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Ein kaltblütiger Mord in der Hitze des Sommers
Ende Juli in Nîmes, die Hitze erreicht Höchstwerte. In der antiken römischen Arena laufen die letzten Proben vor der Premiere. Mit einem Großaufgebot an Menschen und Pferden werden die Geschichte der Stadt und die Besonderheiten der Region szenisch dargestellt. Eine der Darstellerinnen, eine junge Flamenco-Tänzerin, bricht plötzlich inmitten all der Menschen tot zusammen. Ein kaltblütiger Mord, und niemand hat etwas gesehen! Madame le Juge Mathilde de Boncourt, Commandant Rachid Bouraada und Lieutenant Felix Tourrain von der Police Judiciaire nehmen die Ermittlungen auf.
Mathilde de Boncourt ermittelt:
Band 1: Die Richterin und die Tote vom Pont du Gard
Band 2: Die Richterin und die tote Archäologin
Band 3: Die Richterin und der Kreis der Toten
Band 4: Die Richterin und das Ritual des Todes
Band 5: Die Richterin und der Tanz des Todes
Band 6: Die Richterin und das Erbe der Toten
Band 7: Die Richterin und der Todesbote
Alle Bände sind in sich abgeschlossene Fälle und können unabhängig voneinander gelesen werden.
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Cover & Impressum
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Inhaltsübersicht
Cover
Textanfang
Impressum
Zwanzig Jahre zuvor
»Und tak und tak, takka tak, takka tak.«
Paquita gab den Takt vor. Immer wieder. Sie stampfte ihn mit den Füßen, beobachtete dabei jede Bewegung ihrer Schülerinnen. Es war die Fortgeschrittenengruppe der Zehn- bis Vierzehnjährigen. Manche dieser Mädchen hatten mit dem Flamenco schon angefangen, kaum dass sie dem Windelalter entwachsen waren.
Sie hob graziös ihre Arme. Drehte ihre Hände im Gelenk, nach vorne, nach hinten, die geöffneten Handflächen wie ein stetiges elegantes Heranwinken und Fortscheuchen. Dann die Arme über dem Kopf, der Rhythmus der Füße wanderte durch den Körper in die klatschenden Hände. Kopf nach unten, Kopf in den Nacken, Drehung.
»Und tak und tak, takka tak, takka tak.« Ferse und ganzer Fuß im schwarzen Schnürschuh mit dem klobigen Absatz.
Die Mädchen konnten sich im Spiegel beobachten, während die Lehrerin mit dem Rücken zu der glänzenden Fläche stand, die die ganze hintere Wand einnahm. Der Schweiß lief ihnen über die Gesichter, die schwarzen langen Röcke wogten hin und her wie ein gleichmäßiger dunkler Fluss. Nur die Oberteile, die die Mädchen trugen, waren unterschiedlich. Bunte T-Shirts oder Blusen, unifarben, geblümt, gemustert.
Ohne dass sie es bemerkten, wanderte der aufmerksame Blick der Flamencolehrerin zu zwei Mädchen in der ersten Reihe. Die eine bereits eine junge Frau, die sich mit stolzgeschwellter Brust und feurigem Blick im Rhythmus der immer schneller werdenden Musik bewegte, die andere gerade zwölf Jahre alt geworden, in einer gelben Rüschenbluse, mit der sie den noch nicht vorhandenen Busen kaschieren wollte. Beide mit einem Ausdruck großer Konzentration und zugleich einer fast schon animalischen Freude an der Bewegung, diszipliniert und zugleich katzenhaft geschmeidig. Ihre roten Lippen glänzten.
Für eine der beiden musste sich Paquita heute entscheiden. Die Ältere hatte bereits Erfahrung auf der Bühne gesammelt, an ihren Bewegungen gab es kaum etwas auszusetzen. Sie war perfekt. Die Jüngere war ein Naturtalent, sie hatte die Begabung, die Gabe der Bewegung, die Gabe zu begeistern. Bei beiden sah der Tanz spielerisch aus, doch bei der einen waren es Begabung und Arbeit, bei der anderen Begabung und inneres Feuer. Die Lehrerin marschierte klatschend und stampfend um die Gruppe ihrer Schülerinnen herum, begutachtete ihre Bewegungen und traf ihre Wahl.
Grellweißes Licht, das in den Augen schmerzte. Der Schmerz übertrug sich fast körperlich auf Paquita, die neben dem Bett saß und die Hand des Mädchens hielt.
»Bitte, lassen Sie mich mit ihr reden. Ich bin es ihr schuldig. Und sie wird mich dafür hassen und nicht Sie«, hatte sie die Mutter des Mädchens gebeten. Diese hatte dankbar genickt und mit tränennassem Gesicht das Krankenzimmer verlassen.
»Corazón.«
Die Augenlider flatterten wie die Flügel eines jungen Vögelchens beim ersten Versuch, sein Nest zu verlassen. Das Mädchen hob die Lider, ein wirrer Blick aus dunklen Augen, die Paquita nach einigen Sekunden fixierten. Augen voller Angst, voller Fragen.
»Du erinnerst dich an nichts?« Der Blick der Frau wanderte von dem zarten Gesicht zu den Beinen. Das rechte Bein war bis zur Wade eingegipst. Sie biss sich auf die Lippen und konnte nur mühsam die Tränen zurückhalten.
»Nein. Aber Mama und der Arzt sagten, es wird alles wieder gut. Wird es doch? Und ich kann bald wieder tanzen.«
»Corazón, du musst jetzt stark sein.« Paquita atmete tief ein. »Wir wissen es nicht. Der liebe Gott weiß es vielleicht. Es wird lange dauern, bis du wieder laufen kannst. Wenn der Gips weg ist, bekommst du einen ganz besonderen Schuh, der deinen Fuß wieder stark macht. Doch die Verletzung ist sehr, sehr schlimm gewesen.«
»Paquita, du willst mir sagen, dass ich nie wieder tanzen kann, stimmt das?« Die dunklen Augen blickten jetzt ganz ruhig.
Der alten Tänzerin brach das Herz. Sie schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht, aber ich bete zur Heiligen Jungfrau Maria und zu Gott, dem Allmächtigen, dass du wieder tanzen kannst. Es wird ein weiter Weg sein, steil und voller Steine, aber wir wollen fest daran glauben. Und nun ruh dich aus.«
Sie drückte dem Mädchen einen Kuss auf die Stirn und verabschiedete sich. Sie war ein altes feiges Weib, hatte es nicht fertiggebracht, die Wahrheit auszusprechen.
Eine Stunde nachdem ihre Schülerin das Tanztheater verlassen hatte, war sie von Spaziergängern in einem nur wenige Minuten entfernten Park entdeckt worden, verborgen inmitten eines dichten Gebüschs. Jemand hatte dem Kind mit einem Messer die Achillessehne des rechten Fußes durchtrennt.
Die Bodega Los Gitanos war eines der angesagtesten Restaurants im Quartier La Placette inmitten der Altstadt von Nîmes. Einheimische wie Touristen schätzten die vielfältige Küche, eine mediterrane kulinarische Hochzeit zwischen Spanien und dem französischen Midi, und genossen dazu jeden Abend Livemusik. Manitas Carmona, der Herr des Hauses, hatte gerade die Schiefertafel, auf die er die Tagesgerichte aufschreiben würde, aufgestellt, als schon die ersten Touristen davor haltmachten und neugierig mit einem Akzent plappernd, den Manitas für holländisch hielt, die Tafel, auf der noch nichts zu sehen war, beäugten. Der Wirt zuckte entschuldigend mit den Schulten, zeigte mit den Fingern »fünf Minuten«, doch da waren die Touristen schon weitergegangen. Tja, so waren sie, die Feriengäste. Hatten eigentlich alle Zeit der Welt und dann doch nicht, sinnierte Manitas.
Maria, seine Frau, verteilte derweil Aschenbecher auf den Tischen im Außenbereich. Es war ein Wunder, dass sie nicht permanent geklaut wurden, diese gelben Ascher aus Kunststoff, dreieckig, mit dem Aufdruck RICARD, dem berühmten Pastis aus Marseille. Allerdings ließ Maria die wirklich alten Aschenbecher aus Opalex, Raritäten, die noch aus den Fünfzigerjahren stammten, nie aus den Augen. Sie standen nur auf der Theke in der Bodega, und wehe, jemand würde versuchen, sie einzusacken.
