Über Stille, Langsamkeit und andere Werte - Etela Farkašová - E-Book

Über Stille, Langsamkeit und andere Werte E-Book

Etela Farkašová

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Beschreibung

Etela Farkašová kehrt in ihrem neuesten Essay zum Phänomen der Stille und des Leiserwerdens sowie der Langsamkeit und Entschleunigung als partielle Kriterien zur Neubeurteilung der Lebensweise in einer lärmerfüllten, hektischen Nonstop-Gesellschaft zurück. Der Titel deutet an, dass es die Absicht der Autorin ist, die Vorstellungen über die Richtigkeit des gegenwärtigen Entwicklungstrends unserer Zivilisation, die vom Prinzip eines grenzenlosen Wachstums getragen wird, zu hinterfragen. Das emotionale Engagement, mit der die Autorin die genannten Themen behandelt, überschneidet sich mit der rationalen Argumentation, durch die sich auch die übrigen Essays der Farkašová auszeichnen. Die Schriftstellerin stützt sich in ihren Betrachtungen auf die Ideen vieler herausragender Persönlichkeiten aus Philosophie, Literatur und anderen speziellen Wissensgebieten.

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Etela Farkašová

Über Stille, Langsamkeit und andere Werte

Ein Essay über die Zeit, in der wir leben, und darüber, wie wir sie leben

AusdemSlovakischenübersetztvonChristelSpalnik

LiterkiVerlag

 

Über Langsamkeit

Ein entschleunigter, leiserer Planet – was für ein schöner Ausdruck, sagt sich G. voller Ergriffenheit, so einen schönen hat sie lange nicht gehört. Die Hauptfigur der Prosa Die Rettung der Welt nach G. war in einem wissenschaftlichen Artikel darauf gestoßen, dass das Herunterfahren der menschlichen Aktivitäten wegen der Pandemie bereits nach wenigen Monaten einen Rückgang von seismischem Lärm und schädlichen Emissionen zur Folge hatte, es war zu einer Verringerung des Lärms und zu einer Verlangsamung gekommen, und zwar nicht nur in ihrer Straße, in ihrer Stadt, in ihrem Land, nein, überall. Die ganze Erdkugel war leiser geworden: wirklich, ein wunderschöner Begriff …

Es würde also genügen, die menschlichen Aktivitäten zu reduzieren, und unser Planet könnte sich langsam erholen, denkt G. In die Aktivitäten sind auch einzurechnen die Gesamtmobilität, der Tourismus, die Warentransporte – trotz der globalisierten Wirtschaft müssten die Warenströme nicht kreuz und quer über den Globus führen, Transporte ungeheuren Ausmaßes ließen sich bei gutem Willen vermeiden, und das betrifft auch viele andere, nur scheinbar unerlässliche Aktivitäten …

Das mag absurd klingen, oder zumindest provokativ: Soll etwa die Verringerung der Aktivitäten zum neuen Programm unserer Zivilisation werden, die doch durchdrungen ist von der Idee der Tat, des Handelns, des Fortschritts und – selbstverständlich – des Wachstums, zwar eines nachhaltigen, aber doch zweifellos ewigen Wachstums. Ist etwa die von der industriellen Revolution und vom Faustschen Ideal der Schaffenskraft hervorgerufene Euphorie falsch und führt uns auf Abwege?

G., obwohl von einigen psychiatrischen Diagnosen gezeichnet, spürt wohl mehr als sie es weiß, dass die Welt aus dem Lot geraten ist, dass sie krankt, und dass es höchste Zeit ist, etwas zu ihrer Rettung zu tun. Man muss etwas unternehmen gegen den sich ständig beschleunigenden Lauf, gegen das wachsenden Gedröhn und Lärm, der diesen Lauf begleitet, möglicherweise auch stimuliert. Einschränken sollte man die Unersättlichkeit der Welt! G. ist überzeugt, dass gerade das die Schritte sind, die in ihrem Megaprojekt nicht fehlen sollten. Denn sie arbeitet an einem Megaprojekt zur Rettung der Welt, zumindest zur Korrektur der wichtigsten Gebrechen …

 

*

 

Als ich die letzten Seiten der Rettung der Welt vollendet hatte, war mir bereits klar, dass mein Geist ebenso wie der meiner Hauptfigur sich unter dem Einfluss der sich rapide verschlechternden ökologischen Lage so stark den erwähnten Problemen zugewandt hatte, dass sie zu denjenigen Themen werden würden, die mich in der Folgezeit wieder an den Computer locken würden, ich werde wohl beharrlich Tag für Tag auf sie zurückkommen: vielleicht gelingt es mir, etwas mehr zu ihnen zu sagen, als in den Essays zu finden ist, die bereits vor mehr als einem Jahrzehnt geschrieben wurden.

Wir leben in Zeiten, die sich unter anderem charakterisieren lassen als (fast) eindimensional orientiert auf den materiellen Wohlstand, gemessen als Verhältnis von (vor allem) ökonomischen Gewinnen und Verlusten, charakterisiert aber auch von Beschleunigung (allgemeiner Dynamisierung) und von der hiermit zusammenhängenden Verunsicherung. Uns kennzeichnet der Zerfall der alten und das Fehlen neuer Werte, das Hinzukommen mehrerer fataler Risiken. Man kann voller Berechtigung mit dem bedeutenden deutschen Soziologen Ulrich Beck von einer Risikogesellschaft sprechen, die durch das von ihr selbst Produzierte in ihrem Überleben gefährdet ist. Infolgedessen kann man auch von einer Zeit der Desillusionierung sprechen, doch auch von einer Zeit der Suche nach neuen Alternativen, neuen Hoffnungen.

Es zeigt sich, dass man sich bei der Lösung aktueller Probleme nicht mehr allein auf die Wissenschaft stützen kann, auf die sich die Menschheit insbesondere seit der Epoche der Aufklärung verlassen, der sie fast uneingeschränkt vertraut hatte, und es genügen auch nicht ausgereifte Technik und hochentwickelte Technologien. Angstvoll stellen wir uns die Frage, ob wir noch etwas tun können, um unsere Zivilisation vor dem drohenden Niedergang zu bewahren, was ist zu tun, um der kritischen Gefährdung der Natur – also auch der Kultur und der menschlichen Existenz – entgegenzutreten?

