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Ein Krimi für alle Südfrankreichfans: Mord à la française - und die Untersuchungsrichterin mittendrin Die ungewöhnliche Krimireihe um Richterin Mathilde de Boncourt geht weiter. Für Fans von »Madame le Commissaire« und Kommissar Dupin. In Nîmes wird ein junger Mann ermordet aufgefunden. Richterin Mathilde de Boncourt und ihr Team stoßen bei ihren Ermittlungen auf eine Verbindung zur Familie Savigny, die mit ihrer Olivenölproduktion zu Reichtum gekommen ist. Das Brisante: Nahezu die gesamte Familie kam vor vielen Jahren bei einer Brandkatastrophe ums Leben. Die Tochter der Savignys, Valerie, überlebte, liegt seither allerdings im Wachkoma. Als sie wenig später stirbt, sind die Ärzte wenig überrascht, denn ihr Ableben war durchaus zu erwarten. Doch Mathilde ist skeptisch. Wem spielt der Tod der Erbin in die Karten? Mathilde de Boncourt ermittelt: Band 1: Die Richterin und die Tote vom Pont du Gard Band 2: Die Richterin und die tote Archäologin Band 3: Die Richterin und der Kreis der Toten Band 4: Die Richterin und das Ritual des Todes Band 5: Die Richterin und der Tanz des Todes Band 6: Die Richterin und das Erbe der Toten Band7: Die Richterin und der Todesbote Alle Bände sind in sich abgeschlossene Fälle und können unabhängig voneinander gelesen werden.
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© Piper Verlag GmbH, München 2023
Redaktion: Sandra Lode
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Cover & Impressum
Prolog
Zweiundzwanzig Jahre zuvor
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Inhaltsübersicht
Cover
Textanfang
Impressum
Die beiden Hunde rochen es zuerst. Der beißende Geruch drang in ihre empfindlichen Nasen. Doch mehr, als laut zu bellen und an dem Gitter des großen Zwingers hochzuspringen, konnten sie nicht tun.
Am nächsten Tag füllte die Schlagzeile eine halbe Seite in der Tageszeitung Midi Libre.
Drama um fünfköpfige Familie
In den späten Abendstunden starben vier Menschen bei einem Brand ihres Hauses in der Nähe von Beauvoisin. Bei den Opfern handelt es sich um Mitglieder der über die Grenzen des Languedoc hinaus bekannten Familie Savigny. Ernest Savigny, der die Olivenölproduktion der Familie in der vierten Generation fortführte, wurde zusammen mit seiner Frau und zwei der drei Kinder Opfer der Flammen, die auch einen Teil des alten Herrenhauses zerstörten. Der Brand brach wahrscheinlich gegen halb acht Uhr am Abend aus, als die Familie bei Tisch saß. Die jüngste Tochter konnte sich aus den Flammen retten und liegt schwer verletzt in einem Krankenhaus in Nîmes. Bemerkt wurde die Katastrophe vom Hausmeisterehepaar der Familie Savigny und einem Bruder der verstorbenen Madame Savigny, die zur gleichen Zeit am Ort des furchtbaren Unglücks eintrafen. Noch ist nicht geklärt, wo und aus welchem Grund das Feuer ausbrach. Die Brandursachenermittler der Recherche des Causes et des Circonstances de l’Incendies, RCCI, haben ihre Arbeit aufgenommen.
Zwei Tage später fesselten ein Foto des rußgeschwärzten Hauses und eine Portraitaufnahme von Ernest Savigny die Leser des Midi Libre.
Noch immer tappen die Brandursachenermittler des RCCI im Dunkeln. Capitaine Georges Gerard von der Gendarmerie nationale ließ verlauten, alles deute darauf hin, dass ein Kurzschluss in der Elektrik zur Katastrophe geführt haben könnte. Genaueres könne man zu diesem Zeitpunkt jedoch noch nicht sagen. Derweil wurde bekannt, dass die dreizehnjährige Tochter Valerie im Koma liegt. Wie bereits berichtet, hat sonst niemand der Familie Savigny den Brand überlebt.
Nach einer Woche hatten die Brandursachenermittler ihre Arbeit beendet. Der Midi Libre schrieb dazu:
Capitaine Georges Gerard von der Gendarmerie nationale und sein Team haben die Suche nach der Brandursache im Hause der Familie Savigny beendet. Als Auslöser für die Katastrophe hat die Untersuchung ein Dohlennest im Abzug des Kamins im Salon ergeben, das den Kamin massiv verstopft hat. Die Mitglieder der Familie Savigny haben eine Rauchgasintoxikation erlitten, an der sie laut Bericht der Gerichtsmedizin verstorben sind. Die Flammen, die aus dem Kamin schlugen, haben sich offenbar sehr schnell über die Gardinen der Fenster im gesamten Raum ausgebreitet. Hier sind die größten Brandschäden zu verzeichnen. Es ist ein Wunder, dass sich die jüngere Tochter retten konnte. Sie liegt immer noch im Koma in einem Krankenhaus in Nîmes. Wann und ob die Ärzte sie aus diesem wieder erlösen können und welcher Gesundheitszustand sich dann abzeichnen wird, bleibt abzuwarten, ließ die behandelnde Ärzteschaft verlauten.
Am übernächsten Tag berichtete der Midi Libre:
Unter großer Anteilnahme der Bevölkerung wurden Ernest Savigny, seine Ehefrau Marie-Laurence und die beiden Kinder Chantal und Eric gestern Nachmittag zu Grabe getragen. Über eine Hoffnung auf Genesung der jüngeren Tochter Valerie ist noch nichts bekannt.
Drei Monate später erschien der letzte Beitrag im Midi Libre zur Brandkatastrophe im Hause der Familie Savigny.
Dominic Roubais übernimmt vorerst das Olivenölimperium Savigny. Huiles d’Olives Savigny bleibt in der Familie. Dominic Roubais, ein Cousin des verstorbenen Olivenölproduzenten Ernest Savigny, übernimmt das Unternehmen, dem er bereits seit vielen Jahren als stellvertretender Geschäftsführer angehörte. Der Name Huiles d’Olives Savigny bleibt erhalten. Neben der Produktion hochwertigen Olivenöls bietet das Unternehmen auch eine breite Palette von Olivenspezialitäten an, von der eingelegten Olive bis hin zu delikaten Aufstrichen.
Nach der Fertigstellung der Renovierungsarbeiten, Monsieur Roubais schätzt, dass das Herrenhaus in zwei Monaten wieder bewohnbar ist, wird der neue Chef des Hauses mit seiner Familie einziehen. Isabelle Roubais wird ihren Mann tatkräftig in der Unternehmensführung unterstützen, die beiden Kinder Firmin und Diane freuen sich bereits auf den Umzug in das altehrwürdige Haus. »Sobald Valerie wieder bei Bewusstsein und genesen ist, wird sie natürlich mit Beginn ihrer Volljährigkeit das Unternehmen leiten, wenn sie es wünscht«, so Dominic Roubais beim Pressetermin. Noch aber liegt Mademoiselle Valerie Savigny im Koma. Über ihren gegenwärtigen Zustand und die Aussichten auf Heilung ist nach wie vor nichts Neues bekannt.
Es war Odile nicht leichtgefallen, überhaupt nichts zu tun, die Hände in den Schoß zu legen und abzuwarten. Der gute Geist im Château de Boncourt und Ziehmutter von Mathilde de Boncourt sah ihrem Geburtstag jedes Jahr mit gemischten Gefühlen entgegen. Sie freute sich über die große Aufmerksamkeit, die man ihr widmete, aber ihre Küche kampflos Mathilde, Vivienne und Lucette zu überlassen, fiel ihr schwer.
»Nichts da, du versorgst uns tagaus und tagein, kochst, lässt dir die besten Leckereien einfallen, da wirst du dich doch mal einen Tag von uns verwöhnen lassen«, hatte Mathilde gescholten, und Odile hatte sich in ihr Schicksal ergeben. Da Rémy de Boncourt, Besitzer des Weingutes und graue Eminenz im Hintergrund, und sein Neffe Philippe, der die Geschäfte leitete, am Freitag nach Lyon zur Weinmesse aufbrechen wollten und so das Wochenende für die geplante Feier nicht infrage kam, war beschlossen worden, Odile am Tag ihres Wiegenfestes hochleben zu lassen.
