkehren, wo kein Ding seine Lage oder Form verändert, wo Symmetrie und Ordnung herrschen, wo keinerlei böswillige Kräfte das Gleichgewicht stören und wo nicht plötzlich an den Wänden widerwärtige Spinnweben entstehen und über die eigenen alltäglichen Bestrebungen nach Vollkommenheit feixen.

Die Erinnerung an ein anderes Fädchen schleicht sich ein. Ebenfalls ohne Vorwarnung hatte es sich vor einigen Wochen an einer anderen Wand gezeigt, und als sich G. näherte, war es zu einem Riss geworden, ganz ohne Ursache, unerklärlicherweise hatte der Riss die ganze Wand durchzogen – bei dieser Erinnerung wird G. von einer schrecklichen Beklemmung überfallen, und sie hat Angst, dass sich hinter dem heutigen Fädchen womöglich ein neuer Riss oder der Keim zu einem Riss verbirgt, der allmählich länger und breiter wird und wohl hinterhältig bis zur Decke kriecht.

Sie legt sich das Kissen auf das Gesicht, alles deckt sie zu – die Wangen, das Kinn, die Nase, und vor allem die Lider presst sie in das weiche Gewebe. Könnte sie doch sich selbst betrügen, glauben, dass sie die Zeit besiege, dass das, was vor ihr liegt, nicht unerlässlich sei, dass es umgangen, übersprungen werden könne. Ein paar Sekunden wartet sie ab, unbeweglich in dieser Hoffnung, dann zieht sie enttäuscht das Kissen vom Gesicht – wieder hat das Manöver keine Wirkung gezeigt, sie wird aufstehen, auf den Stuhl steigen und ihre Entdeckung gründlich untersuchen müssen.

Vergeblich sehnt sie sich nach dem, was ihr im Laufe des Tages unendlich weit entfernt scheint und dem sie sich erst am Abend wieder nähern kann, nachdem sie sich durch alle Probleme, die gleich nach der Morgendämmerung auszuschwärmen pflegen, hindurchgebissen hat und wenn sie erschöpft von den Pflichten des Alltags wie stets unendliche Mühe aufbringen wird, um die Ordnung, das Gleichgewicht, die Harmonie wiederherzustellen, zumindest zeitweilig.

Von der seligen Minute der Rückkehr trennen sie mindestens fünfzehn, wohl auch sechzehn oder siebzehn Stunden, in denen sie aus aller Kraft bemüht sein wird um die Korrektur des nahezu nicht Korrigierbaren, um die Rettung des fast nicht zu Rettenden.

Das Gefühl der eigenen Überflüssigkeit würde sie verletzen, könnte sie nicht in besseren Momenten die winzige Hoffnung zulassen, die im Wörtchen nahezu liegt, ein Balancieren zwischen dem Wissen der Vergeblichkeit all dessen, um was sie sich bemüht und der trotzigen Hoffnung. Nur so kann sie leben, nur so kann sie in der einzig akzeptablen Weise ihre Lebenszeit ausfüllen.

Manchmal scheint es ihr, dass sie zu wenig Zeit hat, dass sie nicht all ihre Vorsätze wird erfüllen können, in anderen Momenten wiederum hat sie das Gefühl, es würde ihr nichts ausmachen, wenn die ihr zur Verfügung stehende Zeit schon zur Neige ginge, wenn sich der Schlussakkord näherte und sie nicht mehr all die Kämpfe führen müsste, wenn das Hoffnung erweckende nahezu aus ihrem Denkhorizont verschwände und das nicht Korrigierbare und das Irreparable für immer nicht korrigierbar und irreparabel bleiben würden, das Unmögliche definitiv unmöglich wäre. Aber diese Etappe liegt für sie, so scheint es, noch in weiter Ferne, bis zu dieser Endphase wird sie wohl noch weit wandern müssen…

G. hält ihre Augen weit offen, vor sich hat sie den Beweis für die Unerschöpflichkeit der Quelle, aus der alle Probleme, all die Sorgen und Widerwärtigkeiten stammen, sie erinnert sich genau, dass die Wand gestern völlig rein war, sie hatte mit der Gründlichkeit, die sie zuweilen über alle Maßen ermüdet und entleert, die sie jedoch paradoxerweise auch mit neuer Energie füllt, alle Winkel gesaugt, den Staub aus allen Ecken gewischt, jeden Meter, ja Zentimeter kontrolliert – streng und erbarmungslos.

Wäre das in einem anderen Raum passiert, würde sie sich nicht so gekränkt fühlen, aber in ihrem Zimmer, von dem sie hundertprozentig weiß, dass es gestern, vorgestern, jeden Tag… Sie hält es für eine Böswilligkeit, mit der ihr in Erinnerung gerufen wird, dass man nichts glauben, sich auf nichts verlassen kann. Eigentlich rechnet sie bereits damit, schon lange, auf nichts und niemanden ist Verlass, aber nicht einmal auf sich selbst und auf den eigenen guten Willen?

Entmutigt streift ihr Blick über das befleckte Weiß der Wand und seufzt über die Hinfälligkeit allen Handelns, in welches sie so viel Strebsamkeit und Kraft legt.

Das Gespinst, es ist da, es ist deutlich sichtbar, und würde sie aufstehen und die Hand austrecken, auch greifbar. Bei der Vorstellung, dass sie kurze Zeit später, wenn sie die letzte Verlockung des Traums überwunden hat, tatsächlich das Gespinst berühren wird, fühlt sie die graue Klebrigkeit in ihrer Handfläche und muss gegen eine Welle schwer zu beherrschenden Ekels ankämpfen.

Sie hat bereits ihre Erfahrungen und weiß genau, dass es in der Macht der Spinnweben liegt, sich in unbeobachteten Momenten zu bedrohlichen Spalten und widerwärtigen Tausendfüßlern mit Tausenden unersättlichen, fressenden Tentakeln zu verwandeln, und zwar wenn man es am wenigsten erwartet, wie etwa jetzt, zum anfangs ganz unschuldig scheinenden Tagesbeginn.