Die Aschenbecher harmonierten farblich mit den gelb-rot karierten Tischdecken, auf die Maria die Ständer mit den Speisekarten stellte. Die Karten sahen aus wie frisch aus der Druckerei, sauber und ohne ein Eselsohr, nie käme ihr eine angeschmutzte Karte auf den Tisch. Sie war auch für die Küche zuständig, während Manitas das Kulturprogramm managte. Wenn nicht gerade Gino, ihr Ältester, die Gäste mit seiner Gitarrenmusik erfreute, waren es meist befreundete Musiker, die sich am Abend hier ein gutes Zubrot verdienten. Hervé, der alte Akkordeonspieler, Bembé mit seinen Percussions oder das Trio Los Torros, die eine bunte Mischung von argentinischer Tangomusik bis hin zu Klängen des Buona Vista Social Clubs zum Besten gaben.
Mit sauberen Druckbuchstaben geschrieben, erschien auf der Tafel das Mittagsangebot. Artischocken mit Vinaigrette, wahlweise Lamm- oder Schweinekotelett auf Ratatouille, geeiste Melone, das alles inklusive eines Glases Vin de Table für 14,50 Euro. Dazu die Spezialität des Hauses, die auch am Abend angeboten wurde und nach der gerade die Touristen lechzten – eine Paella, die, so kam es ihm vor, zu jeder Tages- und Nachtzeit von Maria frisch zubereitet wurde.
»Maria.«
Seine Frau drehte ihm den Rücken zu, gab keinen Ton von sich und verschwand, nachdem sie die Tische vorbereitet hatte, ohne ein Wort im Lokal. Manitas seufzte tief. Das hatte man davon, wenn man als Südfranzose eine Spanierin heiratete. Sie hatte noch mehr Temperament als die hiesigen Frauen. Und sie verzieh nicht so schnell. Noch immer war Maria die schönste Frau, die er je gesehen hatte, und es erschien ihm wie ein Wunder, dass sie ihn gewählt hatte. Gut, er war auch ein attraktiver Mann, das bestätigten ihm die Blicke, die ihm die Frauen immer noch zuwarfen. Mittlerweile hatte sich Silber in Marias dunklen Zopf geschlichen. Sie war nie schlank gewesen, doch ihr Bauch wölbte sich mittlerweile schon enorm unter ihrem bunten Sommerkleid. Gut, manche würden behaupten, sie sei dick. Aber dick war relativ. Auch er war auseinandergegangen. Und sein schwarzer Schnurrbart wäre ohne Koloration und Wachs nicht so bedeutend, wie er nun einmal war.
Er ging Maria nach. Es war an der Zeit, sich zu versöhnen. Seine Frau ordnete ein paar gelbe Röschen in einer Vase. Manitas umschlang sie von hinten mit beiden Armen, zog sie an sich und küsste sie auf den Nacken. Das hatte noch nie seine Wirkung verfehlt.
»Lass das, estúpido. Ich muss mich um die Gazpacho für heute Mittag kümmern.«
»Du nennst mich einen Blödmann? Was hätte ich denn machen sollen? Sollen wir sie einfach ziehen lassen? Du bist doch die Erste, die nicht mehr aufhört, zu jammern und zu wehklagen.«
»Und du? Du denkst doch nur ans Geld, das Santana dir, gut, uns einbringt. Der Vater als Manager, nie das Kind auch nur einmal aus den Augen lassen. Sogar einen Verlobten hast du für sie ausgesucht. Ist das nicht ein bisschen sehr patriarchalisch gedacht? Denk mal darüber nach.« Maria drehte sich um, gab der Pendeltür zur Küche einen Tritt und verschwand in ihr Reich.
Manitas musste sich zusammenreißen, um ihr nicht hinterherzurennen und ihr ordentlich die Meinung zu geigen. Stattdessen kurbelte er die Markise heraus, goss die üppig wuchernden Oleander, die in riesigen vases d’Anduzes auf dem Trottoir zwischen der Straße und den Tischen standen, und stellte eine zweite Tafel auf mit der Ankündigung der Livemusik an diesem Abend. Er hatte von der Gruppe tatsächlich noch nie etwas gehört, aber der Typ, der angefragt hatte, war ihm sympathisch gewesen, und nach einer kleinen Kostprobe auf dem Saxofon waren sich die Männer schnell einig geworden. Manitas zahlte einen Grundbetrag, der Rest würde bei den Gästen als Spende an die Musiker von diesen selbst eingesammelt werden. Die Leute waren in Ferienstimmung, und wenn sie gut und reichlich gegessen und getrunken hatten, auch in Spendierlaune.
Diesmal in schwungvollen Lettern schrieb er den Bandnamen mit Kreide auf die schwarze Tafel. Ein wenig merkwürdig war der ja schon. Trois chinois et une contrebasse. JAZZ. In der Gruppe war zwar kein einziger Chinese, aber immerhin ein Kontrabass. Manitas summte die Melodie des Kinderliedes vor sich hin. Wenn er die Zeit dazu fand, gesellte er sich gerne zu den Bands, die die Gäste mit ihrer Musik verwöhnten. Er fand, dass er eine gute Singstimme hatte, und der Applaus nach seinen kleinen Gesangseinlagen schien ihm recht zu geben. Auch Santana hatte eine wunderschöne Stimme. Besser jetzt nicht an sie und den ganzen Ärger denken, sonst wäre ihm der Tag mal wieder total verdorben.
Lieutenant Felix Tourrain war rundum mit sich zufrieden. Gerade hatte er ein Erpressungsopfer dazu gebracht, endlich den Mund aufzumachen und sich der Polizei anzuvertrauen. Gut gelaunt spazierte er zurück zu seinem Arbeitsplatz im Präsidium der Police judiciaire. Plötzlich blieb er wie angewurzelt stehen. Ein Plakat mit der Ankündigung einer Livemusikgruppe sprang ihm ins Auge. Trois chinois et une contrebasse. JAZZ. Das wäre doch was heute Abend für Sabine und ihn. Dazu ein gutes Abendessen in der Bodega los Gitanos. Perfekt. Aber besser war es, einen Tisch zu reservieren. Nîmes war in diesem Sommer geradezu überlaufen von Urlaubern, die es sich ebenfalls am Abend gut gehen lassen wollten.
Der Wirt, ein dunkelhaariger kräftiger Mann mit einem beeindruckenden Schnurrbart, nahm ein Notizbuch zur Hand, um die Reservierung einzutragen. »Auf welchen Namen?«
»Tourrain. Felix Tourrain.«
»Kann ich Ihnen sonst noch etwas Gutes tun?« Er wedelte mit der Hand vor seinem Gesicht herum und verscheuchte eine Wespe, die zielstrebig auf den glänzenden Schnurrbart zugesteuert war.
Felix schaute auf seine Uhr. Eigentlich genau die richtige Zeit für einen kleinen starken Kaffee und eine erste Stärkung. »Einen café double und zwei Croissants, bitte.«
Er setzte sich auf den nächstbesten Stuhl und streckte seine langen Beine aus. In ein paar Tagen wollten er und Sabine in Urlaub fahren. In die Pyrenäen, da kam er her, dort waren seine Wurzeln. Und seine Urgroßmutter wurde fünfundneunzig. Von dort an die Atlantikküste, surfen und faulenzen. Ein perfekter Plan, ein noch perfekterer Urlaub, da war er sich sicher.
Der Kaffee und die buttrigen Blätterteighörnchen kamen, dazu der Midi Libre. Sehr aufmerksam. Ein Glas Wasser stand ebenfalls auf dem Tablett, darunter hatte der Wirt die Rechnung geklemmt. Das erste Croissant verschwand in Rekordgeschwindigkeit, das zweite tauchte Felix immer wieder in den Kaffee, bis auf der Oberfläche kleine Fettäuglein schillerten. Sabine bekam jedes Mal einen Anfall, wenn sie das sah. Und erst die Krümel, die in der schwarzen Brühe schwammen … Felix schmunzelte, als er sich Sabines Gesicht jetzt vorstellte. Die wunderschönen geschwungen Augen zu schmalen Schlitzen verengt, die Oberlippe gekräuselt. Es fehlte dann nur, dass sie ihm ein Stück Brot an den Kopf warf.