Und auch wenn es eine wenigstens teilweise zutreffende Antwort auf diese Frage gäbe, bliebe noch eine andere, nicht weniger wichtige: wie kann man erreichen, dass diese Möglichkeit im praktischen Leben verwirklicht wird? Dazu müsste sich die Mehrheit der Weltbevölkerung zu dieser Lösung bekennen und sie verinnerlichen, nur so könnten Wandlungen auch durchgesetzt werden …

 

*

 

Als die Protagonistin G. der Rettung der Welt in der prestigeträchtigen wissenschaftlichen Zeitschrift Science liest, dass sich eine gewisse Hoffnung abzeichnet, signalisiert durch seismografische Messungen, Emissionsmessungen in der Atmosphäre, Analysen toxischer Stoffe im Wasser und andere, ist sie von der Vorstellung einer möglichen Besserung begeistert.

 

Also stiller und langsamer…

Stille und Langsamkeit…

Diesen beiden Phänomenen wird in unserer dynamischen, hektischen Zeit noch immer zu wenig Aufmerksamkeit gewidmet, obwohl in fachlichen und öffentlichen Diskussionen allmählich Initiativen auftauchen, die auf eine wesentliche Änderung des auf diese Erscheinungen gerichteten Blickwinkels zielen. Beide werden zunehmend als etwas wahrgenommen, was durch die superschnelle Gesellschaft und deren Kultur der Geschwindigkeit gefährdet ist: etwas, was aus dem Leben schwindet und im Leben immer mehr als Voraussetzung für dessen Verbesserung fehlt.

Im tagtäglichen Gerenne, von Pflichten überschüttet, denken wir wahrscheinlich gar nicht über das Langsamer- und Ruhigerwerden als Werten nach, im Gegenteil, wir würden ihnen wohl unter dem Einfluss der dominierenden Ideale eher negative Konnotationen zuschreiben. Vielleicht spüren wir intuitiv, dass wir uns irren, vielleicht räumen wir diesen Irrtum von Zeit zu Zeit ein, es keimt bei uns der Verdacht auf, dass die Optik, durch die wir die Welt betrachten, verzerrt ist. Daran sollte man wohl etwas ändern, aber die Imperative der modernen Gesellschaft sind allgegenwärtig, sie dringen bis in unsere privaten Räume vor, in unser Denken …

Dennoch beginnen wir allmählich, uns kleine Oasen der Langsamkeit und Stille zu schaffen, denn wir werden uns bewusst, dass diese beiden Erscheinungen schützenswert sind.

 

**

 

Über Stille – ein historischer Rückblick

In den einzelnen Entwicklungsetappen der menschlichen Zivilisation und in deren Rahmen in den einzelnen Kulturen hat die Stille stets unterschiedliche Positionen eingenommen, die Haltung der Menschen ihr gegenüber war unterschiedlich, ich denke sogar, dass diese unterschiedliche Haltung gegenüber der Stille zur Charakterisierung der einzelnen Kulturen und der betreffenden Gesellschaft, ihrer Werteorientierung, dienen könnte. Etwas vereinfacht könnte man sagen, dass es der Stille lange Zeit gelungen ist, mit mehr oder weniger lauten Geräuschen, ja sogar mit Lärm, der ebenso wie die Stille im menschlichen Leben eine gewisse Funktion erfüllt, im Gleichgewicht zu bleiben. In der vorindustriellen Gesellschaft koexistierte die Stille harmonisch mit natürlichen Lauten, die in der Regel eine angenehme und ruhige Kulisse vor allem des ruralen Alltags bildeten (das Rauschen der Bäche, des Regens, Vogelgesang, Glockengeläut, Lautäußerungen des Viehs …), mit der industriellen Revolution und der mit ihr einhergehenden Urbanisierung änderte sich die Lage wesentlich: zur Kulisse wurden jetzt die Geräusche der Maschinen und Verkehrsmittel, die zum unerlässlichen Bestandteil vieler Arbeitsprozesse wurden.

Allmählich – mit dem Antreten der modernen Gesellschaft – kippt die traditionelle Ausgewogenheit, auf die Szene tritt das organisierte und von den Medien verbreitete Geräusch, das nicht selten Lärm zu nennen ist. Als müsse dieser Lärm von der Lebensfähigkeit der Gesellschaft zeugen, als würde sich deren positives energetisches Potential hauptsächlich durch Geräusche äußern. In der schnellen, ja superschnellen Gesellschaft steigert sich das Geräusch und dringt in viele Lebenssphären in einem Maße ein, das sich einer kritischen Grenze nähert, deren Überschreiten dem Menschen nicht mehr angemessen wäre, seiner psychosomatischen Ausstattung nicht mehr gerecht würde. Einhergehend mit der gesteigerten Geschwindigkeit würde ein dem Menschen angemessenes und von ihm ertragbares Maß überschritten.

Viele Sphären des Lebens sind von der Geräuschüberflutung betroffen, die destruktiv, deprimierend wirkt, der Mensch ist ihrem Diktat unterworfen, sodass wir von der Gegenwartsgesellschaft als einer Diktatur des Lärms sprechen können. Das ist ein treffender Begriff, den der guineische Kardinal Robert Sarah, später hoher Funktionär im Vatikan, in seinem Buch Die Kraft der Stille. Gegen die Diktatur des Lärms verwendet. Es wurde in Form eines Gesprächs mit dem französischen Journalisten und Essayisten Nicola Diat geschrieben und thematisiert das Phänomen der Stille vor allem in theologischen Zusammenhängen. Mit dem Titel erregte es meine Aufmerksamkeit, und dann, während des Lesens, fesselten mich einige Gedanken, die auch in den säkularen Sphären des Lebens von Gültigkeit sind. Der Autor kritisiert den Lärm und die lärmende Gesellschaft, die die Stille systematisch liquidiert: Das ist eine Gesellschaft, die nicht schweigen kann, und die einen ständigen, nie endenden Monolog führt. Das ist eine Gesellschaft, in der die Stille ihre Rechte verloren hat und vor unseren Augen stirbt.