* * *

Als G. in die Küche kommt, steht die Mutter über den Spülstein gebeugt und scheuert, kaum den Kopf hebend, weiter die schwarze Kasserolle, in der sie gewöhnlich die Milch zum Frühstückskaffee warm macht. Der Anblick ihres immer krummer werdenden Rückens wirkt beklemmend.

G. setzt sich an den Tisch, an ihrem Platz wartet bereits der Teller mit den zwei Scheiben Brot, die Butter, der Honig, eine Käseecke, die große geblümte Tasse, die bereits einige Jahrzehnte in Gebrauch ist, sodass das Blumenmuster etwas ausgeblichen ist, daneben der Löffel – genau da, wo er hingehört, nur etwas aus dem Lot – sie rückt ihn um einen kaum zehngradigen Winkel nach rechts – jetzt sollte alles in Ordnung sein.

Gegenüber manchen Details ist die Mutter gleichgültig, obwohl G. sie schon so oft gebeten und ihr erklärt hat, wie Details eine wesentliche Rolle spielen können – sind wir gleichgültig gegenüber kleinen Dingen, werden wir die Welt niemals in Ordnung bringen.

Sie bemerkt, dass die Mutter bereits gegessen hat, einige Krümel liegen auf dem Tisch, sogar einige Tropfen Milch sind zu sehen. Unwillen überschwemmt sie.

Sie tut es hoffentlich nicht absichtlich, denkt sie, auch sie ist manchmal gegen mich, vielleicht nicht gerade absichtlich, eher aus Unachtsamkeit, aber die Gründe sind nicht wichtig, viel wichtiger ist die Folge – ärgerlich steht sie auf, wischt mit dem Lappen über die geblümte Wachstuchdecke, berührt sie mit den Fingern, um sich zu überzeugen, ob nun wirklich alles sauber ist, ohne einen einzigen Krümel, dann setzt sie sich wieder.

„Angebrannt.“, sagt sie halb fragend, halb feststellend mit farbloser Stimme, und die Mutter nickt stumm.

„Schon wieder“, fährt sie im gleichen Tonfall fort, fast jeden Morgen …

Sie weiß, dass sie ihre Mutter mit diesen Bemerkungen ärgert, zuletzt ärgern sie einander gegenseitig, die Mutter löst ihren Blick vom Topf mit dem angebrannten Boden: „Ja doch, dass passiert eben… Ist sowieso schon wieder kalt geworden!“ So gibt sie G. den Vorwurf zurück: „Man muss sie noch einmal aufwärmen, du solltest etwas früher aufstehen.“

„Ich wurde aufgehalten.“ G. überlegt, ob sie der Mutter etwas von der unangenehmen Entdeckung sagen sollte, von den zwei Spinnweben, die plötzlich an der Wand aufgetaucht sind, obwohl sie gestern und auch vorgestern gründlich Staub gesaugt und gewischt hat. Soll sie von der Entdeckung erzählen, die eine Bestätigung für ihre Theorie ist, dass die Dinge unaufhaltsam auf das Chaos zustürzen, der Zustand von Ordnung und Reinheit ist nicht zu halten, Dinge, denen sie tagtäglich ihren Willen aufzwingt, denen sie ihre ganze freie Zeit widmet und – du lieber Himmel! – eigentlich das ganze Leben, revoltieren tagtäglich unbarmherzig gegen ihre Anstrengungen.

„Entropie“, entschlüpft es ihr unwillkürlich bei der Vorstellung dessen, was sie am Morgen an der Wand entdeckt hat. Doch es hat keinen Zweck darüber zu sprechen, die Mutter wird ihr nicht helfen, kann ihr nicht helfen, denn auch sie gehört in diese Welt, welche verödet und ihrem Ende entgegen geht. Auch die alte Frau lässt sich immer mehr gehen, und die Zeichen der Erschöpfung werden immer sichtbarer, das definitive Ende ist nah.

Plötzlich und unerwartet ereilte vor ein paar Jahren aufgrund eines bösen Zufalls auch den Vater dieses Ende, denkt G. voller Beklemmung, und dann etwas später auch den Onkel, die Großeltern… Auch die Gruppe der an der Haltestelle Wartenden, in die der Berliner Terrorist hineingerast ist. Gestern hat man die Bilder im Fernsehen gezeigt, ein Vorübergehender hat das Ereignis bis in alle Einzelheiten mit der Handykamera gefilmt: zuerst die Motorhaube des Fahrzeugs, dann die verstümmelten Körper – ihr war ganz schlecht geworden, nie wieder wird sie Nachrichten schauen, so oft hat sie sich das schon geschworen – dann aber doch – machtlos schaut sie zu, ihre Machtlosigkeit bedrückt sie – ach, könnte sie doch allen zerstörerischen Erdbeben, Überschwemmungen, Bomben und ins Unheil stürzenden Flugzeugen Einhalt gebieten, könnte sie doch alles Böse verhindern.

Ob sie nun die Nachrichtensendungen verfolgt oder nicht – ständig hat sie Bilder des Schreckens vor Augen, sie trägt sie in sich, tief in ihrem Inneren, seit sie denken kann, sie weiß nicht, wer sie dort hineingetan hat, wer begonnen hat in ihr so viele unglückliche, zerfetzte Geschicke anzuhäufen. Manchmal hat sie sogar das Gefühl, als sei sie selbst Opfer der Katastrophen, Unfälle, Raubüberfälle, Kriegsgräuel, Morde und Vergewaltigungen, sie weiß nicht, woher dieses Gefühl stammt, sie weiß nur, dass ihr dann Körper und Seele wehtun. Die ganze G. und die ganze Welt sind ein einziger Schmerz!

Der Autoritativschwätzer fragt sie bei jedem Besuch aus.

