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Die ersten drei Kriminalromane der Rönning/Stilton-Serie in einem Band:
„Die Springflut“: Eine Serie von feigen Angriffen auf Obdachlose erschüttert die Hauptstadt Stockholm. Die Ermittlungen verlaufen schleppend. Olivia Rönning, angehende Polizistin im zweiten Jahr ihrer Ausbildung, ist mit anderen Dingen beschäftigt. Sie soll einen »Cold Case« knacken – den tragischen Tod einer jungen Frau an einem Strand vor vielen Jahren. Sie sucht Rat bei Kommissar Tom Stilton.
"Die dritte Stimme": Marseille: In einem Naherholungsgebiet wird die Leiche einer blinden jungen Frau gefunden. Sie wurde brutal ermordet. Zur selben Zeit in Stockholm: In seinem Haus in Rotebro wird der der Zollbeamte Bengt Sahlmann erhängt aufgefunden. Zwei Morde, an deren Aufklärung Polizeianwärterin Olivia Rönning und der ehemalige Kriminalkommissar Tom Stilton ein jeweils ganz privates Interesse haben ...
"Die Strömung": In den Wäldern von Skåne im südlichen Schweden wird ein kleines Mädchen Opfer eines bestialischen Verbrechens. Zwei Tage später der zweite Kindermord, diesmal in der Nähe von Stockholm. Schnell fällt der Verdacht auf eine rassistische Sekte, die die Eltern zuvor offen bedroht hat. Aber ist es wirklich so einfach?
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Seitenzahl: 1903
Cilla & Rolf Börjlind
Die Rönning/Stilton-Serie
Drei Romane in einem Band
Die Springflut Die dritte Stimme Die Strömung
btb
Die Bücher:
»Die Springflut«: Eine laue Sommernacht im Jahre 1987. Es ist Vollmond im schwedischen Nordkoster. In der Nacht wird es eine Springflut geben – und einen brutalen Mord. Das Opfer: eine junge, hochschwangere Frau. Ihre Identität: unbekannt. Tom Stilton, der ermittelnde Polizeibeamte, zerbricht an diesem Fall. Die Tat bleibt ungesühnt. 23 Jahre später: Eine Serie von feigen Angriffen auf Obdachlose erschüttert die Hauptstadt Stockholm. Olivia Rönning, angehende Polizistin im zweiten Jahr ihrer Ausbildung, ist mit anderen Dingen beschäftigt. Sie soll einen »Cold Case« knacken – den Tod einer jungen Frau an einem Strand vor vielen Jahren klären. Ihr ist klar: Sie muss Tom Stilton finden.
»Die dritte Stimme«: Marseille: In einem Naherholungsgebiet wird die Leiche einer blinden jungen Frau gefunden. Sie wurde brutal ermordet. Man weiß nicht viel über sie – nur dass sie in einem Zirkus ganz in der Nähe gearbeitet hat. Zur selben Zeit in Stockholm: In seinem Haus in Rotebro wird der Zollbeamte Bengt Sahlmann erhängt aufgefunden. Zwei Fälle, die auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun haben. Zwei Morde, an deren Aufklärung Polizeianwärterin Olivia Rönning und der ehemalige Kriminalkommissar Tom Stilton ein jeweils ganz privates Interesse haben …
»Die Strömung«: In den Wäldern von Skåne im südlichen Schweden wird ein kleines Mädchen Opfer eines bestialischen Verbrechens. Zwei Tage später der zweite Kindermord, diesmal in der Nähe von Stockholm. Schnell fällt der Verdacht auf eine rassistische Sekte, die die Eltern zuvor offen bedroht hat. Aber ist es wirklich so einfach? Und weshalb tauchen gerade jetzt Hinweise auf einen cold case auf, den Mord an einer hochschwangeren Edelprostituierten, der niemals aufgeklärt wurde? Olivia Rönning und Tom Stilton ermitteln.
Die Autoren:
Cilla und Rolf Börjlind gelten als Schwedens wichtigste und bekannteste Drehbuchschreiber für Kino und Fernsehen. Ihre mittlerweile fünfbändigen Serie um Polizistin Olivia Rönning und Kommissar Tom Stilton wurde sehr erfolgreich für das ZDF verfilmt. Mit »Wundbrand« standen sie wochenlang auf Platz 1 der SPIEGEL-Bestsellerliste. Ihre Kriminalromane erscheinen in 30 Ländern.
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»Die Springflut«
Die schwedische Originalausgabe erschien 2012 unter dem Titel »Springfloden« bei Norstedts, Stockholm.
Copyright © der Originalausgabe 2012 by Cilla & Rolf Börjlind by Agreement with Grand Agency
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2013 by btb Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81763 München
Covergestaltung: semper smile, München nach einem Coverentwurf von Valentin & Byhr
Covermotiv: © Shutterstock
»Die dritte Stimme«
Die schwedische Originalausgabe erschien 2013 unter dem Titel »Den Tredje Rösten« bei Norstedts, Stockholm.
Copyright © der Originalausgabe 2013 by Cilla & Rolf Börjlind by Agreement with Grand Agency
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2014 by btb Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Covergestaltung: semper smile, München
Covermotiv: © Shutterstock/mike_expert © Shutterstock/Stuart Monk; © Shutterstock/Andrey Yurlov
»Die Strömung«
Die schwedische Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel »Svart Gryning« bei Norstedts, Stockholm.
Copyright © der Originalausgabe 2014 by Cilla & Rolf Börjlind by Agreement withGrand Agency
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2016 by btb Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Covergestaltung: semper smile, München
Covermotiv: © Shutterstock/andrej pol; © Shutterstock/Nejron Photo
978-3-641-27596-9
www.btb-verlag.de
Cilla & Rolf Börjlind
Kriminalroman
Aus dem Schwedischen von Paul Berf
… wenn erbarmungslos die Nacht hereinbricht.
C. Vreeswijk
Der Unterschied zwischen Ebbe und Flut beträgt an der seichten, Hasslevikarna genannten Bucht auf der Insel Nordkoster vor der schwedischen Westküste fünf bis zehn Zentimeter, außer bei einer Springflut, zu der es kommt, wenn Sonne, Mond und Erde sich auf einer Geraden befinden. Dann beträgt der Unterschied fast einen halben Meter. Der Kopf eines Menschen ist ungefähr fünfundzwanzig Zentimeter hoch.
In dieser Nacht würde es eine Springflut geben.
Vorerst war jedoch noch Ebbe.
Der Vollmond hatte das Meer viele Stunden zuvor zurückgesogen und eine weite Fläche feuchten Schlicks entblößt. Kleine, glänzende Strandkrabben liefen in dem stahlblauen Licht wie schimmernde Lichtreflexe kreuz und quer über den Grund. Schnecken saugten sich noch fester an die Steine und harrten aus. All diese Lebewesen wussten, dass sie das Meer schon bald wieder überspülen würde.
Auch den drei Gestalten am Ufer war das bekannt. Sie wussten sogar, wann das geschehen würde: in einer Viertelstunde. Dann würden die ersten sanften Wellen heranrollen und befeuchten, was getrocknet war, und kurz darauf würde der Druck der dunklen Tiefen Welle für Welle hochpressen, bis die Springflut ihren Höchststand erreicht hatte.
Noch blieb ihnen jedoch etwas Zeit. Die Grube, die sie ausgehoben hatten, war fast fertig. Sie war gut einen Meter fünfzig tief und hatte einen Durchmesser von sechzig Zentimetern. Der Körper würde perfekt umschlossen werden, nur der Kopf über den Rand hinausragen.
Der Kopf der vierten Gestalt.
Der Frau, die mit gefesselten Händen und schweigend ein wenig abseits stand.
Ihre langen, dunklen Haare bewegten sich sanft in der leichten Brise, ihr nackter Körper glänzte, ihr Gesicht war ungeschminkt und schutzlos. Nur ihre Augen enthüllten eine eigentümliche Abwesenheit. Sie beobachtete das Ausheben der Grube. Der Mann mit dem Spaten zog das leicht gekrümmte Blatt aus dem Loch, kippte den Schlick auf den Haufen daneben und wandte sich um.
Er war fertig.
Aus der Ferne betrachtet, von den Felsen aus, hinter denen sich der Junge versteckt hatte, lag eine seltsame Stille über dem mondbeschienenen Ufer. Er sah dunkle Gestalten auf der anderen Seite der Bucht. Was taten sie da? Er wusste es nicht, hörte aber das stärker werdende Rauschen des Meeres und beobachtete, wie die nackte Frau scheinbar widerstandslos über den nassen Schlick geführt und in die Grube gehoben wurde.
Er biss sich auf die Unterlippe.
Einer der Männer schaufelte feuchten Schlick hinab, der sich wie nasser Zement um den Körper der Frau legte. Schnell war das Loch gefüllt. Als die ersten, tastenden Wellen kamen, lugte nur noch ihr Kopf heraus. Ihre langen Haare wurden immer nasser, eine kleine Krabbe blieb in einer dunklen Strähne hängen. Der Blick der Frau war auf den Mond gerichtet.
Die Gestalten zogen sich zwischen die Dünen zurück. Zwei von ihnen waren nervös, unsicher, die dritte dagegen war ruhig. Alle betrachteten den einsamen, mondbeschienenen Kopf auf dem Meeresgrund.
Und warteten.
Als die Springflut dann auflief, kam sie schnell. Mit jeder neuen Welle stieg das Wasser, überspülte den Kopf der Frau und floss ihr in Mund und Nase, so dass sich ihre Kehle mit Wasser füllte. Als sie sich wegdrehen wollte, schlug ihr eine neue Woge ins Gesicht.
Eine der Gestalten trat zu ihr und ging in die Hocke. Ihre Blicke begegneten sich.