Der Autor entwickelt zugleich Ideen von der Notwenigkeit der Stille als einem Mittel, das zur Vertiefung des geistigen Lebens beiträgt. Die Menschheit muss sich gegen die Diktatur des Lärms auflehnen, sagt R. Sarah, und muss den Wert der Stille neu erkennen, ihr die Bedeutung zurückgeben, die ihr traditionell eigen war.

So, wie der Lärm negativ in unsere persönliche Integrität eingreift, so wirkt analog die Beschleunigung, die Jagd nach gewinnbringender Leistung, sodass die Gesellschaft, in der wir jetzt, zu Beginn des 21. Jahrhunderts leben, nicht nur als laut, als lärmüberflutet charakterisiert werden muss, sondern auch als überaus dynamisch, sich ständig akzelerierend und infolgedessen für den Menschen und sein hochwertiges Erleben abträglich. Unter den genannten Merkmalen existiert, wie sich erwiesen hat, eine tiefe Verknüpfung, das ungesunde Beschleunigen und der akustische Smog bedingen und verstärken einander.

In der Geschichte wandelte sich nicht nur die soziale Bedeutung der Stille und die Haltung zu ihr, sondern auch die Position und Bedeutung der Geschwindigkeit für die gegebene Gesellschaft und ebenso die wertende Haltung zu ihr. Natürlich hat die Geschwindigkeit als physikalische Größe immer existiert, aber die Zivilisation, in der die Geschwindigkeit zu einem grundlegenden Prinzip geworden ist, keimte erst mit dem Einsetzen der industriellen Revolution und dem sich entfaltenden Kapitalismus auf – bis dahin wurde ihr, mit Ausnahme einiger weniger Tätigkeiten, nicht so große Bedeutung beigemessen. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, und noch mehr in unserem Jahrhundert, hat sie sich als allgegenwärtiges Organisationsprinzip durchgesetzt, so dass wir heute von der superschnellen Gesellschaft sprechen, welche jede Unterbrechung, Halt oder Pause in ihrem schnellen Lauf nach möglichst höchsten Gewinnen ablehnt. Man könnte berechtigterweise in Anlehnung an die Wortwahl in R. Sarahs Kraft der Stille von der nicht weniger schädlichen Diktatur der Geschwindigkeit sprechen.

 

*

 

Die Stille, der Anspruch auf Stille, auf den stummen Blick oder Einblick (ins eigene Innere, in die ablaufenden Ereignisse, in die Beziehungen usw.), auf Innehalten, zur Ruhe kommen, auf grübelnde Selbsterkenntnis und Betrachtung liegt heute meist außerhalb des Horizonts der Alltäglichkeit wie etwas Unnützes, Hinderliches: In der schnellen Gesellschaft bleibt kein Platz für die Pflege des Geistes nach Sokrates, und oft nicht einmal für die Pflege des Körpers, soweit wir ihn nicht als Arbeitsinstrument ansehen.Wir sind so stark vom tauben Gestein der sich vordrängenden Geräusche überschüttet, das sich in uns die Vorstellung von der Normalität dieser Welt einnistet: einer Welt, die extrem beschleunigt und lärmüberflutet ist, es wurzelt sich in uns sogar Angst vor Verlangsamung als einer Störung ein, denn diese empfinden wir als Leere, die möglichst rasch mit irgendwas gefüllt werden muss.

Die vervielfältigten Töne und Geräusche breiten sich aggressiv im öffentlichen Raum aus, oft entkommen wir ihnen nicht (wollen oder können es nicht), nicht einmal in intimen Sphären. Plötzliches Verstummen würde in uns den Verdacht aufkeimen lassen, es sei mit unserem Leben etwas nicht in Ordnung, wir würden es nicht in Fülle und ausreichend intensiv durchleben.

Wir sind der Illusion verfallen, dass laute Geräusche unserem Leben Inhalt verleihen, dass sie von Gegenwärtigkeit zeugen (aber von wessen Gegenwärtigkeit geben sie Bericht: von der Gegenwart von Sinn oder Sein, von denen die Philosophen geschrieben haben, oder nur vom Vorhandensein derer Attrappen und falschen Imitationen?

 

*

 

Auf Straßen, in Verkehrsmitteln, in Geschäften – ganz zu schweigen von den Medien – überall wird zu uns gesprochen, werden wir von Worten und Versprechen zugeschüttet, und erst, wenn wir beginnen, aufmerksam zuzuhören, erkennen wir, dass der Sprechende nicht zu uns als konkreten einzigartigen Wesen mit konkreten Bedürfnissen und Interessen spricht, sondern lediglich zu anonymen, gegenseitig austauschbaren Einheiten – zu aktuellen oder potentiellen Käufern, Kunden, Konsumenten, Wählern …

Die Konsumgesellschaft käme schwerlich aus ohne den Schwall von tönenden oder nicht tönenden (Billboards, Werbungen, Plakate) Ansprachen, denen wir auf den Leim gehen sollen. Im raffiniert organisierten Lärm zerschmilzt unsere Eigenart, unsere Intimität, und wir verwandeln uns – ohne dass es uns bewusst wird – zu einer betäubten (sich sogar freiwillig betäubenden) nivellierten Masse, in welcher sich unsere verdeckten, aufgelösten individuellen Differenzierungen, Besonderheiten und Einzigartigkeiten zusammendrängen.