„Wie geht es uns denn“, so beginnt die Vernehmung. „Ich hoffe, es geht besser.“ Dabei klebt sein Blick am Bildschirm des Computers, offensichtlich liest er die Notizen vom letzten Besuch. G. lässt ein unbestimmtes „Hmh“ vernehmen, und er fährt fort: „Gewiss ein bisschen besser, letztens haben wir ja eins der Probleme gelöst, und heute wird uns wieder etwas gelingen.“

Da G. nicht reagiert, beginnt er nach unwichtigen Geringfügigkeiten zu fragen, und jetzt blickt er sie mit seinen graugrünen, hervorquellenden Augen direkt an. Vielleicht quellen sie gar nicht so weit hervor, denkt G., sie konzentrieren sich nur so unangenehm scharf auf mein Gesicht, dann auf die Hände, die leicht zittern, auf meinen Körper und dann wieder auf das Gesicht.

„Lassen wir es angehen“, fordert er sie auf.

Meist kommt sie über ein paar Phrasen nicht hinaus, denn sie findet die Worte nicht, mit denen sie das Wesentliche erklären würde, wozu auch, er hat ja bis jetzt noch nichts verstanden, wie könnte er sonst von einem gelösten Problem sprechen. Und hätte er auch eins gelöst, so bleiben doch noch Unzählige, und es gibt wohl gar nicht die Worte zur Beschreibung all dieser Probleme, sie jedenfalls kennt sie nicht. Wie soll sie ihr Bedauern darüber, dass sie gegen so viele Dinge machtlos ist, zum Ausdruck bringen?

Wie kann sie den Schmerz beschreiben, verursacht durch Verletzung der Ordnung, der Harmonie, die doch das Grundgesetz des Weltalls sein sollte, hervorgerufen von all den Entgleisungen aus dem normalen Lauf der Dinge, vom Abweichen aus der präzisen Richtung, aus den ursprünglichen Bahnen, Formen und Positionen… oder hervorgerufen von den plötzlichen Rissen in der Wand, oder von den Spinnweben, die das Weiß zerfressen und das Gleichgewicht, die Ruhe stören… Schmerz, bewirkt von all den böswilligen Wandlungen, die sie nicht verhindern kann.

Der Autoritativschwätzer wendet sich gewöhnlich mit Fragen an sie, die sie schon auswendig kennt, vielleicht sollte sie ihm erzählen, dass sie an solchen Tagen, an denen alles auf sie einstürzt, noch hartnäckiger den Boden schrubbt und den Staubsauger traktiert, dass sie an solchen Tagen einen möglichst riesigen Teil der Welt putzen will, und reparieren, was kaputt gegangen ist.

Einige Male hat sie es versucht, er setzte eine Miene auf, als verstünde er nicht recht, wovon G. spricht und wendete sich wieder seinem Computer zu, um etwas einzutragen. Mit seinen dicken Fingern tippte er auf die Tasten, dann löschte er etwas und schrieb es neu. G. schien es, als dauerte es eine Ewigkeit, schließlich forderte er sie auf, sie möge sich genauer ausdrücken, nicht vom Reinemachen, das interessiere ihn nicht, sondern von den Stimmen, die sich in ihrem Kopf festgesetzt haben und in der letzten Zeit immer aufdringlicher werden, von denen würde er gern etwas hören.

Wieder einmal erklärt sie ihm, dass die Stimmen meist nur ihre eigenen Gedanken formulieren, also die Stimmen, die nicht von außen kommen, sondern von innen, die in ihr sind, oft schweigen sie, nur manchmal melden sie sich bei bestimmten Gelegenheiten, manchmal streiten sie miteinander, dann schweigen sie wieder einige Tage oder Wochen… Und so geht es um und um – sie melden sich, sie schweigen, melden sich…

Sie hat ihm gesagt, dass sie sie nicht weiter stören, also die guten Stimmen, schließlich gehören sie ja zu ihr. Sie versteht nicht, warum der Autoritativschwätzer unzufrieden die Stirn runzelt; jedes Mal, wenn sie ihm sagt, dass sie sich wieder gemeldet haben, sieht sie ihm die Unzufriedenheit an, er will die Stimmen sogar mit Medikamenten aus ihr verjagen… und sie kann ihm nicht erklären, wie das in Wirklichkeit mit den einen und den anderen Stimmen ist. Angestrengt sucht sie die passenden Wörter, doch wieder vergeblich, und vielleicht – so denkt sie – kann man so etwas auch keinem Fremden erklären, jemandem, der sich außerhalb des eigenen Körpers und vor allem – des eigenen Kopfes befindet.

An seinen Blick hat sie sich bereits gewöhnt, an seine Unzufriedenheit, dass er nicht mehr aus ihr herauskriegt. Meist bemüht sie sich gar nicht mehr, sagt ein paar neutrale Sätze und schweigt dann, wartet, bis der Autoritativschwätzer das Rezept ausstellt, dabei sagt er etwas zu ihr, sie tut so, als höre sie zu, in Wirklichkeit bleibt sie versunken in ihrer Welt, es gibt ja so viel, über was man nachdenken muss und was man laut nicht erzählen kann, viel wichtigere Dinge als des Autoritativschwätzers Reden.

„Aha, die Entropie“, wiederholt die Mutter und deren Stimme erinnert G. daran, dass sie nicht im Sprechzimmer sitzt, sondern zuhause, in der Küche, sie schreckt auf, sie hat sich von ihren Vorstellungen zu weit tragen lassen, das passiert ihr in letzter Zeit häufiger.

Es dauert ein paar Sekunden, ehe ihr Geist wieder zum heutigen Morgen zurückfindet und die Mutter wahrnimmt, wie sie erneut Scheuerpulver in den Topf schüttet und mit dem Drahtgeflecht zu scheuern beginnt, sie hört, wie sie weiterspricht: „Wieder deine Entropie!“

G. starrt schweigend auf den gebeugten Rücken, dann, sie weiß nicht warum, stößt sie doch leise hervor: „Heute früh… in meinem Zimmer…“

Die Mutter scheuert weiter den Topf, sie wartet, was wohl folgt, und als G. nicht fortfährt, sagt sie tonlos: „Was, heute früh, in deinem Zimmer …“

G. spürt, dass die Mutter ohne Teilnahme fragt, ohne wahres Interesse, das ruft in ihr ein noch stärkeres Gefühl der Abscheu hervor. Sie antwortet nicht, und als sich die Mutter zu ihr umwendet, winkt sie nur ab, und die Mutter fragt nicht weiter.