Neugierig war sie alle paar Minuten an der Küchentür erschienen, doch immer wieder mit dem Wedeln eines Geschirrtuchs hinauskomplimentiert worden. Und so saß sie mit einem Buch in der Hand im Salon, als Mathilde hereinkam, um nach ihren Zigaretten zu suchen, die sie auf dem Couchtisch abgelegt hatte.
»Was liest du denn da?«, fragte sie und steckte die Packung ein. Geraucht wurde draußen, ein Gesetz Odiles, dem sie nicht zu widersprechen wagte, es sei denn, sie befand sich in ihrem eigenen Appartement im ersten Geschoss des Schlosses. Dort rauchte sie heimlich, pustete den Rauch ihrer Gauloises blondes aus dem bodentiefen Fenster und wurde doch immer irgendwie von Odile dabei erwischt.
»Die Kindheitserinnerungen von Marcel Pagnol. Bestimmt schon zum hundertsten Mal, aber ich liebe diese Geschichten. Allerdings lese ich jede Seite zweimal. Ich kann mich überhaupt nicht konzentrieren. Was hat denn vorhin in der Küche so gescheppert?« Odile klappte das Buch zu und legte es weg.
»Nichts Schlimmes passiert. Sébastien hat sich über seine Mutter geärgert, weil die ihn das Eiweiß nicht schlagen ließ. Sie hat an der Schüssel gezerrt, und Sebastien hat plötzlich losgelassen.« Mathilde lachte. »Fast hätte sie sich auf ihren Allerwertesten gesetzt. Die Schüssel ist auf den Boden geplumpst. Gott sei Dank waren noch keine Eiweiße drin.«
»Aha, was macht ihr mit dem Eiweiß? Baisers?«
»Meine liebste Odile, wie kann man nur so neugierig sein.« Mathilde umarmte die ältere Frau und drückte ihr einen Kuss aufs Haar. »Lass dich doch einfach überraschen.«
»Und die Jungs, was planen die?«
Die Jungs waren die vier Söhne von Philippe und Lucette, die zum Ehrentag von Odile zusammen mit Sébastien ein kleines Theaterstück aufführen wollten. Seitdem Viviennes Sohn, der mit dem Downsyndrom zu Welt gekommen war, im Sommer bei einer Aufführung in der Arena von Nîmes mitgewirkt hatte, stand sein Berufswunsch fest: Er wollte Schauspieler werden. Gar nicht so leicht für einen jungen Mann mit diesem Handicap, hatte die ganze Familie vermutet. Doch Sébastien war hartnäckig geblieben, hatte mit Mathildes Hilfe eine Bewerbung und ein Foto an eine Casting-Agentur geschickt, und tatsächlich hatte er eine winzige Nebenrolle in einem Film bekommen. Die Dreharbeiten würden im nächsten Frühjahr beginnen.
»Odile, das wirst du noch früh genug erfahren. Jetzt halt einfach mal die Füße still, und genieße es, nichts zu tun«, sagte Mathilde streng.
»Gut. Aber, was rieche ich denn da? Da brennt doch hoffentlich nichts an.« Odile hob den Kopf und schnupperte.
»Nein, da kann noch nichts angebrannt sein. Die …, sag mal, willst du mich aufs Glatteis führen? Jetzt hätte ich doch fast verraten, was wir in den Ofen schieben. Versuch das bloß nicht noch mal, du weißt, was auf zu große Neugierde steht.«
»Na, das möchte ich sehen, eine Richterin kriegt mich wegen Neugierde dran«, schnaubte Odile. Ihre Augen blitzten amüsiert. »Mathilde …« Sie wurde plötzlich ernst. »… ich weiß eigentlich gar nicht, was ich sagen soll. Ich bin so gerührt. Du nimmst dir für mich den ganzen Tag frei, wo du doch in Arbeit geradezu ertrinkst.«
»Ach, was, Odile, ich liebe dich. Du bist wie eine Mutter für mich. Es ist selbstverständlich.« Sie setzte sich neben Odile und nahm ihre Hand. »Was wäre ich denn ohne dich und grand-père? Hm?«
Mathildes Eltern waren bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen, als sie gerade einmal drei Jahre alt gewesen war. Ihr Großvater Rémy und Odile hatten sie großgezogen, ihr die Werte vermittelt, die letztendlich zur Wahl ihres Berufs geführt hatten. Mathilde war Untersuchungsrichterin, juge d’instruction, am Gericht von Nîmes.
Die Tür wurde ein Stück aufgeschoben, und ein brauner Hundekopf äugte herein. Schwanzwedelnd marschierte der Labrador zum Sofa und sprang auf das weiche Kissen, keine zehn Sekunden später folgte ein schwarzer Labrador, der es sich auf dem Teppich vor dem Kamin bequem machte.
»Babou, willst du wohl da runter.« Mathilde wedelte halbherzig mit den Händen, der Hund sah in eine andere Richtung und blieb liegen.
»Wie die kleinen Kinder, wenn er nichts sieht, denkt er, wir sehen ihn nicht«, sagte Odile lachend. »Lassen wir ihn, er ist ein alter Mann geworden, er darf es bequem haben.«
Vom Kamin her war ein Schnarchen zu hören. »Grand-père war mit den Hunden unterwegs. Jetzt hör dir mal an, welches Schnarchkonzert Henri gibt.« Auch vom Sofa ertönte nun ein satter schnaufender Ton. Babou war ebenfalls eingenickt.
Mathilde erhob sich. »So, weiter geht’s, wenn die fünf Gänge fertig werden wollen, muss ich wieder ran.« Mathilde hatte zusammen mit Lucette alte Kochbücher mit Rezepten aus der Region durchforstet, um Odile etwas ganz Besonderes an ihrem Geburtstag auf den Tisch zu zaubern.
»Mon Dieu, fünf Gänge. Auch wenn ich das Gefühl habe, ich müsste selbst in der Küche stehen, so bin ich doch ein wenig stolz darauf, dass ihr euch alle so viel Mühe wegen meines Geburtstags gebt. Aber weißt du, was das schönste Geschenk für mich ist, meine kleine Mathilde?«
Mathilde konnte es sich denken. »Das habe ich nur für dich getan«, neckte sie Odile und schlang mit einer eleganten Bewegung ihre lockigen rotblonden Haare, das Erbe ihrer Urahnin aus der Normandie, mit einem Haargummi, den sie aus der Hosentasche zog, zu einem Pferdeschwanz zusammen.
»Nein, im Ernst, ich freue mich so. Rachid ist zum ersten Mal an meinem Geburtstag Gast an unserer Familientafel. Weißt du, ich habe eine Zeit lang gedacht, du und Martin … Das hätte mir auch gefallen. Aber ihr beide, du und Rachid, ihr seid so ein schönes Paar.«
Es hatte geraume Zeit gedauert, bis sich Mathilde über ihre Gefühle für Commandant Rachid Bouraada klar geworden war. Und seit dem Hitzesommer diesen Jahres wussten sie, dass sie zusammengehörten. Martin Endress, der Reiseschriftsteller aus Deutschland, der jetzt in Saint-Fons in direkter Nachbarschaft zum Weingut lebte, war ihr engster und bester Freund, und er gönnte Mathilde ihr Glück von ganzem Herzen, auch wenn er zugeben musste, dass er sehr verliebt in sie gewesen war. Rachid war Mathildes vertrautester Mitarbeiter, und sie hatten in den Jahren ihrer Zusammenarbeit so manchen kniffeligen Fall zusammen gelöst. Er war ihr Fels in der Brandung, sowohl was die berufliche Seite wie nun auch ihr Privatleben anbelangte. Mathilde war glücklich.
Als Rachid sich von Mathilde verabschiedete, war es weit nach Mitternacht.
»Und ich kann dich wirklich nicht überreden, mit in die Stadt zu kommen?« Er hielt ihre Hände und musterte sie zärtlich.
