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August Emmerich ermittelt wieder!
Wien in den Nachwehen des Ersten Weltkriegs: Als ein prominenter Politiker ermordet wird, kann sich Inspektor August Emmerich nicht an den Ermittlungen beteiligen, sondern soll sich stattdessen um eine Schauspielerin kümmern, die um ihr Leben fürchtet. Doch der Fall entpuppt sich als nicht so nebensächlich wie es scheint, und schon bald stecken Emmerich und sein Assistent mitten in einem perfiden Mordkomplott – und ihnen bleibt nicht viel Zeit, um die Fäden zu entwirren ...
Mord auf Wienerischem Pflaster – August Emmerich ermittelt:
Band 1: Der zweite Reiter
Band 2: Die rote Frau
Band 3: Der dunkle Bote
Band 4: Das schwarze Band
Alle Bände sind eigenständige Fälle und können unabhängig voneinander gelesen werden.
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Seitenzahl: 416
Buch:
Wien, 1920: Die Stadt von Rayonsinspektor August Emmerich ist ein Ort der Extreme, zwischen bitterer Not, politischen Unruhen und wildem Nachtleben. Während seine Kollegen den aufsehenerregenden Mordfall an dem beliebten Stadtrat Richard Fürst bearbeiten, müssen Emmerich und sein Assistent Ferdinand Winter Kindermädchen für eine berühmte Schauspielerin spielen, die um ihr Leben fürchtet. Dabei stoßen sie nicht nur auf eine ominöse Verbindung zu Fürst, sondern kommen einem perfiden Mordkomplott auf die Spur. Es beginnt ein dramatischer Wettlauf mit der Zeit, der sie in die Abgründe der Stadt und deren Einwohner blicken lässt.
Autorin:
Alex Beer, geboren in Bregenz, hat Archäologie studiert und lebt in Wien. Nach »Der zweite Reiter«, der von der Presse hochgelobt wurde, ist »Die rote Frau« der zweite Roman um den Ermittler August Emmerich. Bereits kurz nach Erscheinen von Band eins wurde Alex Beer mit dem renommierten Leo-Perutz-Preis für Kriminalliteratur ausgezeichnet und außerdem für den von Sebastian Fitzek ins Leben gerufenen Viktor Crime Award nominiert.
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ALEX BEER
DIE
ROTE
FRAU
Ein Fall für
August Emmerich
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Copyright © 2018 by Alex Beer
© 2018 by Limes in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literaturagentur Kai Gatheman. Redaktion: Margit von Cossart
Umschlaggestaltung: bürosüd
KW · Herstellung: wag
ISBN 978-3-641-19290-7 V003
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Nur die Toten haben das Ende des Krieges gesehen.
Platon
Donnerstag,
18. März 1920
1
Dichte Wolken zogen über den Himmel von Wien. Grau und schwer spiegelten sie die Stimmung in der Stadt wider.
Bald würde die Dämmerung einsetzen, was ihm sehr entgegenkam. Manche Dinge ließen sich in der tröstlichen Umarmung der Dunkelheit einfacher erledigen als in der kalten Realität des Tages.
Selbst in den Kriegsjahren war die Versorgungslage nur selten so schlecht gewesen, wie es momentan der Fall war. Lebensmittel blieben streng rationiert, Schuhe und Kleidung waren Mangelware, und da die akute Kohlennot die Eisen- und Stahlerzeugung lahmgelegt hatte, war die Arbeitslosigkeit auf einen neuen Höchstwert gestiegen. Überall spürte man die Armut und Knappheit. So wurden Kaffee- und Gasthäuser, um Energie zu sparen, abends nur mit stinkenden Karbidlampen beleuchtet, die Spielzeit in den Theatern war auf drei Stunden pro Tag limitiert worden, und die Elektrische fuhr bis maximal halb zehn.
Es war kalt für diese Jahreszeit, ein eisiger Wind blies durch die schmalen Gassen des 1. Bezirks. Er stellte den Kragen seines Mantels hoch und vergrub die Hände tief in den Taschen. Das, was er tun musste, würde ihm nicht leichtfallen, doch er hatte keine Wahl. Er würde einen Mann töten und damit eine ganze Nation retten. Wenn nur alles gut ging.
Sein Nachdenken wurde durch ein klopfendes Geräusch unterbrochen, und er hob seinen Blick.
Eine gebeugte Gestalt kam ihm entgegen, die mit einem Stock den Weg abtastete, während sie vorsichtig über das unebene Kopfsteinpflaster schlurfte – ein Blinder, der eine zerschlissene hechtgraue Uniform trug, die ihn als ehemaligen Soldaten der K.-u.-k.-Armee auswies.
Als der Invalide ihn passierte, stieg ihm der Geruch des Elends in die Nase: Schweiß, Alkohol und gekochte Rüben. Er sah dem Mann, der nur einer von Abertausenden Notleidenden war, hinterher und fühlte sich in seinem Entschluss bestätigt. Ja, es war richtig, was er im Begriff war zu tun.
Dem jungen Staat ging es schlecht. Österreich darbte und siechte, und es war kein Ende in Sicht – nicht seit am Tag zuvor der letzte Lichtblick ausgelöscht worden war.
Die deutsche Revolution war gescheitert. Nach gerade mal einhundert Stunden war der Umsturzversuch, der die Weimarer Republik durch eine Militärdiktatur ersetzen sollte, infolge eines Generalstreiks der Arbeiterschaft beendet worden. Gas-, Wasser- und Elektrizitätswerke waren stillgelegt, sämtliche Nachrichten- und Verkehrsverbindungen ausgeschaltet. Der Alltag im Nachbarreich war zum Erliegen gekommen, seine Geschicke waren nicht mehr lenkbar. Den heldenhaften Freiheitskämpfern war nichts anderes geblieben, als aufzugeben.
Wussten die Proletarier denn nicht, was sie mit ihrem Widerstand angerichtet hatten? Dank ihnen würde kein frischer Wind aufziehen, es würde kein verheißungsvolles Regime an die Macht gelangen, das den Zusammenschluss ihrer beiden Reiche befürwortete und den Schandfrieden sowie die unerhörten Verträge, mit denen die Siegermächte sie knechteten, ablehnte. Alles würde so bleiben wie jetzt.
Doch das durfte es nicht. Wenn es so weiterging, waren sie verloren.
In seinem Tun bestärkt, eilte er mit zügigen Schritten durch die schmale Himmelpfortgasse und wurde erst langsamer, als er das ehemalige Winterpalais des Prinzen Eugen passierte. Das Barockjuwel war genauso schön und prächtig wie die Epoche, für die es stand, der Glanz des Hauses Habsburg indes war erloschen. An seiner statt war eine Republik des Elends getreten, die ihren Einwohnern keine Zukunft bieten konnte.
Eine Zukunft aber war es, was die Menschen am dringendsten brauchten. Hoffnung und eine Perspektive – und genau dafür würde er jetzt sorgen.
Er bog in die Seilerstätte ein und blieb eine Weile vor dem Haus stehen, in dem Stadtrat Richard Fürst lebte. Prüfend blickte er sich um.
»Für Gott und Vaterland«, murmelte er schließlich und betätigte die Türglocke.
Montag,
22. März 1920
2
»Bereust du es?« Rayonsinspektor August Emmerich schaute seinem Assistenten, der ihm gegenübersaß, in die Augen und massierte sein rechtes Knie. Eine Kriegsverletzung versteifte sein Bein immer mehr. Bald würde er gar nicht mehr in der Lage sein, es zu beugen, und die damit verbundenen Schmerzen wurden auch immer schlimmer.
»Dass ich Ihnen in die Abteilung ›Leib und Leben‹ gefolgt bin?«
»Du sollst meine Fragen nicht mit Gegenfragen beantworten.« Emmerich zündete sich eine selbst gedrehte Zigarette an, der einzige Luxus, den er sich derzeit leistete. »Sag schon: Bereust du es?«
Anstatt etwas zu entgegnen, ließ Ferdinand Winter seinen Blick durch das Zimmer wandern, das seit drei Monaten ihre Arbeitsstätte war. Während die lang gedienten Kriminalbeamten sich im Kommissariat an der Roßauer Lände zu zweit oder zu dritt ein Büro teilten, waren sie beide zu den Sekretärinnen und Amtsdienern in die Schreibstube gesetzt worden. Offiziell aufgrund von Platzmangel. Die inoffiziellen Gründe wollte niemand laut aussprechen.