G. kann nicht verstehen, wie jemand so ein unheilbringendes Wort voller Gleichgültigkeit aussprechen kann. Aber ja, der Mutter liegt nichts daran, niemandem liegt etwas daran – behalt deine Sorgen für dich, nimmt sie sich vor, schau, wie sich die Dinge entwickeln, ohnehin musst du deine Probleme selbst lösen, alle Schwierigkeiten, die auftauchen, du musst den Stimmen lauschen, die in dir laut werden, die wie ein Bienenschwarm summen, manchmal helfen sie ja beim Lösen der Probleme, aber meist erschweren sie die Lage – je nach dem, um was für Stimmen es sich handelt.

Endlich ist der Topf sauber, die Mutter spült und trocknet ihn ab, stellt ihn in die Kredenz, dann setzt sie sich zu G., schiebt das Milchtöpfchen näher heran.

„Glücklicherweise ist die Milch nicht zu stark angebrannt, man schmeckt es gar nicht“, sagt sie. „Also warte nicht so lange und trink endlich, solange sie noch warm ist, ich will sie nicht ein drittes Mal aufwärmen.“

Mechanisch trinkt G. ein paar Schluck, dabei starrt sie irgendwo in die Ecke der Küche, als prüfe sie, ob nicht irgendwo an der Wand eine beklemmende Überraschung auftaucht, nein, mehr noch: ein weiterer beklemmender Beweis.

* * *

Wie sehr sie sich auch bemüht, sie versteht die Tochter nicht, nicht einmal die Wörter, die G. zuweilen verwendet. Obwohl sie dahinter etwas Ungutes ahnt, weiß sie nicht genau, was sie bedeuten, wie auch jetzt, zum ersten Mal hat sie das Wort noch während G.s Zeit an der Uni gehört, damals pflegte die Tochter ihre Vorlesungsmitschriften laut durchzulesen, dieses Wort kam häufiger als andere vor, jedenfalls hatte G. dieses Wort – aus welchem Grund auch immer – ausgewählt und mit großer Hartnäckigkeit, ja sogar Wut, immer wieder verwendet.

Die Ordner mit den Vorlesungen liegen seitdem weit unten in einem Schubfach, irgendwo im Schreibtisch ihres Mannes. Das Studium war wohl zu schwer, so erklärt sie sich den Entschluss der Tochter, es zu unterbrechen – und es niemals wieder aufzunehmen. G. verlor aus irgendeinem Grund das Interesse an Mathematik und Physik, ganz andere Dinge fesselten sie, komplizierte, zu kompliziert um sie in Formeln oder Gleichungen zu fassen, so ungefähr hat es ihr G. erklärt, und scheinbar auch zu kompliziert, um sie in bekannten, verständlichen Worten erläutern zu können, in Wörtern, an die man gewöhnt ist, die zuhause immer schon verwendet wurden.

Obwohl sie nicht verstand, was mit der Tochter vorging, spürte sie doch, dass etwas heraufkeimte, worauf sie keinen Einfluss hat. G. war immer eigenbrötlerisch, war anders als andere Kinder, mit den Jahren wurde sie immer seltsamer, tagsüber war sie von der Hausarbeit in Anspruch genommen, und nachdem sie fertig war, zog sie sich in ihre Dachkammer zurück, saß dort stundenlang, kam nicht einmal zum Abendessen herunter. Sie sagte, sie würde arbeiten, an etwas sehr Wichtigem, man dürfe sie nicht stören, niemand dürfe sie stören… und dann begann sie ein neues, komplizierteres Vokabular zu verwenden, eine für andere wenig verständliche Sprache – gerade die benötige sie bei ihrer Arbeit, der sehr wichtigen und bedeutenden.

Die Mutter musste sich an den Gedanken gewöhnen, dass sich G. von ihr entfernt, sich in etwas Unbekanntem, Rätselhaftem verliert, wohin sie ihr nicht wird folgen können, der Weg, den G. jetzt eigensinnig beschreitet, führt in immer unbekanntere und dunklere Räume.

Sie redete der Tochter gut zu, damals, als sie vor ein paar Jahren das Studium abbrach, sie fragte nach den Gründen, tadelte, bat, berief sich auf ihren verstorbenen Mann, wie sehr es ihn kränken würde, aber scheinbar wollte oder konnte G. auf diesem rätselhaften Weg nicht mehr umkehren, es stand nicht in ihrer Kraft.

* * *

„Auch heute werden wir arbeiten“, sagt G. nach dem Frühstück, beim mehrmaligen Abwischen und Glätten des Tischtuchs, nachdem sie Teller, Tasse und Teelöffel gründlichst abgewaschen hat.

„Ich habe eine Inspiration“, fügt sie im Brustton der Überzeugung hinzu. Die Mutter lässt ein unbestimmtes „Hmh“ vernehmen, mit mechanischer Bewegung zieht sie die Schürze aus: „Aber nicht lange, ich muss etwas zu Mittag kochen, von gestern ist nur noch ein kleiner Rest Suppe übrig, das reicht nicht einmal für eine von uns.“

G. tut so, als hätte sie die Bemerkung der Mutter nicht gehört.

„Ich fühle, dass mir das Denken heute leichtfällt“, sagt sie. „Du wirst sehen, das wird sogar der Autoritativschwätzer zu schätzen wissen, lauter gute Einfälle.“

Gewöhnlich diktiert sie langsam, mit kleineren Pausen, sie wird sich dessen eigentlich gar nicht bewusst, dass sie diktiert, vor allem spricht sie vor sich hin, und wie sie spricht, klären sich ihre Gedanken, die sich schon wieder in unerträglicher Wiese hervordrängen und in ihrem Kopf zu streitenden Stimmen werden. Vielleicht ist es auch umgekehrt, erst hört sie die Stimmen und danach spulen sich ihre Gedanken ab. Es ist ja schließlich auch nicht so wichtig, was am Anfang ist und was folgt, sondern was festzuhalten gelingt, und zwar genau, genauestens, ja, um die Aufzeichnungen geht es.

