Es ist geschehen - Etela Farkašová - E-Book

Es ist geschehen E-Book

Etela Farkašová

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Beschreibung

Der Tod und das Sterben werden in der Gegenwartsliteratur noch tabuisiert, obwohl sie in den Nachrichten tagtäglich heimisch sind. Es sind eben zwei verschiedene Dinge anonyme Todesfälle zu melden oder zu zeigen, oder für das Dahinscheiden enger Angehöriger die richtigen Worte zu finden. Die slowakische Schriftstellerin Etela Farkaová empfand die Notwendigkeit, den Prozess des Abschiednehmens von der Mutter literarisch zu gestalten, wobei sie in der Tradition von Simone de Beauvoir, Annie Ernaux und Helene Cixous steht.

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Etela Farkašová

Es ist geschehen

Übersetzung aus dem Slowakischen

von Christel Spanik

ROMAN

Das Taschenbuch (herausgegeben vom Anthea Verlag in Berlin) wurde mit der Unterstützung des Übersetzungsfonds von SLOLIA (Zentrum für Literatur in Bratislava, Slowakei) herausgegeben.

Literki Verlag

Es ist geschehen ...

Wenn ich mich dem Leben meiner Mutter maximal annähern will, der Wahrheit darin, so muss ich das über die Literatur versuchen…

Annie Ernaux: La Femme

Das Laub, weich, leise raschelnd, ich versenke den Fuß bis zur untersten Schicht und ziehe ihn langsam heraus, es halten sich darauf ein paar rotbronzene, goldgelbe, bräunliche oder noch ganz grüne Blätter, durchwebt von feinen Gefäßen, verdreht, zerrissen, welk, sie zerfallen unter meiner Sohle, lediglich der festere Stiel hält stand, alles Übrige verliert vor meinem Auge seine frühere Gestalt und verwandelt sich zu einer modernden Buntfarbigkeit.

„Verweilen wir hier ein wenig“, sagt sie und klappt das Heft zu, aus welchem sie mich bis jetzt geprüft hat. Sie lehnt sich mit dem Rücken gegen einen Baum am Rand des schmalen Waldweges und atmet genussvoll die Luft ein. „Komm, wir wollen eine Weile Sonne atmen.“ Nur unwillig nähere ich mich ihr, tue jedoch nicht, was sie von mir erwartet, lehne mich nicht gegen den Baum, auf den sie hindeutet. „Dein ewiges Stehenbleiben, ich will, dass wir weitergehen.“ Sie gibt nicht auf und versucht mich zu überreden, wie immer. „Warum machst nicht auch du die Augen zu, es ist ein ganz anderes Gefühl, versuch es wenigstens einmal.“ Ich sage ihr, dass ich jetzt gleich anfangen werde im Geiste bis hundert zu zählen, also gut, meinetwegen auch zurück, von hundert bis eins, und dann will ich wirklich gehen, dieses ständige von einem Bein auf das andere Treten, ich habe noch so viele Aufgaben für die Schule zu erledigen, bis morgen. Sie ändert ihre Position nicht, das Gesicht noch immer der herbstlichen, mild liebkosenden Sonne zugewandt, die Augen geschlossen, als wolle sie sich möglichst gut konzentrieren: Einatmen, Ausatmen, Einatmen.

„Etwas hast du doch schon erledigt, auch die Vokabeln hast du schon gelernt, keinen Fehler hast du gemacht, warum willst du es nicht wenigstens ein einziges Mal probieren, weißt du, wie entspannend das ist? Die Sonnenluft.“ Sie pflegt zu sagen, dass die kosmische Energie durch die Luft zu uns komme, nicht mehr allzu feurig, sie verbrenne uns nicht, aber sei noch stark genug, um uns etwas einzuflößen, eine Kraft, uns vom Kosmos gesendet. Sie pflegt zu sagen, dass der Kosmos die Kraft eines seiner Teile mit der Energie eines anderen Teils versorge, damit alle miteinander verbunden seien. Meist unterbreche ich sie an dieser Stelle, mich interessieren die so oft wiederholten Reden über die miteinander verbundenen Teile des Weltalls nicht, nicht einmal die Tatsache, dass auch ich Teil davon bin. Ich widerspreche ihr, für mich sei das allzu abstrakt, es berühre mein konkretes Leben wenig, das seinen Wert eben in seiner Einzigartigkeit habe (ihre Wertevorstellungen sind anders geartet, sie sind gebunden an das innere Gleichgewicht eines Ganzen, das Wesentliche ist für sie die Ganzheit, einheitlich und ewig, viele Jahre werden wir darüber diskutieren).