Emmerich betrachtete die anderen Arbeitstische und die daran sitzenden Männer und Frauen, lauschte ihrem Gemurmel und dem Kratzen von harten Bleistiftminen auf billigem Papier und atmete tief ein. Die Luft war abgestanden, es stank nach drittklassigem Parfüm, Schweiß und Nikotin. »Antworte mir.«
Damals, einige Monate zuvor, als Winter ihm gegen seinen Willen als Assistent zugeteilt worden war, hatte er ihn aus mangelndem Respekt stets geduzt. Jetzt, da der Kleine sich längst als fähig erwiesen hatte und eine angemessenere Anrede absolut verdiente, war Emmerich schon so an die saloppe Ansprache gewöhnt, dass er die Unart fortführte.
Winter starrte zu Boden. Er war kein guter Lügner und würde nie einer sein. Es gab Dinge, die konnte man nicht lernen, die musste man im Blut haben, und die Kunst der Täuschung war ihm nicht in die Wiege gelegt worden. Im Gegenteil. »Niemand konnte ahnen, dass es so …« Seine Lider zuckten nervös, während er offenbar nach einer freundlichen Umschreibung suchte, »… so unangenehm werden würde.«
»Unangenehm …«, setzte Emmerich an. Sein Tonfall ließ nicht erkennen, ob es sich dabei um eine Frage oder eine Feststellung handelte. »Ich würde es eher als …«
»Pst!« Winter deutete mit einer Kopfbewegung verstohlen auf einen Punkt hinter Emmerich und zupfte nervös an seiner Armschlinge.
Seit einem schweren Unfall im November des vergangenen Jahres musste er den linken Arm ruhig halten. Wie lange das noch nötig war, stand in den Sternen. Der Polizeiarzt hatte ihm aufgetragen, die Knochen auf keinen Fall zu belasten, und Winter hielt sich genau an diese Anweisung.
Etwas zu genau für Emmerichs Geschmack. Entnervt fuhr er mit den Fingern durch sein ungekämmtes braunes Haar, drehte sich um und schaute direkt in das blasse Gesicht von Revierinspektor Peter Brühl, einem miesen Paragrafenreiter, der zwar im Rang höhergestellt, ihm jedoch an Lebenserfahrung weit unterlegen war.
Brühl knallte einen Stapel Papier auf den Schreibtisch, den Emmerich und Winter sich teilten – ein altes, abgenutztes Möbelstück, das in der hintersten Ecke des Büros stand, dort, wo die Strahlen der Deckenlampe nicht hinreichten, und wo es stets ein bisschen zog. »Berichte vom Fall Fürst. Die gehören abgetippt.«
»Es ist gleich fünf. Schichtende. Wir …«
»Anweisung von Oberinspektor Gonska«, erstickte Brühl Emmerichs Widerstand im Keim und strich mit der Hand über sein dichtes schwarz glänzendes Haar, das seitlich gescheitelt und mit Pomade geglättet war. »Es ist dringend. Beeilung, wenn ich bitten darf.« Als Emmerich nicht sofort reagierte, wandte er sich dem Mann am Nebentisch zu, schenkte ihm einen vielsagenden Blick und formte mit dem Mund ein Wort.
Leo Papousek, ein milchgesichtiger Speichellecker, der für die Postbearbeitung zuständig war, nickte wissend.
Brühl zuckte mit den Schultern und schickte sich an, den Raum zu verlassen, als Emmerich hochschnellte und sich vor ihm aufbaute. »Sagen Sie’s mir ins Gesicht!«
»Ich weiß nicht, wovon Sie reden.« Der Revierinspektor grinste, stellte sich breitbeinig hin und spannte seine Muskeln an.
Emmerich trat einen Schritt vor, sodass sich ihre Nasenspitzen beinahe berührten. »Sagen Sie es mir ins Gesicht.«
Brühl fuhr zurück, sein Grinsen erstarb. In dem Raum, der gerade noch von Alltagsgeräuschen erfüllt gewesen war, wurde es so still, dass man das Ticken der Standuhr im Nebenzimmer hören konnte. »Lassen Sie mich in Ruhe!«
»Glauben Sie eigentlich, ich wäre taub? Oder blöd? Glauben Sie, ich kriege nicht mit, wie Sie uns heimlich nennen?« Emmerich schüttelte den Kopf. »Sie glauben wohl, Sie wären etwas Besseres.«
Brühl versuchte, an Emmerich vorbeizugehen, doch dieser versperrte ihm den Weg. Schließlich verlor der Revierinspektor die Selbstbeherrschung. »Verdammt noch mal«, schnauzte er mit hochrotem Kopf, »ich bin etwas Besseres. Jeder in der Abteilung ist es. Wir haben uns harten, anspruchsvollen Eignungstests unterziehen müssen, die ein humpelnder Drogenabhängiger und ein jämmerliches Unfallopfer nie im Leben bestehen würden. Wir waren eine Eliteeinheit. Die Besten der Besten. Bis Horvat … Bis er …«
Tatsächlich hatten Emmerich und Winter die harten Prüfungen nicht absolvieren müssen, die die körperliche und geistige Tauglichkeit der Aspiranten maßen. Carl Horvat, der frühere Leiter der Abteilung, hatte die beiden ins Boot geholt, nachdem Emmerich, damals noch Polizeiagent, einen heiklen Fall gelöst hatte.
»Sagen Sie es endlich! Lassen Sie es raus!« Emmerich stand nun wieder so dicht vor Brühl, dass er dessen warmen, säuerlichen Atem riechen konnte.
»… bis er die Krüppelbrigade eingestellt hat.«
»Na also, war doch gar nicht so schwer.« Emmerich schnippte eine imaginäre Fluse von Brühls Jackett und trat zur Seite. »Ehemaliger Drogenabhängiger übrigens.« Er ging so gemütlich, als wäre nichts geschehen, zurück zu seinem Schreibtisch. »Ich bin sauber.« Leider, fügte er im Geiste hinzu.
In jedem einzelnen Augenblick der vergangenen vier Monate hatte er Verlangen nach der tröstlichen Wirkung des Rauschgifts gehabt. Er vermisste die wohlige Taubheit in seinem Bein und sehnte sich nach der sanften Stimme des Heroins, die ihm zuflüsterte, dass alles gut werden würde. Doch diese Stimme war verklungen. Er hatte einen schmerzhaften Entzug hinter sich, und wenn er seine Stelle behalten wollte, durfte er nicht rückfällig werden. Nur seine geliebten Zigaretten waren ihm geblieben und hie und da ein Gläschen Schnaps.
Noch immer war es im Büro stiller als beim Sonntagsgottesdienst. Erst als ein lautes »EMMERICH!« das Schweigen durchbrach, erfüllte von einem Augenblick auf den anderen wieder rege Betriebsamkeit den Raum. Oberinspektor Albrecht Gonska, der Leiter der Abteilung, stand in der offenen Tür und kniff die Augen zusammen. »Was soll der Aufstand?«
»Alles in bester Ordnung.« Emmerich wusste, dass es keinen Sinn machte, sich mit Gonska anzulegen. Er würde seine Situation dadurch nur weiter verschlimmern. Wobei … Konnte es überhaupt noch schlimmer kommen? Er und Winter saßen schließlich nicht nur im selben Raum wie die Sekretärinnen und Amtsdiener, nein, sie hatten auch dieselbe Arbeit zu tun.
Während die anderen Kriminalbeamten seit vier Tagen den spektakulären Mord an Richard Fürst, einem allseits beliebten Stadtrat, untersuchten, mussten er und Winter Kaffee kochen, Akten ordnen und Botengänge tätigen. Idiotenarbeit, weit unter ihrer Würde, und eine Verschwendung ihrer Fähigkeiten. Sein sehnlichster Wunsch, eines Tages der Abteilung »Leib und Leben« anzugehören, jener Spezialeinheit, die Morde und schwere Delikte gegen die körperliche Integrität untersuchte, hatte sich in seinen ganz persönlichen Albtraum verwandelt. Er war nicht dafür geschaffen, sich als Bürokraft zu verdingen. Er wollte Verbrecher jagen, und zwar nicht nur auf dem Papier.