Konzentriert schreitet sie durch das Zimmer und hebt vorsichtig die Füße, um nicht über den alten, an mehreren Stellen verschlissenen Teppich zu stolpern, in ihrem Geist tastet sie die Worte ab, ob sie ihnen vertrauen kann, wenigstens für diesen Augenblick.

„Die antientropischen Wirkungen“, sagt G., sorgfältig jede Silbe aussprechend, „sind viel geringer als die Anstrengung zu ihrem Hervorbringen, als die Konzentration des Subjekts, all seiner potentiellen Schichten…“

G. hält im Gehen inne, schaut auf die Mutter, ob sie beim Schreiben mitkommt, ob sie alles genau so festhält, wie es diktiert wird. Von Zeit zu Zeit fragt sie die Mutter, ob sie folgen kann, ob sie nicht etwas Wichtiges auslässt, was den ganzen Sinn der Arbeit entstellen würde. Wenn die Mutter bestätigt, dass sie mitkommt, fährt G. fort: „Die antientropischen Wirkungen im soziokulturellen Raum“ – sie atmet tief ein und entwickelt weiter – „und auch in der Biosphäre, determiniert durch die internen Tensionen…“

‚Tensionen‘, ein weiteres oft wiederholtes Wort, G. greift zu ihm in Zusammenhang mit fast jedem Thema, das sie – wie sie zu sagen pflegt – in aller Tiefe zu bearbeiten entschlossen ist, an mancher Stelle spricht sie von Tensionen in Werkstoffen, an anderer Stelle von Tensionen in psychischen Strukturen, aber am häufigsten reiht sie das Wort ohne nähere Bestimmung in ihre Diktate ein, abstrakt und anonym, fügt es sorgfältig zusammengesetzten Sätzen an, die ohnehin bereits aus allen Nähten platzen und unter der übermäßigen Last zusammenzubrechen drohen.

Zuweilen hält G. für einige Minuten inne, sammelt Kraft für den Aufstieg, wie sie es nennt, nach der kleinen Ruhepause spricht sie lauter und energischer, beschleunigt ihre Schritte auf dem alten Teppich, geht so schnell, dass es eher an ein Laufen erinnert, vom Fenster zur Tür entlang am Sekretär und dem Sofa, und zurück von der Tür zum Fenster, eine hin und her pendelnde Gestalt, Wortfluten ausstoßend, manchmal mit vorgestreckter Hand dirigierend, manchmal mit beiden Händen heftig gestikulierend, und die Worte, die einst ihr großes Buch füllen werden, strömen nur so aus ihrem Mund.

Die Mutter schreibt auf einem alten Computer, den sie einst aus der Bibliothek mitgebracht hat. Man hat ihn ihr geschenkt, als sie in Rente ging. Die Direktorin hatte ihn bei der Inventur ausrangiert, sie sagte der Mutter lächelnd, sie könne ihn mitnehmen, er würde ihr daheim wohl auch fehlen, nach so vielen Jahren seien sie gewiss zusammengewachsen, man würde für die Bibliothek einen neuen, moderneren kaufen.

Der große, unförmige, zerkratzte Rechner ist seither zum Bestandteil des Wohnzimmers geworden, er passt ganz gut zu den älteren, schon sichtbar abgenutzten Möbeln. Hauptsache, dass er das Bild des Raums, seine Atmosphäre nicht beeinträchtigt. Zu diesem Zweck deckt ihn die Mutter jedes Mal nach Beendigung der Schreibarbeit mit einem gestickten Deckchen ab, ähnlich demjenigen, welches den Tisch bedeckt, so vermochte G. das Gerät leichter in die Familie aufzunehmen.

Einige Tasten sind im Laufe der Zeit verblasst, G. musste sie sorgfältig neubekleben, vor allem die Buchstaben A, C und H blieben zeitweise ohne Kennzeichnung, doch die Mutter war an die Tastatur gewöhnt, sie schrieb schon fast blind, wirklich, sie war mit ihm verwachsen, mit diesem Veteranen, er war langsam, doch das passte der Mutter – sie verstanden einander.

Zwar käme ihnen ein neuer Computer zupass, aber dazu haben sie das Geld nicht, und außerdem: G. graut es bei der Vorstellung, dass auf dem Mahagonitisch, für den einst die Eltern Krone für Krone beiseitegelegt hatten – so hatte es ihr die Mutter bei verschiedenen Gelegenheiten wiederholt – Krone für Krone, jeden Monat gelang es, etwas vom Lohn zurückzulegen… Also es graute ihr bei der Vorstellung, dass ins Wohnzimmer einziehen könnte ein neuer, viel kleinerer und viel schnellerer, leistungsfähiger Rechner, irgend so ein anonymer PC ohne Geschichte, vor allem, ohne Verbindung zur Familiengeschichte.

An den großen, unförmigen Kasten auf dem Tisch im Speisezimmer hat sich G. recht gut gewöhnt, obwohl sie anfangs protestiert hatte – „das Aussehen des Zimmers leidet“, wendete sie ein, doch als es sich erwies, dass der Rechner beim Diktieren im Vergleich zur Schreibmaschine, die noch vom Vater benutzt worden ist, von Vorteil war, nahm sie ihn schließlich in ihr Heim auf.

Sehr wichtig war die Möglichkeit der Korrektur von Fehlern, sie erlaubte die Präzisierung der Gedanken, man konnte nach den passendsten Worten suchen, damit der Text möglichst klar, verständlich und wirksam wurde, denn an der Wirkung, den er auf die Menschen machen wird, liegt G. sehr viel, sie stellt sich vor, wie der Text von Hand zu Hand wandert, natürlich muss er dann schon in Gestalt eines Buches vorliegen, als normal gedrucktes, gebundenes Buch, so eins, wie sie in den Buchhandlungen verkauft werden und in den Bibliotheken in den Regalen stehen, jedoch: dieses Buch wird sich von den anderen Büchern unterscheiden, in ihrem Buch wird beschrieben sein, was und wie weiter mit der Welt, da muss G. aber noch warten, alles braucht seine Zeit, auch ihr Buch. G. wird geduldig warten; wenn es um wichtige, um die wichtigsten Dinge geht, wird sie unendlich viel Geduld haben.