Von seinem Standort aus beobachtete der Junge, wie das Wasser stieg. Der Kopf auf dem Grund verschwand, tauchte wieder auf und verschwand erneut. Zwei der Gestalten waren inzwischen verschwunden, die dritte bewegte sich aufs Ufer hinauf. Plötzlich hörte er einen furchtbaren Schrei. Es war die Frau in der Grube, die so besinnungslos schrie. Ihr Ruf hallte über die seichte Bucht hinweg und traf den Fels des Jungen, bevor die nächste Welle über ihren Kopf hinwegrollte und ihr Schrei verstummte.
Im selben Moment lief der Junge los.
Und das Meer stieg und kam dunkel und glänzend zur Ruhe, und unter seiner Oberfläche schloss die Frau ihre Augen. Das Letzte, was sie spürte, war ein leichter, sanfter Tritt von innen gegen ihre Bauchdecke.
Die sture Vera hatte zwei gesunde Augen und einen vernichtenden Blick. Sie sah ausgezeichnet, diskutierte jedoch im Stile eines Schneepflugs. Sie startete mit einer eigenen Meinung und pflügte sich so durch, bis die Gegenargumente in alle Richtungen davonstoben.
Auf einem Auge blind, aber beliebt.
Im Moment stand sie mit dem Rücken zur untergehenden Sonne, deren flache Strahlen über das Wasser der Värtafjärden glitten, die Brücke zur Insel Lidingö trafen und bis zum Park bei Hjorthagen hinaufreichten, wo sie eine Aura aus hübschem Gegenlicht um Veras Silhouette zauberten.
»Hier geht es um meine Wirklichkeit!«
Der leidenschaftliche Ton ihrer Worte hätte jede Parlamentsfraktion beeindruckt, auch wenn ihre heisere Stimme im Plenarsaal ein wenig fremd geklungen hätte. Wahrscheinlich hätte auch ihre Kleidung, zwei halbschmutzige T-Shirts in unterschiedlichen Farben und ein abgewetzter Tüllrock, Aufsehen erregt. Außerdem war sie barfuß. Aber sie stand natürlich auch in keinem Plenarsaal, sondern einem kleinen, versteckten Park in der Nähe des Värta-Hafens, und ihre Fraktion bestand aus vier Obdachlosen in unterschiedlicher körperlicher Verfassung, die auf ein paar Bänken zwischen Eichen, Eschen und Unterholz saßen. Einer von ihnen war der stille, großgewachsene Jelle, der scheinbar in Gedanken versunken abseits hockte. Auf einer anderen Bank saßen Benseman und Muriel, eine junge Fixerin. Neben ihr lag eine Plastiktüte vom Supermarkt.
Auf der Bank ihr gegenüber döste Arvo Pärt vor sich hin.
Am Rande des Parks kauerten hinter dichten Sträuchern versteckt zwei junge und schwarz gekleidete Männer, deren Blicke auf die Bänke gerichtet waren.
»Meine Wirklichkeit und nicht deren! Oder!«
Die einäugige Vera schlug mit dem Arm in Richtung eines fernen Punktes aus.
»Die tauchen einfach so bei mir auf und klopfen an meinen Wagen, ich hab mir gerade erst das Gebiss eingesetzt, und dann stehen diese Typen vor der Tür! Drei Stück! Und glotzen mich an!? Verdammt, was wollt ihr, hab ich gesagt.
Wir sind vom Ordnungsamt. Ihr Wohnwagen muss hier weg.
Und warum?
Das Gelände soll genutzt werden.
Aha, und wofür?
Eine beleuchtete Joggingstrecke.
Eine was?
Eine Laufstrecke, sie soll hier direkt durchführen.
Was soll das, verdammt noch mal? Ich kann den Wohnwagen nicht wegsetzen! Ich hab kein Auto!
Tut uns leid, aber das ist nicht unser Problem. Er muss vor nächstem Montag weg sein.
Die einäugige Vera holte Luft, und Jelle nutzte die Gelegenheit, um möglichst diskret zu gähnen, denn Vera konnte es nicht ausstehen, wenn man während ihrer Tiraden gähnte.
»Kapiert ihr?! Da stehen diese drei Typen, die in den Fünfzigern in einem Aktenschrank groß geworden sind, und erzählen mir, dass ich zum Teufel gehen soll!? Damit ein paar gemästete Idioten direkt durch mein Zuhause laufen können, um sich so ihre überflüssigen Pfunde abzutrainieren?! Kapiert ihr, warum ich so wütend bin?!«
»Ja.«
Es war Muriel, die eine Antwort zischte. Sie hatte eine ziemlich angegriffene, dünne und heisere Stimme, und wenn sie sich nicht gerade einen Schuss gesetzt hatte, war sie immer sehr zurückhaltend.
Vera warf ihre dünnen, rötlichen Haare zurück und setzte zum nächsten Wortschwall an.
»Aber es geht natürlich auch gar nicht wirklich um diese verdammte Joggingstrecke, es geht um diese Leute, die hier mit ihren kleinen pelzigen Ratten Gassi gehen und sich davon gestört fühlen, dass jemand wie ich in ihrer scheißvornehmen Gegend wohnt, weil ich nämlich nicht in ihre hübsch gepflegte Wirklichkeit passe! So sieht das aus! Die scheißen doch auf uns!«
Benseman lehnte sich ein wenig vor.
»Aber weißt du, Vera, man könnte sich doch immerhin vorstellen, dass sie …«
»Lass uns gehen, Jelle! Komm!«
Vera machte ein paar große Schritte und stieß Jelles Arm an. Bensemans Ansichten interessierten sie nicht. Jelle stand auf, zuckte kurz mit den Schultern und folgte ihr. Egal wohin.
Benseman schnitt nachsichtig eine Grimasse, er kannte seine Vera. Mit etwas zittrigen Händen zündete er sich eine leicht verbeulte Kippe an und öffnete eine Bierdose. Ein Geräusch, das Arvo Pärt zum Leben erweckte.
»Jetzt werden lustig.«
Pärt stammte aus Estland und hatte seine ganz eigene Ausdruckweise. Muriel schaute Vera hinterher und drehte sich dann zu Benseman um.
»Ich find schon, dass an dem, was sie sagt, etwas dran ist. Wenn man irgendwie nicht ins Bild passt, soll man verschwinden … ist doch so, oder?«
»Ja, das stimmt schon …«
Benseman war Nordschwede und vor allem für einen übertrieben festen Händedruck und seine schnapsmarinierten Augäpfel bekannt. Korpulent, mit einem unverkennbaren nordschwedischen Dialekt und ranzigem Atem, der stoßweise zwischen spärlich stehenden Zähnen aus seinem Mund drang. In einem früheren Leben war er Bibliothekar, sehr belesen und ebenso sehr allen alkoholhaltigen Getränken zugeneigt gewesen. Von Moltebeerenlikör bis zu Selbstgebranntem. Eine Trinkerlaufbahn, die innerhalb von zehn Jahren seine Existenz zerstört und ihn in einem gestohlenen Lieferwagen nach Stockholm gebracht hatte, wo er sich als Bettler, Ladendieb und menschliches Wrack über Wasser hielt.
Aber belesen war er.
»… wir leben gnadenhalber«, erklärte Benseman.
Pärt nickte zustimmend und streckte sich nach der Bierdose. Muriel zog eine kleine Plastiktüte und einen Löffel heraus, was Benseman nicht entging.
»Wolltest du nicht endlich aufhören mit dieser Scheiße?«
»Ja, schon. Mach ich auch.«
»Und wann?«
»Ich hör auf!«
Das tat sie tatsächlich. Allerdings nicht, weil sie ihren Schuss nicht mehr wollte, sondern weil ihr Blick plötzlich auf zwei junge Burschen fiel, die zwischen den Bäumen heranschlenderten. Der eine trug eine schwarze Kapuzenjacke, sein Kumpel eine dunkelgrüne. Beide hatten graue Jogginghosen, harte Stiefel und Handschuhe an.
Sie waren auf der Jagd.
Das Obdachlosentrio reagierte relativ schnell. Muriel schnappte sich ihre Plastiktüte und rannte los, Benseman und Pärt stolperten hinterher, bis Benseman auf einmal seine zweite Dose Bier einfiel, die er hinter dem Papierkorb versteckt hatte. In der kommenden Nacht könnte sie den Unterschied zwischen Wachen und Schlafen ausmachen. Er kehrte um und stolperte vor einer der Bänke.
Sein Gleichgewichtssinn ließ zu wünschen übrig.
Seine Reaktionsfähigkeit auch. Als er sich aufzurappeln versuchte, traf ihn ein kräftiger Tritt mitten ins Gesicht, und er wurde auf den Rücken geworfen. Der Kerl in der schwarzen Kapuzenjacke stand direkt neben ihm. Sein Kumpel hatte ein Handy herausgezogen und die Kamera eingeschaltet.
Es war der Beginn eines besonders brutalen Falls von Körperverletzung, gefilmt in einem Park, aus dem keine Geräusche drangen und in dem es nur zwei Zeugen in panischer Angst gab, die sich weit weg in einem Gebüsch versteckt hielten.
Muriel und Pärt.
Selbst aus dieser Entfernung sahen sie jedoch, dass aus Bensemans Mund und Ohren Blut lief, und hörten sein dumpfes Stöhnen bei jedem Tritt, der ihn in den Unterleib und ins Gesicht traf.
Immer und immer wieder.
Erspart blieb ihnen allerdings anzusehen, wie Bensemans wenige Zähne in das Wangenfleisch getreten wurden und die Haut durchbohrten. Stattdessen beobachteten sie, wie der massige Nordschwede versuchte, seine Augen zu schützen.
Mit denen er so gerne las.