Aus der Kurve des Schienenstrangs taucht ein Zug auf, fünf nach vier, ich wechsele das Thema. Der Lokomotivführer drosselt die Geschwindigkeit, in einigen Minuten erreicht der Zug den Bahnhof, in der Luft schwingt das Pfeifen der Lokomotive, die Waggons sind von Ruß umhüllt. Endlich rühren wir uns von der Stelle. „Hast du noch etwas anderes mit?“, fragt sie, „heute war es recht interessant, wir könnten noch etwas…“

Der Weg durch den Hof erscheint mir unendlich lang. Wenn das Fenster im Mittelzimmer leuchtet, beruhige ich mich, es sollte alles in Ordnung sein. Wenn der Kronleuchter strahlt, sitzt sie höchstwahrscheinlich am Tisch und schreibt Briefe (oder ihr Tagebuch), oder stopft Strümpfe; wenn nur die kleine Lampe an ist, liegt sie wohl und liest das Buch, das sie von mir erbeten hat („Suche mir aus deinem Bücherschrank etwas Gutes aus, so etwas wie unlängst die Essays über die Zeit und das Altwerden, du weißt ja, was ich am liebsten lese.“), oder sie blättert in einer Zeitschrift, oder in der Zeitung vom Vortag.

Ich schreite durch den Hof und mein Blick heftet sich auf das Fenster, ich sehe es schon von der Straßenbahnhaltestelle aus, manchmal meine ich, dass wohl auch ein Leuchtturm so aussieht – solange ihr Zimmer das Leuchtsignal ausstrahlt, befindet sich hier ein fester Punkt, verlässlich und ausgewogen, der seine Stelle in dieser Welt provisorischer Fluchten, des expandierenden Chaos und der sich vermehrenden Ambivalenzen kennt, eine Festung, die in den letzten Jahren nur noch eine mentale Basis hat, denn der Körper leistet immer weniger Gehorsam – die Galle, die Osteoporose und die Zuckerkrankheit – diese besonders: Der Geist hält sich trotz allem noch immer, wie ein Wunder, jeder, der sie kennt, nennt mit Bewunderung ihren festen Willen, so fest wie der Felsen („Bewahre mir, Herr, das reine Herz und den festen Geist“, flüstert sie halblaut, wenn sie glaubt nicht gehört zu werden, wenn sie nicht bemerkt hat, dass ich ins Zimmer getreten bin).

Ihr ganzes Denken gründet sich auf dem festen Glauben, ihre ganze Weltanschauung, das Leben mit ausgeprägten Konturen, mit dem klar gesteckten Ziel, ein transparentes Leben mit begreiflichen Bindungen zwischen Ursache und Wirkung, klar und gerecht, trotz der vielen Hindernisse und Verluste, ein Leben, dem der Sinn, der Glaube an die Existenz der Sinnhaftigkeit, nicht fehlt. Sollte sie auch manchmal zweifeln, nie gibt sie es zu erkennen, nie vor mir.

Das Aufschließen, ein weiterer unendlicher Prozess. Es ist schon passiert, dass ich die Tür nicht aufmachen konnte, denn sie lag dicht an der Tür, durch den engen Spalt leuchtete das dunkle Grün ihres Morgenmantels, ihr ohnmächtiger Körper war eine unvorstellbare Last. Bilder ähnlicher Situationen, im verängstigten Gedächtnis aufgeschichtet, eins in das andere übergehend, sie wiederholen sich beinahe ununterscheidbar, verschwimmen miteinander, bis auf das eine, das letzte. Nur noch ein kurzer Korridor, die nächste Tür. „Ich bin da“, rufe ich von der Schwelle aus, sie hört immer schlechter, manchmal müssen wir wirklich laut rufen, damit sie uns bemerkt.

