Das schwarze Band - Alex Beer - E-Book
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Das schwarze Band E-Book

Alex Beer

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Beschreibung

Ein eigenwilliger Ermittler, eine tödliche Intrige und eine ganze Republik am Rande des Abgrunds ...

Wien im Juli 1921: Die Stadt ächzt unter einer Hitzewelle, Wasser wird rationiert, und der Asphalt schmilzt. Kriminalinspektor August Emmerich macht noch ein ganz anderes Problem zu schaffen: Weil er sich wieder einmal danebenbenommen hat, wird er von den Ermittlungen an zwei ermordeten Tänzerinnen abgezogen und in einer Kadettenschule interniert. Dort soll er, gemeinsam mit anderen schwarzen Schafen aus dem Polizeidienst, bessere Umgangsformen lernen. Doch als in der Schule ebenfalls ein Mord passiert, muss Emmerich für seine Nachforschungen erneut alle Regeln brechen. Denn er sieht sich mit einer blutigen Intrige konfrontiert, die ihn bis in die höchsten politischen Kreise führt ...

August Emmerich ermittelt:

Band 1: Der zweite Reiter
Band 2: Die rote Frau
Band 3: Der dunkle Bote
Band 4: Das schwarze Band

Alle Bände behandeln eigenständige Fälle und können unabhängig voneinander gelesen werden.

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Seitenzahl: 367

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Buch:

Wien im Juli 1921: Die Stadt ächzt unter einer Hitzewelle, Wasser wird rationiert, und der Asphalt schmilzt. Kriminalinspektor August Emmerich macht jedoch ein ganz anderes Problem zu schaffen: Weil er sich wieder einmal danebenbenommen hat, wird er vom Mordfall an zwei Nackttänzerinnen abgezogen und in einer elitären Kadettenschule interniert. Dort soll er, gemeinsam mit anderen schwarzen Schafen aus dem Polizeidienst, bessere Umgangsformen lernen. Als in der Schule ein Kollege auf mysteriöse Weise zu Tode kommt, muss Emmerich allerdings erneut alle Regeln brechen, um den Mörder zu finden. Denn er sieht sich mit einer blutigen Intrige konfrontiert, die ihn bis in die höchsten politischen Kreise führt …

Autorin:

Alex Beer, geboren in Bregenz, hat Archäologie studiert und lebt in Wien. Nach »Der zweite Reiter«, ausgezeichnet mit dem Leo-Perutz-Preis für Kriminalliteratur, »Die rote Frau«, nominiert für den Friedrich Glauser Preis 2019 und »Der dunkle Bote«, ebenfalls ausgezeichnet mit dem Leo-Perutz-Preis, erscheint jetzt der vierte, von den Fans lang erwartete Roman um Kriminalinspektor August Emmerich. Daneben hat Alex Beer mit Isaak Rubinstein eine weitere faszinierende Figur erschaffen, die während des Zweiten Weltkriegs in Nürnberg ermittelt. Um es mit den Worten der Jury des Leo-Perutz-Preises zu sagen: »Was Alex Beer erzählt, betrifft auch die heutige Zeit, aber wie sie erzählt, lässt die ferne Vergangenheit lebendig werden.«

Mehr Informationen unter: www.alex-beer.com

Von Alex Beer bereits erschienen:

August Emmerich ermittelt:

Der zweite Reiter

Die rote Frau

Der dunkle Bote

Isaak Rubinstein ermittelt:

Unter Wölfen

Alle Bände sind eigenständige Fälle und können unabhängig voneinander gelesen werden.

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ALEX BEER

DAS SCHWARZE BAND

Ein Fall für

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Copyright © 2020 by Alex Beer Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literaturagentur Kai Gathemann © 2020 by Limes in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München Redaktion: René Stein Umschlaggestaltung: www.buerosued.de Umschlagmotiv: akg-images/Imagno KW · Herstellung: sam Satz und E-Book Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck ISBN 978-3-641-25740-8 V003 www.limes-verlag.de

»Regeln lenken den weisen Mann.Der Dummkopf befolgt sie.«

(Oscar Wilde)