 

*

 

Die alltägliche Erfahrung bestätigt uns die paradoxe Feststellung, dass wir, obwohl wir spüren, wie die Welt uns mit übermäßigem Lärmsmog attackiert, der für unsere Psyche eine Belastung darstellt, dennoch Lärm brauchen, Lärm ist für uns ein neues Betäubungsmittel geworden, wir sind an ihn gewöhnt, berauschen uns an ihm, wir betäuben unsere Gedanken und Gefühle, vor allem die negativen. In einem sehr ähnlichen Sinn äußert sich R. Sarah über unsere Abhängigkeit vom Lärm: wir sind derart an die ständige Anwesenheit der Lärmkulisse gewöhnt, dass sich unser, sobald der Lärm aufhört, eine taube und quälende Ohnmacht bemächtigt, wir werden unsicher und fühlen uns verloren. Es entsteht eine paradoxe Situation: beunruhigt und verunsichert vom Lärm, beginnen wir ihn im Moment seines Verstummens erneut aufzusuchen, denn wir unterliegen der Illusion, dass er uns mehr Sicherheit bietet als die Stille, einen größeren Schutz …

Die vielfältigen expansiven Ton- und Geräuschballungen werden zur nicht wegzudenkenden Kulisse des Lebens, mit wechselnder Intensität und Klangfarbe. Für die verschiedenen Gestalten der Stille bleibt immer weniger Raum, und es fehlt ein Raum, in dem es im Alltagsleben des Einzelnen und der Gesellschaft zu einer zielstrebigen, sozusagen programmatischen Wertschätzung der Stille käme, zur Hervorhebung ihrer Bedeutung. Die andere, ruhige Welt kann scheinbar nur noch in die Vergangenheit, in den Traum, in unsere Vorstellungen und Wünsche verortet werden.

Eine nicht gerade schmeichelhafte Charakteristik unserer Zeit ist, dass die Stille, ähnlich wie die Langsamkeit oder die fehlende Eile, völlig zu Unrecht als Äquivalent gesehen wird für eine abgetötete und abtötende Leere, eine unbestimmt erlebnislose, deprimierende Entleerung, für Fadesse, Langeweile als Begriff für das Fehlen von Bedeutungen, ja sogar als Ausdruck von Passivität, Resignation bis hin zum Versagen.     

*

 

Eine der Gestalten der Stille ist das Schweigen, in den einzelnen Kulturen nimmt es unterschiedliche Bedeutungen an, und zwar im individuellen wie auch im gesellschaftlichen Leben. In Alltagssituationen begegnen wir ihm relativ oft: es kann zusammenhängen mit Schüchternheit, Verlegenheit, Angst, mit Befürchtungen bezüglich dessen, was einem bevorsteht, aber es kann auch mit freudigen Erwartungen oder geweckten Vorahnungen verbunden sein, auch mit riesigen Überraschungen, mit Verwunderung, Bezauberung, die uns die Worte raubt …

Aber es kann auch die Form einer beruhigenden Meditation oder schöpferischen Konzentration haben – die innere Betrachtung, das imaginäre Einatmen vor dem Schreiben der ersten Note, des ersten Satzes, vor dem ersten Pinselstrich. Es kommt auch vor als Pause im Gespräch oder Absatz im Text – es bietet Raum für das Erkennen mehrerer Interpretationsmöglichkeiten oder für das Entfalten und Vollenden angedeuteter Motive …

In der lärmüberfluteten superschnellen Gesellschaft pflegt das Schweigen negative Konnotationen zu haben: wenn jemand schweigt, wird das meist so ausgelegt, als habe er nichts zu sagen, und wenn jemand nichts zu sagen hat (wenn er nicht bestrebt ist Raum für sich zu erobern), verringert dies in den Augen vieler Menschen sein gesellschaftliches Prestige, seine Wichtigkeit, Autorität oder zumindest seine Popularität. Und ähnlich wie schweigende Individuen rufen auch langsamere Zweifel hervor: lehnt es jemand ab, durch das Leben zu hasten, und schreitet stattdessen ohne Eile, so wird das als Faulheit, Schwerfälligkeit, Unfähigkeit angesehen.    

Die gegenwärtige superschnelle Nonstop-Gesellschaft wird von einem ungeschriebenen Imperativ beherrscht: nicht nur möglichst viel Waren, Dienstleistungen, Entertainments und andere Lockmittel zu produzieren, sondern auch möglichst viele Worte, Töne und Geräusche, als würden diese zum Lebenszeugnis, sowie zum Hauptkriterium für die Fülle und Qualität des Lebens.

Wir haben uns also auf ein Spiel eingelassen, in dem wir von uns hören lassen müssen, und zwar möglichst oft und möglichst lautstark, wie es der französische Philosoph Pierre Bourdieu bemerkt, in der Gegenwart erstarkt das Berkeleysche Esse est percipi (Sein heißt wahrgenommen werden), denn wer nicht wahrgenommen wird (visuell, akustisch – vor allem über die Medien), existiert sozusagen nicht.

Die Person, die nicht von sich hören lässt, verschwindet aus dem gesellschaftlich bedeutenden Raum, sie selbst verliert an Bedeutung, es wird ihr ein nurmehr geringerer Wert zugeschrieben. Das beharrliche, nicht selten aufdringliche Zurschaustellen und Vonsichhörenlassen schafft Voraussetzungen dafür, dass der Mensch (die Sache, die Ware, der Raum …)gesellschaftliches Interesse bzw. Aufmerksamkeit erweckt, seinen „Wert“ steigert. Es wuchert die Produktion von „Zelebritäten“, ja, sogar „Persönlichkeiten“, die nicht selten nur das taube Gestein in einer auch ohne dies mit Müll zugeschütteten Welt vermehren.

Stille oder zur Ruhe kommen gilt darin als der Beachtung nicht würdig, als unbedeutend, obwohl – wie viele Philosophen und Künstler betonen – sie nicht mit unfruchtbarer Leere zu verwechseln sind, nicht mit dem, was keinen Wert hat, denn das Gegenteil ist der Fall. Beides – die Stille und das Stillerwerden – sind für sich allein wertschaffend. In diesem Sinne äußert sich auch Robert Sarah, wenn er den Gegenwartsmenschen zur Bewahrung von Stille aufruft und anmerkt, dass die Stille weder ein Merkmal der Niederlage noch eine Form der Passivität ist, sondern die Stille – so betont er – heißt Aktivität, nicht Zeitvergeudung.