In diesem Augenblick schepperte es, und lautes Geschrei drang aus dem Inneren des Lokals. Dem Geräusch nach zu urteilen, war ein Topf oder eine Pfanne auf dem Steinfußboden gelandet. Versehen oder Absicht? Sehr schnell wusste Felix, es war Absicht gewesen, denn die Schimpfkanonade und das wechselseitige Geschrei einer Männer- und einer Frauenstimme konnten nur bedeuten, dass sich hier zwei ganz schön in der Wolle hatten. Das alles ging ihn nichts an, solange es sich nicht zu einer handfesten Auseinandersetzung mit Handgreiflichkeiten entwickelte. Und er wollte sich auch nicht bei seinem zweiten Frühstück stören lassen. Noch einmal tunkte er das Gebäck in den Kaffee, blätterte zu der Sportseite im Midi Libre. Eine Vorschau auf die Rugby-Saison im September. Los ging es für Nîmes gegen Mâcon, Stier gegen Stier, beide Clubs hatten das Tier in ihrem Vereinswappen.
Das Geschrei von drinnen war weiterhin nicht zu überhören. Felix nahm ein paar Wortfetzen wahr. Tochter, Tanz, Kanada, Show. Irgendwo knallte eine Tür an eine Wand, die Stimmen wurden lauter. Eine Männerstimme schrie: »Und sie bleibt hier. Und wenn es das Letzte ist, um was ich mich kümmere.« Eine Sekunde später trat ein wutschnaubender Wirt vor die Tür. Mit einem Fußtritt beförderte er einen Stuhl zwischen zwei Oleander, während man von drinnen eine zeternde Frauenstimme hörte.
Besser, er regt sich auf diese Weise ab, sinnierte Felix und entschied, dass es nun an der Zeit war zu gehen. Er legte das Geld neben seinen Teller, warf einen Blick in seine Kaffeetasse und musste Sabine insgeheim recht geben. Der dunkle Krümelmatsch sah wirklich sehr unappetitlich aus.
»Sébastien macht mich noch ganz verrückt mit seinem Herumgestolper und Gejammer.«
Vivienne, Sébastiens Mutter, lag auf einer Sonnenliege am Swimmingpool. Neben ihr stand auf den beigefarbenen Sandsteinplatten ein leeres Martiniglas.
»Was hast du gesagt?«
Mathilde de Boncourt zog sich an der Leiter aus dem Becken und schüttelte sich wie ein nasser Hund. Der Pool stammte noch aus den Fünfzigern und war solide in Beton gebaut worden. Die Nierenform entsprach schon lange nicht mehr dem letzten Chic, doch die Familie mochte das alte Becken, und für Rémy de Boncourt, Großvater von Mathilde und Onkel von Vivienne, stand es außer Frage, dass das Schwimmbecken in den nächsten Jahren nicht erneuert werden musste.
Vivienne zog die Sonnenbrille von den Augen und betrachtete Mathilde. »In dem Badeanzug siehst du aus wie ein Model aus der Vogue von 1965. Ich kenn dich nur in diesem gestreiften Einteiler. Willst du dir nicht mal was Neues gönnen? Und über Sébastien sagte ich, dass er es mit seinen Vorbereitungen für die Aufführung übertreibt. Natürlich ist es eine tolle Sache, dass er als Statist dabei ist. Aber wie kann man nur bei diesen Temperaturen in einen braunen Sack gehüllt durchs Haus rennen und unartikulierte Schreie ausstoßen.«
Mathilde lachte glucksend und löste das Band, mit dem sie ihre rotblonden lockigen Haare hochgebunden hatte. Ihr gefiel es, dass ihr Cousin, der das Downsyndrom hatte, so viel Freude an den Proben für das Sommerspektakel Son et Lumière in der Arena von Nîmes hatte.
»Lass ihn, er wächst gerade über sich hinaus. Sébastien als blinder Bettler in den Straßen von Nîmes, und er nimmt seine Aufgabe eben sehr ernst. Gestern hat er Babou an die Leine genommen und ist mit ihm als Blindenhund an der Seite durch den Garten gepirscht. Die Augen hatte er sich mit einem Schal zugebunden. Babou hat seine Sache sehr gut gemacht, bis er einer Katze nachjagen wollte. Im letzten Moment hat er sich eines Besseren besonnen, sonst hätte dein Sohn auf der Nase gelegen. Und was hast du eigentlich an meinem Badeanzug auszusetzen?«
Mathilde setzte sich auf ein Badetuch neben Viviennes Sonnenliege und streckte die Hand nach einer Schachtel mit bunten Punkten, in der ihre Gauloises blondes steckten, und einem Feuerzeug aus.
»Wie kann man bei der Affenhitze auch noch rauchen.« Vivienne wedelte mit der Hand den ersten blauen Dunst weg und rümpfte die Nase.
»Du bist ja nur am Meckern, ma chère. La canicule herrscht in jedem Jahr. Im Juli und August ist es immer heiß. Wenigstens darauf ist wettertechnisch Verlass. Und nun zurück zu meinem Badeanzug. Was gefällt dir an dem denn nicht?«
Vivienne seufzte. Tatsächlich hatte sie den Verdacht, dass Mathilde noch nie etwas von der Weiterentwicklung auch in der Bademode gehört hatte. Seit gefühlt einer Ewigkeit sah man sie im Sommer in diesem altmodischen Teil. Und das war eben das Problem. Ihre Nichte passte immer noch in den grün-weiß gestreiften Einteiler, dessen Bänder am Nacken mittels eines weißen Knopfes geschlossen wurden. Während sie, Vivienne, von Jahr zu Jahr mehr mit ihren Pfunden zu kämpfen hatte. Wenn sie ehrlich war, sah Mathilde mit ihren einhundertachtzig Zentimetern auch noch umwerfend in dieser Retrobademode aus. Und das teilte sie ihr dann auch ehrlich mit.
»Wie machst du das nur? Odile kocht so unglaublich gut, und du schiebst dir Riesenportionen rein. Eigentlich müsstest du hundertfünfzig Kilo auf die Waage bringen. Und du treibst noch nicht mal Sport.«
»Das sind wahrscheinlich die Gene meiner Mutter. Maman konnte angeblich auch essen, was sie wollte, und nahm kein Gramm zu.«
Wehmut überkam Mathilde, ein Gefühl, das ihr die Brust zusammenschnürte, wenn sie an ihre Eltern dachte, die bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen waren, als Mathilde drei Jahre alt gewesen war. Nur wenig später verstarb auch ihre Großmutter, und so war es grand-père Rémy, der Mathilde großgezogen und geformt hatte. Aber auch Odile, der gute Geist des Weingutes und im Schloss Château de Boncourt, hatte Mathilde ihren Stempel aufgedrückt. Die Liebe zu ihrer Heimat und ein ausgeprägter Gerechtigkeitssinn hatten sie denn auch bei ihrer Berufswahl beeinflusst. Mathilde war Untersuchungsrichterin, ihr Büro war im Palais de Justice in Nîmes, für sie die schönste Stadt Frankreichs.
»Apropos Essen, sind in der Schale noch Oliven drin?« Sie drückte ihre Zigarette aus und verstaute den Stummel in einem kleinen Metallbehälter, den sie für diesen Zweck immer dabeihatte.
Vivienne hob das Buch hoch, das sie auf die kleine Schüssel gelegt hatte, damit sich keine ungebetenen Gäste über die Oliven hermachten. »Nein, keine mehr da.«
Als hätte Odile den Wunsch nach Nahrung vernommen, kam sie mit einem Tablett anspaziert, das sie auf dem ehemals weiß gestrichenen runden Eisentisch abstellte.