Muriel weinte still und presste eine zerstochene Armbeuge auf ihren Mund. Ihr ausgemergelter Körper zitterte. Schließlich nahm Pärt die junge Frau an der Hand und zog sie fort. Sie konnten ohnehin nichts tun. Oder doch, sie konnten die Polizei rufen, dachte Pärt und zerrte Muriel so schnell es ging zum Lidingövägen.
Es dauerte eine Weile, bis sich das erste Auto näherte. Pärt und Muriel begannen schon zu schreien und zu winken, als es noch fünfzig Meter entfernt war, was zur Folge hatte, dass es in einem weiten Bogen um sie herumfuhr und beschleunigte.
»Du Dreckschwein!!«, schrie Muriel.
Neben dem nächsten Fahrer saß eine Frau, eine gepflegte Dame in einem schönen, kirschfarbenen Kleid. Sie deutete durch die Windschutzscheibe.
»Fahr jetzt bloß keinen dieser Fixer an, denk daran, dass du getrunken hast.«
So rauschte auch der graue Jaguar vorbei.
Als Bensemans Hand mit einem Fußtritt gebrochen wurde, waren die letzten Sonnenstrahlen über dem Wasser der Värtafjärden verschwunden. Der Mann mit dem Handy schaltete die Kamera aus, und sein Freund griff nach Bensemans vergessenem Bier.
Dann liefen sie davon.
Zurück blieben nur die Dunkelheit und der korpulente Nordschwede auf dem Erdboden. Seine gebrochene Hand scharrte ein wenig im Kies, seine Augen waren geschlossen. Clockwork Orange war das Letzte, was ihm durch den Kopf ging. Wer zum Teufel hatte das noch mal geschrieben? Dann rührte er sich nicht mehr.
Die Decke war heruntergerutscht und ihr nackter Oberschenkel entblößt. Eine warme, raue Zunge leckte sich nach oben. Sie bewegte sich im Schlaf und spürte ein Kitzeln. Als aus dem Lecken ein sanfter Biss in ihren Schenkel wurde, schoss sie hoch und verscheuchte den Kater.
»Nein!«
Mit dem Ausruf war allerdings nicht der Kater, sondern ihr Wecker gemeint. Sie hatte verschlafen, und zwar gründlich. Außerdem war ihr Kaugummi, das sie an den Bettpfosten gepappt hatte, abgegangen und hatte es sich in ihren langen, schwarzen Haaren bequem gemacht. Die Lage war ernst.
Sie sprang aus dem Bett.
Durch die einstündige Verspätung mussten sämtliche morgendlichen Prozeduren unter Zeitdruck absolviert werden. Ihre Fähigkeit, simultan zu handeln, wurde, vor allem in der Küche, auf eine harte Probe gestellt: Die Milch für den Kaffee kochte fast über, gleichzeitig begannen die Toastbrote zu rußen, und ihr nackter rechter Fuß trat in farbloses Erbrochenes, während sie gleichzeitig am Telefon von einem unerträglich aufdringlichen Verkäufer zugetextet wurde, der sie mit ihrem Vornamen ansprach und ihr garantierte, er habe nicht vor, ihr etwas aufzuschwatzen, er wolle sie nur zu einem Kurs in Finanzberatung einladen.
Die Lage war katastrophal.
Als Olivia Rönning aus dem Mietshaus in der Skånegatan eilte, war sie immer noch ziemlich gestresst. Sie war ungeschminkt und hatte ihre langen Haare hastig zu etwas hochgesteckt, was an einen Dutt erinnerte. Ihre dünne Kunstlederjacke stand offen, darunter lugte ein gelbes T-Shirt hervor, das unten etwas ausgefranst war. Ihre verwaschene Jeans endete in einem Paar ausgelatschter Sandalen.
Auch an diesem Tag schien wieder die Sonne.
Sie überlegte kurz, für welchen Weg sie sich entscheiden sollte. Welcher war schneller? Der rechte. Sie hastete im Laufschritt los und warf am Supermarkt einen hastigen Blick auf die Schlagzeilen der Zeitungen: »WIEDER EIN OBDACHLOSER SCHWER MISSHANDELT«.
Olivia lief weiter.
Sie war auf dem Weg zu ihrem Auto, denn sie musste nach Sörentorp in Ulriksdal nördlich der Stadt. Zur Polizeischule. Sie war dreiundzwanzig Jahre alt und im dritten Semester. In sechs Monaten würde sie sich bei einem Revier in Stockholm und Umgebung als Polizeianwärterin bewerben.
Ein halbes Jahr später würde sie dann eine fertig ausgebildete Polizistin sein.
Etwas außer Atem erreichte sie den weißen Mustang und zog die Schlüssel aus der Tasche. Den Wagen hatte sie von ihrem Vater Arne geerbt, der vier Jahre zuvor an Krebs gestorben war. Es war ein Cabriolet. Jahrgang 1988, rote Ledersitze, Automatikgetriebe und glatte vier Zylinder, die wie ein V 8 röhrten. Viele Jahre war der Mustang der Augenstern ihres Vaters gewesen, und jetzt gehörte er ihr. Neuwertig war er nicht gerade, die Heckscheibe musste sie von Zeit zu Zeit mit Klebeband befestigen, und der Lack hatte ein paar Kratzer abbekommen. Aber bei der Hauptuntersuchung lief es fast immer tadellos.
Sie liebte ihr Auto.
Mit ein paar simplen Bewegungen öffnete sie das Verdeck und setzte sich ans Steuer. Dort nahm sie, nur für zwei Sekunden, fast immer das Gleiche wahr: einen Duft. Nicht den der Sitze, sondern den Geruch ihres Vaters, das Coupé roch nach Arne. Zwei Sekunden nur, dann war er verflogen.
Sie steckte die Ohrstöpsel ins Handy, ließ Bon Iver laufen, drehte den Zündschlüssel, schaltete auf Drive und fuhr los.
Bald würden die Sommerferien beginnen.
*
Eine neue Ausgabe von Situation Stockholm, der Stockholmer Obdachlosenzeitung, war gerade frisch erschienen. Nummer 166. Mit Prinzessin Victoria auf dem Cover und Interviews mit den Sahara Hotnights und Jens Lapidus. Die Redaktion in der Krukmakargatan 34 war deshalb voller obdachloser Verkäufer, die sich ihre Exemplare der neuen Ausgabe abholen wollten. Sie durften sie zum halben Preis, also zwanzig Kronen, kaufen und den Rest behalten, wenn sie ihre Exemplare absetzten.
Ein simples Geschäft, das für viele von ihnen dennoch von entscheidender Bedeutung war. Der Erlös aus dem Verkauf der Zeitungen hielt sie über Wasser. Einige gaben den Gewinn für Drogen oder Alkohol aus, andere dafür, Schulden zurückzuzahlen. Die meisten brauchten es schlichtweg, um sich etwas zum Essen zu kaufen.
Und um ihr Selbstwertgefühl zu stärken.
Schließlich war es trotz allem eine Arbeit, für die sie bezahlt wurden. Sie schnorrten nicht, klauten nichts und überfielen auch keine Rentner. Das taten sie nur, wenn es richtig schlecht lief. Zumindest einige von ihnen. Jedenfalls betrachteten die meisten es als eine Frage der Ehre, ihren Job als Verkäufer gut zu machen.
Einen ziemlich harten Job.
An manchen Tagen standen sie zehn oder zwölf Stunden an ihren festen Verkaufsstellen und schafften es mit Mühe und Not, eine einzige Zeitung loszuwerden. Bei schlechtem Wetter und eisiger Kälte. Dann war es nicht besonders spaßig, mit leerem Magen in irgendeinen Müllkeller zu kriechen und zu versuchen einzuschlafen, bevor sich Alpträume in die Gedanken drängten.
An diesem Tag jedoch wurde eine neue Ausgabe verteilt, was für alle Anwesenden normalerweise ein feierlicher Moment war, denn mit etwas Glück konnte man bereits am ersten Tag einen ordentlichen Stapel loswerden. Diesmal herrschte allerdings keine fröhliche Stimmung im Raum.
Im Gegenteil.
Es war eine Krisensitzung.
Am Vorabend war wieder einer ihrer Kameraden schwer misshandelt worden. Benseman, der Nordschwede, der so unglaublich viel gelesen hatte. Ihm waren viele Knochen gebrochen worden. Seine Milz war gerissen, und die Ärzte hatten die ganze Nacht gegen starke innere Blutungen gekämpft. Der Mann am Empfang war am Morgen im Krankenhaus gewesen.
»Er wird es überleben … aber es wird sicher noch eine ganze Weile dauern, bis wir ihn wieder bei uns haben.«
Die Anwesenden nickten kurz. Mitfühlend. Angespannt. Es war nicht das erste Mal, dass einer von ihnen in der letzten Zeit zusammengeschlagen worden war, es war bereits der vierte Fall, und die Opfer waren ausnahmslos Obdachlose gewesen. Die Taten liefen immer nach dem gleichen Muster ab. Zwei junge Burschen tauchten an einem ihrer Treffpunkte auf, suchten sich ein Opfer, nahmen es in die Mangel, filmten das Ganze und stellten es anschließend ins Internet.
Das war fast noch das Schlimmste an dem Ganzen.
Es war so unglaublich erniedrigend, als wären sie bloß Prügelknaben in einer Dokusoap über Gewalt in Filmen und Videospielen.
Fast genauso bedrückend war die Tatsache, dass alle vier Misshandelten Verkäufer von Situation Stockholm waren. War das ein Zufall? Es gab ungefähr fünftausend Obdachlose in Stockholm, aber nur ein Bruchteil von ihnen verkaufte die Zeitung.
»Picken die sich ausgerechnet uns heraus?!«
»Warum zum Teufel sollten sie das tun?!«
Darauf gab es natürlich keine Antwort, jedenfalls nicht im Moment. Aber es reichte, um die ohnehin erschütterte Schar im Raum noch nervöser zu machen.