Das Wesen der Stille wurde von Paul Valéry erfasst, für den dieses Phänomen kein taubes, unfruchtbares Nichts ist, sondern im Gegenteil etwas, was mit Hoffnungen gefüllt, was voller Erwartungen ist. Der Dichter meint, die Stille richte ihren Blick in die Zukunft, auf deren Möglichkeiten und Hoffnungen auf (Selbst-)Erfüllung, und wenn nichts anderes, so ist auch dies ein Grund, weshalb die Stille für unser Leben unerlässlich ist.Auch der deutsch-italienische Philosoph Romano Guardini bemerkt: Die großen Dinge reifen in der Stille. Nicht im Lärm …Und dann fügt er hinzu, dass die Macht der Stille tatsächlich eine große Kraft ist …

Ich erinnere mich, wie Milan Rufus im Nachwort zu den Gedichten von Mascha Halamová (zwar in einem etwas anderem Zusammenhang) bemerkte, dass die Wahl zwischen dem Schweigen und dem Wort, wenn sie zugunsten des Schweigens ausfällt, nicht immer das Ergebnis von fehlendem Geist sei. Rufus ging von seinen Erwägungen über das langjährige Schweigen der Dichterin zur metaphysischen Aufwertung der Stille über, nämlich: Am Anfang war nicht das Wort, denn das stumme Element brauchte Milliarden Jahre, ehe es den ersten unartikulierten Laut von sich gab, und er fügt hinzu: Am Anfang war die Stille des Geheimnisses. 

*

 

Auch in der Vergangenheit erhoben sich kritische Stimmen, die auf das destruktive Wirken allzu lauter Geräusche hinwiesen, es ist kein Zufall, dass diese Stimmen vor allem von Philosophen und Künstlern ausgingen, von Personen also, für die die Reflexion des menschlichen Lebens, seines Inhalts und seiner Orientierung, also die Selbstreflexion, das tägliche Brot ist.

Der bedeutende Mathematiker, Physiker und Religionsphilosoph Blaise Pascal brachte in seinen berühmten Gedanken die Meinung zum Ausdruck, dass Lärm der Konzentration und Reflexion schade, ja, er würde den Geist gar erschlagen … Und dabei müsse es sich nicht einmal um starken Lärm handeln, fügt der Denker aus Clermont-Ferrand hinzu, auch schwache Geräusche könnten auf schöpferische Tätigkeiten aller Art störend wirken …

Der Lärm, der bei weitem nicht so intensiv und aufdringlich war wie wir ihn heute erleben, beunruhigte zum Beispiel auch den deutschen Philosophen des 19. Jahrhunderts, Arthur Schopenhauer, der diesem Thema als einem Phänomen besondere Aufmerksamkeit widmete, als einer die Persönlichkeit beeinträchtigenden, sie abstumpfenden Erscheinung. Für den Philosophen war die Stille dermaßen wichtig, dass er die Haltung zum Lärm zu einem Kriterium zur Beurteilung von Menschen erhob, seiner Meinung nach können hervorragende Köpfe und geistvolle Menschen keinen Lärm vertragen, denn dieser würde den Strom ihrer Gedanken stören, ihr Denken lahmlegen. Einfache Leute charakterisiert Schopenhauer als solche, die den Lärm unbeachtet lassen, ja, er spricht von einer stoischen Gleichgültigkeit einfacher Köpfe gegenüber lauten Geräuschen.

In der Schrift Die Welt als Wille und Vorstellung drückt er seine Überzeugung aus, dass zwischen der Fähigkeit, Lärm zu ertragen, und der gedanklichen Tiefe bzw. der ästhetischen Sensibilität eine indirekte Proportionalität bestehe: das Quantum Lärm, das von einem Individuum ohne Schwierigkeiten ertragen werden kann, stehe indirekt proportional zu dessen geistigen Fähigkeiten, also könne man von der Lärmsensibilität eines Menschen Rückschlüsse ziehen auf seine geistigen Fähigkeiten …

Schopenhauer führt zur Bestätigung seiner Überzeugung Immanuel Kant, Johann Wolfgang Goethe, Jean Paul und Georg Christoph Lichtenberg als Beispiele von Persönlichkeiten an, die gegenüber dem unterschiedlichsten Lärm äußerst empfindlich waren, keine Geräusche und durchdringenden Laute ertragen konnten. Aus Kants Biographien wissen wir, dass der Philosoph, lebenslang Bürger von Königsberg (heute Kaliningrad), seinen eigenen Gewohnheiten die Treue hielt – seinen Tagesablauf unterwarf er einem rigiden Stundenplan, und er war bereit, seine Wohnung zu wechseln, wenn er in ihr nicht mehr die für sein ruhiges und konzentriertes Denken erforderliche Stille fand.

Es mag geradezu wie eine Anekdote klingen, dass Kant jedweden lauten Ton als störend empfand – ob es nun das Krähen eines Hahns auf dem benachbarten Hof oder der aus dem nahe gelegenen Gefängnis herüberklingende Gesang der Häftlinge war. Die eigene Erfahrung sagte ihm, dass ein ernstes und tiefes Nachdenken über philosophische Fragen ungestörte Stille erfordert, dass nur in der Stille neue, schwerwiegende Ideen geboren werden …

 

*

 

Eine ähnliche Haltung findet sich auch bei einem anderen deutschen Philosophen, bei Friedrich Nietzsche, der legt seinem Zarathustra Ideen in den Mund, aus denen wir eine extreme Abneigung gegenüber Lärm, schrillen Geräuschen und lauter Betriebsamkeit herausfühlen. Wo die Einsamkeit aufhört, da beginnt der Markt, sagt der Philosoph, und wo der Markt beginnt, da beginnt auch der Lärm der großen Schauspieler und das Geschwirr der giftigen Fliegen. Lärm verbindet sich für Zarathustra mit den kleinen Dingen des Marktes, mit dem störenden Gesumm aufdringlicher Fliegen, also mit allem, was ein ruhiges Vertiefen in wichtige Dinge verhindert, der Innenschau in der Einsamkeit der Berge, der inspirativen Stille im Wege steht.