Carl Horvat, jener Mann, der ihm trotz seiner Behinderung den Aufstieg ermöglicht hatte, war zum stellvertretenden Polizeidirektor befördert worden. Seit sein Nachfolger Gonska die Truppe übernommen hatte, sah die Zukunft düster aus für Emmerich und Winter.
Für die Krüppelbrigade.
Obwohl sie im vergangenen Jahr eine grausame Mordserie aufgeklärt hatten, sahen Gonska und seine Leute, anders als Horvat, in ihnen keine patenten Kriminalbeamten, sondern einen humpelnden Querulanten und einen verweichlichten Jungspund, die einfach nur Glück gehabt hatten. Beschädigte Ware, die nicht in die leistungsstarke Elitetruppe passte und die gerade mal gut genug für die Büroarbeit war. Laufburschen, Tippmamsells, Deppen vom Dienst.
Wenn kein Wunder geschah, würden sie für immer hier drinnen bei Papousek und den Vorzimmerdamen versauern.
»Worauf warten Sie dann noch?« Gonska, ein stattlicher Mann mit breiten Schultern und einem Kaiser-Franz-Joseph-Backenbart, richtete sich zu seiner vollen Größe auf und zog die Weste seines vornehmen Dreiteilers zurecht. »Die Berichte tippen sich nicht von allein.«
Emmerich biss die Zähne so fest zusammen, dass sein Kiefer knackte. Er war in einem städtischen Waisenhaus aufgewachsen, hatte einige Jahre auf der Straße verbracht und war nach vielen Irrungen und Wirrungen zur Polizei gekommen. Dank seiner rauen Vergangenheit und der Zeit an der Front war er es gewohnt, Ungemach stumm zu erdulden. Hunger, Kälte, Angst und Schmerzen … das waren Dinge, mit denen er klarkam. Was er jedoch nicht ertragen konnte, war Erniedrigung. Erniedrigung war seine emotionale Achillesferse, und wenn sich nicht bald etwas änderte, konnte er für nichts mehr garantieren.
Er setzte sich wieder an den Schreibtisch, wandte Gonska und Brühl den Rücken zu und steckte sich mit der Glut seiner aufgerauchten Kippe die nächste Zigarette an. »Ich bereue es«, zischte er seinem Assistenten zu, der bereits mit dem Transkribieren begonnen hatte. Einhändig.
Winter antwortete nicht. Er hielt mitten in der Bewegung inne und starrte an ihm vorbei.
»Was ist denn jetzt schon wieder?« Emmerich wandte sich in Erwartung einer neuen Gehässigkeit von Brühl um und war umso erstaunter, eine elegante Dame in der Tür stehen zu sehen. Sie trug ein saphirblaues Kleid, hochhackige Schuhe in derselben Farbe und darüber einen Pelzmantel. Ein Hut, dessen Krempe so breit war, dass sein Schatten ihre Züge verdeckte, komplettierte ihre Garderobe. Von ihrem Gesicht war kaum etwas zu erkennen, doch das Wenige, das man sehen konnte, ließ darauf schließen, dass die Unbekannte atemberaubend schön war.
»Ich möchte mit dem Leiter dieser Abteilung reden.« Die Art wie sie sprach, nasal und akzentuiert, ließ keine Zweifel daran aufkommen, dass die Dame aus der gehobenen Gesellschaft stammte, und die Tatsache, dass ihre Stimme bebte, zeugte davon, dass sie aufgebracht war. Sehr sogar.
»Das ist Rita Haidrich«, flüsterte Winter.
»Kenn ich nicht.« Emmerich nahm einen langen Zug von seiner Zigarette und musterte die junge Frau. Er hätte sein Gehalt darauf verwettet, dass sie heillos egozentrisch war. Nicht unbedingt seine liebste Sorte Mensch.
»Die Schauspielerin.« Vor lauter Aufregung hatte Winter rote Wangen bekommen. Ohne sie auch nur einen Moment aus den Augen zu lassen, strich er sein hellblondes Haar glatt nach hinten und zupfte an seinem beigen Kordsakko. »Sie hat an der Burg die Elektra gespielt.«
»Pah, das Burgtheater ist doch nur was für …« Emmerich schluckte das Wort, das ihm auf der Zunge lag, hinunter. Er hatte sich schon so sehr an den Kleinen gewöhnt, dass er immer wieder dessen vornehme Herkunft vergaß. Winter stammte aus adligen Kreisen und war nur durch eine Verkettung tragischer Schicksalsschläge bei der Polizei gestrandet. Erst hatte die Spanische Grippe seine Familie dahingerafft, dann der Krieg das Vermögen geschluckt, und das Adelsaufhebungsgesetz, das im Vorjahr erlassen worden war, hatte ihm den Titel entzogen. Übrig geblieben war ein junger Mann, furchtbar lieb und schrecklich naiv, der sich nun dem Leben stellen musste. Dem echten Leben.
»Diesen Monat ist die Haidrich auf der Titelseite der Filmwelt, aber keine Fotografie wird ihr gerecht«, redete Winter eifrig weiter.
Emmerich blies eine Rauchwolke in seine Richtung und hustete. »Schau ich aus, als würde mich so was interessieren?«
Winter ignorierte seinen Kommentar. »Was sie wohl hier will? Vielleicht weiß sie etwas über den Mord an Stadtrat Fürst«, spekulierte er.
»Ach was. Wahrscheinlich ist ihr Schoßhund weggelaufen, oder das Hausmädchen hat was mitgehen lassen. Du weißt schon, Reiche-Leute-Probleme.« Emmerich klemmte sich die Zigarette in den Mundwinkel und spannte ein Blatt Papier in die Schreibmaschine.
»Ich glaube, es geht um mehr. Immerhin sind wir hier bei der Mordkommission.«
»Falsch«, brummte Emmerich. »Wir sind hier in der Hölle.«
»Emmerich!« Nicht viel später stand Brühl wieder neben ihrem Schreibtisch, sein Grinsen verhieß nichts Gutes. »Emmerich!«, wiederholte er lauter.
»Ich bin nicht taub!« Emmerich, der gerade eine Zeugenaussage abtippte, drückte so fest auf das F, dass der Typenhebel im Papier stecken blieb.
»Zu Gonska. Jetzt.«
Emmerich rollte mit den Augen und stand auf. Sofort schoss der Schmerz in sein Knie. Er unterdrückte ein Stöhnen und schritt unter den neugierigen Blicken der anderen so aufrecht wie möglich durch den Raum.
Im Flur zündete er sich erneut eine Zigarette an und humpelte vorbei an den dunkelbraunen Nussbaumholztüren, hinter denen seine Kollegen ihrer Arbeit nachgingen. Richtiger Arbeit. Aufgeregtes Murmeln drang aus den Büros. Sie waren auf der Jagd.
Er verabscheute diese Abteilung, nach deren Zugehörigkeit er sich so lange gesehnt hatte. Zu gerne hätte er dem arroganten Pack einfach den Rücken gekehrt – doch er konnte nicht. Durch den Krieg war die Wirtschaft zusammengebrochen, es gab keine Stellen. Sein alter Posten als Polizeiagent war längst nachbesetzt, und niemand riss sich um einen Invaliden. Einen Beschädigten. Einen Krüppel. Die Erinnerung an Hunger und Obdachlosigkeit hielt ihn davon ab, sich auf dem schnellsten Wege davonzumachen.
Emmerich wich einem Mitarbeiter des Erkennungsamtes aus, der bepackt mit Aktenordnern zu Brühls Büro eilte, und betrat, ohne anzuklopfen, das geräumige Dienstzimmer seines Vorgesetzten. Hier war es – anders als an seinem und Winters Arbeitsplatz – stets gut geheizt und angenehm ruhig. Die Wände waren mit eleganten Stofftapeten bezogen, auf dem edlen Eichenholzparkett lag ein dicker beiger Teppich. Ein dreiflammiger Messinglüster im Wiener Jugendstil zeigte sich unbeeindruckt von der herrschenden Energieknappheit, er flutete den Raum mit warmem Licht.