Sie liegt aufgedeckt, die Steppdecke abgerutscht auf dem Boden, in ihrer Lage ist etwas Unnatürliches, der Kopf nach oben zurückgeworfen, die Arme neben dem Körper ausgebreitet, rasch kontrolliere ich die Speisen auf dem Tisch, sie hat wieder nichts gegessen, warum hast du wieder nicht gegessen!

Das Essen, der Gegenstand unserer Streitigkeiten, die manchmal in scharfe Konflikte hinüberwachsen, im Grunde ganz banale und doch übermäßig frustrierende, wir streiten im Grunde nur um Banalitäten, zuletzt gestehen wir es uns auch beide ein: „Bitte, iss was, bevor ich weggehe.“

„Nein, nicht jetzt, ich bin nicht hungrig“, sagt sie entschieden.

„Wenigstens dieses kleine Stück Schinken, ich bestehe darauf.“

„Ich habe doch gesagt, ich bin nicht hungrig, ich nehme es mir später.“

„Du wirst schon sehen, wie das endet, wenn du nicht isst“, sage ich mit deutlich erhobener Stimme, „hast du vergessen, wie es neulich war? Wenn du nur wüsstest, wie du mich dadurch quälst!“ Auch sie wird laut: „Warum musst du immer alles schwarz sehen, warum ängstigst du dich stets, woher hast du nur den Pessimismus, du solltest wissen, du erdrückst mich damit, du und deine schwarzen Gedanken, immer wieder nur schwarze Gedanken ...“

Wenn es mir gelingt sie zu Bewusstsein zu bringen, wird sie sich herausreden, dass sie diesmal überhaupt keinen Hunger hatte. Das sagt sie jedes Mal, nicht einmal das kleinste Bedürfnis zu essen hat sie verspürt, es musste wohl sehr schnell kommen, wird sie mich zu überzeugen suchen, dass das Koma diesmal bestimmt von etwas anderem verursacht war, nicht vom Mangel an Essen, vielleicht liegt der Grund im neuen Insulin, oder es kommt davon, dass sie in den letzten Wochen so schlecht schlafen konnte. Ich weiß, sie hat mir von ihrer Schlaflosigkeit berichtet, sie macht wohl die ganze Nacht kein Auge zu, sie zählt angeblich Schafe, eins nach dem anderen, ganz langsam ...

Meine Bewegungen sind mechanisch, Honig im Tee auflösen und ihr reichen, löffelweise, sie wehrt sich, macht den Mund zu, wendet sich ab, ein Teil der Flüssigkeit fließt am Kinn entlang, wie immer, klebrige Flüssigkeit, klebrige Finger, das Kissen muss neu bezogen werden, das Laken hat große nasse Flecken. All das wiederholt sich nun schon zum x-ten Male, ich weiß, dass es etwa eine halbe Stunde dauert, ehe sie ganz zu sich kommt. Es erschreckt mich nicht mehr so stark, wie noch vor einigen Jahren, als es anfing. Ich weiß, was zu tun ist, wie viel Zeit man für das Abwenden der Gefahr braucht, ich habe gelernt, meine Nervosität zu beherrschen und ganz ruhig vorzugehen, ja, sogar Geduld aufzubringen – ich glaube daran, dass es mir jedes Mal gelingen wird, sie zurückzuholen.

Man muss nur rechtzeitig kommen, das ist am wichtigsten, rechtzeitig zu kommen heißt, dass sie nicht länger als drei, vier Stunden allein sein sollte, ein größeres Intervall zwischen zwei Mahlzeiten könnte gefährlich sein. Bei gutem Willen kann das Familienprogramm so zusammengestellt werden, wir, V. und ich, sind schon geübt in der geduldigen Wiederbelebung: Es ist ein Ritual, an das man sich gewöhnen kann, schlimmer ist es in den Nächten, die auf solche Tage folgen, ich kann nicht einschlafen, habe Angst, ihr Rufen zu überhören, ich springe bei jedem kleinsten Geräusch auf, und am nächsten Morgen stehe ich mit einem schmerzenden, unangenehm dumpfen Kopf auf, mit einer unkontrollierbaren Depression.

„Wo bist du“, meldet sie sich endlich nach über einer Stunde (ich verstehe nicht, warum es diesmal so lange dauert, viel länger als sonst).