PROLOG

»In wenigen Minuten ist es vollbracht.« Er hielt seine Taschenuhr so, dass Emmerich das Ziffernblatt sehen konnte. »Schließen Sie Frieden«, sagte er. »Mit Gott, mit der Welt und vor allem mit sich selbst. Sie haben sich tapfer geschlagen, weit besser, als ich es Ihnen zugetraut hätte. Sie haben keine Schande über sich und die Ihren gebracht.«

Emmerich starrte auf das schwarze Band, das um den Arm seines Widersachers gebunden war, und ließ seinen Blick anschließend zu den Zeigern der Uhr wandern. Unbeirrt zogen sie ihre Kreise, maßen die Zeit, die immer weiter voranschritt, dem scheinbar Unausweichlichen entgegen. »Ich vielleicht nicht, aber Sie.« Er spie die Worte förmlich aus. Spuckte sie dem anderen vor die Füße. »Sie werden als skrupelloser Verbrecher in die Geschichte eingehen.«

»Möglich. Vielleicht werde ich aber auch als Held gesehen werden, als jemand mit Mut, der das Richtige getan hat.«

»Das Richtige? Sie sind kurz davor, unschuldige Menschen zu töten.«

»Manchmal muss man etwas Schlechtes tun, um dadurch etwas Gutes zu erreichen. Gerade Sie müssten das doch wissen.«

Emmerich setzte an, um etwas zu sagen, schluckte die Worte aber wieder hinunter. Kein Argument der Welt würde sein Gegenüber umstimmen können, dessen Verblendung stärker war als jegliche Vernunft. Er wand sich im Staub und rüttelte an den Schnüren, mit denen seine Hände und Füße gefesselt waren, doch sie bewegten sich keinen Millimeter.

»Sehen Sie es doch endlich ein. Es gibt nichts mehr, was Sie noch tun könnten. Machen Sie sich bereit, Ihrem Schöpfer entgegenzutreten.«

»Dem Scheißkerl werd ich was erzählen.« Emmerich drehte sich auf den Bauch, robbte zur nächsten Wand und versuchte, seine Fesseln an einem hervorstehenden Eisenhaken durchzuwetzen.

Sein Peiniger seufzte und schüttelte den Kopf. »Ein kluger Mann weiß, wann es sinnvoll ist zu kämpfen. Er weiß auch, wann es an der Zeit ist zu sterben. Machen Sie Ihren Frieden.«

»Einen Dreck werde ich.« Emmerich schabte und rieb, bis warmes Blut an seinen Handgelenken herunterrann. Noch einmal blickte er auf die Zeiger der Uhr, die sich völlig gleichgültig nicht um das große Morden scherten, das kurz bevorstand. Gleich. Gleich würde er sterben, und mit ihm die Republik.

Montag,

20. Juni 1921

1

»Sie kommen zu spät.«

Kriminalinspektor August Emmerich, der soeben das Vestibül des Polizeipräsidiums betreten hatte, starrte in das genervte Gesicht seines Assistenten. Offenbar hatte Ferdinand Winter schon seit einiger Zeit auf ihn gewartet. »Am liebsten wäre ich gar nicht gekommen.«

»Und wie sehen Sie bloß aus?«, ignorierte Winter den Kommentar. Konsterniert musterte er Emmerichs Aufzug. Sein Blick wanderte über dessen Hose, ein mehr als fadenscheiniges Exemplar, sowie das alte abgetragene Jackett und blieb am linken Hemdsärmel hängen, an dem ein Manschettenknopf fehlte. Er seufzte, zog ein Tuch aus seiner Tasche und faltete es kunstvoll zu einem kleinen Dreieck. »Haben Sie denn nicht gelesen, was auf der Einladung stand?«

»Anwesenheitspflicht.«

»Das andere.« Winter steckte das Tuch in Emmerichs Brusttasche und brachte es in Form, indem er daran herumzupfte. »Wir sollten in Repräsentationsuniform erscheinen.«

Emmerich reagierte nicht, sondern starrte geistesabwesend auf das kleine Stück Stoff. In Gedanken war er noch immer bei jener Frau, mit der er sich vorhin in einem schäbigen Hinterhof getroffen hatte. Helene Wissmayer. Die Alte hatte vor Kurzem Kontakt mit Emmerich aufgenommen und behauptet, den Namen und den Aufenthaltsort seiner Mutter zu kennen. Oder besser gesagt: jener Frau, die ihn geboren hatte. Wer war sie? Wer war sein Vater? Und warum hatte sie ihn damals wie Unrat vor dem städtischen Waisenhaus abgestellt? Seit vielen Jahren quälten ihn diese Fragen, und noch nie war er den Antworten darauf so nah gewesen wie heute. Es gab da nur ein kleines Problem: Wissmayer wollte Geld für die Informationen, viel Geld, mehr, als er auftreiben konnte.