»Inspektor Emmerich, da sind Sie ja.« Gonska, der hinter einem großen Massivholzsekretär saß, breitete lächelnd die Arme aus, als hätte er seinen Untergebenen nicht wenige Minuten zuvor noch abgekanzelt.
Emmerich wusste sofort, dass etwas faul war. Mächtig faul. Und dann fiel sein Blick auch schon auf die schöne Schauspielerin, die Winter so sehr zu bwundern schien.
»Setzen Sie sich.« Gonska wies auf einen freien Stuhl. »Darf ich vorstellen: Die sehr verehrte Rita Haidrich. Sie kennen sie sicher von einem ihrer Engagements am Burgtheater.«
Emmerich nahm Platz und zupfte sich einen Tabakkrümel von der Oberlippe. »Aber natürlich«, sagte er leicht spöttisch, »grüß Gott.« Er starrte auf die Hand, die sie ihm entgegenstreckte. Verwirrt schüttelte er sie.
Haidrich rümpfte die Nase, und Gonska räusperte sich. »Abgesehen von mangelnder Etikette ist Inspektor Emmerich ein fähiger Mann. Sie sind gut bei ihm aufgehoben.«
Emmerich realisierte zu spät, dass wohl ein Handkuss die adäquate Begrüßung gewesen wäre, nahm einen Zug von seiner Zigarette und lehnte sich zurück. Die Gepflogenheiten der Oberschicht empfand er als absolut entbehrlich. Das ganze Gehabe war in seinen Augen kein Akt der Höflichkeit, es diente zur Abgrenzung vom einfachen Volk. Er würde nicht mitspielen. Sollte sie doch von ihm halten, was sie wollte.
Haidrich war noch sehr jung, allenfalls Mitte zwanzig, und tatsächlich ausgesprochen attraktiv – sofern man auf diese Art von Weibsbildern stand. Er zog den natürlichen, unprätentiösen Typ vor – so wie seine Luise.
Zu dem Schmerz in seinem Bein gesellte sich ein Ziehen in seiner Brust. Es ist nicht mehr deine Luise, rief er sich ins Gedächtnis, sie gehört jetzt einem anderen. Xaver Koch, Luises Ehemann, hatte eigentlich als gefallen gegolten, und er, Emmerich, hatte sich um sie und ihre Kinder gekümmert. Er war zu einem fürsorglichen Familienvater und liebenden Partner geworden. Dann war Xaver völlig überraschend aus der Kriegsgefangenschaft heimgekehrt, und Luises Glaube hatte ihr zu Emmerichs großem Kummer nicht erlaubt, sich von ihrem Gatten abzuwenden. »Ich will nur dich«, hatte sie ihm unter Tränen beteuert, »doch ich habe einen Eid abgelegt. Vor Gott und der Kirche. Ich muss zurück zu ihm.«
Verdammter Katholizismus. Man sollte den Herrn im Himmel genauso abschaffen wie jenen in der Hofburg. Wann würde er sich endlich damit abfinden, dass er seine große Liebe verloren hatte? Nie, schrie eine Stimme in seinem Kopf, und er versuchte, sich abzulenken, indem er seine Aufmerksamkeit wieder der jungen Frau zuwandte. Ihr Mund war tiefrot geschminkt, ihr Teint hatte die noble, fast schon durchscheinende Blässe jener Menschen, die nicht fürs Überleben arbeiten mussten. Das sandfarbene Haar war in perfekte Wellen gelegt. Sie war ein Ausbund an Makellosigkeit – einzig die tiefen Schatten unter ihren Augen wollten nicht zu ihrem Erscheinungsbild passen.
»Frau Haidrich hat ein Problem, bei dem Sie ihr behilflich sein werden.« Durch eine Handbewegung gab Gonska der Schauspielerin zu verstehen, dass sie selbst Emmerich über seine Aufgabe unterrichten solle.
»Ich bin in Gefahr.« Sie blickte ihm in die Augen und unterstrich ihre Worte, indem sie sich an die Kehle fasste.
Für einen kurzen Augenblick wurden Emmerichs trübe Gedanken von einem Hoffnungsschimmer erhellt, und er richtete sich in seinem Stuhl auf. Hatte Winter vielleicht doch richtiggelegen? Wusste sie etwas über den Mord an Stadtrat Fürst? Etwas, das eine Bedrohung für sie darstellte? Und wenn ja, bedeutete seine Anwesenheit in Gonskas Büro etwa, dass er endlich in die Ermittlungen mit einbezogen wurde?
Ein Blick auf seinen Vorgesetzten ließ den Traum sofort wieder platzen. Emmerich konnte sehen, dass es Gonska aus irgendeinem Grund schwerfiel, Contenance zu wahren. Seine Mundwinkel zuckten, und seine Oberlippe bebte, als wäre er kurz davor loszuprusten. Ganz gleich, welcher Spaß auch immer folgen mochte – er würde auf seine Kosten gehen.
Emmerich lehnte sich wieder zurück, schlug die Beine übereinander und verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich höre.«
Haidrich atmete einmal tief ein und wieder aus und beugte sich zu ihm herüber. »Es geht um einen Fluch«, sagte sie beinahe lautlos.
Gonska tat so, als würde er husten, und Emmerich wusste nicht, ob er sich verhört hatte. »Wie bitte?«
»Pandora, der neue Film, in dem ich die Hauptrolle spiele, wurde mit einem Fluch belegt. Ich fürchte, es wird bald etwas Schlimmes geschehen.«
Emmerich starrte sie schweigend an.
»Verstehen Sie?«
»Aber natürlich.« Er verstand sehr wohl. Diese Frau hatte ein psychisches Problem oder ein Aufmerksamkeitsdefizit. Höchstwahrscheinlich beides.
Sie hatte den Zynismus in seiner Stimme entweder nicht gehört oder ihn nicht hören wollen, denn sie sprach unbeirrt weiter. »Als wir mit den Dreharbeiten begonnen haben, ist eine unheimliche Frau im Atelier aufgetaucht. Sie hat den Film verflucht. Seither ereignet sich eine Katastrophe nach der nächsten. Unfälle geschehen, Menschen werden krank … Das muss aufhören. Am Mittwoch wird die große Schlussszene inszeniert, und am Donnerstag richte ich einen wichtigen Ball aus. Da darf auf keinen Fall etwas passieren.«
»Und was soll ich Ihrer Meinung nach tun? Ich bin Kriminalbeamter, kein Exorzist.«
»Exorzismus nützt nichts. Das habe ich schon probiert.«
»Aber …« Emmerich fehlten die Worte.
»Sie sind doch darin ausgebildet, Hinweise zu verfolgen und Menschen aufzuspüren. Finden Sie diese Frau! Bringen Sie sie dazu, den Fluch aufzuheben!«
Emmerich kratzte sich am Kopf und musterte Rita Haidrich. »Sie meinen das tatsächlich ernst, oder?«
Sie nickte. »Es ist, als hätte diese Hexe tatsächlich die Büchse der Pandora geöffnet. Unerklärliche Dinge geschehen. Böse Dinge. Ich schwöre Ihnen, auf dem Streifen liegt ein Fluch.«
Emmerich fiel es schwer, sich zurückzuhalten. »Hören Sie …« Er sprach langsam und überdeutlich, so als würde er auf ein begriffsstutziges Kind einreden. »Das Problem wird sich auch ohne mein Zutun lösen. Diese ominöse Frau wird bald von ganz allein auftauchen und Ihnen anbieten, den Fluch zurückzunehmen – und zwar gegen eine beträchtliche Summe Geld.«
Haidrich legte ihre Hände in den Schoß und begann, ihre Nagelhaut zurückzuschieben. »Sie hat aber …«, setzte sie an weiterzureden, doch Emmerich bedeutete ihr zu schweigen.