„Wo bist du, i-c-h s-e-h-e d-i-ch n-i-ch-t!“

Ich beuge mich über sie: „Du musst mich doch sehen, na, schau mich an.“

„Wo bist du“, wiederholt sie starrsinnig, „wa-rum ver-steckst du dich vor mir?“

„Die Augen“, sage ich, „du musst beide Augen aufmachen.“

„Es geht nicht“, antwortet sie.

Ich berühre ihre Lider, schiebe sie leicht nach oben, sie legen starre, nach oben verdrehte Augäpfel frei, erschrocken ziehen sich meine Finger in einem hohen Bogen zurück.

„Ich will dich se-hen und du ver-steckst dich“, in ihrer Stimme schwingt ein zorniger Vorwurf.

Allmählich begreife ich: diesmal handelt es sich nicht um das gewöhnliche Diabetes-Koma, diesmal ist noch etwas Anderes im Spiel, etwas Neues.

Todesangst haucht mich an, ich erinnere mich aus der Kindheit daran…

Der Krankenwagen rumpelt über die holprige Fahrbahn, ich sitze an der Trage und halte ihre Hand, und an jedem Schlagloch, auf das wir stoßen, spüre ich in der Handfläche ein schwaches Zucken ihrer erstarrten Finger.

„Und du ver-steckst dich vor mir“, sagt sie zornig in der Notaufnahme, als ich ihr beim Ausziehen helfe. Im Krankenhaus Kramáre ist kein Bett frei, wieder Krankenwagen, wir werden zum Krankenhaus Krásna Hôrku gefahren.

„Ssaag ihnen, sie sollen mir die Kette abmachen.“

„Was für eine Kette, ich bitte dich, wo denn?“

Sie dreht und wendet sich, ich hätte nicht angenommen, dass sie noch so viel Kraft hat, ich fürchte, dass sie zu Boden fällt und sich verletzt.

„Du weißt es doch genau, von den Armen und Beinen, sie schlafen mir ein.“

Am Abend, gemeinsam mit V., besuche ich sie noch einmal. Sie liegt im Bett, bekleidet mit dem Spitalskittel, sie scheint jetzt etwas ruhiger zu sein, als ob sie vor sich hindämmere, die Augen halb geschlossen, neben dem Bett zwei Infusionsbestecke: „Da hast du ein appetitliches Abendbrot…“ V. klopft an den Ständer und versucht witzig zu sein. Sie kommen gut miteinander aus, all die Jahre hatten sie keinen ernsten Konflikt, nur zuweilen der Erziehung wegen, klassische Differenzen unter den Generationen bezüglich der Vorstellungen davon, was man Kindern erlauben kann und was nicht, was noch als liberale Erziehung durchgeht und was bereits an Verwöhnung grenzt.

Ihr Gesicht verzieht sich zu einem misslungenen Lächeln, erst jetzt bemerke ich, dass die linke Wange nach oben verzogen ist, auch die Augenbraue und der linke Mundwinkel.

„Was hast du gegessen?“, frage ich.

„Mmayonnaise“, antwortet sie, „sehr gute.“

Die junge Krankenschwester, die an der anderen Seite des Bettes steht, schüttelt überrascht den Kopf: „Nein, nur ein bisschen Tee“, flüstert sie, „das Essen mussten wir weglassen, sie hat Probleme mit dem Schlucken, auch der Kehlkopf ist betroffen.“

Mama hört nicht, was die Schwester sagt und nach einer Weile wiederholt sie, „eine seehr gute.“

Beim Weggehen wende ich mich an das junge Mädchen in der weiß-blauen Schwesterntracht: „Glauben Sie, dass sie Kompott essen könnte, selbstverständlich ohne Zucker, sie mag Kompott sehr.“ Sofort werde ich mir dessen bewusst, dass ich nicht direkt mit der Mutter kommuniziere, sondern über sie, ich berate mich mit der Krankenschwester, ob ich Kompott mitbringen soll. Das ist möglicherweise der erste Schritt zur Resignation, ein erster Ausdruck des Sich-Abfindens mit der Unumkehrbarkeit dessen, was geschehen ist. V. hat es auch bemerkt: „Ihr Zustand kann sich ja noch bessern“, sagt er zu mir im Auto bei der Heimfahrt, „bei so festen Wurzeln!“

„Jetzt weißt du aber schon, wo du bist“, frage ich sie am nächsten Tag und schaue prüfend in ihr Gesicht, ob ich keine weiteren Veränderungen entdecke.