»Ich kann Vivienne und Lucette nicht mit dem ganzen Durcheinander alleine lassen. Wir sehen uns morgen.« Sie küsste ihn und stemmte dann die Arme in die Seiten. »Mir tut alles weh vom Lachen.«
Odile war komplett aus dem Häuschen geraten. Fünf Gänge, nur für sie, und einer köstlicher als der andere. Croquettes de brandade als Entrée, dazu ein Glas Champagner, Terrine de lapin à la farigoule, Soupe de courge et de châtaignes aux truffes, als Hauptgang Cailles aux raisins und zum krönenden Abschluss eine Charlotte à la châtaigne. Ein festliches und formidables herbstliches Geburtstagsmenü.
Und die Theateraufführung der Jungs nur ihr zu Ehren einstudiert. Sie hatten ein kurzweiliges Stück aufgeführt. Der Vorname, ein Bühnenstück, das auch erfolgreich den Weg in die Kinos gefunden hatte, war von ihnen auf zwanzig Minuten eingedampft worden. Die Zwillinge hatten die weiblichen Rollen übernommen, Sébastien glänzte als Vincent, der mit dem Vornamen, den sein Sohn erhalten sollte, zunächst nicht rausrückte und dann mit dem »Geständnis«, er werde Adolf heißen, einen Familienstreit vom Feinsten provoziert hatte.
»Ich habe grand-père selten so vergnügt gesehen. Ihm sind die Lachtränen nur so über die Wangen gekullert. Es war ein wundervoller Abend. Hast du gesehen, wie Odile gestrahlt hat, als du gekommen bist? Ich glaube, sie ist ein wenig in dich verliebt«, neckte Mathilde Rachid.
»Sie hat mich schon immer gemocht. Denk nur an die Arbeitssitzungen hier. Sie hat uns immer etwas serviert, von dem sie hoffte, dass ich es besonders mag. Das hat sie mir heute gestanden.«
Langsam gingen die beiden zu Rachids Wagen.
»Und weißt du, was mich auch glücklich macht?«, fragte Mathilde.
»Meine ausgeprägte Kennerschaft, was Weine angeht. Schließlich kann ich nicht nur einen Rotwein von einem Weißwein unterscheiden, ich trinke und genieße sie sogar.« Rachid grinste über beide Ohren. »Ansonsten wäre ich für deinen Großvater niemals infrage gekommen. Ein Glück, dass meine Familie es nicht so genau nimmt. Als Papa und Carla geheiratet haben, gingen bestimmt dreißig Flaschen eurer Weine weg.«
Rachids Vater hatte ein paar Wochen zuvor seine Nachbarin Carla Brouni geheiratet, die nun Carla Bouraada hieß und ein letztes Mal ihren Scherz »Gestatten, Carla Brouni, wie die Frau unseres ehemaligen Präsidenten, nur mit einem o« zum Besten hatte geben können.
»Dann schlaf gut. Wir essen morgen Mittag zusammen, wie verabredet.«
»Du auch.« Es folgte ein langer Kuss, und Mathilde sah dem Wagen nach, der zwischen den Alleebäumen, die die lange Auffahrt säumten, verschwand.
Er war mehr oder weniger mit dem letzten Cent angekommen. Es hatte eben noch für den Flug aus Santiago gereicht, und er würde noch ein paar Tage durchhalten. Und dann? Dann stand er vor dem Nichts. Am späten Vormittag war er in Marseille gelandet. Nach etwas mehr als neunzig Minuten war sein Zug dann in Nîmes angekommen. Er hatte bis zuletzt gewartet, den alten Kontakt wiederherzustellen, hatte ein Versprechen gebrochen, nein, ein Gebot, ein Verbot, ignoriert. Und dementsprechend war auch die Reaktion gewesen. Zuerst großes Erstaunen. Wie kommst du hierher? Er hatte es mit einem Scherz versucht. Na, mit der Luftpost. Wie lange hatten sie sich nicht gesehen? Es war noch ein Hauch der alten Vertrautheit zwischen ihnen spürbar, aber auch eine Portion Feindseligkeit. Nicht von seiner Seite aus.
Er hatte von Anfang an mit offenen Karten gespielt, seine prekäre Situation, in die er, wie er meinte, unverschuldet hineingeraten war, nicht beschönigt. Er hatte nichts mehr, wie er beteuerte. Alles weg. Verkauft, verhökert. Seine Spielsucht war ihm zum Verhängnis geworden. Und bevor er noch mit zerschmetterten Gliedern und einem Loch im Kopf irgendwo in einem Graben landete, habe er es vorgezogen, in die alte Heimat zurückzukehren. Zurück zu den Wurzeln, das kannst du doch verstehen?
Nein! Er hätte bleiben sollen, wo der Pfeffer wächst.
Du meinst, ich hätte nach Madagaskar abhauen sollen?, hatte er es wieder mit einem lahmen Scherz versucht.
Also, was willst du? Geld? Aber das bleibt eine einmalige Angelegenheit, hörst du?
Sein Zögern wurde ganz richtig interpretiert.
Du willst mehr? Erwartest du etwa eine lebenslange Rente von mir? Schmink dir das ab. Such dir eine Arbeit.
Er leistete den Offenbarungseid. Er war nicht mehr in der Lage zu arbeiten. Alkohol und Drogenexzesse. Leber und Nieren waren in Mitleidenschaft gezogen, er litt unter ständigen Kopfschmerzen, sein Gedächtnis war ein Sieb.
Drogen und Alkohol? Deine Misere hast du ganz alleine zu verantworten, war die kalte Antwort gewesen.
Am Ende war ihm nichts anderes übrig geblieben, als eine Drohung auszusprechen. Die Drohung, alles an die Öffentlichkeit zu zerren. Was hatte er denn zu verlieren? Dass er seit einiger Zeit Blut spuckte, hatte er für sich behalten. Der Quacksalber, den er in Santiago aufgesucht hatte, war gnadenlos ehrlich gewesen. Neun Monate, höchstens ein Jahr. Vielleicht erlebte er noch den nächsten Sommer. Aber das musste niemand wissen. Er wollte es noch länger als bis in den Sommer schaffen, einen Sommer, der mit dem Gesang der Zikaden begann und mit ihm endete, einen Sommer im heißen Sand, ein Bad im Mittelmeer, einen Sommer, der in seinen Träumen niemals endete.
Du willst mich erpressen?
Aber nein. Ich bitte dich, um der alten Zeiten willen, einen alten Freund zu unterstützen, der es alleine nicht mehr schafft.
Er war hartnäckig geblieben, hatte gedroht und gebettelt und das Gespräch dann beendet. Das Versprechen, man wolle sich treffen und man werde eine Lösung finden, klang in seinen Ohren nach.
Den späten Nachmittag, der für den ausklingenden Oktober mild und voller Verheißung auf einen ebensolchen folgenden Tag war, genoss er durch Nîmes schlendernd. Die Arena war teilweise eingerüstet, und die Steine, die bereits restauriert waren, leuchteten in seinen Augen unnatürlich hell. Vor den Lokalen saßen die Menschen, ließen es sich bei einem Aperitif gut gehen, warteten auf ihr Essen, lachten, schwatzten, küssten sich. Wie hatte er das alles vermisst. Staunend stand er vor dem Musée de la Romanité. Er hatte es noch nie gesehen, es gefiel ihm. Und ganz sicher würde er ihm einen Besuch abstatten. Vielleicht wenn es regnete? Genau, ein Regentag im Museum. Er lächelte bei dem Gedanken.
In Santiago war es allmählich warm geworden. Dort zog der Sommer ein, hier verabschiedete er sich. Schon während der Unruhen vor ein paar Jahren hatte er eigentlich die Stadt, das Land verlassen wollen. Doch irgendwie hatte er nie den Absprung geschafft. Schuld war unter anderem Ariadna gewesen, mit der er vier Jahre ein Verhältnis gehabt hatte. Sie war die Frau eines betuchten Weingutbesitzers im Cajón del Maipo gewesen. Doch auch das war ihm nicht gut bekommen. Der Typ hatte ihn grün und blau geschlagen, als er dahintergekommen war.