»Lügner und Betrüger, die sich als Heiler oder Wahrsager ausgeben, schießen seit Kriegsbeginn wie Pilze aus dem Boden. Ich weiß, wovon ich rede: Ich war früher Polizeiagent und habe jede Woche zig Scharlatane verhaftet, die Gebetszettel verkauft oder trauernden Angehörigen Kontakt ins Jenseits versprochen haben. Absoluter Humbug, versteht sich. Das sind skrupellose Bauernfänger, die aus den Ängsten und dem Schmerz der Menschen Profit schlagen wollen.«
Haidrich schüttelte mit solcher Vehemenz den Kopf, dass ihre Frisur durcheinanderzugeraten drohte. »Ich bin nicht das naive Dummerchen, für das Sie mich halten.« Sie ignorierte eine Haarsträhne, die sich gelöst hatte und ihr in die Stirn gefallen war. »Ich habe das Ganze auch erst als Spinnerei abgetan, aber dann sind genau die Dinge geschehen, die sie heraufbeschworen hat.«
»Täuschungen. Davon leben diese Menschen.«
»Ich spreche nicht von einfachen Taschenspielertricks«, insistierte sie.
Emmerich seufzte und warf Gonska einen genervten Blick zu. »Wovon dann?«
»Von schwarzer Kunst, von Hexenwerk … Ich kann mich an ihre Worte ganz genau erinnern. Die werde ich nie in meinem Leben vergessen.« Sie schloss die Augen und atmete langsam ein und wieder aus. »Beelzebub, Leviathan, Lilith, Marduk: Hört mich an! Lasst Kummer herrschen, Krankheit, Pein. Unglückstag für immer sein«, rezitierte sie. »Lasst Wasser fluten, Feuer rasen, Erde beben, Lüfte blasen. Bringt über sie der Welt Verderben. Wer Götter schmäht, muss endlich sterben.«
Emmerich zuckte mit den Schultern. »Solche Zaubersprüche erfinden diese Menschen immer, um ihre Opfer zu ködern. Wahrscheinlich hat sie dazu wild mit den Armen in der Luft herumgefuchtelt, die Augen verdreht und am Ende auf den Boden gespuckt. Eine gewisse Theatralik gehört zu ihrer Masche dazu. Gerade Sie sollten das durchschauen.«
»Nichts«, rief Haidrich so laut, dass Gonska zusammenzuckte, »nichts davon hat sie gemacht. Sie hat die Worte ganz ruhig ausgesprochen und ist verschwunden. Spurlos. Gleich am nächsten Tag hat es begonnen: Erst sind wichtige Dinge aus der Requisite weggekommen, dann wurden zwei meiner Kollegen schwer krank, und schließlich ist ein Scheinwerfer auf einen der Techniker gefallen. Kummer, Krankheit, Pein. Verstehen Sie? Eine Woche später hat ein Rohrbruch das Filmatelier unter Wasser gesetzt, und heute …« Sie stand auf, zog den Saum ihres Kleides hoch und streckte Emmerich ihr Bein entgegen, dessen Unterschenkel verbunden war. »Heute, mitten in einer Szene, hat die Dekoration begonnen zu brennen. Einfach so.«
»Dumme Zufälle«, murmelte Emmerich und starrte Gonska mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Ich soll einem Fluch auf den Grund gehen. Ist das Ihr …?«
Gonska antwortete, indem er mit der flachen Hand auf den Tisch schlug. »Genug jetzt, Emmerich! Tun Sie einfach, was Frau Haidrich sich wünscht. Spüren Sie die Frau auf, und setzen Sie dem Spuk ein Ende.«
»Sie können gleich mitkommen«, warf Rita Haidrich ein. »In einer halben Stunde findet eine Soiree für die Presse und die Finanziers statt. Gut möglich, dass die Hexe wieder zuschlägt.«
»Könnten Sie uns bitte noch einen Moment allein lassen?«, presste Emmerich hervor. »Ich muss mit dem Oberinspektor kurz etwas Dienstliches bereden. Sie können in der Eingangshalle auf mich warten.«
Er suchte nach einem Aschenbecher, und als er keinen fand, drückte er den Zigarettenstummel einfach in einem der Blumentöpfe auf dem Fensterbrett aus.
Die junge Frau wirkte nicht besonders erfreut, und es dauerte einen Augenblick, bis sie endlich aufstand. »Wenn es unbedingt sein muss.«
Gonska nickte Rita Haidrich zu, Emmerich begleitete sie zur Tür und schloss diese rasch. »Das kann doch wohl nicht Ihr Ernst sein«, stieß er hervor. »Ich soll Überstunden machen, um den Hexenjäger für dieses exzentrische Frauenzimmer zu spielen? Ich dachte eigentlich, ich arbeite für ›Leib und Leben‹ und nicht für die Spanische Inquisition.«
»Jetzt machen Sie mir hier kein Drama, Emmerich. Dieses exzentrische Frauenzimmer, wie Sie sie nennen, ist die Tochter von Victor Haidrich. Dem Victor Haidrich. Immobilienmagnat und enger Freund des Polizeipräsidenten. Ich finde ihr Anliegen ja auch ziemlich abstrus, aber ich kann sie nicht einfach wegschicken.«
Emmerich setzte sich wieder und stützte seine Ellenbogen auf die Tischplatte. »Weshalb soll ausgerechnet ich diesen peinlichen Auftrag bekommen? Ich bin ein fähiger Kriminalbeamter. Das wissen Sie genau.« Erst als sich ein warmer metallischer Geschmack in seinem Mund ausbreitete, merkte er, dass er sich die Unterlippe blutig gebissen hatte.
Gonska setzte sich aufrecht hin und seufzte. »Was soll ich denn Ihrer Meinung nach machen? Der Rest der Abteilung arbeitet an der Sache Fürst, und es ist wichtig, Frau Haidrich zufriedenzustellen. Ihr Vater kann uns große Unannehmlichkeiten bescheren. Reißen Sie sich zusammen, finden Sie die Frau, und gut ist’s. Ich habe wegen der schleppenden Ermittlungen im Mordfall Fürst bereits genug Ärger am Hals.«
Emmerich zog seinen Tabaksbeutel aus der Hosentasche und begann, sich eine Zigarette zu drehen.
Gonska schnaubte, dann sprach er weiter. »Irgendwas wird schon an der Sache dran sein. Finden Sie es einfach heraus, dann haben wir alle Ruhe.«
Emmerich zündete die Zigarette an und nahm einen tiefen Zug. »Na gut. Ich kümmere mich darum, aber unter einer Bedingung: Sollte ich den Fall lösen, möchte ich anschließend inklusive Winter in die Fürst-Ermittlungen einbezogen werden, und zwar nicht als Tippse.«
Gonska kniff die Augen zusammen, was er immer tat, wenn er sich aufregte. »Jetzt werden Sie mir hier nicht frech, Emmerich. Ihre Impertinenz ist absolut unangebracht.« Er beugte sich vor, nahm seinem Gegenüber die Zigarette aus dem Mund, stand auf, öffnete das Fenster und warf sie hinaus. »Aber von mir aus«, sagte er schließlich. »Dafür verlange ich, dass Sie sich in der Gegenwart von Frau Haidrich von Ihrer besten Seite zeigen. Unsere Abteilung hat schließlich einen Ruf zu wahren!«
Emmerich nickte. »Wir haben eine Abmachung?«
Gonska schnaubte erneut. »Ja, und jetzt raus, bevor ich es mir anders überlege.«
Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, stand Emmerich auf und öffnete die Tür. »Und dass mir ja keine Beschwerden zu Ohren kommen. Sonst können Sie unsere Übereinkunft gleich wieder vergessen«, war das Letzte, was er hörte, bevor er die Tür hinter sich schloss und zurück an seinen Arbeitsplatz hinkte.
»Feierabend ist gestrichen. Wir haben einen Auftrag«, sagte er zu Winter, der lächelnd am Schreibtisch saß.
Die Augen seines Assistenten leuchteten, er sah beinahe glücklich aus. So hatte Emmerich ihn schon seit Wochen nicht mehr erlebt. »Dann stimmt es wirklich? Wir dürfen Zeit mit Rita Haidrich verbringen?«
»Müssen, Ferdinand, müssen. Dürfen ist was anderes. Sie wartet in der Eingangshalle auf uns.«
»Etwas ist faul im Staate Dänemark.« Brühl stand in der offenen Tür, machte eine theatralische Geste und erntete dafür lautes Gelächter.