»Kommt jemand mit in die Küche? Es sind noch ein paar Sachen runterzutragen. Ich habe mir gedacht, wo alle ausgeflogen sind, essen wir drei heute Abend hier draußen zusammen.«
Obwohl es schon nach acht Uhr war, hatte die Hitze des Tages kaum nachgelassen, und das Thermometer zeigte immer noch stolze dreißig Grad. Eine leichte Brise, die keinerlei Kühlung brachte, trug vom Kräutergarten den würzigen Duft von Zitronensalbei, Thymian, Rosmarin, Bohnenkraut und dem seit diesem Jahr in Odiles Küche nicht mehr wegzudenkenden aromatischen Buschbasilikum zu den Frauen.
»Ich komme mit.« Vivienne erhob sich von der Liege und dehnte ihre Glieder. »Was ist mit Sébastien, isst er nicht mit uns?«
Odile schüttelte den Kopf. »Nein, er hat ein Stück Brot von gestern, ein paar Bröckchen Käse und eine Handvoll Oliven gegessen. Er hat sie bei mir erbettelt. Er geht voll in seiner Rolle auf. Ich hoffe nur, der Junge übertreibt es nicht.« Sie seufzte tief, nahm die Teller, Besteck und Gläser vom Tablett, stellte den Weinkühler aus Ton in die Tischmitte, legte den Korkenzieher und drei gelbe Stoffservietten dazu, von denen sich das kräftige Grün und Lila des Lavendeldekors abhoben.
Lebhaft plaudernd gingen Odile und Vivienne zurück zum Schloss, einem Manoir mit zwei seitlichen Türmen und ausgewogenen eleganten Proportionen. Für Mathilde war es ihr Zuhause, ihr Refugium, der Rückzugsort zum Entspannen und auch zum Abstand Gewinnen zu den dunklen Seiten des Lebens, die ihr Beruf ihr täglich vor Augen führte. Hier ließ sie sich von Odile verwöhnen, streifte mit Babou und Henri durch die Weinfelder. Das Weingut betrieb mittlerweile offiziell Philippe, Viviennes Bruder, allerdings war Rémy immer noch die graue Eminenz, der patron, im Hintergrund.
Die beiden Männer waren heute Abend bei einer Versammlung der vignerons aus der Umgebung. Philippes Frau Lucette, die den Hofladen mit Herzblut betrieb, war für eine Woche mit den beiden jüngsten Söhnen, den Zwillingen Arthur und Noah, zu ihren Eltern nach Lothringen gefahren. Während dieser Zeit kümmerten sich Odile und Vivienne um das Geschäft, das gerade in den Ferienmonaten natürlich besonders florierte. Touristen aus Deutschland und den Niederlanden, aus England und Belgien, sie alle gerieten ins Schwärmen, wenn sie der Köstlichkeiten in den Gläsern und Verpackungen auf den urigen Holzregalen ansichtig wurden. Lucette und Odile tüftelten wöchentlich neue Rezepte aus. Rillettes vom Schwein und der Ente, pâté in Gläsern, Kräutermischungen in Tüten. Olivenpaste und Olivenöl, die sie für einen befreundeten Olivenzüchter verkauften, es blieben keine Wünsche für den verwöhnten Gaumen offen.
Die beiden Frauen kehrten mit einem Korb zurück, in dem sie das Abendessen transportierten. Vivienne hatte sich umgezogen und Mathilde einen bunt schillernden Pareo mitgebracht, den diese sich wie eine Toga um den Körper schlang und auf der Schulter verknotete. Zu dem kühlen Weißwein, den Mathilde in die drei kleinen Gläser goss, servierte Odile in Scheiben geschnittene gefüllte Perlhuhnbrust, der Rest des köstlichen Abendessens vom Vortag, und einen erfrischenden Salat aus Tomaten der Züchtung cœur de bœuf und weißen süßen, in Ringe geschnittenen Zwiebeln, die zusammen in einer Kräutervinaigrette badeten. Dazu eine Schale mit eingelegten Oliven und ein knuspriges Baguette.
Entspannt genossen die drei Frauen ihr Essen. Ihre angeregt plaudernden Stimmen wurden begleitet von dem fast ohrenbetäubenden Lärm der Zikaden, die unsichtbar im Schatten spendenden Maulbeerbaum saßen und sich die größte Mühe gaben, mittels ihres schnarrenden Gesangs Aufmerksamkeit zu erregen. Die Frauen nahmen sie kaum wahr, es waren die Geräusche des Sommers, und sie gehörten einfach dazu.
Odile erzählte vom Marktbesuch in Saint-Gilles, wo es von Touristen nur so gewimmelt habe und ein Durchkommen zwischen den Marktständen kaum noch möglich gewesen sei. Vivienne gab Tränen lachend zum Besten, Adonis, Starfriseur der Damen von Saint-Gilles, habe Esmeralde Fabier die Haare statt golden orange gefärbt, sie sähe aus wie ein Orang-Utan, nur nicht ganz so fellig, und Mathilde unterhielt die Frauen mit Neuigkeiten von Martin, dessen Frankreich-Blog mittlerweile mehr als tausend Abonnenten hatte. Zurzeit bereite er einen Beitrag über alles, was mit Oliven zu tun hatte, vor.
»Dazu wird er in den nächsten Wochen quasi jeden Olivenbauern im Gard besuchen. Vielleicht kannst du ja ein paar Rezepte mit Oliven beisteuern, was hältst du davon, Odile? Oder ihn am besten gleich zu Médard schicken. Schließlich macht er das beste Öl weit und breit.«
Odile strahlte. »Sicher, gern. Aber die Rezepte bekommt er von mir. Da fallen mir schon jetzt auf Anhieb mindestens zwanzig ein. Tapenade, gefüllte Oliven, eingelegte Oliven, Olivenbrot, gebackene Oliven mit zitroniger Crème fraîche. Ich werde in den nächsten Tagen einfach mal bei ihm vorbeischauen. Ich muss mich sowieso vergewissern, dass er seinen Kräuter- und Gemüsegarten auch in Ordnung hält. Und sonst? Was ist aus der Nichte des Bürgermeisters geworden? Die, die Post ausfährt? Hast du nicht erzählt, sie hätte ein Auge auf Martin geworfen? Das hast du nun davon. Sie war dann schneller als du.«
Mathilde rollte gespielt genervt mit den Augen. Odiles Lieblingsthema: Mathilde und die Männer. Martin Endress, der Freund aus Deutschland, der jetzt im benachbarten Dorf Saint-Fons lebte, hatte es Odile angetan. Martin hatte sich ganz zu Anfang ihres Kennenlernens in Mathilde verliebt, das war ihr bewusst. Doch sie hatten es dabei belassen. Die tiefe und innige Freundschaft zu ihm war ihr wichtiger als ein vielleicht kurzes Liebesabenteuer. Denn wenn sie es sich eingestand, schlug ihr Herz für einen anderen.
»Und wann kommt uns der Commandant mal wieder besuchen?«
Konnte Odile Gedanken lesen? Commandant Rachid Bouraada, Mitarbeiter der Police judiciaire in Nîmes und engster Mitarbeiter Mathildes, war Odiles zweiter Favorit.
»Wenn du mal wieder deine berühmte Épaule d’agneau confite au citron zubereitest, sag ich ihm Bescheid. Ich weiß zufällig, dass das Zitronenlamm eines seiner Lieblingsgerichte ist, seit du es ihm vorgesetzt hast. Also, es liegt an dir, meine liebe Odile, ihn hierherzulocken.« Mathilde knuffte die alte Frau liebevoll in die Seite.
Rachid Bouraada, dessen Großvater mit Frau und Kind von Algerien nach Frankreich gekommen war, hielt sich, zumindest was den Fleischkonsum anging, an die Vorgaben seiner muslimischen Religion, lehnte aber ein Glas Bier oder Wein nicht ab, was Mathildes Großvater Rémy mit einer gewissen Erleichterung zur Kenntnis genommen hatte.
Noch ehe Odile, deren Gesicht doch tatsächlich eine feine Röte überzog, antworten konnte, verstummten ganz plötzlich die Zikaden, als habe ein strenger Dirigent seinem kleinen Orchester Einhalt geboten. Bellend sprang Henri, der jüngere der beiden Labradore, heran, die Leine, die an seinem Halsband befestigt war, schleifte er hinter sich her. Am Tisch angekommen, blieb er stehen und setzte sich hechelnd.