Vor einem Laden mit Schuhen und Handtaschen blieb er stehen. Aus dem guapo francés, dem feschen Franzosen, wie ihn Ariadna genannt hatte, war ein Wrack geworden. Ein Penner in abgerissener Kleidung. Ob ihn überhaupt in diesem Zustand noch jemand erkannte? Nun, in ein paar Stunden würde er es wissen.
Den Rest der Zeit vertrieb er sich bis zum Einbruch der Dämmerung mit einem kurzen Spaziergang durch die Jardins de la Fontaine. Ein kleines Bier und ein mit Schinken belegtes Sandwich im Les Tables de la Fontaine konnte er sich noch leisten. Ein vorwitziger hungriger Spatz wagte sich bis vor seine Schuhspitzen. Er fegte ein paar Krümel auf den Boden, die das Tierchen aufpickte, bevor es, von einer Taube aufgescheucht, davonflog.
Er hatte sich bis jetzt noch keine Gedanken darüber gemacht, wo er die Nacht verbringen würde. Es war wohl nicht anzunehmen, dass man ihm auch noch ein Bett anbieten würde. Er suchte in seinem Smartphone nach einer Möglichkeit, irgendwo für die nächsten ein bis zwei Nächte preiswert unterzukommen, und prägte sich eine private Unterkunft in der Rue Baudin in der Nähe des Planetariums ein, wo er mit achtundvierzig Euro pro Nacht gut bedient wäre. Und dann würde man weitersehen.
Die Dunkelheit brach herein. Halb sieben und der Tag war fast vorbei. Jetzt begann die Zeit, in der der Lebensrhythmus derer pulsierte, die die Nacht zum Tag machten.
Den Treffpunkt hatte er mit Bedacht gewählt. Von mir aus, aber glaub nicht, dass dir das viel nutzt, war die Reaktion auf seinen Vorschlag gewesen. Er dagegen hatte gehofft, dort an alte Zeiten anknüpfen zu können.
Mit jedem Schritt, der ihn seinem Ziel näherbrachte, wurde er unruhiger. Ein Zittern durchlief seinen Körper, und er begann, unangenehm zu schwitzen. Es wäre besser gewesen, er hätte sich seiner Unterkunft vorher versichert, hätte geduscht und etwas Frisches angezogen. Jetzt stand sein Koffer in einem Schließfach im Bahnhof. Ziemlich genau in der entgegengesetzten Richtung, in die er sich bewegte. Nicht sehr clever. Er musste dann später noch mal den ganzen Weg zurück, sein Zeug holen und hoffen, dass die Unterkunft nicht schon geschlossen war, wenn sie ihn überhaupt beherbergen würden.
»Merde«, sagte er laut. Ein älteres Ehepaar, das mit seinem Hund unterwegs war, drehte sich kopfschüttelnd nach ihm um.
Von den Jardins de la Fontaine waren es nur wenige Gehminuten bis zur Site Vauban, heute eine der Dependancen der Universität von Nîmes. Mit Erstaunen hatte er es gelesen, als er sich im Internet darüber schlaugemacht hatte, ob die Villa Meridia, in der er ab und zu abgestiegen war, immer noch als Hotel existierte. Er konnte sich gut daran erinnern, als das Fort noch als Gefängnis genutzt worden war. Der gesamte Komplex war, obwohl Site Vauban genannt, von dessen Schüler Jean-François Ferry 1687 bis 1688 erbaut worden. Hundert Jahre später wurde das Fort Politisches Sicherheitsgefängnis, bis es 1820 zur Maison centrale de détention, als zentrale Haftanstalt, eingerichtet wurde.
Vor Jahren war er selbst einmal in Santiago im alten Gefängnis Penitenciaría gelandet. Ariadna hatte seine Kaution bezahlt, und er war gleich wieder draußen gewesen. Er konnte von Glück reden, dass es damals nicht zu einer der Revolten gekommen war, die in den überbelegten Strafanstalten Chiles geradezu an der Tagesordnung waren. Einer der Aufstände, die in einer Brandkatastrophe geendet waren, hatte im Knast San Miguel über achtzig Todesopfer gefordert. Eine Gefängnismeuterei mit absichtlich gelegtem Brand, bei dem Teile der Gebäude zerstört wurden, machte 1974 auf die Missstände in Frankreichs Haftanstalten aufmerksam. 1991 schließlich waren die Tage des Forts als Gefängnis gezählt, man sanierte es, und es wurde 2007 Teil der Universität von Nîmes.
Sein Weg führte vorbei an den Resten des antiken Castellum Aquae, von wo das Wasser, das über den Pont du Gard hergeleitet wurde, in die einzelnen Quartiere des römischen Nîmes gelangte, wie er auf einer Hinweistafel lesen konnte. Sein Ziel war der Jardin Mont Margarot, eine nicht sehr große Parkanlage in der Form eines Dreiecks schräg gegenüber des Forts. Der kleine Park auf dem Hügel lag mittlerweile im Dunkeln. Die Beleuchtung der umgebenden Straßen spendete noch etwas Licht. Fast wäre er über einen Mülleimer aus Blech gestolpert, der aus seiner Halterung gerissen worden war. Unrat lag auf dem Weg. Ein Mann kam auf ihn zu, seine angezündete Zigarette glomm auf. Der Mann hastete an ihm vorbei und gab einer Glasflasche, die aus dem Mülleimer gerollt war, einen Tritt.
Er hatte die Parkanlage idyllischer in Erinnerung. In das Holz der Bank, die er angesteuert hatte, waren Buchstaben geritzt, wie er bei näherem Hinsehen bemerkte. Keine Buchstaben in einem Herz, wie man es vielleicht noch vor Jahren gemacht hatte, sondern Buchstaben in den Ecken eines Hakenkreuzes. Wer regierte eigentlich zur Zeit Nîmes? War es immer noch Fournier? Er zuckte mit den Achseln, eigentlich war es ihm egal. Schritte näherten sich. Er nahm sein Smartphone zur Hand und aktivierte die Taschenlampenfunktion.
»So ein Dreck!« Die Stimme klang ein wenig tiefer als durchs Telefon, war aber unverkennbar. Statt einer Begrüßung musterte ihn ein dunkles Augenpaar von oben bis unten. »Du hast auch schon mal besser ausgesehen. Irgendwie passt du zu der Umgebung.«
Er hatte nicht mit so viel Verachtung gerechnet. Bon, das würde seinen Preis in die Höhe treiben.
Feiner Nebel hüllte den kleinen Park Jardin Mont Margarot in den frühen Morgenstunden ein. Ein Fluch ertönte.
»Bringt denen nicht mal jemand Manieren bei? Hier sieht’s aus wie im Saustall.«
»Hey, Karim, keine Beleidigungen. Schweine sind saubere Tiere. Hast du noch einen Müllsack? Sonst muss ich zurück zum Auto.«
Der Mann, der um den Abfallsack gebeten hatte, stocherte mit einem Müllgreifer im Unrat, der auf dem Weg lag oder in die Büsche getreten worden war. Seine orangefarbene Uniform war im Licht des anbrechenden Tages gut zu erkennen. Sein Kollege warf ihm einen Müllsack zu.