»Der Himmel wird es lenken«, antwortete Winter. Es war das erste Mal, dass er Brühl etwas entgegensetzte.
Emmerich, der keine Lust auf ein Dialogduell hatte, fasste seinen Assistenten am Oberarm. »Lass uns gehen.«
Winter schaute ihn überrascht an. »Ich wusste gar nicht, dass Sie aus Hamlet zitieren können.«
3
Der kühle Nordwestwind schob dicke Regenwolken über den Himmel, und die Passanten, die an ihnen vorübereilten, hielten die Köpfe gesenkt. Obwohl es bereits auf Ende März zuging, fror es in der Nacht, die Bäume und Sträucher blieben kahl. Die Sonne hatte sich wohl genauso von der Stadt und ihren Bewohnern abgewendet wie das Glück.
»Ausnahmen bestätigen die Regel«, stellte Emmerich fest, als er das glänzende schwarze Automobil sah, das vor der Dienststelle auf Rita Haidrich wartete. Manchen Leuten war Fortuna trotz allem hold geblieben.
Was hatten die, das er nicht hatte?
Während Emmerich noch grübelte, stellte Winter sich der jungen Frau vor, half ihr auf die gepolsterte Rückbank, hastete um den Wagen herum, nahm seine Lammfellmütze ab und setzte sich neben sie. Trotz der Kälte hatten sich Schweißperlen auf seiner Stirn gebildet.
»Frauen …«, sinnierte Emmerich und quälte sich auf den Beifahrersitz. Manche von ihnen verfügten über eine unheimliche Macht, die ganze Reiche ins Verderben stürzen konnte – ganz zu schweigen von unerfahrenen jungen Männern wie Winter einer war.
Liebe war der einzig reale Fluch.
Wieder dachte er an Luise und zwang sein Herz zu verstummen.
Die ersten paar Minuten der Fahrt verbrachten sie schweigend. Winter war zu nervös, um etwas zu sagen, Emmerich hatte keine Lust zu reden, und Rita Haidrich wusste wohl nicht genau, was sie von den beiden Kriminalbeamten halten sollte.
»Sie waren ganz wunderbar als Elektra«, durchbrach Winter endlich die unangenehme Stille. »Ich bekomme Gänsehaut, wenn ich nur daran denke.« Um seine Worte zu untermauern, schob er die Schlinge zur Seite, krempelte seinen Ärmel hoch und streckte ihr den Unterarm entgegen.
Emmerich warf ihm durch den Rückspiegel einen Blick zu, der irgendwo zwischen Besorgnis und Missfallen lag.
Haidrich hingegen schien Winters Schwärmerei zu gefallen. Sie schenkte ihm ein Lächeln und entspannte merklich. Bewunderung und Komplimente. Endlich befand sie sich wieder auf vertrautem Terrain.
Am liebsten hätte Emmerich den Fahrer gebeten, abzubiegen und zu einem Obdachlosenasyl oder den Arbeiterbaracken am Stadtrand zu fahren. Eine Realitätswatsche hatte noch keinem geschadet. Doch er dachte an die Abmachung zwischen ihm und Gonska und starrte schweigend zum Fenster hinaus. Als sie an einer Horde von Menschen vorbeifuhren, die laut skandierend und mit erhobenen Fäusten über die Liechtensteinstraße in Richtung Innenstadt marschierten, runzelte Emmerich die Stirn und wandte sich an den Chauffeur. »Was ist denn da los? Geht es um den Putsch in Berlin?«
»Der Tumult hat nichts mit den Unruhen im Deutschen Reich zu tun. Sie demonstrieren gegen die Ansprüche der Ungarn und Tschechen auf österreichischen Kunstbesitz.«
»Die verschwenden ihre Energie für ein paar alte Bilder?«, wunderte sich Emmerich. »Haben die keine anderen Sorgen?« Die Frage war nicht unberechtigt. Viele Menschen hungerten und froren, prügelten sich um faules Pferdefleisch oder schimmlige Kartoffeln und teilten mit Ungeziefer ihre Betten.
»Kunst ist Nahrung fürs Herz«, rief Rita Haidrich von hinten, und Winter nickte eifrig. »Bitte beeilen Sie sich«, wandte sie sich dann an den Fahrer. »Ich werde sicher schon erwartet.«
Der Chauffeur reagierte nicht, er fuhr mit gleichbleibender Geschwindigkeit weiter.
»Die Veranstaltung beginnt in Kürze«, versuchte sie es erneut, holte einen Flakon aus der Handtasche und sprühte Rosenwasser auf ihr Dekolleté.
»Ich darf Sie daran erinnern, dass wir nicht allein sind, wir haben zwei Herren von der Polizei dabei.«
»Wir sind von der Kripo, nicht vom Verkehr. Tun Sie sich keinen Zwang an.« Emmerich lehnte sich zurück und betrachtete die Grabsteine des alten Döblinger Friedhofs, den sie nun passierten. Seit dem großen Krieg war die ganze Welt ein einziger Totenacker. Wären seine gefallenen Kameraden und all die anderen Soldaten, die fern der Heimat ums Leben gekommen und dort verscharrt worden waren, hier begraben, so würde es Tage oder gar Wochen dauern, um an ihren letzten Ruhestätten vorbeizufahren. So jedoch wurde die Straße schon bald von den prächtigen Villen des Vororts Sievering gesäumt, als wäre nie etwas geschehen.
»Gleich sind wir da«, riss der Fahrer ihn aus seinen Gedanken, drosselte die Geschwindigkeit und bog links in eine lange, steile Auffahrt ein. Sie passierten mehrere Nebengebäude und hielten dann vor einem riesigen Bauwerk mit Rundbogendach. »Bitte schön.«
Das waren sie also – die Ateliers der Sascha AG, dem Herzstück der österreichischen Filmindustrie.
Emmerich konnte dieser Branche nichts abgewinnen. Was waren das für Leute, die tagtäglich Abertausende von Kronen dafür ausgaben, Scheinwelten zu erschaffen, während zur selben Zeit in derselben Stadt Menschen kläglich an Hunger, Kälte und Seuchen verreckten? Wenn er es sich genau überlegte, hatte die Bagage den Fluch redlich verdient.
Leise schimpfend quälte er sich aus dem Automobil, was dank des tief liegenden Sitzes und seines steifen Beins gar kein leichtes Unterfangen war. Eigentlich hätte er schon längst eine Gehhilfe gebraucht, doch sein Stolz ließ das nicht zu. So unauffällig wie möglich lehnte er sich an den Wagen und massierte sein schmerzendes Knie.
»Ich weiß, dass Sie mir nicht glauben.« Haidrich war ebenfalls ausgestiegen und hatte sich vor ihm aufgebaut, die Arme vor der Brust verschränkt. »Sie denken, ich bin nicht ganz richtig im Oberstübchen, aber irgendetwas stimmt hier nicht. Ich spüre es.«
»Ich spüre auch viel, wenn der Tag lang ist …« Die Schmerzen machten Emmerich unleidlich, aber er musste vorsichtig sein. Und dass mir ja keine Beschwerden zu Ohren kommen. Sonst können Sie unsere Übereinkunft gleich wieder vergessen, erinnerte er sich an Gonskas Worte und schluckte den Rest des Satzes hinunter.
»Wenn Ihre Theorie stimmt, dann hätte die Frau doch längst eine Forderung gestellt. Hat sie aber nicht. Sie …«
»Vielleicht geht es gar nicht um Geld, sondern um was ganz anderes«, unterbrach Emmerich. »Gibt es Leute, die einen Grund haben, die Dreharbeiten zu sabotieren?«
Haidrich schüttelte den Kopf.
»Und wie sieht es mit persönlichen Animositäten aus? Gekränkten Liebhabern, gekündigtem Personal …?« Er konnte nicht fassen, dass er sich hier um diesen Scheißdreck kümmern musste …
»Niemand, von dem ich wüsste. Außerdem wäre jeder, der nicht zu den Kollegen gehört, sofort aufgefallen. Man kann hier nicht einfach so ein und aus gehen. Allein schon wegen der wertvollen Ausstattung wird die Anlage Tag und Nacht bewacht.«
»Dann muss es ein Interner sein«, warf Winter ein.