„Zu Haause“, sagt sie unsicher, fast wie eine Frage.

Erst nachträglich fällt mir ein, dass es vielleicht besser gewesen wäre, sie in dem Glauben zu lassen.

„In Krásna Hôrka“, sage ich jedoch an jenem Vormittag, „du erinnerst dich sicher an Krásna Hôrka.“ Sie nickt, wieder recht unbestimmt. „Auf der Patrónka, du weißt ja“, setze ich fort, „aus dem Küchenfenster konnten wir die Gebäude oberhalb der Strecke sehen, aber damals war hier ein Altenheim und später ein Kinderheim, oder umgekehrt, ich habe es immer verwechselt, es waren jedoch stets die gleichen Blöcke gelb angestrichener Häuser.“

„Die Pa–tron–ka“, wiederholt sie gehorsam in ihrer neuen, halb stotternden Weise.

Mehr als zwanzig Jahre im grauen, weitläufigen, von zwei Gärten umgebenen Haus, meine ganze Kindheit, meine Jugend, in einem Bereich, den ich mit allen meinen Erlebnissen ausfüllte, mit der Atmosphäre eines Wohnviertels am Stadtrand, es war ein Gelände, das in der von mir erinnerten Gestalt nur noch in meinem Gedächtnis existiert. Manchmal überfallen mich Zweifel, welche meiner Erinnerungen der Wirklichkeit entsprechen und welche Schöpfung meiner Imagination sind: eine Grenze, die man fast nie mit absoluter Sicherheit ziehen kann. „Das Gedächtnis ist nur ein schmaler Pfad durch die weiten Gefilde der Vergangenheit“, schreibt eine gewisse Philosophin aus Manchester, „es ist ein eigenwilliges Zusammenknüpfen von Ereignissen, die sich in Wirklichkeit möglicherweise ganz anders zugetragen haben, zu Bündeln.“

„Erinnerst du dich, wie wir oberhalb der Strecke ´die Sonne einzuatmen´ pflegten“, betrete ich erwartungsvoll ihren schmalen, wohl bereits allzu schmalen Pfad der Erinnerungen – wird sie fähig sein, sich auf etwas zu besinnen, wird sie das Bündel aufknoten können, das Vergangene berühren?

Am Ständer sind wieder zwei Infusionen befestigt, eine davon fast leer, ich muss die Schwester rufen, damit sie ausgewechselt wird. Mutters Gesicht ist ausdruckslos, ohne jegliches Interesse für das, was ich gesagt habe oder sage. Nach einer Weile meldet sie sich jedoch. „Trinken“, sagt sie mit halb geschlossenem, ausgedörrtem, rissigem Mund, „Wasser.“

Ich bin froh, dass ich etwas tun kann, mich bewegen, Aufträge oder Bitten erfüllen, der Starre entfliehen. Vorsichtig versuche ich es mit dem Glas, dann lege ich den kleinen Löffel an ihre Lippen, das Wasser rinnt als kleines Bächlein auf das Kopfkissen, ich befeuchte ihr kleines Handtuch, ihr altes Handtuch von daheim, aus Leinen, das einst, vor langer Zeit, noch in jungen Jahren von ihrer Mutter in Brezno gewoben wurde und das sie bis jetzt am liebsten hat, ich lege ihr wenigstens das auf den trockenen Mund, vielleicht hilft es ein wenig, jedoch immer nur für wenige Sekunden. Sie lächelt schief, die deformierte linke Gesichtshälfte macht ihr Lächeln zu einer Fratze. Vielleicht nimmt sie doch ein bisschen wahr, was ich sage. Auch ich mag die weiche, zarte Struktur des hausgewebten Leinens. Ich stelle mir die Hände vor, die es gewebt haben, auch die Gedanken, von denen die Bewegung des Webstuhls begleitet wurde. Diese Großmutter habe ich nicht gekannt, es blieben von ihr lediglich die Fotos im Fotoalbum, Familienfotos im Stil der damaligen Zeit: eine kleine Frau mit dichtem schwarzem Haar; von drei Kindern umgeben stützt sie sich leicht auf den Arm ihres Mannes. Das Gesicht zeigt ein Lächeln, das von einem nicht zu übersehenden Schatten getrübt ist (zuweilen betrachtete ich mit der Mutter die Fotos: „Damals war sie schon krank, es fehlte nicht mehr viel bis zu ihrem Ende.“)