»Sazou, meinst du, wir sollten den Typen auf der Bank aufwecken. Muss doch ganz schön ungemütlich sein, so zu kauern.«
»Lass den Penner seinen Rausch ausschlafen«. Mit dem Greifer packte der Mann ein Kondom und beförderte es angewidert in den Beutel. »Jetzt mach ich den Job schon seit acht Jahren, aber ich kann mich immer noch nicht an den ganzen Dreck und Gestank gewöhnen. Und es nimmt überhand. Der Bürgermeister sollte mal Patrouillen einführen.«
»Müllpatrouillen, meinst du?«
»Ja, den Leuten mal genau auf die Finger gucken. Wenn einer was in die Botanik befördert, zack, gleich einen Bußgeldzettel ausstellen. Und einer, der den ganzen Eimer um- und auskippt, gleich ab in den Knast.«
»Oh, là, là, gleich in den Bau. Kann doch auch sein, dass man ihn versehentlich umgestoßen hat. Und dann?«
»Dann nicht.«
»Und wie willst du das beurteilen oder beweisen?«
»Keine Ahnung. Dann eben keinen Knast. Zumindest hätte man es früher von hier aus nicht weit dorthin gehabt.«
»Ach, wieso das denn?«
»Hier war früher das Gefängnis drin, in dem alten Fort. Da wo jetzt die Studenten einen auf schlau machen.«
Der Mann knotete den Sack zu und streckte sich. »Lange mach ich das nicht mehr, mein Rücken. Und das verdanke ich den Schweinen, die einfach alles unter sich fallen lassen.«
»Wenn es die nicht gäbe, hättest du keinen Job. So musst du das sehen. Also bedank dich lieber bei denen, die ihren Müll einfach liegen lassen, obwohl es genügend Behälter gibt, oder die Dinger mit einem Tritt in die Botanik befördern.«
»So etwa? ›Vielen Dank, Monsieur, dass Sie mir meinen Job erhalten haben. Sie waren es doch wahrscheinlich, der mir netterweise den Weg zugemüllt hat.‹« Karim deutete eine kleine Verbeugung in Richtung der Bank an, auf der der Mann saß. »Merkwürdig, Sazou, der reagiert überhaupt nicht. Ich glaube, der bewegt sich nicht die Bohne.«
»He, Sie da! Aufwachen, hier ist Ihre Müllbrigade«, brüllte daraufhin Sazou.
»Mensch, Sazou, da stimmt was nicht. Wir werkeln hier rum, reden laut genug, der müsste doch längst aufgewacht sein. Ich seh mal nach ihm.«
Ein solcher Schreck war Karim Benazizi in seinem ganzen Leben noch nicht durch die Glieder gefahren. Er hatte den Mann vorsichtig angestupst, und der war einfach seitlich auf die Sitzfläche gekippt.
»Sazou, merde, der Typ ist tot. Komm her!«
»Ach was, wahrscheinlich ist er nur ohnmächtig geworden, als er deine Visage gesehen hat.« Vorsichtig näherte sich Fernand »Sazou« Pelletier seinem Kollegen, der wie erstarrt vor der Bank stand. Seine Stimme klang verunsichert, als er sagte: »Was ist das da? Ist das Blut?« Sazou zeigte auf den Kopf des Mannes.
Mit einem Satz wich Karim zurück. »Das ist Blut. Oh, merde, sieh dir das an, der hat ein Loch im Kopf.«
»Der Typ ist erschossen worden. Mensch, Karim, bleib bloß weg. Und wir räumen hier fleißig auf. Wahrscheinlich haben wir schon sämtliche Spuren beseitigt.«
»Welche Spuren? Wir haben doch nix damit zu tun.«
»Nein, natürlich nicht. Schaust du dir keine Krimis an. Die Flics müssen her. Die Typen in den weißen Anzügen, die die Spuren sichern. Merde, ich ruf jetzt bei denen an. Und beim Chef, wir können hier nicht weg.«
Karim nickte. »Ich glaub, du hast recht. Armer Teufel, wahrscheinlich hat ihm jemand wegen ein paar Cent das Licht ausgepustet.«
Als am Morgen nach Odiles Geburtstagsfest Mathildes Handy klingelte, das hieß, eine Musik ertönte, die entfernt an die Marseillaise erinnerte, sah sie sofort Rachids Namen auf dem Display. Halb acht? So früh? Eigentlich erwartete ihre Sekretärin Christine sie heute nicht vor zehn Uhr im Büro. Warum rief Rachid um diese Zeit an? Ein beunruhigendes Kribbeln versetzte ihren Magen in Aufruhr. Mathildes berühmtes Bauchgefühl. Irgendetwas war passiert.
Neunzig Minuten später erreichte sie etwas außer Atem den Jardin Mont Margarot. Zuvor war Mathilde bereits ein dunkler Wagen entgegengekommen, der die Leiche ins Gerichtsmedizinische Institut brachte. Sie hatte nicht nachgefragt, aber sie hoffte, Docteur Alain Regis würde die Obduktion vornehmen. In dem kleinen Park wimmelte es bereits von den Leuten der Spurensicherung. Es gab kaum einen Fleck, auf dem sie nicht zugange waren.
Rachid kam auf sie zu, strich ihr zärtlich über die Wange. »Ich hätte dich gerne ausschlafen lassen, aber wie du siehst …«
»Nun, das ist eben unser Job.« Sie lächelte ihn liebevoll an. »Was haben wir denn?« Dann holte sie tief Luft. »Ich bin doch tatsächlich etwas aus der Puste. Es geht ja nur bergauf bis zum Jardin. Wo ist bloß meine Kondition abgeblieben?«
»Deswegen sind wir mit dem Wagen hier«, schmunzelte Rachid, wurde aber sofort wieder ernst. »Der Anruf über den Fund der Leiche ging kurz nach sieben heute Morgen ein. Zwei Müllwerker, sie stehen da hinten bei Coco, waren um diese Zeit bereits hier bei der Arbeit, als sie den Mann auf einer der Bänke sahen. Sie dachten zunächst, er schlafe seinen Rausch aus. Als der mit der Mütze«, Rachid zeigte auf einen der Männer, der den anderen um einen Kopf überragte, »Karim Benazizi, sich dem Mann näherte und ihn berührte, kippte er auf die Bank. Er und sein Kollege, Fernand Pelletier, sahen ihn sich näher an und entdeckten eine Kopfwunde. Den Notruf haben sie umgehend gewählt. Felix und Coco waren als Erste da, ich kam ein paar Minuten später.«
Sie traten zu Brigadier Coralie »Coco« Mollard, die mit einem der Arbeiter sprach. Die junge Polizistin war seit Sommer ein festes Mitglied des Teams von Commandant Rachid Bouraada.
»Bonjour, Brigadier Mollard, messieurs. Sie haben den Mann entdeckt?« Mathilde reichte den dreien die Hand.
»Ja, er saß schon da, als wir kamen. Wir haben gleich mit unserer Arbeit angefangen. Überall lag Müll herum, jemand hatte den Mülleimer umgekippt. Ob mit Absicht, kann ich nicht sagen«, meldete sich der kleinere der beiden Männer zu Wort. Karim«, er gab seinem Kollegen einen Stoß in die Seite, »hat dann gesagt, das sei merkwürdig.«
»Das hab ich nicht gesagt. Wir haben zusammen überlegt, ob er wohl seinen Rausch ausschläft, und du hast gesagt, ich soll mich bei ihm bedanken, dass er den Müll dahin geworfen hat, weil ich sonst keine Arbeit hätte.«
»Puh, stimmt, so war’s. Die ganze Aufregung, da vergisst man schon mal was.« Der Kleine fuhr sich über die Stirn, auf der Schweißperlen glänzten.
»Und dann?«
»Dann bin ich hin, hab gemerkt, hier stimmt was nicht. Ich hab ihn angefasst, und er kippte um. Ich glaub, ich hab geschrien, oder, Sazou?«
Der Angesprochene nickte. »Ja, du hast gesagt merde und dann so aufgeschrien. Dann haben wir die Wunde am Kopf entdeckt und gleich den Notruf gewählt. Ist der Mann tatsächlich ermordet worden?«
»Monsieur Pelletier, das wissen wir noch nicht. Lieutenant Tourrain hat Ihre Aussagen aufgenommen, Sie können jetzt gehen, und wir sehen uns morgen wieder«, wandte sich Coco an die beiden Männer.
Sazou und Karim wirkten unentschlossen, doch dann gab der Kleinere dem Größeren einen Klaps auf die Schulter. »Dann mal los. À demain. Wir sind pünktlich. Sollen wir uns bei dem Rotschopf einfinden oder bei Ihnen.« Karim zwinkerte Coco zu.
»Lieutenant Tourrain wird das Protokoll aufnehmen, und Sie beide brauchen nur noch zu unterschreiben«, antwortete Coco, ohne eine Miene zu verziehen.