»Aber wieso sollte jemand seinen Arbeitsplatz gefährden? Gerade jetzt, da die Wirtschaftslage so verheerend ist.«
Noch bevor Emmerich die junge Frau weiter befragen konnte, stürmte ihnen ein Mann entgegen, der einen schwarzen Smoking und einen Homburg mit hochgebogener, eingefasster Krempe trug. Er war glatt rasiert, der Geruch seines Eau de Cologne hing schwer in der Luft. »Rita! Verdammt, wo bleibst du nur? Alle warten schon auf dich.«
»Das ist Fritz Oswald, der Produzent«, stellte Haidrich ihn vor. »Fritz, das sind Herr Inspektor Emmerich und sein Assistent, Herr Winter. Sie werden dafür sorgen, dass der Fluch endlich aufgehoben wird.«
Der Mann wirkte wie versteinert. Verstohlen schielte er zu den beiden Kriminalbeamten herüber. »Erstens übertreibst du wieder einmal maßlos«, zischte er Haidrich zu, »und zweitens: Was soll denn die Polizei gegen einen Fluch unternehmen?«
»Was weiß ich. Dass die beiden da sind, ist jedenfalls besser als gar nichts.« Sie schürzte die Lippen, reckte das Kinn und stolzierte davon.
Winter eilte ihr hinterher, während Oswald sich an Emmerich wandte. »Rita ist ein bisschen exaltiert, so wie die meisten Vertreterinnen ihrer Profession. Diese Frau … diese angebliche Hexe … das ist sicher nur eine Betrügerin, die Rita Angst machen und ihr Geld aus der Tasche ziehen will. Das kommt davon, wenn man immer so großherzig und gutmütig ist.« Er zog ein Taschentuch aus dem Ärmel seiner Jacke und polierte damit seine Manschettenknöpfe. »Wir haben hier alles im Griff. Sie können ruhig wieder gehen.«
»Frau Haidrich behauptet, es habe seltsame Vorfälle gegeben.«
»Wir sind hier beim Film«, winkte Oswald ab. »Hier ist alles äußerst fortschrittlich. Wir betreten Neuland. Wir schreiben Geschichte. Da passieren schon mal kleine Katastrophen. Und was die Krankheiten angeht: Die halbe Stadt siecht vor sich hin. Mich wundert es eher, dass nicht mehr Leute ausfallen.« Er musterte Emmerich von oben bis unten und machte einen Schritt nach hinten.
Emmerich schaute an sich hinab und verstand. Das blühende Leben sah anders aus. Unter der verschlissenen Kleidung zeichnete sich sein ausgemergelter Körper ab, und die chronischen Schmerzen hatten Spuren in seinem Gesicht hinterlassen. »Mein Vorgesetzter hat Frau Haidrich versprochen, dass wir uns um die Sache kümmern. Mir wäre es auch lieber, ich müsste mich nicht damit herumschlagen.« Er stellte sich aufrecht hin und streckte den Rücken durch. »Lassen Sie mich bitte meine Arbeit tun.«
Oswald seufzte und deutete in Richtung Atelier. »Wenn es unbedingt sein muss … Von mir aus, aber fassen Sie nichts an, und halten Sie sich unauffällig im Hintergrund. Wir wollen ja niemanden beunruhigen.«
Emmerich nickte und folgte dem Produzenten in die Rundbogenhalle, die so riesig war, dass man problemlos ein kleines Haus hätte hineinbauen können. Durch eine schmale Tür auf der gegenüberliegenden Seite gelangten sie in ein Atrium und von dort aus in einen Durchgang, der vor einer großen Pforte endete. Als Oswald den rechten Torflügel einen Spaltbreit öffnete und Emmerich hindurchbugsierte, vergaß dieser kurz sein schmerzendes Bein, den Fluch und den Fürst-Fall. Er blieb mit offenem Mund stehen.
Oswald weidete sich am Ausdruck der Fassungslosigkeit auf seinem Gesicht. »Wenn wir es damit nicht auf die Titelblätter schaffen, dann weiß ich es auch nicht.«
Emmerich hörte ihm gar nicht zu, er ließ die unglaubliche Szenerie auf sich wirken: Ein paar Schritte hatten ihn aus dem Wien des Jahres 1920 mitten hinein in einen Tempel der griechischen Antike geführt. Meterhohe Marmorsäulen ragten in die Höhe, überlebensgroße Götterstatuen säumten die Wände. Der Boden war mit weißem Sand bestreut, der unter seinen Schuhsohlen knirschte. In der Mitte der Halle stand eine riesige steinerne Schale, in der ein Feuer loderte, das die Umgebung in flackerndes Zwielicht tauchte. Es duftete nach Räucherwerk, aus der Ferne waren Meeresrauschen und das Zirpen von Grillen zu vernehmen.
Einzig der latente Geruch von Leim und Farbe störte die perfekte Illusion.
Emmerich ließ seine Finger über eine der Säulen gleiten. Das, was selbst aus der Nähe wie massiver Stein aussah, fühlte sich warm und rau an. Pappmaché.
»Wein?«
Emmerich hatte sich so sehr von der Atmosphäre mitreißen lassen, dass die junge Frau in dem langen weißen Peplos, dem klassischen Gewand der alten Griechen, die Frage wiederholen musste. »Gern«, sagte er, und sie reichte ihm einen tönernen Becher.
Emmerich trank einen Schluck, nickte anerkennend und wandte seine Aufmerksamkeit den Anwesenden zu. Es handelte sich um eine Vielzahl von Männern, eingehüllt in Schwaden aus Zigarrenrauch, teuer gekleidet und gut genährt – das mussten die Geldgeber sein. Trotz des Schummerlichts, konnte er Doppelkinne und feiste Wänste ausmachen. Für ihn ein seltener Anblick, denn dort wo er herkam, gab es keine Üppigkeit.
Zwischen den feinen Herren tummelten sich unzählige Gestalten, die weniger gut angezogen waren, dafür aber ihre Häupter umso höher trugen – die Wiener Journaille. Während die Stadt im Elend versank, berichteten sie über die Affären von Prominenten und die neueste Mode. Sie lenkten die Menschen von der Realität ab, anstatt sie dabei zu unterstützen, ihr Schicksal in die eigene Hand zu nehmen. Demütige Untertanen waren einfacher zu lenken als mündige Demokraten. Diese Schreiberlinge dienten dem neuen Adel, der nicht mehr durch Blutlinien definiert wurde, sondern durch Geld und Skrupellosigkeit.
Affektiert, gelangweilt und selbstgefällig schlenderten einige der Gäste umher und betatschten die Requisiten inklusive der Serviererinnen, andere standen einfach nur herum, feixten, tranken Wein und aßen Häppchen.
Er nahm noch einen großen Schluck aus seinem Becher. Wie gut das tat, wenn der Alkohol den Geist ein wenig benebelte … Plötzlich strömte ein würziger Geruch in seine Nase, Emmerich sah sich um und erspähte einen jungen Mann, der zwei riesige Tabletts balancierte. Auf dem einen stapelten sich gefüllte Weinblätter und auf dem anderen … Er schluckte. Waren das etwa kleine Hähnchenschenkel?
Noch bevor sein Gehirn weitere Überlegungen anstellen konnte, bewegten sich seine Füße in Richtung der Speisen. Wie von allein, als hätten sie einen eigenen Willen. Hungertrieb nannte man das wohl. Die wöchentliche Zuteilung von Fleisch betrug hundert Gramm. Brot war auf tausendzweihundert, Fett auf hundertzwanzig und Mehl auf fünfhundert Gramm beschränkt. Zurzeit war jedoch nicht einmal das erhältlich.
Emmerich hustete und bedeutete dem Kellner, stehen zu bleiben. Ohne sich um dessen fassungslosen Gesichtsausdruck zu scheren, stellte er seinen leeren Becher ab, nahm eine Serviette und stapelte so viele Hähnchenkeulen darauf wie möglich. Sie waren gegrillt und mit einer Mischung aus Rosmarin und Thymian gewürzt.