»Halt, sofort halt, Henri. Böser Hund. Ich bin doch blind, du sollst mich führen.« Sébastien, der eine dunkle Sonnenbrille trug, stiefelte empört in seinem braunen Bettlerkostüm, das ihm Odile aus drei alten Säcken zusammengenäht hatte, zu den Frauen.
»Bitte um eine milde Gabe, mesdames. Bin nur ein einfacher Mann und blind dazu.« Mit bebender Stimme streckte er eine Hand aus, setzte die Sonnenbrille ab und blickte mit flatternden Augenlidern gen Himmel.
Vivienne legte ihm eine Olive in die Hand, Mathilde ein Stück Brot, und Odile reichte ihm, auf eine Vorleggabel aufgespießt, ein Bröckchen Perlhuhnbrust. Sébastien führte mit zitternder Geste die Hand zum Mund. »Habt Dank, edle Damen, ihr habt mich gerettet.«
Mit Bravorufen und lautem Klatschen quittierten die drei edlen Damen den Auftritt des jungen Mannes, der sich tief verbeugte.
»Und nun komm, Hund, geleite mich durch die dunklen Gassen.« Zielsicher griff Sébastien nach der Lederleine, Henri setzte sich auf und folgte willig seinem »blinden« Herrn, der jetzt sicher seinen Hund zum Schloss führte.
»Also, Talent hat er.« Odile fiel lachend in ihren Stuhl zurück.
»Ja. Das war nicht übel. Als Monsieur Grandjean auf der Suche nach Statisten war, hat er sich auch als Erster gemeldet. Er traut sich was, mein Sébastien.« In Viviennes Stimme schwang jetzt eine ordentliche Portion Stolz mit. Der Macher und Regisseur des Sommerspektakels Nemausus – une danse travers les siècles hatte die Idee gehabt, die Inklusion nicht nur ein Wort sein zu lassen, sondern es sollten ihr auch Taten folgen. Und so bereicherten auch Menschen mit den verschiedensten Handicaps einzelne Szenen der Show, die die Geschichte der Stadt Nîmes in bunten Bildern mit Tanz und Gesang wieder aufleben ließ.
Um halb elf neigten sich der heiße Sommertag und Mathildes Wochenende im Schloss allmählich dem Ende zu. Die musizierenden Bewohner des Maulbeerbaumes hatten ihren Gesang eingestellt, und die zweite Flasche Wein war zur Hälfte geleert. Mathilde hoffte, dass die kommende Woche ähnlich ruhig verlaufen würde wie die beiden vorangegangenen. Die letzten Ermittlungsakten waren beim Staatsanwalt, der Mord am Juwelier Bonifaz war bei ihrer Kollegin Isabelle Russo auf dem Tisch gelandet.
Mit dem Gedanken daran, ohne einen Mordfall auch nur wenig Zeit mit ihren Mitarbeitern von der Police judiciaire, Lieutenant Felix Tourrain und Rachid Bouraada, verbringen zu können, fiel sie, trotz der Hitze, die sich mittlerweile auch hinter den dicken Steinmauern des Schlosses eingenistet hatte, in einen tiefen traumlosen Schlaf. Dabei störte sie weder das Brummen des Klimageräts noch das zufriedene Schnarchen von Babou, der es sich, von Mathilde unbemerkt, am Fußende ihres Bettes bequem gemacht hatte.
Mathilde war am frühen Montagmorgen von Château de Boncourt aufgebrochen. Odile hatte sie mit Vorräten eingedeckt, die sie noch in ihre Wohnung in der Rue Dorée bringen wollte. Rillettes und pâté de Campagne mit Haselnüssen im Glas und confit de canard, eingelegte Entenkeulen, die sie nur noch erwärmen musste. Odile war es ein Rätsel, dass Mathilde sich offen dazu bekannte, auch eine Pizza von der Pizzeria um die Ecke nicht zu verschmähen, und hatte mit der Bevorratung diesem Gräuel den Kampf angesagt.
Der kurze Weg von ihrem Appartement bis zum Palais de Justice war ihr immer wieder eine Freude. Durch die Gassen der Altstadt zu schlendern, wenn es die Zeit erlaubte, im Bistro einen Kaffee zu schlürfen und ein butterduftendes Croissant zu genießen. Im Vorbeigehen warf sie einen Blick in die Schaufenster der Lädchen in der Rue de l’Aspic, die alle noch geschlossen hatten. Am Ende der Straße öffnete sich ihr dann der einzigartige Blick auf die Arena von Nîmes, die um diese Zeit noch im Schatten lag.
Das riesige Oval des einstigen römischen Amphitheaters übte auf Mathilde immer wieder die gleiche Faszination aus. Die ersten Touristen umrundeten bereits die Mauern, die in den letzten Jahren kontinuierlich restauriert worden waren, und schossen ihre Erinnerungsfotos.
Mathilde konnte die Arbeiten vom Fenster ihres Büros im Palais de Justice beobachten. Eigentlich hatten ihr die im Laufe der Jahrhunderte dunkel gewordenen Steine besser gefallen, sie wirkten irgendwie authentischer als die sandgestrahlten Mauern, deren neue Helligkeit, wenn die Sonne darauf schien, die Augen schmerzhaft irritierte. Garantiert ging doch bei dieser Prozedur auch jede Menge von der Oberfläche der Steine verloren, hatte Mathilde überlegt. Und irgendwann wäre die Arena verschwunden, nichts bliebe mehr übrig von diesem architektonischen Meisterwerk. Doch das würde sie nicht mehr erleben.
Die Arena war auch eine Meisterleistung in puncto Logistik, war sie doch so konzipiert, dass vierundzwanzigtausend Menschen innerhalb kurzer Zeit hinein- und wieder hinausgelangen konnten, nachdem sie die oft blutigen Spektakel im Inneren bejubelt hatten. Es war eine ganz eigene Art der Gerichtsbarkeit gewesen, der sie hinter diesen mächtigen zweigeschossigen Mauern mit ihren imposanten Rundbögen beiwohnten. Todgeweihte wurden wilden Tieren ausgeliefert, die sie zerrissen, oder sie wurden gegen Gladiatoren in den Kampf geschickt. Morituri te salutant. Die Todgeweihten grüßen dich. Mathilde seufzte. Sie liebte die Historie, die so grausig und doch so spannend war, bewunderte die Arena, die gleichermaßen angefüllt mit grausamer Geschichte und doch so beeindruckend und wunderschön war. Noch heute wurde ihr Boden regelmäßig mit dem Blut der Kampfstiere getränkt, die während der Feria im September ihr Leben lassen mussten.
Doch in den nächsten Tagen würde sie in den späten Abendstunden erfüllt sein von Gesang und Lachen, vom Applaus der Zuschauer und der Musik. Freitag fand die erste Vorstellung von Nemausus – une danse travers les siècles statt, vier weitere sollten folgen. Der Regisseur und Macher, Franck Grandjean, hatte die besten Künstler aus Frankreich und dem Ausland für die Tanz-, Schauspiel- und Gesangsszenen gewinnen können.
Martin hatte bereits Karten reserviert, um mit Mathilde und Odile diese besondere Show zu genießen, une spectacle son et lumière, wie man sie in Frankreich nannte, Aufführungen mit aufwendig-bombastischen Licht- und Toneffekten. Besonders freute sich Mathilde auf den Auftritt der Operndiva Marta Torres-Sarmiento, der Nachtigall von Avignon, die sie im Laufe eines besonders kniffligen und mörderischen Falls kennengelernt hatte.
Mathilde trat auf den Platz vor der Arena. Eine Gruppe Asiaten hatte sich um die bronzene Statue eines Matadors versammelt. Zwei junge Frauen umschlangen ihn rechts und links, und ein Foto nach dem anderen wurde mit den Handys geschossen. Ob die Touristen, die täglich diesen Stierkämpfer umringten, wussten, wer er gewesen war?
El Nimeño, der französische matador de toros, hatte seinem Leben im November 1991 mit nur siebenunddreißig Jahren ein Ende gesetzt, nachdem er bei einem Stierkampf schwer verletzt worden war und nie mehr in die Arena zurückkehren konnte. Nach seinem Tod hatte die Stadt ihrem berühmten Sohn eine überlebensgroße Bronzefigur gewidmet.