Die beiden Müllwerker sammelten ihre Gerätschaften ein, warfen noch einen kurzen Blick zurück auf die Bank und gingen zu ihrem kleinen orangefarbenen Müllsammelfahrzeug, das am Straßenrand abgestellt war.
Marius, der Leiter der Spurensicherung, und Felix gesellten sich zu den anderen. »Da ist nichts zu holen. Die beiden Kollegen hier haben wahrscheinlich schon Spuren verwischt, das können wir beim besten Willen nicht beurteilen. Wir nehmen den Müll mit, vielleicht haben wir Glück und finden irgendeinen Hinweis auf den Täter.«
»Bonjour Felix, bonjour Marius. So weit bin ich noch gar nicht mit meinem Wissen«, sagte Mathilde stirnrunzelnd. »Es ist also Mord, kein Suizid oder ein Unfall?«
»Nein, Madame le Juge.« Lieutenant Felix Tourrain reichte Mathilde die Hand. »Regis hat ziemlich schnell eine erste Beurteilung abgegeben.«
»Ah, sehr gut, er war also schon da und übernimmt die Obduktion.« Mathilde war zufrieden. »Was hat er gesagt?«
»Es sieht nach einem Kopfschuss aus allernächster Nähe aus. Der Mann muss mit seinem Mörder zusammen auf der Bank gesessen haben.«
»Das ist anzunehmen. Keine Schleifspuren, kein Hinweis darauf, dass das Opfer an anderer Stelle gewaltsam ums Leben gekommen ist. Der Mann hockte da, jemand hat sich neben ihn gesetzt, ihm eine Waffe an den Kopf gehalten und abgedrückt«, ergänzte der Kriminaltechniker.
»Dann wird das Opfer seinen Mörder vielleicht sogar gekannt haben«, mutmaßte Coco. »Wer lässt einen Fremden sonst so nah an sich ran?«
»Es sei denn, es ging ganz schnell«, trug Felix zu den Spekulationen bei. »Er sitzt da, jemand kommt, platziert sich daneben, hat die Waffe vielleicht schon in der Hand, und dann … Vielleicht ein Raubmord. Wir haben beim Opfer nämlich nichts gefunden, keine Papiere, kein Portemonnaie, einfach nichts.«
Marius nickte bestätigend. »Es wäre ein äußerst kaltblütiger Raubmord, aber ausschließen möchte ich es nicht. Doch das herauszufinden ist euer Job. Aber wir haben etwas entdeckt, was vielleicht weiterhilft.« Er hielt einen Asservatenbeutel in der ausgestreckten Hand. »Eine Zigarettenpackung, noch zwei Glimmstängel drin. Die Marke kenn ich nicht. Madame le Juge, wollen Sie mal einen fachmännischen Blick hineinwerfen?«, schlug der Kriminaltechniker augenzwinkernd vor.
»Da sieht man mal, wofür mein Laster vielleicht auch gut sein kann«, erwiderte Mathilde amüsiert.
Marius öffnete den Beutel, und Mathilde begutachtete die zerknautschte Packung.
»Derby Azul. Sagt mir nichts. Ich kaufe immer dieselbe Marke, insofern habe ich auch keine große Ahnung, was sich an Zigaretten so auf dem Markt tummelt. Aber der Aufdruck, der auf das Krebsrisiko hinweist, ist auf Spanisch abgefasst. Ob unser Mann aus Spanien kommt?«
Marius nickte. »Das hab ich auch schon überlegt. Vielleicht ein Tourist, der zur falschen Zeit am falschen Ort war.«
»Marius, wir sind so weit fertig. Packen wir ein?« Eine Mitarbeiterin der Spurensicherung mit einem Fotoapparat um den Hals hatte ihre weiße Kapuze heruntergezogen und warf ihrem Chef einen fragenden Blick zu.
»Alles klar, räumt ein. Sobald ich was für euch habe, melde ich mich«, wandte er sich an die Ermittler. »Eine Sache habe ich allerdings doch noch für euch. Wie’s aussieht, hat ein Clochard sich diese Kuhle«, Marius zeigte auf einen Bereich auf dem kleinen Kinderspielplatz, »zum Übernachten rausgesucht. Ein großer Karton zum Zudecken und eine leere Schnapsflasche lagen darin. Wir haben alles eingepackt. Er muss sich gestern dort aufgehalten haben, denn ansonsten wäre sein Müll weggeräumt gewesen. Das war’s dann so weit. Salut.« Marius nickte zum Abschied, trottete davon und überließ die vier Ermittler ihren ersten Überlegungen.
Mittlerweile hatte sich eine Reihe Schaulustiger eingefunden, die neugierige Blicke über das gelb-schwarze Absperrband warfen. Es waren vor allem junge Leute, die die Hälse reckten, um zu sehen, was sich dahinter abspielte.
Rachid nickte in ihre Richtung. »Sieht so aus, als wären es Studierende. Wir müssen bei ihnen und auch in den benachbarten Wohnhäusern unsere Fragen stellen. Vielleicht waren von den jungen Leuten welche am Abend oder in der Nacht im Park zugange. Wenn wir den genauen Todeszeitpunkt von Regis haben, können wir gezielt nachfragen. Felix, Coco, fangt trotzdem schon mal an, euch umzuhören.«
»Wie alt war der Mann? Könnte er ein Student gewesen sein?«, wollte Mathilde wissen.
Felix schüttelte den Kopf. »Nein, wohl eher nicht. Dazu war er zu alt. Ich schätze, er war so um die fünfzig. Was meinst du, Coco?«
Die junge Frau nickte bestätigend. »Vielleicht einer der Professoren?«
»Ausschließen kann man es nicht, aber er sah schon ziemlich heruntergekommen aus«, meinte Felix skeptisch.
»Sie hätten meinen alten Juraprofessor sehen sollen. Wenn er sich mit einer leeren Dose an den Straßenrand gesetzt hätte, wäre sie im Nu mit Geldstücken gefüllt gewesen. Nein, vom Äußeren sollten wir uns nicht so schnell beeindrucken und beeinflussen lassen. Wir brauchen ein Foto, mit dem ihr durch die Nachbarschaft geht, und dann hoffen wir, ihn bald identifizieren zu können. Wenn wir ein wenig Glück haben, sind seine Fingerabdrücke in der Datenbank hinterlegt.« Mathilde klatschte wie eine altertümliche Schullehrerin, die ihre Küken um sich schart, in die Hände. »Also los! Wie immer werde ich versuchen, Regis davon zu überzeugen, uns die Ergebnisse der Gerichtsmedizin lieber heute als morgen zu liefern.«
»Coco, fangen wir mit denen da hinten an.« Felix tippte seiner Kollegin auf die Schulter und wies auf die Schaulustigen, deren Anzahl jetzt auf eine Handvoll zusammengeschrumpft war.
»Sehr gut. Wir sehen uns dann gegen vierzehn Uhr in meinem Büro, passt das?«, schlug Mathilde vor.
Zustimmendes Nicken, und die beiden jungen Polizeibeamten machten sich an die Arbeit.
»Wollen wir uns einen Augenblick setzen?«, fragte Rachid und zeigte auf eine Bank am Parkeingang.
»Gerne. Eigentlich ein schöner kleiner Park. Hast du eine Ahnung, ob hier mittlerweile ein Treff für Homosexuelle ist? Ein Mann allein auf einer Bank, in einem Park? Was meinst du?«
Rachid musste nicht lange überlegen. »Wenn er schwul war, werden wir es von Regis erfahren. Aber nein, mir ist nichts bekannt in diese Richtung. Und er bietet auch nicht sonderlich viel Schutz für Menschen, die nicht gesehen werden wollen.«
Sie setzten sich. Die Vormittagssonne lugte zwischen den Bäumen, deren Laub sich zu färben begonnen hatte, hervor. Mathilde streckte ihre langen Beine von sich.