So duftete also das Paradies …
»Danke«, sagte er, als der Hähnchenberg gefährlich zu schwanken begann, und fing dann unter den pikierten Blicken der Umstehenden an zu essen.
Gerade als er den letzten Knochen abgenagt hatte, wurde es plötzlich noch dunkler, und die Gespräche rund um ihn herum verstummten. Einzig das Prasseln des Feuers und ein leises Schmatzen waren noch zu hören. Als Emmerich bemerkte, dass er selbst Letzteres verursachte, riss er sich zusammen.
»Willkommen im Tempel der Pandora«, ertönte eine Stimme, die unheimlich von den Wänden widerhallte. »Die Götter beschenken die Menschen mit reichen Gaben«, sprach der Unbekannte weiter. »Doch diese bringen ihnen nichts als Undank entgegen. Es wird Zeit für eine Prüfung.«
Donnerhall erklang, und ein Scheinwerfer erhellte den vorderen Teil des Raumes, wo ein großer, reich verzierter Altar stand. Ein Raunen ging durch die Menge, und die Anwesenden drängten sich nach vorn.
»Wie die Motten zum Licht …« Emmerich sah sich verstohlen um und warf seine abgekauten Hühnerknochen in eine große Tonschale.
Auf einmal erschallten ätherische Klänge, Nebelschwaden zogen durch den Raum, und eine Gestalt erschien hinter dem Altar. Emmerich musste zweimal hinsehen, bis er sie erkannte: Rita Haidrich. Ihre Augen waren dunkel umrandet, sie trug ein wallendes weißes Gewand und eine schwarze Perücke, deren wilde Locken von feinen Golddrähten gebändigt wurden.
Applaus ertönte, Bravo-Rufe und zustimmendes Gemurmel. Die Gäste waren offenbar leicht zu beeindrucken. Emmerich rollte mit den Augen und zündete sich eine Zigarette an, während Haidrich voll und ganz in ihrem Charakter aufging. Endlich konnte er auch Winter ausmachen. Er stand am Rand, auf Höhe des Altars, und schmachtete die Schauspielerin mit offenem Mund an.
»Ist sie nicht wunderbar?«, flüsterte jemand.
Emmerich gähnte. Der Wein, sein vollgeschlagener Bauch und die Wärme, die von dem Feuer ausging, machten ihn müde. Er blies Rauchkringel in die Luft und ließ seinen Blick schweifen. Nirgendwo war etwas Verdächtiges zu sehen. Keine Hexe, keine dunkle Bedrohung.
Gelangweilt rauchte er zu Ende, warf den Zigarettenstummel zu Boden und trat ihn aus.
»Öffnet eure Ohren! Öffnet eure Herzen, und höret den Willen der Götter«, rief Rita Haidrich, doch noch bevor sie die Botschaft von oben verkünden konnte, fing der Boden an zu vibrieren.
Erst war es nur ein leichtes Zittern, doch es verstärkte sich schnell, wurde immer heftiger und schwoll schließlich zu einem starken Beben an. Zuerst glaubte Emmerich genau wie alle anderen, dass der Effekt zur Inszenierung gehörte, doch als der Tempel mit einem Mal in flackerndes Scheinwerferlicht getaucht wurde, die Säulen bedenklich wackelten, Haidrich sich entgeistert an die Kehle fasste und die ersten Aufschreie laut wurden, begriff er, dass dies wohl nicht im Drehbuch stand.
»Der Fluch!«, schrie jemand. »Herrgott, hilf! Es gibt ihn wirklich.«
Putz rieselte von der Decke, ein beunruhigendes Knacken und Knirschen war zu vernehmen. Die Kulisse fing bedrohlich an zu schwanken, und Emmerich hatte Probleme, sich auf den Beinen zu halten. Einmal mehr verwünschte er seinen Gesundheitszustand und beobachtete den Tumult, der um ihn herum ausgebrochen war. Es wurde gerempelt, getreten und geschimpft, einige der vornehmen Anwesenden legten unerwartet schlechte Manieren an den Tag.
»Keine Panik«, rief er. »Bewahren Sie Ruhe! Das Pappzeug erschlägt schon keinen.«
Er schaute nach vorn zum Altar, wo Rita Haidrich mit weit aufgerissenen Augen wie angewurzelt dastand. Schockstarre. Er hatte dieses Phänomen schon oft gesehen. Zu oft.
Als ihre Blicke sich trafen, bedurfte es keiner Worte. Sehen Sie!, sagte ihre Miene, und Emmerich ertappte sich bei dem Gedanken, dass Panik ihr gut stand.
4
Das Beben hörte genauso abrupt auf, wie es begonnen hatte. Mit einem Schlag, so als hätte jemand einen Schalter umgelegt, herrschte Totenstille.
Plötzlich ging das Licht an, und die Anwesenden sahen sich ungläubig um. Jene, die gestürzt waren, richteten sich langsam wieder auf. Verwirrte Blicke. Irritiertes Schweigen.
Wasser fluten, Feuer rasen, Erde beben, Lüfte blasen … Das war es, was die angebliche Hexe gesagt haben sollte … Emmerich beobachtete Winter dabei, wie dieser mit viel Müh und Not unter einem herabgestürzten Wandteppich hervorkrabbelte. Er dachte nach, während er seinen Tabaksbeutel hervorholte und sich noch eine drehte. Alles in allem war er mehr überrascht denn erschrocken. Die Prophezeiung hatte sich tatsächlich ein weiteres Mal bewahrheitet. Doch es gab keine Flüche, keine Hexen und keine Verwünschungen. Es musste eine andere Erklärung für das Geschehene geben.
Er riss ein Streichholz an, dann hielt er inne und blies es wieder aus. Verfluchte Sucht. Das Rauchen lenkte ihn von seinen Gedanken ans Heroin ab, aber auf Dauer musste er auch vom Tabak runterkommen. Wenn er so weitermachte, krepierte er noch daran. Seufzend steckte er sich die Zigarette hinters Ohr.
In der Halle machte sich eine Welle der Erleichterung breit. Die Gäste klopften sich den Staub von den Kleidern, gingen vorsichtig ein paar Schritte. Überall waren verlegenes Lachen und Gemurmel zu vernehmen.
»Ist jemandem was passiert?«, schallte Fritz Oswalds Stimme durch den Raum. Er lief hektisch umher, während die Anwesenden noch immer zu begreifen versuchten, was ihnen soeben widerfahren war. »Geht’s allen gut? GEHT ES ALLEN GUT?« Sein Gesicht war gerötet, seinen Hut hatte er wohl im Getümmel verloren.
Als Oswald sicher war, dass niemand Schaden genommen hatte, begann er, die Versammlung höflich, aber bestimmt aufzulösen. »Auf einen Schnaps ins Sascha-Stüberl, meine Herren«, komplimentierte er die Menge hinaus und wischte sich ein paar Schweißperlen von der Stirn. »Den haben wir uns verdient. Geht natürlich aufs Haus.«
Emmerich war schnell klar, wieso der Produzent es so eilig hatte, die Meute fortzuscheuchen. Die Illusion war geplatzt wie eine Seifenblase – sie befanden sich nicht mehr in einem mystischen Tempel, sondern in einem wirren Durcheinander aus umgestürzten Pappelementen, Gipsnachbauten und Sperrholzkonstruktionen. Die Traumfabrik konnte im harten Licht der Wahrheit nicht bestehen.
»Ich kümmere mich um Frau Haidrich. Sie ist völlig aufgelöst. Sie hätten ihre Ängste ruhig ernst nehmen können.« Winter warf Emmerich einen vorwurfsvollen Blick zu und war wieder verschwunden, bevor dieser etwas entgegnen konnte.
Erst jetzt, da der Zauber verflogen war, erkannte Emmerich, dass sie sich in einem riesigen Glashaus befanden. Die Wände waren mindestens sechs Meter hoch, die dicken Glasscheiben wurden von einem massiven Stahlgerüst getragen, das in ein Satteldach mündete. An den Streben hingen Beleuchtungskörper in allen Größen und Formen sowie unzählige Haken und Ösen, die wohl zum Hochziehen und Fixieren von Kulissenelementen dienten.