Trotz der Vorteile, die der Rechner bietet und deren sich G. mehr und mehr bewusstwird, hat sie keine große Lust, sich selbst hinzusetzen und aufzuschreiben, was ihr durch den Kopf wirbelt, lieber diktiert sie der Mutter. Der Hauptgrund ist, dass sie beim Diktieren auf und ab gehen kann, mal schneller, mal langsamer, je nachdem, wie es die Gedanken verlangen, sie gestikuliert dabei, unterstreicht mit den Händen die Bedeutung des Gesagten. Schwerlich würde sie im Sitzen nachdenken können, sie pflegt zu sagen, der freie Gedankenflug verlangt die freie Bewegung des Körpers.

Die Mutter begrüßte den Tausch, leichter schrieb es sich auf dem Rechner, die Direktorin der Bibliothek hatte recht – sie war wirklich mit dem Maschinchen verwachsen, und vor allem das Überschreiben der Sätze war viel bequemer, und Überschreiben musste man oft, G. legte Wert auf die präzise Formulierung ihrer Gedanken, zögerte nicht, auch mehrmals zu jedem Satz zurückzukehren.

Ihre Zusammenarbeit lässt sich von einer genauen Abmachung leiten: G. diktiert und die Mutter schreibt, hört der Tochter aufmerksam zu, verfolgt die einzelnen Wörter, sie soll keine Fragen stellen, wenn sie etwas nicht versteht, denn dadurch würde sie den Gedankenfluss der Tochter unterbrechen – so lautet die Abmachung, möglichst getreu aufschreiben, jede Abweichung würde G. wütend machen, sie hat ein außerordentlich gutes Gedächtnis, bis ins Detail erinnert sie sich daran, was sie diktiert hat, und wenn sie die Arbeit beenden, liest sie den Text aufmerksam durch, kontrolliert Wort für Wort die Genauigkeit der Mitschrift.

Die Mutter bemüht sich möglichst schnell zu schreiben, doch manchmal bleibt sie stecken, schuldbewusst blickt sie die Tochter an: „Kannst du bitte diesen Satz noch mal… ich habe es nicht geschafft …“

G. blickt finster: „Gib besser Acht, ich bitte dich, ich habe dir schon oft erklärt, dass das Unterbrechen der Spontaneität abfärbt auf die intellektuelle Leistung, vor allem, wenn es um so wichtige Dinge geht, früher konntest du schneller schreiben, und mit weniger Fehlern.“

„Ich war jünger, meine Finger waren schneller und beweglicher… und ich verstehe nicht alles, du drückst dich manchmal so kompliziert aus … und vergiss nicht, ich habe nicht Physik studiert, wie du, und Mathematik.“

„Es geht nicht um Mathematik und Physik, es geht eher darum, dass dich die Lage in der heutigen sich globalisierenden Welt niemals interessiert hat, die Zweifel hervorrufenden Entwicklungstrends, alles, was das Gleichgewicht stört, den Kollaps beschleunigt, verstehst du, aus der Bahn geratene kosmische Körper, das Löffelchen, das nicht im richtigen Winkel zur Tasse liegt, der Topf, in dem ständig etwas anbrennt, das musst du verstehen… Und gerade deswegen benötigen wir die antientropischen Enklaven, etwas, was sich dem zunehmenden Chaos widersetzt, was gegen die Ausdehnung der Entropie Widerstand leistet… Alles tun, was in unseren Kräften steht… du weißt ja, mir geht es nicht um mich, keinerlei exponierter Individualismus, mir geht es um mehr, ich habe dir doch gesagt, mir geht es …“

„Ich weiß“, ergänzt die Mutter mit einem leichten Seufzer, „um die ganze Welt, um das Weltall.“

„Na siehst du, du erinnerst dich… Also, bitte, konzentriere dich besser!“ G. kann sich furchtbar aufregen, wenn sie merkt, dass die Mutter etwas falsch aufgeschrieben hat, etwa die Wortfolge im Satz verändert oder zwei ähnliche Worte gegeneinander austauscht, so hatten zum Beispiel die Finger statt antientropisch antiempathisch geschrieben. G. geriet so in Rage, dass sie völlig die Selbstkontrolle verlor, sie rannte durchs Zimmer und schrie, wie verantwortungslos die Mutter gehandelt habe, verantwortungslos und gefährlich, denn es ginge doch um eine Schlüssel-Angelegenheit, um das Wesen des Projekts.

„Wie konntest du nur“, wandte sie sich an die Mutter, ganz rot vor Erregung, das Gesicht im Krampf verzerrt. „Wie konntest du… Weißt du, was du herbeigerufen hättest, wenn alle antientropischen Bestrebungen gescheitert wären, stell dir das nur einmal vor …“

Die Mutter schwieg und stellte sich vor – allerdings nicht die Wirkungen ihres Handelns, sondern, was sie machen wird, wenn der Anfall nicht enden will, dann hilft nur der ärztliche Notdienst, eine Beruhigungsspritze, das allmähliche Abflauen, das Lösen des Krampfes, Rückkehr zum gewohnten Alltag.

Während G. diktiert, zeigt die Mutter unendliche Geduld, sie schreibt zwei, ja sogar drei Stunden lang, ehrlich und treu schreibt sie alles auf, was aus dem Mund der Tochter kommt, ist sehr bestrebt, jedes Wort aufzufangen, auch die Bindewörter, jedes Detail, manchmal sieht es so aus, als würde auch sie an die besondere Mission dieser Texte und an die eigene Mission glauben.