»Wir sollten in Repräsentationsuniform erscheinen«, wiederholte Winter und schnippte mit den Fingern vor Emmerichs Gesicht herum.

Emmerich sah auf. »Repräsentationsuniform? Die ist verdreckt.« Er blickte an seinem Assistenten vorbei in den prunkvollen Festsaal der Polizeidirektion, wo ungefähr einhundert hochrangige Polizisten, Politiker und einflussreiche Geschäftsleute die Berufung von Polizeipräsident Johann Schober zum neuen Bundeskanzler feierten.

Die geladenen Gäste standen in kleinen Grüppchen zusammen, tranken Sekt und unterhielten sich. »Verdammt«, murmelte Emmerich, als er sah, dass sich tatsächlich alle Anwesenden in Schale geworfen hatten und ausnahmslos im feinsten Zwirn erschienen waren. Blank polierte Manschettenknöpfe glänzten mit dem frisch gewienerten Boden um die Wette. Wohin er auch sah: scharfe Bügelfalten, akkurat gezwirbelte Bärte und stolz zur Schau getragene Verdienstabzeichen.

»Schmutzige Kleidung kann man waschen.« Auch Winter wirkte wie aus dem Ei gepellt. Kein Stäubchen verunzierte seine perfekt sitzende Uniform, keines seiner akkurat geschnittenen, blonden Haare tanzte aus der Reihe. Winter verkörperte die personifizierte Eleganz, und im Gegensatz zu Emmerich waren ihm gute Manieren und perfekte Umgangsformen in die Wiege gelegt worden. Selbst das Adelsaufhebungsgesetz hatte nicht verhindern können, dass seine blaublütige Abstammung am heutigen Abend spürbar wurde.

»Ich habe eine anstrengende Arbeit und drei kleine Kinder, falls dir das entgangen ist.« Emmerich steckte sich eine Selbstgedrehte an und blies Rauch in die Luft. »Ich bin schon froh, wenn ich genügend Zeit finde, um zu schlafen.« Die dunklen Ränder unter seinen Augen und der ungepflegte Dreitagebart unterstrichen seine Worte. Er klemmte sich die Zigarette in den Mundwinkel und ging in Richtung des Festsaals. Ehe er den Raum betreten konnte, stellte sich ihm ein Amtsdiener in den Weg.

»Ihre Einladung, Herr …?«, fragte ihn der Mann in Livree und musterte ihn missbilligend.

»Nicht dabei.« Emmerich machte einen Schritt auf die große Doppelflügeltüre zu, aber der Amtsdiener fasste ihn am Arm und hielt ihn zurück.

»Ohne Einladung kein Zutritt. Anordnung von ganz oben.«

»Und ich habe Anordnung von ganz oben, dass ich heute hier antanzen muss.« Emmerich schnaubte. »Glauben Sie, dass ich freiwillig hier bin? Glauben Sie, ich hätte nichts Besseres zu tun …« Er holte Luft, um dem livrierten Affen endgültig die Meinung zu geigen, als er eine Hand auf seiner Schulter spürte.

Winter hatte sich neben ihn gestellt. »Das ist mein Vorgesetzter, Kriminalinspektor August Emmerich«, sagte er zu dem Amtsdiener, präsentierte das Einladungsschreiben und schob Emmerich in den Festsaal.

»Herrje«, murmelte Emmerich, der sich nun noch deplatzierter vorkam, als er es befürchtet hatte.

Das Gebäude am Schottenring, in dem sie sich befanden, diente einst als prachtvolles Hotel und war für die Besucher der Weltausstellung 1873 errichtet worden. Zwar hatte man es mittlerweile in den Sitz der Polizeidirektion umgewandelt, aber die Seidentapeten und kristallenen Lüster waren geblieben. Der heutige Abend hauchte dem ehrwürdigen Gemäuer wieder eine Prise imperialer Vergangenheit ein. Der festliche Glanz vergangener Tage erstrahlte für ein paar Stunden und füllte den Raum aus, der normalerweise von so profanen Dingen wie Kriminalität und Bürokratie eingenommen wurde.