»Es ist doch eine grandiose Aussicht von hier oben. Da hinten die Kathedrale, und das da rechts mit den zwei Türmen ist die Kirche Saint-Baudile. Wusstest du, dass auf diesem Hügel die Wiege der Stierkampftradition von Nîmes steht?«
Rachid schüttelte den Kopf und lächelte. »Nein. Es wundert mich allerdings nicht, dass du das weißt, bei deiner besonderen Beziehung zu ElNimeño. Du unterhältst dich schließlich jeden Tag mit seiner Statue vor der Arena.«
»Stimmt. Dieses Treffen mit ihm hat damals seine Spuren hinterlassen, obwohl ich noch ein Kind war. Er war sehr charismatisch, und seine Lebenseinstellung, für seine Ziele bis ans Ende zu gehen, hat mir imponiert. Ich habe sie verinnerlicht.«
»Nun, konsequent genug war er ja. Ein Suizid, weil man seiner Leidenschaft, seiner Berufung nicht mehr nachkommen kann, ist schon eine außergewöhnliche Entscheidung.«
»Allerdings. Diese schwere Verletzung, die er beim Stierkampf erlitten hatte, und die Gewissheit, nie mehr antreten zu können … Er konnte es nicht akzeptieren. Und weißt du, was schon ziemlich kurios ist? Dieser Hügel ist benannt nach Ali Margarot, der gegen den Stierkampf war. Aber tatsächlich fing hier alles an. Kinder, die mit einem mechanischen Stier Kämpfe nachstellten, kleine Toreros, die ihre Helden nachahmten, eine erste Stierkampfschule entstand, und bald waren ein paar Jungs davon beseelt, Stierkämpfer zu werden. Einer von ihnen war Alain Montcouquiol, der ältere Bruder von Christian, unserem ElNimeño.«
»Du bist echt eine wandelnde Enzyklopädie, Diderot und d’Alembert in einer Person«, neckte Rachid Mathilde. »Nur erheblich attraktiver.«
Sie lachte. »Und vor allem noch erheblich lebendiger. Nun, ich bin ein Kind von hier. Solche Geschichten zu kennen, ist genauso wichtig, wie die Traditionen unserer Region zu lieben. Allerdings ist, wie du weißt, der blutige Stierkampf nicht mein Ding. Apropos Blut. Ich lasse Regis noch in Ruhe. Es reicht, wenn ich unseren Stier erst ein wenig später reize.«
»Regis ist unter deinen Händen doch ein Lämmchen. Aber du hast recht.« Rachid sah auf seine Armbanduhr. »Hier können wir nichts mehr ausrichten. Komm, ich lade dich auf ein sehr frühes Mittagessen ein. Hast du überhaupt gefrühstückt?«
»Ja, allerdings nur ein Croissant. Martin ist gerade gekommen, als ich loswollte, und hat frische Hörnchen mitgebracht. Er wollte den Jungs beim Abbau ihrer Theaterbühne helfen. Ach, und er hat uns, also auch Felix, Sabine und Coco, fürs nächste Wochenende eingeladen. Eine Überraschung erwartet uns, sagte er.«
Rachid stand auf, streckte seine Arme aus und zog Mathilde auf die Beine.
»Eine Überraschung? Welche?«
»Na, wenn ich das wüsste, wäre es wohl keine mehr.«
Die beiden spazierten zum Parkausgang.
»Wo ist denn dein Wagen?« Suchend sah Rachid sich um.
»Steht in der Tiefgarage beim Gericht. Die paar Meter laufe ich gerne zu Fuß. Ich habe nur vergessen, wie steil es hier hochgeht. Bist du mit dem Wagen da?«
»Ja, den soll Felix zurückfahren. Felix? Kommst du mal bitte?«
Der Lieutenant trabte heran.
»Wir laufen schon mal zurück. Nimmst du bitte meinen Wagen, Coco den, mit dem ihr gekommen seid. Gibt es schon irgendeine brauchbare Aussage?«
Felix schüttelte den Kopf. »Nein. Überhaupt nichts. Alles Schaulustige, fast ausschließlich Studierende, deren Weg hier am Park vorbeigeht. Keiner wohnt in der Nähe, aber den Park kennen natürlich alle. Von denen, die wir eben befragt haben, ist gestern Abend niemand hier gewesen. Wir machen uns dann auch gleich auf die Socken. Wir hören uns noch in den unmittelbar benachbarten Häusern um. In einem ist ein Hotel untergebracht. Mit etwas Glück ist unser Mann dort abgestiegen und hat seinen Namen und Adresse hinterlassen.«
Nach einem Café au Lait und zwei Croissants vor einem Café gegenüber der Maison Carrée und der Verabredung, über den aktuellen Fall erst am Nachmittag gemeinsam zu reden, schlenderten Mathilde und Rachid zum Palais de Justice. Rachid musste einen Anhörungstermin in der Staatsanwaltschaft wahrnehmen, auf Mathilde wartete ein Stapel Akten, die Christine ihr am Tag zuvor auf die Ablage gepackt hatte.
»Man könnte den Eindruck gewinnen, die ganze Welt hat Herbstferien«, stellte Mathilde fest. Je näher die Mittagszeit rückte, umso mehr füllten sich die Tische vor den Lokalen. »Und alle strömen nach Südfrankreich. Wenn ich in Holland oder noch weiter im Norden leben würde, ich käme auch hierher, um noch einmal die letzten Sonnentage auszukosten. Aber hier ist es auch bald vorbei. Spätestens Ende der Woche ist Regen angesagt.«
Geschickt wich sie einer Familie mit vier Kindern und Hund aus, die sich vor der Arena aufstellten und die Köpfe reckten.
Im Palais de Justice trennten sich zunächst ihre Wege. Eine Stunde später streckte Rachid den Kopf durch Mathildes Bürotür. Christine war bereits in die Mittagspause verschwunden.
»Mittagessen?«
Mathilde schüttelte den Kopf. »Keine Zeit, das hier kann leider nicht warten. Der Kaffee heute Vormittag hat mich um Stunden zurückgeworfen, eigentlich kann ich es mir gar nicht leisten, mit dir meine Zeit zu vertrödeln.« Sie grinste, und eine Antwort von Rachid ließ nicht lange auf sich warten.
»Aha, vertrödeln nennst du das also. Das werd ich mir merken. Gut, dann ziehe ich mich in mein Büro zurück. Wir sehen uns dann um vierzehn Uhr, Madame la brocanteuse.« Er warf Mathilde eine Kusshand zu und verschwand.
Sie widmete sich weiter ihren Akten, und die Zeit flog nur so dahin. Christine kehrte aus der Pause zurück, nahm die bearbeiteten Akten an sich und brachte sie dorthin, wo man auf sie wartete.
Kurz nach zwei erschienen Rachid und Felix, der eine Tüte in der Hand hielt, aus der ein belegtes Baguette herausschaute.
»Pardon, ich bin noch nicht zum Essen gekommen.«
»Felix, ich habe Sie noch nie ohne Nahrung in meinem Büro gesehen. Hätten Sie Ihr Sandwich nicht dabei, ich hätte Sie überhaupt nicht als Lieutenant Tourrain identifiziert«, scherzte Mathilde, deren Magen anfing zu grummeln, als Felix seinen Snack auf einem Teller, den ihm Christine brachte, ablegte. Die drei Ermittler setzten sich an den kleinen runden Besprechungstisch.
Mathilde kam gleich zur Sache. »Hat sich noch etwas in der Nachbarschaft des Parks ergeben?«
Felix, der eben in sein Sandwich beißen wollte, legte es wieder auf den Teller. Er stand auf, zog sein Notizbüchlein aus der Gesäßtasche und blätterte es auf. »Die Zigarettenmarke war schnell gefunden. Es handelt sich um eine Zigarette, die vor allem in Südamerika geraucht und auch produziert wird. Dort quasi überall, am häufigsten jedoch in Brasilien und Chile. Da der Warnhinweis auf Spanisch ist, können wir schon mal davon ausgehen, dass der Mann aus Chile kommt. Allerdings hat er für mich nicht wie ein Südamerikaner ausgesehen. Aber, da kann ich mich auch täuschen.«
»Wie sah er denn aus?«, fragte Mathilde interessiert. »Ich habe ihn ja nicht zu Gesicht bekommen.«
Felix zuckte mit den Schultern. »Ich würde sagen, europäisch. Oder, was meinst du, Rachid?«
»Er war weiß, Haare kastanienbraun, viel Grau drin, schätzungsweise eins achtzig, schlank, sah verlebt aus. Wie jemand, der zu viel trinkt und zu wenig schläft. Das Alter, schwierig. Ich schätze zwischen fünfzig und sechzig«, fasste Rachid zusammen.