Viel kann sie für G. nicht tun, also schreibt sie wenigstens, geduldig und aufopferungsvoll, damit die Texte dann dem Autoritativschwätzer zur Beurteilung vorgelegt werden können – eine andere Benennung darf nicht benutzt werden, G. besteht darauf, höchstens noch Weißkittel.

Einmal im Vierteljahr steigen sie in den Zug und fahren zur Spezialklinik in die unweit gelegene Kleinstadt, wo G. die Aufzeichnungen ihrer Gedanken einem fremden Menschen in die Hand gibt. Zuerst hat sie das geärgert, ja erzürnt, später hat sie sich daran gewöhnt, schließlich hat sie eine neue Strategie, dank derer der Autoritativschwätzer die wichtigsten Gedanken aus ihrem Hirn niemals lesen wird, denn die schreibt sie in geheime Hefte.

* * *

G. sagt ironisch über den Mann im weißen Kittel, mit dem sie bei einigen Besuchen stundenlang im Behandlungsraum verbringen muss, dass er zu den Menschen gehöre, die so klug und souverän tun und trotzdem destruktiv seien, sogar selbstdestruktiv, mit der Zeit würde sich die Selbstdestruktion unaufhaltsam bemerkbar machen, fügt sie mit offensichtlicher Genugtuung hinzu.

Die Mutter ahnt nur matt, was die Tochter damit ausdrücken will. Sie hat sich damit abgefunden, dass ihr das meiste, was G. aussagt, unklar bleibt, manchmal hat sie gar keine Lust mehr nach der Bedeutung des Gesagten zu forschen.

„Das ist eigentlich ungerecht“, pflegt G. manchmal während des Diktierens zu sagen. „Sehr ungerecht: stell dir nur vor, er kann aus all dem schöpfen, er sitzt in seiner Ambulanz, muss sich gar nicht anstrengen und kommt mir nichts dir nichts zu so vielen bedeutenden Ideen, und wie bedeutend die sind, das könnte ihm jeder bestätigen.“

Die Mutter nickt zustimmend: „Ja ja, jeder…“ Und dann fügt sie hinzu: „Aber wenn er es so fordert… Er betrachtet das als Bestandteil der Therapie.“

„Therapie“, schnaubt G. jedes Mal verächtlich. „Ich würde eher von Kontrolle sprechen.“

„Also gut, als Bestandteil der Kontrolle, er will deine Gedanken kennenlernen, und anders geht es nicht.“

„Er spioniert mich aus“, fällt ihr G. ins Wort. „Am liebsten würde er mir meinen ganzen Kopf durchstöbern, ich sehe es ihm an, durchstöbern und ausrauben, und dann auch noch manipulieren, wie es ihm gerade passt.“

„Da übertreibst du ein wenig“, sagt die Mutter versöhnlich. „Das gehört zu seiner Arbeit, aus welchem anderen Grund würde er sonst deine Aufzeichnungen lesen wollen, das muss wohl so sein, wenn er therapeutische Ergebnisse erzielen will.“

G. schimpft gewöhnlich weiter vor sich hin, aber in letzter Zeit etwas weniger, sie lächelt nur listig, gut, wenn es Teil der Therapie ist, gut, wenn er therapeutische Ergebnisse will – schließlich ist es nach einem bestimmten Gesichtspunkt egal, ob Therapie oder Kontrolle, ihr ist das egal… Soll er doch ihre Aufzeichnungen lesen, wenn ihm so sehr daran liegt, sie hat schon eine Art und Weise gefunden, wie sie sich schützen kann: nicht all ihre Gedanken diktiert sie der Mutter, sondern nur einige, aber nicht die wichtigsten, so naiv ist sie nicht, dass sie ihm Einblick in die wichtigsten gewährt, vorzeitig darf die niemand entdecken, denn es könnte zu einem Durchkreuzen der Pläne kommen, die G. hat, und das wird sie nicht zulassen.

Wieder lächelt sie, aber so, dass es die Mutter nicht merkt und nicht nachzufragen beginnt.

Und würde sie auch nachfragen, die Gründe ihres Lächelns würde sie ihr nicht verraten, und schon gar nicht würde sie etwas von den Plänen verraten, die sie schon längere Zeit schmiedet, niemandem verrät sie die wichtigsten Dinge, auf die sie durch jahrelanges Nachdenken gekommen ist, sie behält sie vorläufig für sich und vertraut sich nur den geheimen Heften an, in die sie nur selbst schreibt. Diese Notizen sind kürzer, aber kompakter, sie halten das Wesentliche fest. G. schreibt mit einem Kugelschreiber, eigenhändig, mit zitternden Fingern.

Die tiefsten, wesentlichsten Gedanken rieseln nur so aus ihrem Kopf, zwar nicht immer, nur an manchen Tagen, und auch die Prinzipien, die die Basis ihres Werkes bilden. Zuweilen nennt sie es das Große Werk, in welchem sie ihr Projekt enthüllt, nicht ein einfaches, sondern ein einzigartiges Megaprojekt, wie es die Welt benötigt… am dringendsten braucht, fügt sie im Geist nach einer Weile hinzu.

* * *

Als G. ein kleines Mädchen war, ging sie oft zur Mutter in die Bibliothek, gern spazierte sie zwischen den vollen Bücherregalen auf und ab. Die größte Freude hatte sie, wenn sie die Buchrücken in eine gerade Linie bringen durfte, kein Buch sollte herausstechen, sie sollten stehen wie disziplinierte Zinnsoldaten. Manchmal nannte sie sie auch so: „meine Büchlein-Soldaten“, sie exerzierte mit ihnen, aber sie kannte nur einen einzigen Befehl: „Stillgestanden, eins, zwei, drei, stillgestanden…“

Anfangs hatte sich die Mutter über das seltsame Spiel amüsiert, auch Kolleginnen oder Bekannte, die in die Bibliothek kamen und das kleine Mädchen beobachteten, wie es den Büchlein-Soldaten Befehle erteilte, damit sie in einer fehlerlos ausgerichteten, unbeweglichen, nicht zu störenden Reihe standen, sie lachten, wie süß, was für ein fröhliches Mädchen, was es sich da nur ausdenkt.