Zarathustra bringt viele philosophische Ideen über das destruktive Wirken des Lärms zum Ausdruck. Lärm ist bei ihm mit einem urbanen, dem geistigen Schaffen hinderlichen Milieu verbunden, im Gegensatz dazu steht bei ihm die Umgebung in den Bergen, das stille, den Geist befreiende Alleinsein in der Natur.

Seine philosophisch-literarische Schrift Also sprach Zarathustra können wir als Anklage der lärmenden Kleinheit, Bedeutungslosigkeit lesen, und zugleich als Apotheose der Stille – als einer für das ruhige, konzentrierte Denken günstigen Bedingung. Und in der Fröhlichen Wissenschaft, einem Buch voller Aphorismen und kürzerer Betrachtungen, äußert sich der Philosoph über die Zeit, in der er lebte, als einer Zeit der Betäubung, und seiner Meinung nach gilt in so einer Zeit: lieber taub als betäubt. Das sind, wie er schreibt, schwere Zeiten vor allem für Denker, denn sie müssen lernen, die Stille zwischen den Geräuschen zu finden …

Im 20. Jahrhundert stoßen wir beim bereits erwähnten Dichter und Philosophen Paul Valéry auf analoge Gedanken, er sagt in den Bösen Gedanken, dass einfühlsame Wesen keine mächtige Stimme haben, solche Wesen sprechen nicht lauthals, und vor allem von Dingen, die sie zutiefst bewegen, sprechen sie mit gedämpfter Stimme, denn wie Valéry bemerkt, gibt es eine auditive Keuschheit, die in der Einhaltung einer bestimmten Laustärke beruht.

In unserer Zeit wird die auditive oder wie auch immer geartete Keuschheit laut Valéry nicht als etwas Lobenswertes angesehen, im Gegenteil, für die wuchernde Boulevard-Kultur stellt sie ein Hindernis bei dem Erreichen ihrer Ziele dar.

 

*

 

Mit Hilfe von Lärm kann man nicht nur die Sensibilität des Menschen messen oder zumindest schätzen, wie Schopenhauer behauptet, sondern man kann damit auch seine ästhetische und anderweitige Sensibilität untergraben, und das gilt für das Einzelwesen wie auch für die kleinere oder größere Gemeinschaft, sowie für die ganze Gesellschaft, man kann sie mit Lärm zu einer intellektuellen und allgemeinen geistigen Entleerung bringen, und somit günstige Bedingungen schaffen für Manipulationen verschiedenster Art.

Nach Ansicht des Schöpfers der analytischen Psychologie Carl Gustav Jung ist für den Menschen der heutigen lärmenden Gesellschaft eine infantile, viel zu starke Abhängigkeit von der Außenwelt charakteristisch. Jung, der eine Konzeption psychologischer Typen ausgearbeitet hat, wobei er den introvertierten und den extrovertierten Typ unterschied, schrieb dem Lärm die Eigenschaft zu, dass er den Menschen vor unangenehmen, lastenden Gedanken schützen könne. Lärm könne helfen, sich von der eigenen, oft zerrissenen inneren Welt abzuwenden und sich lieber der äußeren, lärmüberfluteten Welt zuzuwenden, um hier Zuflucht zu finden vor der Selbsterkenntnis. Des Psychologen eindeutige Stellungnahme, dass der Lärm von der Oberflächlichkeit der extern orientierten Zivilisation zeuge, können wir als genaue Diagnose der gegenwärtigen superschnellen Gesellschaft verstehen.

Die heilende Wirkung von Stille und vom Stillerwerden ist bekannt, beide helfen, das innere Gleichgewicht wiederherzustellen, ermöglichen eine tiefere Konzentration auf die eigene innere Welt, ein klareres Denken. In der Theologie wird häufig die Wichtigkeit der Stille für ein authentischeres Erleben der Religiosität betont (zum Beispiel auch im bereits erwähnten Buch Die Kraft der Stille). Meiner Meinung nach ist die Stille jedoch nicht nur für die Entfaltung des einen Wesenszuges – der Religiosität – erforderlich, sondern für die Weiterentwicklung des umfassenden geistigen Erlebens – offensichtlich wird dies zum Beispiel beim Schaffen und auch bei der Rezeption eines Kunstwerkes.

Nicht weniger bekannt ist, dass man mit Lärm psychischen Druck ausüben kann (Diktatur, sogar Terror). Lärm wirkt auf die menschliche Psyche destruktiv, und also mittelbar auch auf das Körperliche. Dokumentiert wurden Beweise, dass in früheren Zeiten unter den Foltermethoden auch eine Form zu finden war, bei der das Opfer aggressiven Geräuschen ausgesetzt wurde – scheinbar war dies ein weniger grausames, in Wirklichkeit jedoch ein drastisches, wirkungsvolles Folterverfahren, was bis zur Schädigung und Zersetzung der persönlichen Integrität führen konnte. Wenn wir den Medien Glauben schenken, werden ähnliche Methoden bei Verhören von Anhängern der Al-Qaida und anderen Terroristen angewendet, und zwar in hochentwickelten Ländern, von denen man das nicht erwartet hätte.

Wir müssen jedoch nicht auf die Extremfälle zurückgreifen, zu denen dieses Verfahren zum Foltern heutiger Verbrecher gehört, es genügt, wenn wir uns bewusst machen, dass wir tagtäglich übermäßigem Lärm ausgesetzt sind, laufend betäuben wir dadurch unsere intellektuellen Fähigkeiten, schwächen unsere Befähigung zur (Selbst-)-Reflexion, zur Empathie. Sogar unsere Widerstandskraft gegen die verschiedensten Arten psychischer Druckausübung und Manipulation wird geschwächt. Es gibt nicht wenige Beweise für die Tatsache, dass der Lärm in Form von lautem Geschrei inmitten einer Menschenmasse im Einzelwesen die Individualität und die Fähigkeit zur Selbstkontrolle, zur persönlichen Verantwortung für das eigene Verhalten dämpft, gestärkt wird der Wunsch nach Verschmelzen mit der Masse, Lärm steigert die Aggressivität (Beispiel: lärmende Fußballfans in den Stadien und Straßen, bei Großveranstaltungen durch Schreien und Lärm hervorgerufene Massenpsychosen mit Vandalismus, schweren Ausschreitungen und brutaler Gewalt).     