Mathilde grüßte ihn stumm und ging weiter. Oft hielt sie Zwiesprache mit ihm, doch heute war ihr zu viel Trubel, zu den Asiaten hatte sich bereits eine weitere Menschentraube gesellt. Sie war dem jungen Matador vor fast dreißig Jahren begegnet, und El Nimeño hatte an diesem Tag Mathilde seine Lebenseinstellung mitgegeben. Il faut toujours aller jusqu’au bout de sa passion. Für seine Passion müsse man bis zum Ende gehen. Er hatte es getan, ohne den Stierkampf wollte er nicht mehr leben.
Mathilde war tief beeindruckt von diesem Mann gewesen und hatte seine Einstellung verinnerlicht. Was sie anpackte, verfolgte sie mit Leidenschaft und Hartnäckigkeit, auch sie würde für ihre Überzeugung bis zum Ende kämpfen. Sosehr sie allerdings das Lebensprinzip von El Nimeño schätzte, so konnte sie dem blutigen Stierkampf jedoch nichts abgewinnen, auch wenn sie den Stolz, den seine Anhänger den zwei- und vierbeinigen Akteuren entgegenbrachten, nachvollziehen konnte. Diese Menschen setzten nicht nur den Matadoren ein Denkmal, auch die Stiere wurden mit Bildnissen in Stein und Bronze gewürdigt. Mathilde bevorzugte die courses camarguaises und feuerte dann mit lauten Rufen die in Weiß gekleideten Stierkämpfer an, die als raseteurs und cocardiers ihren Mut und ihre Geschicklichkeit bewiesen, wenn sie den Stieren eine zwischen die Hörner gespannte Kokarde entrissen.
Am Straßenrand zwischen der Arena und dem Palais de Justice parkte bereits seit zwei Wochen ein Fahrzeug, das über und über mit Werbeplakaten für das Historienspektakel beklebt war. Schon die Ankündigung für den »Tanz durch die Jahrhunderte« war ein echter Hingucker. Mathilde blieb stehen und studierte zum wiederholten Male all das, was auf dem Plakat zu sehen war. Vor einem dunkelvioletten Himmel schien die Arena noch heller als in der Realität geradezu zu schweben. Aus ihrem Inneren sprühten und leuchteten bunte Lichter wie ein Feuerwerk, um das Theater herum gruppierten sich Fotos der Akteure. Links Marta Torres in wallendem weiß-goldenen Gewand, oberhalb der Arena ein Reiter auf seinem weißen Camarguepferd. Mit stolzem Blick stützte er den ficheiroun, den langen Holzstab mit seinem dreizackigen Ende aus Eisen, auf einen unsichtbaren Boden, während das Pferd in einer eleganten Drehung um den Trident herumzutanzen schien. Der mit dem Pferd tanzt, kam es Mathilde in den Sinn. Was hier spielerisch und folkloristisch aussah, war in der Realität auf den Weiden harte, schweißtreibende Arbeit, wenn mithilfe des Tridents, des Dreizacks, die Rinderherden getrieben wurden.
Auf der rechten Seite des Plakats stach, wie ein Gegenstück zu der voluminösen Gestalt der Opernsängerin, die zierliche Figur von Santana Carmona heraus. Das lange schwarze lockige Haar wirbelte um ihren Kopf, den sie in den Nacken warf. Das rote Kleid mit den vielen Volants flog nur so um ihre Beine. Der Blick war feurig und verheißungsvoll. Santana Carmona war nicht irgendeine Flamencotänzerin. Mit ihren zwanzig Jahren gehörte sie zu den jüngsten und besten ihrer Zunft. »Vom Wunderkind zur Showgröße«, hatte Mathilde vor Kurzem noch im Midi Libre gelesen.
»Santa madre de Dios, eso es un calor. Por favor, llévala Fifinette de vuelta al hotel.«
Mathilde hatte bereits die gesicherte Glastür zum Palais de Justice erreicht und wollte eben eintreten, als die ausdrucksstarke Stimme an ihr Ohr drang. Sie drehte sich um. Eben noch auf dem Plakat von ihr bewundert, strebte Marta Torres mit ihrer Hausdame Roberta und Fifinette, ihrem Schoßhündchen, im Gefolge in Richtung Arena. Sie trug trotz oder vielleicht auch wegen der schon am Morgen die Stadt beherrschenden Hitze ein weites, langärmeliges Gewand, das dem ähnelte, in dem Mathilde die Diva kennengelernt hatte, ein Kaftan aus Seide, der über und über mit bunten Vögeln und Blumen bestickt war. Ihre roten Haare waren unter einem breiten Sonnenhut versteckt. Jetzt wie damals erfüllte die Sängerin jedes Klischee einer überkandidelten Diva. Doch Mathilde war damals schnell eines Besseren belehrt worden.
Sie und Rachid hatten Marta in ihrem Haus in Avignon aufgesucht, um sie zu befragen. Spätestens nachdem Marta Torres-Sarmiento in ein lautes Lachen, das vulgärer nicht hätte sein können, ausgebrochen war und offen kundtat, sie sei in einem winzigen Kaff in der Nähe von Barcelona geboren worden, Mutter Putzfrau, Vater unbekannt, hatte sie Mathildes Herz gewonnen, obwohl sie in diesen äußerst komplizierten Mordfall verstrickt gewesen war. Seitdem waren die Frauen in losem Kontakt geblieben, und Mathilde hatte noch im Mai ein Konzert von Marta in Montpellier besucht.
»Hola, Marta. Da haben Sie allerdings recht. Aber was erwarten Sie im Hochsommer.« Mathilde lachte herzlich, sprang die Treppe wieder hinunter und breitete die Arme aus. Roberta tat, wie ihr geheißen, grüßte Mathilde mit einem kleinen Lächeln, klemmte sich Fifinette unter den Arm und brachte sie zurück zum Hotel.
»Gut sehen Sie aus, mein Kind. Kann Ihnen diese Affenhitze denn gar nichts anhaben? Hoffentlich hat man mir einen extra starken Ventilator besorgt, sonst schmelze ich auf der Bühne hinweg wie ein Stück Butter in der Sonne.«
Die beiden Frauen umarmten und küssten sich auf die Wangen.
»Wie geht es dem schönen Commandant? Wenn ich ein paar Jahre jünger wäre …«
»Er war mit seinem Vater zur Hochzeit einer Cousine in Algerien. Sie gehen zu Fuß?«, lenkte Mathilde vom Thema ab.
»Es sind ja nur ein paar Hundert Meter. Nur möchte ich Roberta und Fifinette nicht weiter der Hitze aussetzen, das kann in der Arena auch schon ganz ungemütlich für einen kleinen Hund werden. Da wird er sich in unserem Hotel viel wohler fühlen. Und der Garten dort ist einfach ein Traum. So grün ist alles, die Rosen duften betörend, und die Bougainvilleen blühen in einer Pracht, es ist einfach unbeschreiblich. Trotz der Hitze atmest du auf. Da reicht es schon, wenn ich das Plätschern des Brunnens höre. Eine wahre Oase. Ich liebe es.«
»Ah, Sie sind im Jardins Secrets abgestiegen?« Mathilde wusste, dass dies eine der teuersten Adressen in Nîmes war, aber auch eine der schönsten. Hinter den roséfarbenen Mauern mit den grünen Fensterläden verbarg sich eine Poststation aus dem 18. Jahrhundert, die geschmackvoll von einem Künstlerpaar in ein exklusives Hotel umgewandelt worden war. Genau die richtige Bleibe für eine Diva vom Format einer Marta Torres.
»Ja, es gibt kaum ein lauschigeres Plätzchen in Nîmes, in das ich mich zurückziehen könnte. Meine liebe Mathilde, möchten Sie nicht meine Probe heute Vormittag besuchen? Gegen zehn Uhr? Ich singe dann nur für Sie.«
»Welche Ehre. Ich muss allerdings schauen, was Christine mir an Arbeit hingelegt hat. Doch wenn es machbar ist, komme ich gerne.«
Marta zog Mathilde noch einmal an ihren üppigen Busen und schritt wie eine Königin von dannen. Mit einem Schmunzeln registrierte Mathilde die Blicke der Passanten, die sich auf Marta Torres richteten.