»Also, ich habe mir Reizgas besorgt«, meldete sich Bo Fast zu Wort. Die anderen sahen ihn an. Er hielt sein Spray für alle sichtbar hoch.
»Du weißt schon, dass das illegal ist?«, wollte Jelle wissen.
»Was denn?«
»Na, so ein Spray?«
»Na und? Wie legal ist es denn, zusammengeschlagen zu werden?«
Darauf fiel Jelle keine gute Antwort ein. Er lehnte neben Arvo Pärt an der Wand. Ein paar Meter weiter stand Vera, die ausnahmsweise den Mund hielt. Als Pärt angerufen und erzählt hatte, was nur wenige Minuten, nachdem sie und Jelle den Park verlassen hatten, mit Benseman passiert war, hatte sie das völlig fertiggemacht. Wenn sie geblieben wären, hätten sie es verhindern können, davon war sie überzeugt, aber Jelle war anderer Meinung.
»Was hättest du denn getan?«
»Mich mit ihnen geschlagen! Du weißt doch, wie ich die Typen fertiggemacht habe, die in Midsommarkransen unsere Handys klauen wollten!«
»Die waren total besoffen, und einer von ihnen war ein Gnom.«
»Dann hättest du mir eben ein bisschen helfen müssen!?«
Nach dem Telefonat hatten sie sich für die Nacht getrennt, und nun standen sie hier. Und Vera war still. Sie kaufte einen Stapel Zeitungen, Pärt kaufte einen Stapel, Jelle konnte sich nur fünf Stück leisten.
Als sie gemeinsam auf die Straße hinaustraten, brach Pärt plötzlich in Tränen aus. Er lehnte sich gegen die raue Fassade und hielt sich eine schmutzige Hand vors Gesicht. Jelle und Vera betrachteten ihn. Sie begriffen, was in ihm vorging. Er war dort gewesen, hatte alles gesehen und trotzdem nichts tun können.
Vera legte behutsam einen Arm um Pärt und zog seinen Kopf auf ihre Schulter. Pärt war ein zerbrechlicher Mann.
Eigentlich hieß er Silon Karp, stammte aus Eskilstuna und war der Sohn zweier estnischer Flüchtlinge, aber während eines nächtlichen Heroinrausches auf einem Dachboden in der Brunnsgatan war sein Blick zufällig auf eine alte Zeitung mit dem Bild des scheuen estnischen Komponisten gefallen, und daraufhin war er sich schlagartig der ungeheuren Ähnlichkeit bewusst geworden. Zwischen Karp und Pärt. Er hatte seinen Doppelgänger gesehen. Und einen Schuss später war er in seinen Doppelgänger geglitten, und die beiden waren eins geworden. Er war Arvo Pärt und nannte sich seither Pärt. Und da es seinen Bekannten völlig egal war, wie wer wirklich hieß, wurde er zu Pärt.
Arvo Pärt.
Viele Jahre lang hatte er in den südlichen Vororten als Briefträger gearbeitet, aber seine schwachen Nerven und das starke Verlangen nach Opiaten hatten ihn in sein heutiges, entwurzeltes Dasein als obdachloser Verkäufer von Situation Stockholm heruntergezogen.
Jetzt weinte er hemmungslos an Veras Schulter, weinte wegen dem, was Benseman zugestoßen war, wegen aller Teufeleien, aller Gewalt. Aber am meisten weinte er wohl, weil das Leben so war, wie es war.
Vera strich ihm über die verfilzten Haare und schaute zu Jelle hoch, der auf seinen Zeitungsstapel hinunterschaute und dann ging.
*
Olivia fuhr durch das Tor auf das Gelände der Polizeischule und parkte gleich rechts. Zwischen den grauschwarzen Limousinen verschiedener Automarken stach ihr Mustang ein wenig heraus. Sie schaute kurz nach oben zum Himmel und überlegte, ob sie das Verdeck schließen sollte, verzichtete jedoch darauf.
»Und was ist, wenn es regnet?«
Olivia drehte sich um. Ulf Molin. Ein gleichaltriger Klassenkamerad, der die seltsame Fähigkeit besaß, stets in Olivias Nähe aufzutauchen, ohne dass sie es mitbekam. Diesmal hinter ihrem Auto. Ich frage mich, ob er mir hinterherschleicht, dachte sie.
»Dann werde ich das Verdeck wohl schließen müssen.«
»Mitten im Unterricht?«
Diese Art vollkommen sinnloser Unterhaltungen hatte Olivia mittlerweile gründlich satt. Sie nahm ihre Tasche und ging. Ulf folgte ihr.
»Hast du das hier gesehen?«
Ulf trat neben sie und hielt ihr sein Tablet hin.
»Das ist der Obdachlose, der diese Nacht misshandelt worden ist.«
Olivia schielte hinüber und sah, wie der blutende Benseman an unterschiedlichen Körperstellen von Tritten getroffen wurde.
»Das Video ist wieder auf derselben Seite zu sehen«, meinte Ulf.
»Trashkick?«
»Ja.«
Sie hatten am Vortag im Unterricht über die Internetseite gesprochen, und alle waren ziemlich aufgebracht gewesen. Einer ihrer Lehrer hatte erklärt, wie das erste Video und eine Webadresse auf 4chan.org hochgeladen worden waren. Das Video und die Adresse waren relativ schnell entfernt worden, aber den Link hatten dennoch viele gesehen, und daraufhin hatte er rasch große Verbreitung gefunden. Er führte zu der Internetseite trashkick.com.
»Kann man die nicht sperren lassen?!«
»Wahrscheinlich liegt sie bei irgendeinem obskuren Webhoster, der für die Polizei nicht so einfach zu finden und zu sperren sein dürfte«, hatte ihr Lehrer erklärt.
Ulf ließ das Tablet sinken.
»Das ist jetzt schon das vierte Video, das sie hochladen … das ist verdammt krank.«
»Dass sie Menschen zusammenschlagen oder dass sie es ins Netz stellen?«
»Na ja … beides.«
»Und was findest du schlimmer?«
Sie wusste, dass sie ihn lieber nicht zu einem Gespräch ermutigen sollte, aber bis zum Schulgebäude waren es noch zweihundert Meter, und Ulf hatte denselben Weg. Außerdem mochte sie es, andere zum Nachdenken anzuregen. Keine Ahnung, warum. Wahrscheinlich war es eine Art, auf Distanz zu bleiben.
»Ich denke, für diese Typen ist das ein und dasselbe«, antwortete Ulf. »Sie misshandeln ihre Opfer, um die Tat ins Netz zu stellen. Wenn sie kein Forum dafür hätten, würden sie vielleicht auch niemanden misshandeln.«
Gut, dachte Olivia. Ein langer, logisch aufgebauter Satz, eine kluge Überlegung. Wenn er weniger schleichen und mehr denken würde, könnte er in ihrem wählerisch zusammengestellten Bekanntenkreis ein deutlich höheres Niveau erreichen. Außerdem war er sportlich, einen halben Kopf größer als sie und hatte dunkelbraune, lockige Haare.
»Hast du heute Abend schon etwas vor? Wollen wir vielleicht ein Bier trinken gehen?«
In diesem Punkt blieb er auf seinem alten Niveau.
Der Seminarraum war fast voll besetzt. Olivias Klasse bestand aus 24 angehenden Polizisten, die in vier Gruppen eingeteilt waren. Ulf gehörte nicht zu ihrer. An der Tafel stand ihr Dozent Åke Gustafsson, ein Mann von gut fünfzig Jahren, der auf eine lange Karriere im Polizeicorps zurückblickte. Er war beliebt. Ein bisschen umständlich, wie manche fanden. Charmant, fand Olivia. Sie mochte seine buschigen Augenbrauen, die kurz über den Augen ein Eigenleben zu führen schienen. Er hielt ein Kompendium in der Hand, von dem weitere Exemplare in einem Stapel neben ihm auf dem Tisch lagen.
»Da wir in ein paar Tagen auseinandergehen, habe ich mir überlegt, euch für die Sommerferien eine, natürlich freiwillige, kleine Aufgabe zu stellen. Ich habe ein Kompendium zusammengestellt, das eine Reihe ungelöster schwedischer Mordfälle enthält. Ich habe mir gedacht, dass ihr euch einen von ihnen herauspicken und eine eigene Analyse der Ermittlungen durchführen könntet. Überlegt euch, was man mit den Methoden, die uns heute zur Verfügung stehen – DNA-Technik, geographische Analyse, elektronische Abhörmethoden etcetera, etcetera – mittlerweile anders machen würde. Im Grunde ist es eine kleine Übung darin, wie die Arbeit an einem so genannten Cold Case aussehen könnte. Fragen?«
»Es ist also keine obligatorische Aufgabe?«
Olivia warf einen verstohlenen Blick auf Ulf. Er stellte immer solche Fragen, nur um eine Frage zu stellen. Åke Gustafsson hatte doch schon gesagt, dass es freiwillig war.
»Es ist vollkommen freiwillig.«
»Aber es ist schon ein Pluspunkt, wenn man es macht?«
Als der Unterricht vorbei war, ging Olivia nach vorn und nahm sich ein Exemplar. Åke Gustafsson kam zu ihr und deutete auf die Mappe in ihrer Hand.
»An einer der Ermittlungen war Ihr Vater beteiligt.«
»Wirklich?«
»Ja, ich fand es interessant, sie aufzunehmen.«
Olivia saß auf einer Bank in der Nähe des Schulgebäudes neben drei Männern, die alle schwiegen, da sie aus Bronze waren. Einer von ihnen war der Bildschöne Bengtsson, ein notorischer Knastbruder früherer Zeiten.
Olivia hatte noch nie von ihm gehört.