»Was die Kinder und den Haushalt anbelangt«, setzte Winter an. »Sie sollten vielleicht mal darüber nachdenken, ob Sie sich eine Ehefrau suchen …«

Emmerich brachte seinen Assistenten mit einem Blick zum Schweigen. »Es ist gerade mal sieben Monate her«, zischte er.

In Wahrheit fühlte es sich an, als wäre seine geliebte Luise erst gestern in seinen Armen gestorben, ermordet von Xaver Koch, ihrem brutalen Ehemann, dem in wenigen Wochen endlich der Prozess gemacht werden würde. Noch immer hatte er ihr Gesicht vor Augen und Kochs dreckiges Lachen im Ohr.

»Ich brauche keine Frau, und was ich schon gar nicht brauche, sind Veranstaltungen wie diese.« Emmerich lockerte seine Krawatte. »Johann Schober wird Bundeskanzler, na und? Wozu das ganze Getue hier?«

»Ist doch schön, dass Schober diese Feier gibt und sich nicht sang- und klanglos in die Politik verabschiedet.«

»Verabschiedet? Von wegen! Schober gibt die Stelle als Polizeipräsident doch gar nicht auf. Rudolf Waldorf hält ihm nur den Stuhl warm.« Emmerich stellte sich einem vorbeieilenden Kellner in den Weg und nahm ein Glas Sekt von dessen Tablett. Abschätzig betrachtete er die kleinen Bläschen, die in der klaren Flüssigkeit perlten. »Das ist wieder einmal typisch. Für so was ist Geld da, aber nicht für anständige Gehälter. Draußen wissen die Mütter nicht, wie sie ihre Kinder satt kriegen sollen, und hier wird geprasst. Schober hat keine Ahnung von den Bedürfnissen der einfachen Leute. Er mag ein guter Polizeipräsident sein, aber als Bundeskanzler wird er nichts taugen.«

»Nicht so laut.« Winter sah sich hektisch um. »Schober hat viele wichtige Freunde, und die sind alle hier.«

»Genau das ist das Problem.« Emmerich dachte nicht daran, sich zu zügeln. »Dieses Land wird von einem Haufen privilegierter Geldsäcke regiert.« Missbilligend deutete er auf die umstehenden Männer. »Schau sie dir nur mal an: ehemaliger Adel und neureiche Emporkömmlinge. Keinem von denen sind je im Schützengraben die Kugeln um die Ohren geflogen. Keiner von denen weiß, wie es ist, wenn der Bauch vor lauter Hunger schmerzt, oder wie es sich anfühlt, wenn einem im Winter die Haare in der Nacht am Kissen festfrieren, weil man die Wohnung nicht heizen …«

Ferdinand Winter riss plötzlich die Augen auf und packte Emmerich am Arm. »Wussten Sie eigentlich, dass man von hier aus einen sehr schönen Ausblick auf die Ringstraße hat?«, fragte er eilig und versuchte, seinen Vorgesetzten in Richtung Fenster zu ziehen.

Er war nicht schnell genug.

»Na sieh mal einer an: Emmerich und Winter. Wie erfreulich, dass Sie uns auch endlich beehren.« Kriminalinspektor Peter Brühl hatte die beiden entdeckt. Er musterte Emmerich und rümpfte die Nase. »Da hat sich aber jemand dem Anlass entsprechend herausgeputzt.« Seine Stimme triefte vor Zynismus. »La belle et la bête.« Er grinste, wohlwissend, dass Emmerich des Französischen nicht mächtig war.

»Die Schöne und das Bi …«, setzte Winter zu einer Erklärung an, doch Emmerich winkte ab.

»Schon klar, dass es sich um einen Affront handelt.«

Zwischen den beiden Männern bestand eine ausgeprägte Rivalität, und keiner ließ sich die Chance entgehen, dem anderen das Leben schwerzumachen. »Der Herr Bundeskanzler weiß Ihren Aufwand sicher zu würdigen.« Demonstrativ fuhr Brühl sich über das Haar, das mit Brillantine in Form gebracht und zu einem akkuraten Scheitel gekämmt war.