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Es überrascht nicht, dass schöpferische Persönlichkeiten, welche die Stille hoch schätzten und dem Lärm gegenüber eine kritische Haltung einnahmen, zugleich eine Phobie gegen das lebhafte städtische Milieu entwickelten, gegen die hektische urbane Lebensweise. Eine geradezu exemplarische Urbanophobie finden wir nicht nur beim leidenschaftlichen Spaziergänger und Liebhaber stiller Gebirgspfade Nietzsche, sondern zum Beispiel auch beim Verkünder des Mottos Zurück zur Natur und nicht weniger leidenschaftlichen Wanderer Jean-Jacques Rousseau aus der Zeit der Aufklärung, oder – um etwas mehr an die Gegenwart heranzureichen, beim wohl poetischsten deutschen Philosophen Martin Heidegger…

Allein schaffende Wesen, zu denen wohl die Mehrheit derjenigen gehört, die sich der literarischen oder einer anderen künstlerischen bzw. wissenschaftlichen Tätigkeit verschrieben haben, bevorzugten die Stille, und der Gegenwartsschriftsteller und Essayist Patrick Drevet definiert das seine Arbeit begleitende Alleinsein in Einklang mit dieser Vorstellung als Mitsubstanz der Stille.

Alleinsein und Stille sind erforderlich für die Konzentration des Geistes, sie bilden wichtige Voraussetzungen für die Resonanz der riesigen Welt im Schriftseller, damit dieser in der Lage ist, in möglichst treuer und wirksamer Weise die Konturen, Klänge und Farben der Welt zu erfassen, damit er sie erleben kann und die Intensität dieses Erlebnisses möglichst umfassend an seine Leser weitergeben kann.

Aber nicht nur diejenigen, die ein literarisches oder anderes künstlerisches Werk schaffen, die sich in philosophische Probleme oder Fragen anderer Wissenschaften versenken, benötigen Alleinsein und Stille, sondern jeder Mensch braucht sie zum ruhigen Nachdenken, Grübeln, Verinnerlichen, für Selbstreflexion, für das intensive Erfühlen der eigenen Existenz.

 

*

 

In der gegenwärtigen superschnellen Gesellschaft, die verschwenderisch mit Worten umgeht und zugleich zu deren Verschwendung anregt, gibt es nicht viele Gelegenheiten für ein tieferes Insichgehen, gerade aus diesem Grund hält es der französische Philosoph Gilles Deleuze für erforderlich, für die Menschen so genannte Vakuolen des Alleinseins und der Stille einzurichten.Diese sollten im Menschen die Fähigkeit stärken, etwas Seltenes, Interessantes, Wertvolles auszusagen, etwas, was verdient hat, ausgesagt und angehört zu werden, und natürlich geht dieser Aussage das Nachdenken und das Schöpferische voraus…

Wenn das Alleinsein die Stille als seinen Gesellschafter aufsucht, wenn diese beiden ein Paar bilden – also ideale Bedingungen für das Herausschlagen von Gedankenfunken, für die Suche nach Form und Farbe künftiger Kunstwerke – so geht die Einsamkeit als nur scheinbare Verwandte des Alleinseins der Stille eher aus dem Wege, sie inkliniert mehr zum Lärm, in dem sie verschwimmen oder sich verbergen will.

Es ist kein Zufall, dass der moderne Mensch, aus tieferen zwischenmenschlichen Beziehungen herausgerissen und nicht selten mit keinem Ort emotional verbunden, gern lärmende Menschenmassen aufsucht, um im Schwall der Töne seine eigene Einsamkeit zu übertönen. Ich denke dabei nicht nur an die Einsamkeit als Merkmal eines individuellen Schicksals, einer Anhäufung von Zufällen in einem schlecht gelungenen oder unglücklichen Lebenslauf, sondern an die von Menschen umringte Einsamkeit, an das Einsamsein inmitten einer Menge als einer ernsthaften sozialen Diagnose, die überwiegend verursacht ist vom Charakter der Gesellschaft, von deren Idealen und Wertevorstellungen, vom allgemein vorherrschenden Verständnis des Menschen und des Charakters seiner zwischenmenschlichen Beziehungen.

Über die Einsamkeit inmitten der (post)modernen Gesellschaft entstanden in den letzten Jahren vor allem im euro-amerikanischen Milieu nicht wenige Bücher und Studien, in denen die Schuld für diese sich ausbreitende Diagnose der einseitig orientierten Gesellschaft zugeschrieben wird, welche auf den Prinzipien des exponierten Individualismus, der harten Konkurrenz und des Strebens nach der vorteilhaftesten Position für sich selbst ohne Rücksicht auf die Bedürfnisse anderer beruht. Nur am Rande möchte ich erwähnen, dass der amerikanische Soziologe David Riesman von der Einsamen Masse schreibt, und zwar in Zusammenhang mit der Nachkriegssituation in den USA, in der es zu einer markanten Wandlung im Bereich der Beziehungen zwischen den Menschen gekommen ist. Das Buch wurde für lange Zeit ein soziologischer Bestseller, was eine Bestätigung ist für den Ernst des Themas Einsamkeit bzw. ihrer Überwindung …

Die superschnelle, von Geräuschen unterschiedlichsten Typs überflutete Gesellschaft sollte den Menschen – bei oberflächlicher Betrachtung – vor Gefühlen des Einsamseins schützen, Untersuchungen zeigen jedoch, dass die Einsamkeit als Lebensgefühl nicht übertönt werden kann durch größere Lautstärke oder erhöhtes Tempo. Die wachsende Einsamkeit lässt sich erklären als sich ganz logisch ergebendes Merkmal der superschnellen Gesellschaft, die auf dem Wege zum materiellen Wohlstand andere traditionelle Werte aus den Augen verloren hat, dazu gehören zum Beispiel hochentwickelte zwischenmenschliche Beziehungen, beruhend auf Empathie, Solidarität und gegenseitiger selbstloser Unterstützung und Zusammenarbeit, auf der Verantwortung nicht nur für die Welt des Menschen, sondern für die gesamte Natur.