Die Stimme von Jean Schmitt, Choreograf der Tanzszenen von Nemausus, war eindringlich. »Halte bitte deine Sinne zusammen, wenn du auf der Bühne bist. Wenn Marta singt ›Nous danserons, tu le promet la seguedille‹, trittst du von links heran, nicht eher und nicht später, hast du verstanden? Es muss ein fließender Übergang sein. Du warst beim letzten Mal einen Hauch zu früh. Dann sind die Zuschauer schon auf dich konzentriert, aber Marta braucht die Zeit, um dich sozusagen auf die Bühne zu bitten. Bis dahin sind die Tänzer schon da, bereiten deinen Auftritt vor. Klar? Bei ›Nous danserons la seguedille et boirons du Manzanilla‹ tänzelst du mit einem gewissen Abstand an ihr vorbei, und wenn sie singt: ›tra la la la la la la la la la la‹, zieht sie sich allmählich zurück, und dann gehört die Bühne ganz alleine dir. Dem leuchtenden Stern am Flamenco-Himmel. Alles klar? Und pass ein wenig auf mit den Pferden. Sie sind ja einiges gewohnt, aber man weiß ja nie.«
Santana nickte. In Gedanken war sie bereits bei ihrem Auftritt. Leise summte sie die Melodie der Seguidilla vor sich hin. Obwohl selbst bereits ein gefeierter Flamenco-Star und eine Größe auf der Showbühne, war es ihr eine große Ehre, zusammen mit Marta Torres aufzutreten. Und was wäre für sie beide, die aus Spanien stammende Operndiva und die Flamencotänzerin, passender als ein gemeinsamer Auftritt zu den Klängen von Georges Bizets Carmen, der heißblütigen schönen Frau aus dem fahrenden Volk der Manouches.
Sie hob einen Fuß elegant auf einen Stein in den Katakomben der Arena und band sich den schwarzen Schuh mit dem breiten Absatz zu. Bei der Probe trug sie ein etwas weiter geschnittenes Ensemble aus einem schwarzen Rock und roter Bluse mit schwarzen Punkten, die Schuhe mit dem gebundenen Riemchen über dem Spann waren dieselben, die sie beim Auftritt in dem eng geschnittenen blutroten Kleid mit dem doppelten Volant, der wie ein Flammenmeer um sie herumwogte, an den Füßen hatte.
»Hast du endlich mit Franck gesprochen?«, riss Jean Schmitt Santana aus ihren Gedanken. Der schlanke Mann stützte sich auf einen Stock aus Ebenholz, der in einem Schwanenkopf aus Messing endete. Was wie ein modisches Accessoire aussah, hatte einen ganz praktischen Zweck. Es diente ihm, sein seit einem Unfall nur noch eingeschränkt bewegliches Bein zu unterstützen, und zugleich konnte er damit während des Tanztrainings den Takt angeben. Das stete Klopfen hatte Schmitt den Spitznamen frapeur eingebracht. Er hatte sich mittlerweile daran gewöhnt, als Klopfgeist bezeichnet zu werden. Besser ein Klopf- als ein Quälgeist, pflegte er mit einem Schmunzeln zu sagen.
»Nein, es war noch nicht der richtige Zeitpunkt.«
Jean Schmitt seufzte. »Der kommt wohl nie. Er zählt auf dich, Santana. Und dein Vater, was sagt er dazu? Er ist schließlich dein Manager.«
»Mit ihm ist alles geklärt. Und überhaupt, es ist ganz allein meine Entscheidung.« Ihre Stimme war kleinlaut, doch in ihren schwarzen Augen blitzte Entschlossenheit auf.
»Und wie hat er reagiert?«
Die junge Frau zuckte die Achseln. »Nicht eben begeistert. Und seitdem streiten er und Maman nur noch.«
»Santana, überleg dir das alles gut. Hier stehen dir alle Türen offen, die Tanztheater und Bühnen reißen sich um dich. Und letztendlich stehst du erst am Anfang deiner Karriere. Du kannst doch noch in vier, fünf Jahren …«
»Genug, Jean.« Sie streckte ihre Hand aus und berührte mit ihrem rechten Zeigefinger seine Lippen. »Mein Entschluss steht fest.« Beschämt registrierte sie die Verzweiflung, die sich auf dem Gesicht des Mannes spiegelte.
Mit einer wütenden Bewegung wischte er die Hand weg. »Du machst einen großen Fehler, Santana. Es gibt viele, die dir diesen Schritt nicht verzeihen werden.«
»Und du, kannst du mir verzeihen?«, fragte sie leise, während sie sich die dunklen Locken mit einem bunten Tuch zu einem Pferdeschwanz zusammenband.
Die Grazie in ihrer Bewegung schmerzte Jean fast körperlich.
»Santana! Marta ist da.« Francks Stimme schallte durch die ganze Arena. »Wir wollen loslegen. Verdammt, wo bleiben denn die Pferde? Gino, schaff die beiden ran. Was stehst du hier herum? Merde, Romino, wo ist Santana? Ja, sind denn hier alle verrückt geworden. Ja, ja, la canicule, ich weiß, es ist heiß, aber nicht so, dass einem das Hirn wegschmilzt. Jetzt reißt euch mal zusammen. Santana, chérie, wartest du auf eine Extraeinladung, oder soll ich dich abholen und hierhergeleiten? Los, jetzt macht mal alle voran.«
Jean sah Santana nach. Schwer auf seinen Stock gestützt, machte er sich langsam auf den Weg zur Bühne. Plötzlich musste er innehalten, ein heftiger Schmerz, als habe man ihm Tausende spitze Nadeln ins Bein gerammt, ließ ihn aufstöhnen. Er atmete tief ein und aus, so hatte es ihm sein Therapeut beigebracht. Einfach den Schmerz wegatmen. Das gelang mal besser, mal weniger gut. Heute drohte das Bein, trotz der Stütze, unter ihm nachzugeben. Er musste sich kurz an die Mauer lehnen. Nach einer Minute ließ der schmerzhafte Krampf, der ihm die Tränen in die Augen getrieben hatte, allmählich nach.
Mathilde hatte das Fenster ihres Büros weit geöffnet. Doch das laue Lüftchen, das mehr zu ahnen denn zu spüren war, brachte keinerlei Abkühlung. Allerdings war es immerhin in der Lage, Geräusche der Proben aus der Arena bis in ihr Zimmer zu tragen. Stimmfetzen, Wiehern, übersteuerte Lautsprecher, die Misstöne von sich gaben, Musik. Kurz entschlossen, klappte sie die gelbe Akte zu, zwischen deren Seiten sich der Überfall auf eine Rentnerin samt Ermittlungsergebnis befanden und die nun zum Staatsanwalt weitergereicht werden würde, der die Anklage erhob.
Als sie das klimatisierte Gerichtsgebäude verließ, hatte sie das Gefühl, gegen eine Wand aus Hitze zu prallen. La canicule, die Hitze dieses Sommers, war in der Tat außergewöhnlich. Mathilde war gespannt, was ihr Großvater von der Versammlung der Winzer zu berichten hatte. Die Winzer gehörten zu den wenigen Menschen, die während einer lang anhaltenden Hitzeperiode das Land, sprich ihre Weinfelder, wässern durften, während es verboten war, Privatgärten mit dem notwendigen Nass zu versorgen oder Swimmingpools zu füllen. Auch das Waschen von Autos vor der eigenen Haustür war untersagt.
Am Einlass zur Arena saß Berhane, ein Student aus Äthiopien, und sorgte dafür, dass niemand unbefugt eintrat und die Proben störte. Mathilde kannte den Jurastudenten, seit er ein Praktikum im Palais de Justice absolviert hatte.
»Bonjour, Madame le Juge. Ist doch nichts passiert da drin?« Er zeigte mit dem Daumen über seine Schulter ins Innere der Arena.
»Nein, keine Sorge. Nicht immer, wenn ich auftauche, hat es ein Verbrechen gegeben. Nein, ich wollte mir die Proben anschauen. Marta Torres ist eine Freundin von mir.«
Der junge Mann ließ Mathilde durch und wehrte keine zehn Sekunden später drei aufdringliche junge Fans ab, die unbedingt jetzt und gleich und live die bailarina de flamenco Santana Carmona sehen wollten.