Die beiden anderen waren Tumba-Tarzan und Wachtmeister Björk. Im Schoß des Letztgenannten lag eine Polizeimütze, auf der jemand eine leere Bierdose abgestellt hatte.
Olivia öffnete ihre Fallsammlung. Eigentlich hatte sie nicht vor, während der Ferien für die Schule zu arbeiten, auch wenn die Aufgabe freiwillig war. Es war ihr in erster Linie darum gegangen, aus dem Gebäude zu kommen und sich Ulfs belangloses Gerede zu ersparen.
Aber jetzt war ihre Neugier geweckt.
An einer der Ermittlungen war ihr Vater beteiligt gewesen.
Schnell blätterte sie die Seiten um. Es handelte sich um sehr kurz gehaltene Zusammenfassungen. Ein paar Fakten über die Vorgehensweise, Ort und Datum, ein paar Sätze über die Ermittlungen. Mit der polizeilichen Terminologie war sie einigermaßen vertraut, da sie während ihrer gesamten Kindheit die Gespräche ihrer Eltern am Küchentisch über Kriminalfälle mitbekommen hatte. Ihre Mutter Maria war Strafverteidigerin.
Ganz hinten fand sie schließlich den Fall. Verantwortlich für die Ermittlungen war unter anderem Arne Rönning gewesen.
Kriminalkommissar bei der Landeskriminalpolizei.
Papa.
Olivia schaute auf und ließ den Blick in die Ferne schweifen. Die Schule lag fast mitten in der Natur, man sah große, gepflegte Rasenflächen und schöne Wäldchen, die sich bis zum Wasser der Bucht Edsviken erstreckten. Eine außergewöhnlich friedliche Umgebung.
Sie dachte an Arne.
Sie hatte ihren Vater sehr geliebt, und nun war er tot. Er war nur neunundfünfzig Jahre alt geworden. Das war ungerecht, grübelte sie. Und daraufhin tauchten die Gedanken wieder auf, die sie so oft quälten, fast schon körperlich wehtaten und davon handelten, dass sie ihn im Stich gelassen hatte.
Während ihrer ganzen Kindheit und Jugend hatten sie eine enge und innige Beziehung zueinander gehabt, aber als er dann plötzlich krank geworden war, hatte sie ihn im Stich gelassen. Sie war nach Barcelona gegangen, um Spanisch zu lernen, zu jobben, zu chillen … Spaß zu haben!
Ich bin geflohen, dachte sie. Aber das habe ich damals nicht begriffen. Ich habe mich aus dem Staub gemacht, weil ich unfähig war zu akzeptieren, dass er krank war und sich sein Zustand verschlechtern und er tatsächlich sterben könnte.
Aber genau so war es gekommen, als Olivia noch in Barcelona gewesen war.
Sie erinnerte sich noch an den Anruf ihrer Mutter.
»Papa ist diese Nacht gestorben.«
Olivia strich sich schnell über die Augen und dachte an ihre Mutter und an die Zeit nach dem Tod ihres Vaters, als sie aus Barcelona zurückgekehrt war. Eine furchtbare Zeit. Maria war am Boden zerstört und mit ihrer eigenen Trauer beschäftigt gewesen, eine Trauer, in der für Olivias Schuldgefühle und Angst kein Platz war. Stattdessen waren sie sich schweigend aus dem Weg gegangen, als hätten sie gefürchtet, dass die ganze Welt zerbrechen könnte, wenn sie einander zeigten, was sie empfanden.
Mit der Zeit war der Schmerz natürlich schwächer geworden, aber es war immer noch ein Thema, über das sie nicht sprachen.
Olivia vermisste ihren Vater sehr.
»Na, hast du einen Fall gefunden?«
Es war Ulf, der sich mal wieder auf seine seltsame Art vor ihr materialisiert hatte.
»Ja.«
»Welcher ist es?«
Olivia schaute auf ihren Ordner.
»Ein Mordfall auf der Insel Nordkoster.«
»Wann hat er sich zugetragen?«
»Siebenundachtzig.«
»Und warum hast du dir gerade den ausgesucht?«
»Hast du auch einen gefunden? Oder lässt du es einfach bleiben? Die Aufgabe ist ja nicht obligatorisch.«
Ulf lächelte kurz und ließ sich auf die Bank nieder.
»Was dagegen, wenn ich mich setze?«
»Ja.«
Olivia wusste ganz gut, wie man sich Leute vom Hals hielt. Außerdem wollte sie sich auf den Fall konzentrieren, den sie gerade aufgeschlagen hatte.
Den Fall, in dem ihr Vater ermittelt hatte.
Ein ziemlich spektakulärer Fall, wie sich herausstellte, der von Åke Gustafsson so interessant zusammengefasst worden war, dass Olivia sofort nach mehr Informationen verlangte.
Also fuhr sie zur Königlichen Bibliothek und ging ins Untergeschoss, wo sich der Lesesaal für Zeitungen auf Mikrofilm befand. Eine Bibliothekarin zeigte ihr, wie man in den Regalen das Gesuchte fand und welches Lesegerät sie benutzen konnte. Alles war minutiös erfasst worden. Jede einzelne Zeitung im Land war seit den fünfziger Jahren auf Mikrofilmen archiviert worden. Man musste sich lediglich für eine Zeitung und eine Jahreszahl entscheiden, sich an das Lesegerät setzen und anfangen.
Olivia begann mit einem Provinzblatt, dessen Lokalteil auch über Nordkoster berichtete. Die Strömstad Tidning. Das Datum und den Tatort des Mordfalls hatte sie den Fallunterlagen entnommen. Als sie die Suchfunktion betätigte, dauerte es nur wenige Sekunden, bis die fettgedruckte Schlagzeile auf dem Bildschirm prangte: »MAKABERER MORD AM UFER VON NORDKOSTER«. Der Artikel war von einem ziemlich erregten Reporter geschrieben worden und enthielt eine Reihe von Informationen über Ort und Zeitpunkt.
Sie legte los.
In der nächsten Stunde arbeitete sie sich über diverse Lokalzeitungen in immer größeren Kreisen zu den Tageszeitungen in Göteborg, den Boulevardblättern in Stockholm und den großen überregionalen Tageszeitungen vor und machte sich fieberhaft Notizen.
Über Wichtiges und scheinbar Nebensächliches.
Der Fall hatte im ganzen Land aus mehreren Gründen große Aufmerksamkeit erregt. Es war ein äußerst brutaler Mord gewesen, der von unbekannten Tätern an einer jungen, hochschwangeren Frau begangen worden war. Man hatte weder Verdächtige noch ein Tatmotiv gefunden. Man kannte nicht einmal den Namen des Opfers.
Dieser Mord war all die Jahre ein ungelöstes Rätsel geblieben.
Olivia faszinierte der Fall als Phänomen, aber vor allem der Mord selbst immer mehr: was sich in einer sternenklaren Nacht in einer Bucht auf Nordkoster abgespielt hatte. Die teuflische Methode, eine nackte, schwangere Frau mit Hilfe der Flut zu ermorden. Der Flut?
Das ist nicht mehr und nicht weniger als eine Foltermethode, dachte Olivia. Eine extreme Form des Ertränkens. Langsam, sadistisch.
Warum war sie ausgerechnet so ermordet worden?
Auf diese spektakuläre Art?
Olivia ließ ihrer Fantasie freien Lauf. Gab es eine Verbindung zum Okkultismus? Gezeitenanbeter? Mondanbeter? Der Mord war am späten Abend geschehen. Handelte es sich um eine Art Opferritual? Um eine Sekte? Sollte der Fötus herausgeschnitten und irgendeiner Mondgottheit geopfert werden?
Jetzt komm mal wieder runter, dachte sie dann, schaltete das Lesegerät aus, lehnte sich zurück und blickte auf ihren vollgekritzelten Notizblock: eine Mischung aus Fakten und Spekulationen, Wahrheiten und Vermutungen und mehr oder weniger glaubwürdigen Hypothesen von diversen Kriminalreportern und Kriminologen.
Einer »zuverlässigen Quelle« zufolge waren im Körper des Opfers Spuren von Drogen gefunden worden. Rohypnol. Rohypnol ist eine klassische Vergewaltigungsdroge, dachte Olivia. Aber sie war doch hochschwanger? Hatte man sie etwa betäubt? Aber warum?
Laut Polizei hatte man in den Dünen einen dunklen Stoffmantel entdeckt, auf dem man Haare der Frau gefunden hatte. Wenn das der Mantel des Opfers war, wo waren dann die restlichen Kleider? Hatten die Mörder sie mitgenommen und den Mantel vergessen?
Man hatte weltweit, aber vergeblich nach der Frau gesucht. Schon seltsam, dass keiner eine schwangere Frau vermisst, überlegte sie.
Laut Polizeibericht war sie zwischen fünfundzwanzig und dreißig Jahre alt und möglicherweise lateinamerikanischer Herkunft gewesen. Was war mit »lateinamerikanischer Herkunft« gemeint? Welches Gebiet umfassten diese Worte?
Die Vorgänge am Ufer waren von einem neunjährigen Jungen beobachtet worden, der einem Lokalreporter zufolge Ove Gardman hieß. Der Junge war nach Hause gelaufen und hatte seine Eltern alarmiert. Was machte er heute? Konnte man sich mit ihm in Verbindung setzen?
Laut Polizei war die Frau zwar bewusstlos, aber noch am Leben gewesen, als Gardmans Eltern zum Ufer kamen. Die beiden hatten daraufhin alles versucht, aber als der Rettungshubschrauber eintraf, war sie bereits tot gewesen. Wie weit entfernt wohnten die Gardmans?, dachte sie. Wie lange hatte der Helikopter gebraucht, um dorthin zu kommen?
Olivia stand auf. Ihr schwirrte der Kopf vor lauter Eindrücken und Gedanken. Beim Aufstehen hätte sie fast das Gleichgewicht verloren.