 

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Ein Gefühl der Einsamkeit entsteht dann, wenn es keine Möglichkeit des Kontakts zu anderen gibt, keine Chance für Gespräche – wobei nicht der oberflächliche Smalltalk gemeint ist, sondern wirklicher Gedankenaustausch, bei dem man mit seinem ganzen Wesen anwesend ist, sich dem Gesprächspartner gänzlich zuwendet. Mit Hilfe des Gesprächs begegnen und berühren wir einander, erleben Teilhabe.

 

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Eine zu schnelle, zu laute Gesellschaft steht intimeren, ernsthafteren Gesprächen im Wege, solchen, bei denen wir anderen voller Empathie zuhören können und das gleiche von ihnen erwarten. In einem lärmerfüllten, von hektischer Eile gesättigten Raum können Gespräche nicht gelingen, sagt der französische philosophische Dichter Pierre Emmanuel, wir verwandeln uns dabei zu Incomunicados, zu nicht kommunizierenden Wesen, die nicht nur nicht mit anderen, sondern auch nicht mit sich selbst reden, ja, sie verlieren gänzlich die Fähigkeit und auch die Lust zur Kommunikation. Ohne lebendige, tiefergehende, wesenhafte Gespräche entfremden wir uns, isolieren einander, schließen uns in die Einsamkeit ein, und die gehört meiner Meinung nach zu den tragischsten Lebenslagen, in die ein Mensch geraten kann.

 

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Zu den Verteidigern der Stille als einer wichtigen Voraussetzung für das tiefere, authentische Gespräch, aber auch für ein tieferes Erleben gehört der österreichische Philosoph Konrad Paul Liessmann, Kritiker der heutigen oberflächlichen Konsumgesellschaft. Das stärkste Echo verzeichnete in Europa seine Theorie der Unbildung. Irrtümer der Wissensgesellschaft, in der der Autor an die Adornosche Konzeption der Halbbildung als dem Feind der Demokratie und Kultur anknüpft.

Liessmann tritt als scharfer Kritiker mehrerer Aspekte der auf Konsum orientierten Gesellschaft auf, unter anderem kritisiert er bei uns Zeitgenossen den Verlust der Fähigkeit, Gespräche zu führen, die ein unverfälschtes konzentriertes Zuhören voraussetzen. Im Buch Universum der Dinge. Zur Ästhetik des Alltäglichen vergleicht der Philosoph unterschiedliche Konzeptionen des Zuhörens und verschiedene Auslegungen dessen, was es heißt, einem anderen Menschen adäquat zuzuhören.

Die Beherrschung der Kunst des Zuhörens ist sehr wichtig, doch heutzutage stoßen wir im Alltagsleben nicht zu häufig auf diese Fähigkeit, denn um sich ihr gänzlich, wesenhaft hinzugeben, fehlt uns einerseits die Zeit – wir müssten unseren Lauf bei der Erfüllung unserer tagtäglichen Pflichten verlangsamen oder sogar stoppen – , und andererseits sind wir unaufhörlich von den unterschiedlichsten Geräuschen berieselt, die wir inzwischen schon als unerlässliche Requisite des normalen Lebens auffassen.

In Übereinstimmung mit Liessmann bin ich überzeugt, dass Voraussetzung für ein wirkliches Gespräch das Verlangsamen und das Stillerwerden ist: ausreichend Ruhe und ungestörte Stille – doch an diesen beiden Phänomenen mangelt es in der heutigen schnellen und lauten Kultur, umso mehr sollten wir sie schützen und bestrebt sein, sie nicht völlig zu verlieren.

Ein wirkliches, ich möchte sagen: ein wesenhaftes, ja sogar essenzielles Gespräch kann Quelle eines unermesslich kostbaren Erlebnisses sein, das die Persönlichkeit berührt und entfaltet. Die heutige superschnelle, von Lärm erfüllte Gesellschaft produziert jedoch eine Kultur der schnellen Erlebnisse, und die ist einem derartigen Gesprächstyp nicht förderlich, in ihrem Charakter erinnert sie eher an den Trubel eines Jahrmarkts, und dieser sinnentleerte Rummel erntete früher wie auch heute Kritik.

Fürsprecher für eine Umbewertung der Haltungen gegenüber den Phänomenen Langsamkeit/Schnelligkeit sowie Stille/Lärm ist zum Beispiel auch der bekannte deutsche Philosoph, der sich der Postmoderne widmet, Wolfgang Welsch. Im Jahr 1995 hielt er in Bratislava einen Vortrag unter dem Titel Künstliche Paradiese?,in welchem er die Welt der elektronischen Medien kritisch betrachtete. Er sagte hinsichtlich der Stille: Wir haben heute ausreichende Gründe dafür, die Stille gegen das unaufhörliche Betäuben zu verteidigen … Ähnlich kritisch äußerte sich der anerkannte Philosoph über die zu schnelle Welt, in welcher Ruhe und Beständigkeit fehlen.

 

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Um die Stille als etwas Kostbares entdecken, erleben, verinnerlichen zu können, um sie auszukosten und uns an ihr zu erfreuen, brauchen wir Zeit: die objektive, in der Außenwelt existierende Zeit, die Zeit der Sekunden, Minuten und Stunden, aber auch die innere Zeit, die Zeit unserer inneren Vorgänge, der Ereignisse, mit denen wir leben und reifen, mit denen wir wir selbst werden, und mit welcher wir heranreifen für das Entdecken der Stille als einem nicht hoch genug zu schätzendem Wert, wir reifen dazu heran mit fast all dem, was wichtig und wesentlich ist im bis dato Erlebten.

Von der Stille ahnen wir es eher, als wir es wissen, wir können es eher empfinden als in Worte fassen, aber eines ist ohne Zweifel: die Stille verträgt sich nicht mit der nervösen Hektik, die Stille erfordert Innehalten, ja, Rasten, nur selten gönnen wir uns das, obwohl der Wunsch danach uns nicht selten überfällt, eine ganz starke, fast krankhaft zu nennende Sehnsucht.