»Da drüben gibt es was zu essen. Sehe ich da nicht sogar Schinken?«, versuchte es Winter erneut und fasste Emmerich am Oberarm, um ihn sachte wegzuziehen, bevor die beiden Widersacher so richtig aneinandergeraten konnten. »Kommen Sie.« Doch Emmerich wich keinen Millimeter vor seinem Kontrahenten zurück.

»Was war das mit den festgefrorenen Haaren?« Brühl hatte wohl gelauscht.

»Ich sagte, dass Schober und Konsorten keine Ahnung davon haben, wie es den einfachen Leuten geht. Das ganze Monarchistenpack, die Industriellensöhnchen und Kriegsgewinnler wissen doch gar nicht, was das Volk braucht. Die machen Politik für sich und ihresgleichen. Die Reichen werden immer reicher, und die Armen können in der Gosse krepieren.«

Brühl sah an Emmerich vorbei, und für den Bruchteil einer Sekunde umspielte ein Lächeln seine Lippen. Er trat so nah an Emmerich heran, dass dieser sein Rasierwasser riechen konnte, und senkte die Stimme. »Sie glauben also, dass Schober kein guter Kanzler sein wird?«

Winter schien die Sache nicht ganz geheuer zu sein. Er festigte seinen Griff und zog erneut am Arm seines Vorgesetzten. »Da drüben. Das Essen.«

Doch es war zu spät. Emmerich hatte den Köder geschluckt. »Schober hat seine Wurzeln vergessen. Er wird ein miserabler Kanzler sein und sich nicht lange halten können«, sagte er und wurde lauter. »Waldorf sollte sich jedenfalls nicht an den Posten als Polizeipräsident gewöhnen. Ich wette, dass Schober bald den Zorn der Massen zu spüren kriegt und in wenigen Wochen wieder hier angekrochen kommt.«

Mit einem Mal verstummte das heitere Gemurmel, das Brühl, Emmerich und Winter bis jetzt umgeben hatte. Gespenstische Stille erfüllte den Raum.

»So sehen Sie das also«, bemerkte eine sonore Stimme hinter ihnen. »Interessant.«

Winter fuhr herum, wurde kreidebleich und schlug die Hand vor den Mund. »Oh Gott«, murmelte er.

Emmerich wunderte sich über diese Reaktion. Er folgte dem Blick seines Assistenten und erstarrte. Direkt hinter ihm stand kein Geringerer als Bundeskanzler Johann Schober. »Schei …« Er schluckte den Rest der unflätigen Verwünschung hinunter. »Ich …« Es kam nicht oft vor, dass ihm die Worte fehlten. Hier und heute war einer jener raren Momente. »Ich wollte Sie nicht …«

»Schon gut.« Schobers Miene blieb völlig ausdruckslos. Er musterte Emmerich kurz, dann nickte er und ging weiter. Nach zwei Schritten blieb er stehen, drehte sich noch einmal um und rückte seinen Zwicker zurecht. »Wie war gleich nochmal Ihr Name?«

Emmerich presste die Lippen aufeinander. »Emmerich«, sagte er schließlich und seufzte. »August Emmerich.«

Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, wandte Schober sich ab und wurde sogleich von mehreren hochrangigen Polizeibeamten umringt, die ihn in ein Gespräch verwickelten. Die umstehenden Männer sahen Emmerich abschätzig an, während er versuchte, seine Fassung wiederzuerlangen.

Brühl schnappte sich ein Glas Sekt und prostete Emmerich grinsend zu. »Das wird bestimmt Konsequenzen haben«, raunte er im Vorbeigehen und folgte Schober in die Menge.

Emmerich fuhr sich mit beiden Händen durch sein ungekämmtes Haar und starrte ausdruckslos zu Boden. Brühl hatte höchstwahrscheinlich recht: Dieser Vorfall würde nicht ohne Folgen bleiben.

Zweiundzwanzig Tage später …

Dienstag,

12. Juli 1921

2

Ein lästiges Geräusch stahl sich in seine Träume, irrte darin herum wie ein ungebetener Gast und nahm schließlich immer mehr Raum ein. Es wurde lauter und immer lauter, bis er endlich hochschreckte und die Augen aufriss.