Ihr Blut befand sich noch in Knöchelhöhe.
Sie ließ sich in der Humlegårdsgatan auf den Autositz fallen und merkte, dass ihr der Magen knurrte, ein Knurren, das sie mit einem Powerbar-Energieriegel aus dem Handschuhfach dämpfte. Stundenlang hatte sie im Lesesaal gesessen. Verblüfft stellte sie fest, wie spät es schon war. Die Zeit war wie im Flug vergangen. Olivia warf einen Blick auf ihren Notizblock. Dieser alte Mordfall am Ufer hatte sie wirklich gefesselt. Nicht nur, weil Arne bei den Ermittlungen dabei gewesen war, das war nur eine private Zusatzmotivation, sondern wegen der vielen mysteriösen Aspekte. Vor allem ein ganz bestimmtes Detail hatte sich ihr eingebrannt: Es war der Polizei nie gelungen, die Identität der ermordeten Frau zu ermitteln. Sie war und blieb über all die Jahre hinweg eine Unbekannte.
Das forderte Olivia heraus.
Wenn ihr Vater noch am Leben wäre, was hätte er ihr dann erzählen können?
Sie zog ihr Handy heraus.
Åke Gustafsson und eine Frau mittleren Alters standen auf einer der gepflegten Rasenflächen der Polizeischule. Die Frau stammte aus Rumänien und war in der Schule für die Verpflegung zuständig. Sie bot ihm eine Zigarette an.
»Es gibt heute nicht mehr viele, die noch rauchen«, sagte sie.
»Da haben Sie recht.«
»Hängt wohl mit der Krebsgefahr zusammen.«
»Wahrscheinlich.«
Daraufhin rauchten sie.
Als ihre Zigaretten halb heruntergebrannt waren, klingelte sein Handy.
»Hallo, hier spricht Olivia Rönning. Also, ich habe mich für diesen Fall auf Nordkoster entschieden und wollte …«
»Das habe ich mir fast gedacht«, unterbrach Åke Gustafsson, »Ihr Vater war ja dabei und …«
»Aber das ist nicht der eigentliche Grund.«
Olivia war es wichtig, eine klare Grenze zu ziehen. Hier ging es um sie und um die Gegenwart. Das hatte nichts mit ihrem Vater zu tun. Sie hatte sich für eine Arbeitsaufgabe entschieden, die sie auf ihre Art durchführen würde. So war sie.
»Ich habe mich für den Fall entschieden, weil ich ihn interessant finde«, erklärte sie.
»Aber er ist auch ziemlich knifflig.«
»Stimmt, und genau deshalb rufe ich an. Ich würde mir gerne die richtigen Ermittlungsakten anschauen, wo finde ich die?«
»Hm, die liegen wahrscheinlich im Zentralarchiv in Göteborg.«
»Aha? Okay, schade.«
»Aber die hätten Sie ohnehin nicht einsehen dürfen.«
»Warum nicht?«
»Weil es sich um einen ungelösten Mordfall handelt, der noch nicht verjährt ist. Niemand wird in eine laufende Ermittlung eingeweiht, wenn er nicht zum Team gehört.«
»So, so … und was soll ich jetzt tun? Woher bekomme ich mehr Informationen?«
Es wurde still in der Leitung.
Olivia saß, das Handy ans Ohr gepresst, am Steuer. Worüber dachte er nach? Sie sah mit entschlossenen Schritten eine Politesse näher kommen. Ihr Wagen stand auf einem Behindertenparkplatz. Das war nicht gut. Sie ließ den Motor an und hörte gleichzeitig Åke Gustafssons Stimme.
»Sie könnten mit dem Leiter der Ermittlungen sprechen«, sagte er.
»Er hieß Tom Stilton.«
»Ich weiß.«
»Wo finde ich ihn?«
»Keine Ahnung.«
»Im Präsidium?«
»Das glaube ich nicht. Aber fragen Sie Olsäter, Mette Olsäter, sie ist Kriminalkommissarin, und die beiden haben früher häufig zusammengearbeitet, vielleicht kann sie Ihnen weiterhelfen.«
»Und wo finde ich sie?«
»Bei der Landeskriminalpolizei, im Gebäude C.«
»Danke!«
Olivia fuhr vor den Augen der Politesse davon.
*
»Situation Stockholm! Die neueste Ausgabe! Lesen Sie die Reportage über Prinzessin Victoria und unterstützen Sie die Obdachlosen!«
Für die sture Vera war es kein Problem, sich bei den wohlsituierten Bürgern des Stadtteils Södermalm Gehör zu verschaffen, die in die Markthalle wollten, um ihre Taschen zu füllen. Ihre ganze Erscheinung war wie gemacht für die große Bühne des Königlich Dramatischen Theaters. Eine verlebtere Variante der großen schwedischen Schauspielerin Margaretha Krook zu ihren Glanzzeiten. Der gleiche stechende Blick, die gleiche natürliche Autorität und eine Ausstrahlung, der man sich nicht entziehen konnte.
Sie verkaufte gut.
Die Hälfte ihres Stapels war sie bereits losgeworden.
Bei Arvo Pärt lief es weniger gut. Er verkaufte nichts. Stattdessen stand er ein paar Meter entfernt an eine Wand gelehnt. Es war nicht sein Tag, und er wollte nicht allein sein. Er schielte zu Vera hinüber, deren Stärke er bewunderte. Er wusste das eine oder andere über ihre dunklen Nächte, genau wie die meisten ihrer Bekannten. Trotzdem stand sie dort und sah aus, als gehörte ihr die ganze Welt. Eine Obdachlose. Es sei denn, man betrachtete einen heruntergekommenen grauen Wohnwagen aus den Sechzigern als vollwertiges Zuhause.
Das tat Vera.
»Ich bin nicht obdachlos.«
Was teilweise sogar der Wahrheit entsprach, da sie auf einer Warteliste der Stadt für Wohnungen stand, ein politisches Projekt, um die Lage der Penner in Stockholm ein bisschen zu beschönigen. Mit etwas Glück würde sie im Herbst probehalber eine Wohnung bekommen. Wenn sie sich im Griff hatte, konnte sie eventuell die ihre werden.
Vera hatte sich fest vorgenommen, sich im Griff zu haben.
Das hatte sie fast immer. Sie besaß ihren Wohnwagen und bezog eine Frührente von gut fünftausend Kronen im Monat, die mit Ach und Krach für das Nötigste reichte. Den Rest suchte sie sich aus Müllcontainern zusammen.
Es ging ihr nicht schlecht.
»Situation Stockholm!«
Inzwischen hatte sie drei weitere Exemplare verkauft.
»Du willst hier stehen?«
Die Frage kam von Jelle. Er war mit seinen fünf Zeitungen wie aus dem Nichts aufgetaucht und hatte sich in Veras Nähe gestellt.
»Ja. Wieso?«
»Das ist Bensemans Stelle.«
Jeder Verkäufer hatte eine eigene Verkaufsstelle in der Stadt. Der Platz stand zusammen mit dem Namen auf der Plastikkarte angegeben, die um ihren Hals hing. Auf Bensemans Karte hatte »Benseman/Markthalle Södermalm« gestanden.
»Es dürfte noch eine ganze Weile dauern, bis Benseman hier wieder steht«, erwiderte Vera.
»Das ist seine Stelle. Hast du hier eine Vertretungsstelle?«
»Nein. Hast du?«
»Nein.«
»Und was machst du dann hier?«
Jelle antwortete nicht. Vera ging einen Schritt auf ihn zu.
»Hast du etwas dagegen, dass ich hier stehe?«
»Es ist eine gute Stelle.«
»Ja.«
»Können wir sie uns nicht teilen?«, fragte Jelle.
Vera lächelte kurz und sah Jelle mit diesem Blick an, dem er immer möglichst schnell auswich. Er schaute zu Boden. Vera stellte sich dicht neben ihn, bückte sich ein wenig und suchte hochschauend seinen Blick. Als wollte sie von unten kommend einer Forelle auf den Leib rücken. Keine Chance. Jelle drehte sich weg. Vera ließ ihr typisches, heiseres Lachen hören, das vier Familien mit kleinen Kindern augenblicklich veranlasste, mit ihren elegant designten Buggys auszuweichen.
»Jelle!«, rief sie lauthals lachend.
Pärt drückte sich ein wenig von der Wand ab. Gab es Ärger? Er wusste, dass Vera leicht aus der Haut fuhr. Über Jelle wusste er hingegen wenig. Es hieß, er stamme aus den Schären, von einer weit draußen gelegenen Insel. Rödlöga, hatte irgendwer gesagt. Jelle ist der Sohn eines Robbenjägers! Aber es wurde so viel erzählt, und so wenig davon war wahr. Jetzt stand der angebliche Robbenjäger jedenfalls vor der Markthalle und stritt sich mit Vera.
Oder vielleicht auch nicht.
»Worüber streitet ihr euch?«
»Wir streiten uns nicht«, antwortete Vera. »Jelle und ich streiten uns nie. Ich sage, wie es ist, und er glotzt den Boden an. Stimmt’s?«
Vera drehte sich zu Jelle um, aber der war schon nicht mehr da, sondern fünfzehn Meter weiter. Er hatte nicht vor, sich mit Vera über Bensemans Verkaufsstelle zu streiten. Letztlich war es ihm vollkommen egal, wo Vera ihre Zeitungen verkaufte. Das musste jeder fliegende Händler selbst wissen.
Er war sechsundfünfzig Jahre alt, und im Grunde war ihm alles egal.
*
Olivia fuhr durch den späten Sommerabend nach Hause. Es war ein anstrengender Tag gewesen. Sie hatte an einem Tiefpunkt begonnen, sich wie üblich ein kleines Wortgefecht mit Ulf Molin geliefert und dann diesen Mordfall gefunden, von dem sie aus privaten und anderen Gründen nicht mehr loskam.