»Bougnol.«
Mathilde hörte eben noch, wie einer der Jungs Berhane das Schimpfwort zurief. Schon wollte sie wieder umkehren, doch der Äthiopier winkte ab. »Alles in Ordnung, Madame, ›Kameltreiber‹ geht mir am Arsch vorbei.«
Sie musste lachen, obwohl es eigentlich nicht zum Lachen war. Rassismus war und würde immer ein Thema bleiben. Sie dachte an Rachid, der es als Sohn algerischer Einwanderer nicht immer leicht gehabt hatte, bei den Kollegen der Polizei Anerkennung zu finden. Doch mittlerweile war seine Reputation so hoch, dass niemand wagen würde, ihn beur oder bicot zu nennen, Beleidigungen, wie sie leider nur allzu oft noch zu hören waren.
Mathilde durchschritt die gewölbten Gänge und erklomm die hohen Stufen, um sich direkt gegenüber der Bühne, einem fast ebenerdigen Holzboden, auf den warmen Steinen hinzusetzen. Hier war es noch angenehm schattig. Bis zur Bühne, die die gesamte Breite des Ovals einnahm, waren es knapp fünfzig Meter.
Plötzliche Hektik verbreitete sich. »Musik bereit?«, plärrte jemand. Erstaunt kniff Mathilde die Augen zusammen. Dort, wo ein fulminantes Orchesterensemble für einen Auftritt von Marta Torres zu erwarten gewesen wäre, stand lediglich ein Mann mit einer Klarinette, auf einem Stuhl saß lässig ein zweiter Musiker mit Gitarre, die er an sein mit riesigen Rüschen besetztes rosafarbenes Hemd drückte, daneben hatte sich eine Frau im weiß-schwarz gestreiften Flamencokleid positioniert, die bereits mit ihren Kastagnetten klapperte.
Und dann betrat Marta die Bühne, die Anwesenden klatschten, doch der Applaus verebbte sofort wieder, als die Sängerin die Hand hob. Soweit Mathilde wusste, waren die Musiker allesamt gens du voyage, wie es im Amtsfranzösisch für die Ethnien der Sinti oder Roma hieß. Das fahrende Volk. Nur dass die meisten von ihnen in Spanien oder Südfrankreich mit einem festen Wohnsitz ansässig waren und seit Langem die dazugehörigen Staatsbürgerschaften besaßen. Meist waren es Sinti, die sich selbst Manouche – das Wort für Mensch – nannten.
Der Mann mit der Klarinette trug eine schwarze enge Hose und ein mit silbernen Pailletten besetztes Hemd, die in der Sonne glitzerten. Er führte das Instrument an die Lippen, und nach den ersten Tönen setzte Marta ein. Leise summte Mathilde mit. J’irai danser la Seguedille. Ich werde die Seguidilla tanzen. Die Gitarre kam hinzu, die Kastagnetten setzten rhythmische Akzente. Es war ein Genuss für Mathildes Ohren. Martas reine Stimme, die Musik blieb im Hintergrund. Die Präsenz der Diva erfüllte Zeit und Raum.
Eine knappe Minute vor Ende ihrer Arie trat Marta ein wenig zur Seite. Vier Männer in schwarzen Hosen und schwarzen Hemden betraten die Bühne, klatschten zuerst leise, dann immer fordernder in die Hände. Es folgten vier Frauen in weiß-rot gestreiften Flamencokleidern mit Volants. Auch sie setzten mit dem Klatschen ein, jedoch in einem sehr viel schnelleren Rhythmus. Ganz außen positionierte sich je ein Reiter auf einem Schimmel, beide Männer in der Tracht der gardians. Ihre Beine steckten in dunklen Hosen, darüber trugen sie weite Lederchaps, auf den blauen Hemden schimmerten bunte kleine Blumen. Darüber trugen sie ärmellose Westen, auf dem Kopf runde Hüte aus Leder. Sie hielten einen Trident in der Rechten, den sie immer wieder im gleichen Abstand auf den Boden stampften. Mit dem letzten »tra la la la la« trat Marta Torres zur Seite und überließ ihren Platz einer Tänzerin.
Schwarzer Rock, rote Bluse, das dunkle Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden. Mit der Noblesse einer Königin glitt sie hocherhobenen Hauptes an Marta vorbei, nickte ihr zu, und ab diesem Augenblick gehörte ihr die Bühne. Zuerst verhalten, dann immer schneller stampften ihre Füße auf die Bretter der Bühne. Sie raffte den Rock ein wenig, schleuderte ihn wieder hinunter, drehte sich, klatschte in die Hände. Immer schneller, immer schneller. Und das innerhalb einer Minute. Mathilde war hingerissen von der Vorstellung. Wie sie gelesen hatte, tanzte Santana Carmona bereits seit ihrem vierten Lebensjahr, ein wahres Wunderkind.
Mathilde brach schon beim Zuschauen und Mitwippen der Schweiß aus allen Poren. Sie hatte im Alter von dreizehn oder vierzehn Jahren, so genau wusste sie es selbst nicht mehr, einen Flamencokurs besucht. Zu Anfang war sie hoch motiviert gewesen, hatte sogar davon geträumt, zu den Besten ihres Jahrgangs zu gehören und eine der begehrten Auszeichnungen, eine Flamencofigur aus Porzellan, zu gewinnen. Doch schon die Grundschritte zu koordinieren, war ihr kaum gelungen. Als sei ihr jedes Rhythmusgefühl abhandengekommen. Mit einer Engelsgeduld hatte ihr die Lehrerin erklärt, man stampfe mit der ganzen Sohle, der Spitze, der Ferse und dem Absatz auf. Und je nachdem, wie man dies kombinierte, kam dabei ein eher ruhiger, dann schnellerer – bis hin zu einem wild wirbelnden – Tanzschritt heraus. Bei Mathilde war es bei einem sehr eintönigen Wechsel von Spitze und Absatz geblieben. Tack-klack, tack-klack. Und dabei sollte sie auch noch im entgegengesetzten Rhythmus in die Hände klatschen. Nach ein paar Stunden hatte sie es aufgegeben. Umso mehr bewunderte sie diejenigen, die es wirklich konnten, den Flamenco lebten. Frauen wie Männer.
Wie auf ein Stichwort begannen die Tänzer, Santana zu umkreisen, es folgten die Frauen, und ein Tanz voller Leidenschaft ließ den Holzboden erbeben. Das Stampfen und Klacken der Schuhe musste bis auf den Boulevard zu hören sein. Die Männer hoben die Arme, klatschten über ihren Köpfen, die Frauen beugten und drehten sich wie Wirbel um die Tänzerin in ihrer Mitte. Die beiden Reiter näherten sich, umkreisten mit den Pferden die Gruppe. Die beiden Tiere wölbten stolz ihre Hälse, folgten aufmerksam jedem unsichtbaren Kommando ihrer Reiter. Mathilde stockte fast der Atem.
Einer der Tänzer riss sich plötzlich von den anderen los, war mit einem Sprung bei Santana, drehte sich in entgegengesetzter Richtung um sie herum, näherte sich ihr, entfernte sich, um dann hautnah an sie heranzutanzen. Er zog etwas aus seinem Gürtel, eine breite rote Schärpe, die um seine Hüften gewickelt war, hielt den Gegenstand über seinen Kopf. Mathilde hielt die Luft an. Ein Messer. Sie atmete wieder aus. Es war nur ein Tanz.
Klatschend und mit wirbelnden Röcken bewegten sich jetzt mit rasend schnellen stampfenden Schritten die Flamencotänzerinnen auf den Mann zu, griffen spielerisch nach seinem Arm und zogen ihn zurück in die Formation. Das Bild war atemberaubend, wild, erotisch, heißblütig. Es war eine Szene, die sich in Mathildes Herzen festsetzte. Das war der Süden, geprägt von Hitze und Leidenschaft. Die Gitarren wurden leiser, die Reiter wendeten ihre Pferde nach links und rechts, die Tänzer, die Santana geradezu eingekesselt hatten, stoben auseinander. Die Tänzerin drehte sich noch einmal um die eigene Achse, kreuzte die Hände vor der Brust, ging in die Knie und blieb auf dem Boden liegen.
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