Allmählich gefror das Lächeln im Gesicht der Mutter, es blieb nur mehr ein Abglanz davon, ein verkrüppeltes, bitteres: die Kleine hätte doch puzzeln oder zeichnen können, etwas ausschneiden – die Mutter kommt mit einem Vorschlag nach dem anderen, vergeblich, G. lässt sich nur für kurze Zeit ablenken, dann kehrt sie hartnäckig zu dem zurück, was ihr die größte Freude bereitet: kontrollieren, in Reih und Glied stellen, wieder kontrollieren, ob die Reihen perfekt sind, eins – zwei – drei Stillgestanden, eins – zwei – drei Stillgestanden. „Gut, jetzt müsst ihr so stehen bleiben“, befiehlt G. den Büchern, keinem sollte einfallen, sich zu rühren, jetzt ist es so, wie es sein soll.

Bei dieser Erinnerung treten der Mutter Tränen in die Augen, rinnen die verrunzelten, vorzeitig gealterten Wangen hinab. Warum, fragte sie sich, als es keine Hoffnung mehr gab, dass sich G.s Zustand verbessern und sie wie andere Menschen leben und arbeiten können würde, warum gerade in unserer Familie, so fragte sie sich, obwohl sie wusste, dass es darauf keine Antwort gibt, warum gerade meine Tochter?

* * *

Einmal, als G. mit der Mutter in der Bibliothek war, ist ein Leser ungeschickt an ein Buch gestoßen, das das Kind gerade vorher sorgfältig aufgestellt hatte. Eine ganze Reihe dicker und dünner, prunkvoll und bescheiden gebundener Bücher fiel zu Boden, beim Versuch sie aufzufangen riss der Tollpatsch auch noch Bücher aus anderen Regalen mit herab.

G. kam auf den Krach hin angelaufen, und als sie sah, was geschehen war, begann sie zu zittern, und während andere Besucher beim Aufsammeln der Bücher mithalfen, starrte sie gebannt auf die Katastrophe und wiederholte weinend, dass die Bücher niemals wieder genau so stehen würden, wie sie gestanden haben.

Die Mutter redete ihr beruhigend zu, die Bücher seien doch nummeriert und es sei doch kein Problem, sie wieder nach der ursprünglichen Ordnung aufzustellen, das sei doch in einer Bibliothek unerlässlich, die unglückliche G. jedoch wiederholte immer wieder: „Aber ganz genau, mit den gleichen Zwischenräumen, wird es niemals wieder sein, niemals, niemals.“

* * *

Als Schülerin ging sie gewöhnlich gleich nach dem Unterricht in die Bibliothek, dort machte sie ihre Hausaufgaben. Gegen Abend, nach Mutters Dienstschluss, kehrten beide gemeinsam nach Haus zurück. Wer weiß, wie sie darauf gekommen ist, jedenfalls hatte sie die Idee, die Anordnung der Bücher sei so nicht so gut, wie es wohl auf den ersten Blick scheine, es wäre doch viel besser, anstelle irgendwelcher Zahlen die Größe als Ordnungsmerkmal heranzuziehen.

„Ja, die Größe, das ist es“, fast schrie sie auf bei diesem Einfall und machte sich gleich an die Arbeit.

Vom größten Buch anfangen und dann die kleineren und kleineren millimetergenau anordnen, bis zu den kleinsten. Sie arbeitete fleißig und lautlos, wollte die Mutter überraschen, wunderte sich darüber, warum ihr diese Idee nicht früher gekommen ist.

Schon einige Tage lang arbeitete sie an ihrem Einfall, noch hatte die Mutter nichts bemerkt. Erst als sich ein Leser beschwerte, er könne das gewünschte Buch nicht finden, und auch alle übrigen Bücher stünden nicht an ihrem Platz, es sei alles durcheinander, wie sei denn das möglich, da herrschte große Aufregung.

Die Mutter wollte es gar nicht glauben, erst als sie mit dem erbosten Leser vor den Regalen stand und sah, dass die Bücher nach der Größe geordnet waren, begriff sie sofort.

Einige Tage lang war mit G. nicht zu reden, denn es hat sie furchtbar verletzt, dass sie anstatt großen Lobes nur Tadel geerntet hatte.

Niemand wollte ihre Absicht begreifen, die Bücher besser zu ordnen, sie hat es vergeblich erklärt, erst nur der Mutter, dann deren herbeigelaufenen Kolleginnen – niemand verstand, dass man die Aufkleber mit den Zahlen mal so und mal anders auf die Bücher kleben kann, aber die Größe des Buches ist ein für alle Mal gegeben, ändert sich nicht, also danach sollte man sich in der Bibliothek richten. Sie, G., ist darauf gekommen, auch nicht sofort, sondern erst nach einer gewissen Zeit, warum will man nicht anerkennen, dass sie recht hat? Sie hat etwas sehr Wichtiges entdeckt und wird dafür ausgeschimpft. Die Erwachsenen sind manchmal wie vernagelt, diese Feststellung ist für sie sehr enttäuschend, obwohl sie diese Beobachtung nicht zum ersten Mal in ihrem achtjährigen Leben machen musste.

* * *

Die Notizen, die sie allein macht, sind manchmal ganz kurz, aber bedeutender als die anderen, umfangreicheren, die von der Mutter auf dem alten Rechner eingetippt werden. In gewissem Sinne sind sie auch persönlicher. G. offenbart in ihnen ihre vertraulichsten Ideen, die sie aus den Gesprächen mit den Stimmen, aber auch aus ihren eigenen Erkenntnissen gewinnt.

Sie hat einige geheime Hefte, bewahrt sie gut versteckt auf und kontrolliert vor dem Schlafen jeden Abend – gleichgültig ob sie etwas einträgt oder nicht – ob alle an ihrem Platz liegen, in der genau festgelegten Reihenfolge. Liebevoll nimmt sie sie zur Hand, streichelt sie und schiebt sie wieder in das Versteck. Das ist eins der Rituale, ohne die sie nicht schlafen könnte.