Ich weiß allzu wenig von ihr, von ihrem Leben, einige Erinnerungssplitter, wie sie und ihr Mann sich durchgeschlagen haben, zuerst in Brezno, dann in Miskolc, wie gern sie über Handarbeiten saß (eine oft erzählte Erinnerung von Mutter: „Solche Stickereien und Tischdecken hatte niemand in der ganzen Umgebung, richtige Kunstwerke.“) Bis heute haben wir ein paar von den Handtüchern, Deckchen und die zwei Fotos, beim flüchtigen Hinsehen austauschbar mit vielen anderen Familienfotos aus dem frühen 20. Jahrhundert, für mich jedoch unendlich wichtig. Woran hat sie wohl gedacht, was hat sich diese Frau, deren Blut auch in mir pulst, vorgestellt bei den Mustern auf den Handtüchern, Decken und Tischdecken? Geblieben sind vergilbte Stickereien und hundert Jahre alte Texte ...

Es war ihr Einfall, mit dem Heft oder Buch in der Hand neben mir zu laufen, am liebsten prüfte sie meine Vokabelkenntnisse, russische oder deutsche Wörter, mit den englischen war es schlimmer, denn sie ärgerte sich über die schwer zu erinnernde Aussprache. Zuerst prüfte sie mich und dann ich sie, sie war sehr stolz, wenn sie sich die Vokabeln richtig eingeprägt hatte, so groß war noch ihre Lust zu lernen!

„Spät ist besser als niemals“, pflegte sie zu sagen, „es ist doch wirklich schade, dass ich früher keine Gelegenheit hatte, weißt du, hätte ich in meiner Jugend nur ein bisschen bessere Bedingungen gehabt ...“

Mir wollte sie die solide Bildung zukommen lassen, die ihr verwehrt war, von welcher sie nur träumen konnte, sie wollte mir um jeden Preis gute Schulen ermöglichen. Ab und zu notierte sie sich Gedanken aus meinen philosophischen Büchern, das war aber erst viel später, sie hatte sich extra ein Heft für diese Zitate angelegt, ein dickes, liniertes, sie legte es beiseite, damit es uns nicht in die Hände fiel. Ich entdeckte es einmal beim Saubermachen, ihre Kommentare zu den einzelnen Sentenzen haben mich überrascht, es handelte sich um mehr als reine Kommentare, es waren ihre eigenen Überlegungen, sie drückten ihr Denken, ihre Einstellung zum Leben aus. Zuerst war ich erstaunt, dann habe ich eingesehen: weshalb sollte nicht auch sie ihre Gedanken aufschreiben? Im Heft wiederholten sich die Sätze, auf welche sie gern zurückkam: über energetische Bindungen, über den Kosmos mit all seinen Organismen, aber auch mit der unbelebten Materie, über das EINE als dem Wesen des Seins als Ganzes, aus welchem seine Bestandteile entstehen, sich von ihm abtrennen und dann wieder zu ihm zurückkehren, ein ewiger Kreislauf des Seins, ein Kreis von unendlich vielen, einander überschneidenden Kreisen, alles, worüber sie so gern sprach, wenn sie sich bemühte, mir den Glauben an die Kraft dieses GANZEN aufzuprägen, den Glauben an das EINE, als der Quelle des Gleichgewichts, der kosmischen Ordnung, der Harmonie, manchmal nannte sie es Gott. Sie wollte mir etwas von ihrem Glauben einflößen.

Wohin bist du gegangen, wo bist du? Die Wiederholung ihrer unlängst gestellten Frage, doch jetzt von mir ausgesprochen – als handele es sich um eine Zauberformel, ein Abrakadabra, mit dessen Hilfe ich mich gegen meine eigene Ratlosigkeit wehren will ... Nichts, was ich in klugen Büchern gelesen habe, gibt mir eine Antwort, wie ich sie brauche.