Während der Stunden in der Königlichen Bibliothek hatte er sie richtig gepackt, was eigentlich seltsam war, da die Sache so gar nicht ihren Plänen entsprach. In Kürze würde sie nach einer harten und intensiven Arbeitsphase Sommerferien haben. Wochentags hatte sie die Polizeischule besucht und an den Wochenenden in der Justizvollzugsanstalt gejobbt. Jetzt hatte sie sich eigentlich erholen wollen. Sie hatte ein bisschen Geld gespart, so dass sie eine ganze Weile gut über die Runden kommen würde. Sie dachte unter anderem an eine Last-Minute-Reise. Außerdem hatte sie seit fast einem Jahr keinen Sex mehr gehabt. Dagegen wollte sie auch etwas unternehmen.
Und dann tauchte das hier auf?
Sollte sie vielleicht doch auf die Zusatzaufgabe verzichten? Immerhin war sie freiwillig. Dann rief Lenni an.
»Ja?«
Lenni war seit dem Gymnasium ihre beste Freundin. Ein Mädchen, das sich durchs Leben treiben ließ und verzweifelt nach einem Halt suchte, um nicht zu versacken. Die immer ausgehen und überall dabei sein wollte, weil sie sonst Angst hatte, etwas zu verpassen. Diesmal hatte sie vier Freundinnen zusammengetrommelt, um Jakob nicht zu verpassen, den Typen, an dem sie im Moment interessiert war. Sie hatte auf Facebook gelesen, dass er an diesem Abend in das Lokal Strand am Hornstull gehen wollte.
»Du musst mitkommen! Das wird super! Wir treffen uns um acht bei Lollo und …«
»Lenni.«
»Ja?«
»Daraus wird nichts, ich muss … es geht um eine Aufgabe für die Schule, ich muss das heute Abend erledigen.«
»Aber Jakobs Kumpel Erik ist auch da, und er hat schon ein paarmal nach dir gefragt! Der ist doch total süß! Er passt perfekt zu dir!«
»Tut mir leid, heute geht’s nicht.«
»Mensch, du bist echt eine Spaßbremse, Olivia! Dabei könnte es dir wirklich nicht schaden, mal mit einem Typen zu schlafen, damit du wieder in Form kommst!«
»Ein anderes Mal.«
»Das sagst du in letzter Zeit immer! Na schön, aber gib mir nicht die Schuld, wenn du was verpasst!«
»Versprochen. Ich hoffe, es klappt mit Jakob!«
»Ja, drück mir die Daumen! Küsschen!«
Olivia kam nicht mehr dazu, selbst Küsschen zu sagen, denn Lenni hatte sie schon weggedrückt. Sie war schon auf dem Weg dorthin, wo etwas passierte.
Warum hatte sie eigentlich Nein gesagt? Als Lenni sie anrief, hatte sie doch selbst gerade an Männer gedacht. War sie etwa wirklich so langweilig geworden, wie Lenni behauptete? Eine Aufgabe für die Schule?
Warum hatte sie das erwähnt?
Olivia gab neues Katzenfutter in den Napf und säuberte das Katzenklo. Anschließend ließ sie sich vor ihrem Notebook nieder. Eigentlich hatte sie Lust auf ein Bad, aber ihr Abfluss war verstopft, so dass der ganze Fußboden überschwemmt würde, sobald sie das Wasser abließ, und darauf hatte sie an diesem Abend wirklich keine Lust. Das würde sie morgen machen. Sie würde es auf die Morgen-zu-erledigen-Liste setzen, eine Liste, die sie den größten Teil des Frühjahrs vor sich hergeschoben hatte.
Jetzt öffnete sie Google Earth.
Nordkoster.
Die Möglichkeit, zu Hause an einem Bildschirm zu sitzen und an Häusern in der ganzen Welt entlang zur nächsten Fensterreihe zu zoomen, faszinierte sie noch immer. Auch wenn sie sich dabei wie ein Spion oder Spanner vorkam.
Nun wurden jedoch ganz andere Gefühle in ihr geweckt. Je näher sie an die Insel heranzoomte, an die Landschaft, die schmalen Wege, die Häuser, je näher sie ihrem Ziel kam, desto intensiver wurden ihre Gefühle. Und dann war sie da.
An der Bucht Hasslevikarna.
Im nördlichen Teil der Insel.
Fast wie eine kleine Förde, dachte sie und versuchte, möglichst nahe heranzukommen. Sie konnte die oberhalb liegenden Dünen und das Ufer erkennen, an dem man die schwangere Frau eingegraben hatte. Auf dem Bildschirm lag der Ort vor ihr.
Grau, körnig.
An welcher Stelle die Frau wohl eingegraben worden war?
War es dort gewesen?
Oder dort?
Wo hatte der Mantel gelegen, den sie später fanden?
Und wo hatte der kleine Junge gehockt, der alles beobachtet hatte? Auf den Felsen an der Westseite des Ufers? Oder doch an der Ostseite? Am Waldsaum?
Plötzlich ärgerte es sie, dass sie nicht näher herankam. Bis zum Ufer hinunter. Um sozusagen mit den Füßen am Wasser zu stehen.
Dort zu sein.
Aber es ging nicht, näher kam man nicht. Sie fuhr den Computer wieder herunter. Jetzt würde sie sich das Bier gönnen, von dem Ulf des Öfteren gesprochen hatte. Aber sie würde es alleine trinken, zu Hause, ohne die Gesellschaft ihrer Kurskameraden in einer Kneipe.
Alleine.
Olivia lebte gerne als Single. Sie hatte es selbst so gewollt, obwohl sie nie Probleme mit Männern gehabt hatte, im Gegenteil. Ihre ganze Kindheit und Jugend hatten ihr bestätigt, dass sie attraktiv war. Da waren die vielen Fotos von einem süßen, kleinen Mädchen und Arnes zahllose Urlaubsfilme mit Olivia im Mittelpunkt. Dann all die Blicke, als sie in die große Welt hinaustrat. Eine Zeitlang war sie dem Hobby nachgegangen, sich eine Sonnenbrille aufzusetzen und die Männer zu beobachten, denen sie begegnete. Wie ihre Blicke auf sie fielen, wo immer sie unterwegs war, und sich erst dann wieder von ihr lösten, wenn sie an ihnen vorbei war. Das war sie jedoch ziemlich schnell leid gewesen. Sie wusste, wer sie war und was sie auf dieser Ebene zu bieten hatte. Das gab ihr Sicherheit.
Sie musste nicht auf die Jagd gehen.
Wie Lenni.
Olivia hatte ihre Mutter und ihre kleine Wohnung. Zwei weißgestrichene Zimmer mit Dielenböden, die ihr allerdings eigentlich nicht gehörten, sondern nur zweiter Hand von einem Cousin gemietet waren, der für den Staatlichen Schwedischen Exportrat in Südafrika arbeitete. Zwei Jahre würde er dort bleiben und sie solange in seiner Möblierung wohnen.
Damit musste sie leben.
Außerdem hatte sie ja Elvis, den Kater, der ihr von einer intensiven Beziehung zu einem attraktiven Jamaikaner geblieben war, den sie in der Nova Bar in der Skånegatan kennengelernt hatte. Erst hatte er sie unglaublich heiß gemacht, und dann hatte sie sich in ihn verliebt.
Ihm hatte sie die umgekehrte Version erzählt.
Fast ein Jahr lang waren sie gereist und hatten gelacht und gevögelt, aber dann hatte er eine Freundin aus seiner Heimat getroffen. So hatte er sich ausgedrückt. Die allergisch gegen Katzen war, weshalb der Kater in der Skånegatan geblieben war. Als der Jamaikaner ausgezogen war, hatte sie ihn Elvis getauft. Er hatte ihn vorher nach Haile Selassies Namen in den dreißiger Jahren Ras Tafari genannt.
Elvis entsprach eher ihrem Geschmack.
Mittlerweile liebte sie den Kater genauso sehr wie den Mustang.
Sie trank einen Schluck Bier.
Es schmeckte gut.
Als sie die zweite Dose öffnen wollte, entdeckte sie, dass es Starkbier war, woraufhin ihr einfiel, dass sie weder zu Mittag noch zu Abend gegessen hatte. Wenn sie sich in etwas verbiss, genoss die Nahrungszufuhr nicht unbedingt höchste Priorität. Jetzt spürte sie, dass eine gewisse Grundlage nötig gewesen wäre, um dem leichten Rollen im Gehirn entgegenzuwirken. Sollte sie sich eine Pizza holen gehen?
Nein.
Das leichte Rollen war eigentlich ganz angenehm.
Sie nahm Büchse Nummer zwei in das kompakte Schlafzimmer mit und ließ sich auf die Tagesdecke fallen. An der gegenüberliegenden Wand hing eine länglich schmale, grauweiße Holzmaske, eines der afrikanischen Objekte ihres Cousins. Sie war sich immer noch nicht sicher, ob sie ihr nun gefiel oder nicht. Es gab Nächte, in denen sie aus einem eisigen Traum erwachte und sah, wie das Mondlicht vom weißen Mund der Maske reflektiert und auf sie selbst geworfen wurde. Das war ein wenig gruselig. Olivia ließ den Blick zur Decke schweifen. Plötzlich fiel ihr ein, dass sie schon seit Stunden keinen Blick mehr auf ihr Handy geworfen hatte! Das war ungewöhnlich, denn das Handy gehörte zu Olivias Outfit. Wenn es nicht in ihrer Tasche steckte, fühlte sie sich nackt. Jetzt zerrte sie es heraus und schaltete es ein. Las Mails und SMS, ging in ihren Kalender und landete schließlich bei der App des Schwedischen Fernsehens. Bevor sie eindösen würde, konnte sie noch kurz die Nachrichten schauen, das war perfekt!