»Und ja, die Nachbarschaft. Der kleine Park ist gesäumt von Häusern, wir haben alle abgeklappert, allerdings natürlich nicht überall jemanden angetroffen. Die Leute sind meist bei der Arbeit. Denen, die zu Hause waren, ist nichts aufgefallen. Kein Streit, kein Schrei, auch nicht wirklich ein Schuss. Einige haben berichtet, sie hätten so was wie einen Knall gehört, dachten, es wäre die Fehlzündung eines Mopeds oder ein zu laut gestellter Fernseher gewesen, es liefen in zwei Programmen Krimis. In zwei Studentenbuden wurde ausgelassen gefeiert, auch die Leutchen haben nichts gehört, andere Anwohner schliefen mit oder ohne Schlafmittel den Schlaf der Gerechten. Nur eine ältere Frau will so was wie einen Schuss gehört haben. Als wir nachhakten, musste sie erst ihr Hörgerät, wie sagt man, justieren? Außerdem stimmte die Zeit nicht. Sie hat den Knall am helllichten Tag gehört, dann hätte man die Leiche demnach auch früher entdecken müssen. Also, wir haben nichts. Wir hatten uns zunächst noch etwas von dem Hotel in der Nähe versprochen«, Felix blätterte auf die nächste Seite seines Notizheftes, »die Villa Meridia, ein schönes Haus, sehr gepflegt und bestimmt nicht billig, also eher nichts für unseren Mann. Aber dort sind alle Zimmer belegt, ein Spanier oder Südamerikaner ist jedoch nicht unter den Gästen.«
Felix packte seine Notizen wieder ein und schielte auf sein Sandwich.
»Ihr habt zwar nicht viel rausbekommen, aber du darfst es trotzdem essen«, unkte Rachid.
Sein Kollege ließ sich das nicht zweimal sagen. Nachdem er die Hälfte innerhalb kürzester Zeit verputzt hatte, wischte er sich mit der Serviette, in die das Baguette eingewickelt war, den Mund ab.
»Coco versucht gerade, mittels der Fingerabdrücke seine Identität rauszufinden. Ich denke, sie wird sich gleich melden.«
Kaum hatte Felix den Satz ausgesprochen, als Rachids Handy klingelte.
»Coco«, teilte er den anderen mit. Gespannt hörte er zu. »Danke, dann sehen wir uns gleich. Merci, Coralie.« Er steckte sein Handy weg. »Das ging ja nun fix. Die Internationale Datenbank hat sofort den Namen unseres Opfers ausgespuckt. Er war wegen verschiedener Drogendelikte unter anderem in Santiago de Chile aktenkundig geworden. Sein Name ist Francis Fabre, er ist französischer Staatsbürger, geboren 1974 in Lyon. Wann er in Chile eingereist ist, wissen wir noch nicht. Er ist vorgestern mit dem Flugzeug in Marseille gelandet. In Frankreich ist er nicht auffällig geworden. So weit die ersten Informationen.«
Kaum hatte Rachid ausgeredet, als sich auch Mathildes Smartphone meldete. Sie nahm umgehend das Gespräch an.
»Bonjour, Regis. Sie dachten, Sie kommen mir mal zuvor? Morgen Vormittag? Da bin ich leider verhindert. Aber Felix und Coralie könnten den Termin wahrnehmen? Einen Moment.« Mathilde wandte sich an Felix. »Morgen neun Uhr, die Obduktion von Fabre. Sie und Coralie?«
Felix hob den Daumen und nickte zustimmend.
»Regis, das geht klar. Wir haben übrigens einen Namen für unser Opfer. Francis Fabre, ein Franzose gebürtig aus Lyon, Jahrgang 1974.« Mathilde machte eine Pause. »Bei dem Namen klingelt was? Aha. Allerdings liegt nichts gegen ihn vor. Ein paar Drogendelikte in Santiago de Chile, von dort ist er auch nach Marseille geflogen. Sie werden nachdenken? Dann tun Sie das. Und nochmals herzlichen Dank, ich weiß es zu schätzen, dass Sie morgen schon obduzieren. Au revoir.«
Mathilde drückte auf den kleinen roten Hörer. »Das geht ja alles fix. Regis obduziert, und den Namen unseres Toten finden wir in der Internationalen Datenbank. Sehr schön.«
»Aber du wirst Regis auch so mit ein paar Flaschen Rotwein versorgen, nehme ich an.«
»Rachid, was denkst du denn. Es ist mir zu einer heiligen Pflicht geworden. Ich schätze mal, Regis weiß das auch.« Sie lächelte. Bisher war es immer ein winzig kleiner Bestechungsversuch gewesen. Der Mediziner nahm sich der Toten so schnell wie möglich an, er wusste genau, Mathilde würde ihm sonst im Nacken sitzen, und die Ermittlungsrichterin bedankte sich mit einem Karton der besten Weine des Château de Boncourt.
Es klopfte, die Tür öffnete sich, und Coralie Mollard spazierte herein.
»Kannst du fliegen? Du hast doch eben noch mit dem Chef telefoniert?«, wunderte sich Felix, und auch Rachid und Mathilde schauten sich verdutzt an.
»Aber nein. Ich hab mich sofort auf den Weg zu euch gemacht, als ich die Information bekam, und schon von unterwegs mit dem Commandant telefoniert. Ich war nur zehn Minuten vom Palais de Justice weg, wollte euch aber nicht mit der Neuigkeit warten lassen. Oh, da ist noch was von deinem Sandwich übrig. Ich bin am Verhungern.«
»Jetzt fangen Sie auch noch damit an.« Rachid grinste und gab Felix einen Stoß in die Seite.
»Ich weiß, was es bedeutet, wenn einem ein wichtiger Stoff fehlt. Dann wollen die kleinen grauen Zellen nichts für einen tun.« Mathilde zeigte auf ihre Zigarettenpackung, die in einer gepunkteten Metallbox darauf wartete, daraus befreit zu werden.
»Nur dürfen wir unsere Sandwiches auch bei geschlossenem Fenster essen.« Felix brach ein Stück seines Baguettes ab und reichte den Rest Coco. »Hier, damit du einsatzfähig bleibst.«
»Alors, dann wollen wir mal.« Rachid rollte Mathildes Schreibtischstuhl an den Besprechungstisch. »So flott, wie Sie arbeiten, Coralie, vermute ich mal, Sie haben uns bereits etwas über Francis Fabre zu berichten?«
Coco schluckte den letzten Bissen hinunter und rieb sich die Hände, um ein paar Krümel auf die Serviette fallen zu lassen.
»Ja, allerdings ist es auf den ersten Blick nicht viel, und vor allem ist die Geschichte schon ein paar Jährchen her.«
Sie legte eine Kunstpause ein, und Rachid musste sich zusammenreißen, nicht laut zu lachen.
»Coralie, treten Sie in Felix’ Fußstapfen? Diese Kunstpausen sind wir eigentlich nur von ihm gewöhnt. Danach kommt allerdings meist etwas Brauchbares heraus.«
Felix wurde ein wenig rot. »Danke für die Blumen. Das ist mir noch nie aufgefallen.«
Rachid prustete los. »So bereitest du immer wirklich gute Ermittlungsergebnisse vor. Wenn es bei Coralie genauso ist, dann legt ruhig eure Päuschen ein.«
Felix schmunzelte. Seitdem Rachid und Madame le Juge ein Paar waren, hatte sich der Commandant, sein Chef, den er rückhaltlos verehrte und bewunderte, verändert. Er war immer noch ernsthaft, aber nicht mehr so ernst. Er schien das Leben etwas leichter zu nehmen. Das war der positive Einfluss von Madame de Boncourt.
Ende der Leseprobe