Es ist geschehen.

Zwei nicht gleichzeitig zu messende Zeiten.

Eine Zeit, in der sie noch hier war, und die Zeit ohne sie.

Die letzte Zwischenzeit: zusammenfließende Tage, die sich durch nichts Wesentliches voneinander unterscheiden, Abende, Nächte, die Nächte wohl am schwersten zu ertragen, voller Angst, zwar bislang keiner konkreten, doch Befürchtungen, wie es ihr wohl gehe, ob sie nicht gerade in diesem Moment etwas benötigt, ob sie mich nicht ruft, in diesem sonnigen Dreibettzimmer in Krásna Hôrka, in diesem geräumigen Zimmer, in dem sie nun allein liegt, die beiden anderen Patientinnen hatten nach ihrer Einlieferung gebeten, in ein anderes Zimmer verlegt zu werden. Das hat mich getroffen, obwohl ich mich um Verständnis für sie bemüht habe. Ich begegnete den beiden jungen Frauen auf dem Flur, wir grüßten einander, ich fragte sie, ob das nötig gewesen sei. Ja, doch, leider – das ständige krampfartige Erbrechen, der rasselnde Atem, die vom alten, inkontinenten Körper ausgehenden üblen Gerüche – ich müsse Verständnis haben. Ich verstehe, aber es verletzt mich dennoch.

Suche nach einem Territorium, wo sie sich befinden könnte, Vorstellungen von einer Art Sonderraum, eines besonderen Raums. Ich bemühe mich loszukommen von den Bildern, die man mir seit frühester Kindheit eingeredet hat. Ich würde gern etwas Absolutes über diesen Raum wissen, etwas, was nicht bedingt ist durch eine konkrete Kultur, bin mir allerdings der Absurdität dieses Wollens bewusst: Nicht nur der Tod, auch der Nachtod-Raum wahrt seine Unbestimmtheit.

Es ist geschehen – eine Woche vor Ostermontag.

Einige Tage zuvor hatte sie sich besser gefühlt, ein paar Mal hatte sie sogar mit uns am Tisch gegessen. Am Mittwoch und am Donnerstag hatte sie sich Strümpfe zum Stopfen ausgebeten, sie machte sich gleich an die Arbeit, auch das Garn hat sie selbst ausgewählt. Nach kurzer Weile kam Z. zu mir in die Küche, in der anklagenden Hand wies sie ihre weißen Frottee-Socken (ein Marken-Artikel!) mit großem, dunkelblau-grünen Gitter vor. Sie sagte nichts, suchte aber sofort ihre anderen Socken aus dem Beutel und legte sie weg. Da lässt sich wohl nichts mehr machen, bemerkte sie auf der Küchenschwelle, und ich konnte nur wortlos nicken.

Zerrissene Strümpfe, Socken, Unterwäsche – das war in den letzten Jahren Mutters Beschäftigung gewesen, sie klammerte sich an diese Arbeit, das war das Seil, mit dem sie sich am Leben verankerte. Als ich sie immer öfter aus dem Koma wecken musste, erbat sie jedes Mal, sobald ihre Augen sich geöffnet und mich erkannt hatten: „Gib mir ein Paar Socken“. Im Bett halb sitzend, halb liegend nahm sie Nadel und Faden zur Hand – die Symbole ihrer Rückkehr zum Leben, entsprechend ihrer Lebensauffassung – der Philosophie des Tätigseins, der Nutzung der Zeit zu kluger und nützlicher Arbeit. Das war ihr wichtigster Imperativ, den sie auch mir einzupflanzen bemüht war: jede Minute vertaner Zeit ist eine Sünde, eine Sünde vor allem gegen sich selbst. Sicherlich dachte sie dabei an die verlorenen Jahre, die vier Jahre nach der Rückkehr aus Miskolc, als sie der Schule fernbleiben und für Vater und Bruder den Haushalt führen musste. Diesen Verlust hatten die Umstände verschuldet, aber ich weiß, wie sehr sie das bedauerte.

„Mir fehlen diese Jahre sehr, man kann sie nie aufholen“, pflegte sie zu sagen.

Notizen, wieder Aufzeichnungen, ich muss mir den Tod von der Seele schreiben, wie ich es sonst mit dem Leben tue…