»Aber wie wollen Sie jetzt vorgehen?«
»Dazu kann ich momentan nichts sagen.«
Der Mann, der momentan nichts sagen konnte, hieß Rune Forss, war Kommissar bei der Stockholmer Polizei und gut fünfzig Jahre alt. Er hatte den Auftrag erhalten, die Gewalttaten an Obdachlosen aufzuklären. Ein Auftrag, der Forss offensichtlich nicht dazu gebracht hat, vor Freude an die Decke zu springen, dachte Olivia. Der Mann schien vom alten Schlag zu sein und zu jenem Teil des alten Schlags zu gehören, der fand, dass viele Menschen an einigem selber schuld waren. Vor allem, wenn es um Gauner ging, und ganz besonders, wenn es um Leute ging, die sich nicht am Riemen reißen, einen Job besorgen und benehmen konnten wie alle anderen auch.
Diese Menschen waren mit Sicherheit selber schuld.
Eine Haltung, die in der Polizeischule nicht gelehrt wurde, auch wenn alle wussten, dass sie in manchen Köpfen noch existierte. Einige von Olivias Kurskameraden hatten sich bereits von dem Jargon anstecken lassen.
»Werden Sie die Obdachlosen infiltrieren?«
»Infiltrieren?«
»Ja. Als Obdachlose agieren, um an die Täter heranzukommen.«
Als Rune Forss die Frage endlich verstand, schien es ihm schwerzufallen, sich ein Lächeln zu verkneifen.
»Nein.«
Olivia schaltete das Handy aus.
In der guten Version hätte eine dieser Obdachlosen auf einem schlichten Stuhl am Bett eines schwer verletzten Mannes gesessen. Ihre Hände hätten über die Decke des Mannes gestrichen und versucht, ihm ein wenig Trost zu spenden. In der wahren Version, die beschreibt, wie es wirklich war, hatte das Personal am Empfang des Krankenhauses jedoch augenblicklich den Sicherheitsdienst alarmiert, als die einäugige Vera auf dem Weg zu den Aufzügen die Eingangshalle durchquerte. Die Wachleute hatten sie in der Nähe von Bensemans Zimmer abgefangen.
»Hier dürfen Sie sich nicht aufhalten!«
»Warum denn nicht? Ich will doch nur einen Freund besuchen, der …«
»Kommen Sie jetzt bitte mit!«
Und damit war Vera hinausbegleitet worden.
Was eine verharmlosende Umschreibung dafür war, dass die Wachleute eine grölende Vera auf unnötig brutale und zutiefst beschämende Art an glotzenden Menschen vorbei durch die große Eingangshalle des Krankenhauses führten und mehr oder weniger auf die Straße warfen. Obwohl sie ihre gesammelten Menschenrechte in ihrer ganz persönlichen Version herunterleierte, flog sie hinaus.
In die Sommernacht. Und trat alleine ihre lange Wanderung zu dem Wohnwagen im Wald Ingenting im nördlichen Vorort Solna an.
In einer Nacht, in der junge, gewalttätige Männer unterwegs waren und Rune Forss auf dem Bauch liegend eingeschlafen war.
Die Frau, die sich gerade einen Bissen Marzipantorte in den Mund schob, hatte roten Lippenstift aufgetragen, besaß eine große, grau melierte, gelockte Haarpracht und Volumen. So hatte es ihr Mann einmal ausgedrückt: »Meine Frau hat Volumen.« Was heißen sollte, dass sie sehr umfangreich war. Eine Tatsache, die sie phasenweise quälte, phasenweise aber auch nicht. Wenn ihr Übergewicht ihr wieder einmal zu sehr zusetzte, versuchte sie mit kaum messbarem Erfolg, das Volumen zu verringern. In den anderen Phasen genoss sie es, die Frau zu sein, die sie war. In diesem Moment saß sie in ihrem geräumigen Büro in der Landeskriminalpolizei und aß heimlich ein Stück Torte. Mit halbem Ohr lauschte sie gleichzeitig den Rundfunknachrichten. Eine Firma namens MWM, Magnuson World Mining, war soeben zum schwedischen Unternehmen des Jahres im Ausland gewählt worden.
»Die Nachricht hat am heutigen Tag zu heftigen Protesten von allen Seiten geführt. Das Unternehmen sieht sich wegen seiner Methoden beim Coltanabbau im Kongo mit massiver Kritik konfrontiert. Bertil Magnuson, der Vorstandsvorsitzende der Firma, stellte sich der Kritik mit den folgenden Worten.«
Die tortenessende Frau schaltete das Radio aus. Der Name Bertil Magnuson war ihr vertraut, seit sie in den achtziger Jahren im Fall eines vermissten Mannes ermittelt hatte.
Sie betrachtete eine Porträtaufnahme am Rande ihres Schreibtisches. Ihre jüngste Tochter Jolene. Das Mädchen sah sie mit einem eigentümlichen Lächeln und rätselhaften Augen an. Sie hatte das Down-Syndrom und war neunzehn Jahre alt. Geliebte Jolene, dachte die Frau, wohin wird das Leben dich noch führen? Sie wollte sich gerade nach dem letzten Bissen Torte strecken, als es an der Tür klopfte. Hastig schob sie den Teller hinter zwei stehende Aktenordner auf ihrem Tisch und drehte sich um.
»Herein!«
Die Tür öffnete sich, und eine junge Frau schaute herein. Der Blick ihres linken Auges lag nicht ganz parallel zu dem des rechten, sie schielte leicht. Ihre Haare hatte sie zu einem strähnigen schwarzen Dutt hochgesteckt.
»Mette Olsäter?«, fragte der strähnige Dutt.
»Worum geht es?«
»Darf ich eintreten?«
»Worum geht es?«
Der strähnige Dutt schien sich nicht sicher zu sein, ob dies eine Aufforderung zum Eintreten war oder nicht, und blieb deshalb in der halb geöffneten Tür stehen.
»Ich heiße Olivia Rönning und gehe auf die Polizeischule, ich suche Tom Stilton.«
»Und warum?«
»Ich arbeite an einer Seminararbeit zu einem Fall, bei dem er die Ermittlungen geleitet hat, und müsste ihm einige Fragen stellen.«
»Um welchen Fall geht es?«
»Ein Mord auf der Insel Nordkoster im Jahr 1987.«
»Kommen Sie herein.«
Olivia trat ein und schloss die Tür. Es gab einen Stuhl in der Nähe von Olsäters Tisch, aber Olivia traute sich nicht, unaufgefordert Platz zu nehmen. Die Frau hinter dem Schreibtisch war nicht nur ausgesprochen umfangreich, sie strahlte zudem Autorität aus.
Immerhin war sie eine Kriminalkommissarin.
»Was ist das für eine Arbeit?«
»Wir sollen uns alte Mordermittlungen ansehen und uns überlegen, was man heute, mit modernen Methoden, vielleicht anders machen würde.«
»Eine Cold-Case-Übung?«
»So ungefähr.«
Es wurde still. Mette warf einen verstohlenen Blick auf ihr Tortenstück. Sie wusste, dass es ins Blickfeld geraten würde, wenn sie die junge Dame bat, Platz zu nehmen, deshalb sorgte sie lieber dafür, dass sie auf den Beinen blieb.
»Stilton hat gekündigt«, sagte sie kurz angebunden.
»Aha, okay. Wann?«
»Spielt das eine Rolle?«
»Nein, ich … ich meine, er könnte meine Fragen ja vielleicht trotzdem beantworten. Auch wenn er nicht mehr hier arbeitet. Warum hat er gekündigt?«
»Aus privaten Gründen.«
»Was macht er heute?«
»Keine Ahnung.«
Wie ein Echo von Åke Gustafsson, dachte Olivia.
»Wissen Sie, wo ich ihn erreichen kann?«
»Nein.«
Mette Olsäter sah Olivia an, ohne eine Miene zu verziehen. Das Signal war deutlich. Das Gespräch war für sie beendet.
»Trotzdem danke«, sagte Olivia.
Sie ertappte sich dabei, sich fast unmerklich zu verneigen, bevor sie zur Tür ging. Auf halbem Weg drehte sie sich noch einmal um.
»Sie haben da ein bisschen, na ja, Sahne oder so, am Kinn.«
Anschließend zog sie rasch die Tür hinter sich zu.
Mette Olsäter strich sich ebenso schnell mit der Hand über ihr Kinn und wischte den kleinen Sahneklecks fort.
Ärgerlich.
Aber auch ein bisschen komisch, darüber würde ihr Mann Mårten am Abend sicher herzlich lachen. Er liebte peinliche Momente.
Weniger lustig war, dass diese Rönning Tom suchte. Sie würde ihn sicher nicht finden, aber schon die Tatsache, dass sie seinen Namen erwähnt hatte, reichte aus, um Mette Olsäter innerlich aufzuwühlen.
Es gefiel ihr nicht, innerlich aufgewühlt zu sein.
Mette Olsäter war ein analytisch denkender Mensch, eine brillante Ermittlerin mit einem geschulten Intellekt und einer beeindruckenden Fähigkeit zu simultanem Handeln. Das war keine Prahlerei, sondern eine Tatsache, die sie zu der Position geführt hatte, die sie heute bekleidete. Sie war eine der erfahrensten Mordermittlerinnen im ganzen Land. Eine Frau, die einen kühlen Kopf behielt, wenn sensiblere Kollegen sich in irrelevante Emotionen verstrickten.
So etwas kam bei Mette Olsäter nicht vor.
Aber auch sie hatte ein Inneres, das sich in seltenen Fällen aufwühlen ließ. Und diese Fälle hatten fast immer etwas mit Tom Stilton zu tun.