Schlaftrunken und orientierungslos sah er sich um und versuchte den Ursprung des Lärms auszumachen. Was war das für ein Schrillen? Was ging hier vor sich? Es dauerte ein paar Augenblicke, bis er erkannte, woher das Geräusch kam – aus seinem Arbeitszimmer.

Er blickte zum Fenster hinaus, betrachtete den nachtschwarzen Himmel, der nur von ein paar hellen Punkten durchbrochen wurde, schlug die Bettdecke zur Seite und stand auf.

Noch immer läutete das Telefon. »Schon gut«, murmelte er. »Ich komme ja schon.« Er zog sich einen Morgenmantel über und schaltete das Licht ein.

Während er durch den Flur ging, warf er einen Blick auf die große Standuhr, deren Pendel stoisch hin und her schwang. Hin und her. Hin und her. Nichts konnte sie aus der Ruhe bringen. Er hingegen war alles andere als gefasst. Sein Herz raste, sein Mund war staubtrocken. Ein Anruf um diese Zeit konnte nichts Gutes bedeuten.

Es war drei Uhr morgens. Die Stunde des Wolfs, in der die Finsternis ihren Zenit erreicht hatte und das Chaos regierte – so wie es in der Welt gerade der Fall war.

Sein Ziel war es, das Dunkel zu vertreiben. Licht zu bringen. Er hatte sich auf einem guten Weg befunden, doch nun beschlich ihn das beklemmende Gefühl der Vorahnung, dass seine Pläne womöglich durchkreuzt werden würden.

Im Arbeitszimmer angekommen, streckte er den Rücken durch und hob den Hörer von der Gabel. »Ja?«

Rauschen drang in sein Ohr, durchbrochen von leisen, unregelmäßigen Atemzügen.

Er wartete.

»Ich bin’s.« Die Stimme am anderen Ende der Leitung bebte.

Er kannte den Mann, hatte gehofft, dass sich ihre Wege nie wieder kreuzen würden – vor allem nicht unter diesen Umständen, nicht um diese Zeit. »Was ist passiert?«

»Ich kann unseren gemeinsamen Freund nicht erreichen.«

»Warum würden Sie das wollen?« Er atmete schwer, wollte die Antwort nicht hören. Musste aber.

»Es gibt ein Problem.«

Sein Magen verkrampfte sich. »Was ist passiert?«, wiederholte er.

»Die Tasche. Sie war nicht in der Wohnung.«

»Irgendeine Vermutung, wo sie sonst sein könnte?«

»Nein. Keine Ahnung. Wahrscheinlich bei irgendeinem Hehler oder auf einer Müllkippe.«

»Was, wenn sie in die falschen Hände geraten ist?«

Eine längere Pause entstand. »Und wenn schon«, sagte der andere schließlich. »Mit dem Inhalt kann doch sowieso keiner was anfangen. Wozu also das ganze Theater?«

Er überlegte. Wog ab. Sollte er das Risiko eingehen und die Sache auf sich beruhen lassen? Nein. Das war zu gefährlich. »Es steht viel auf dem Spiel. Sicher ist sicher. Ich will keine losen Enden, keine bösen Überraschungen. Wir dürfen nicht scheitern. Nicht schon wieder.«

»Das werden wir nicht. Alles wird gut gehen.« Der Anrufer redete in jenem Tonfall, den Männer ihren betrogenen Ehefrauen gegenüber anschlugen, ein kleiner Fauxpas, nichts weiter. Er wollte beschwichtigen und Sicherheit vorgaukeln, wie jemand, der Mist gebaut hatte und nicht das Rückgrat besaß, für seine Fehler geradezustehen.

»Schon gut«, erwiderte er, doch der Anrufer hörte nicht auf, Ausflüchte vorzubringen. Er redete und redete wie eine Schallplatte mit Sprung. Es waren die Worte eines Feiglings, eines Opportunisten. Er hätte niemals erlauben dürfen, dass jemand wie er eingeweiht wurde. Dieser Mann war ein Fehler. Dieser Mann war ein Problem.

Als wollte er seine Gedanken bestätigen, sprach der dumme Kerl in diesem Moment das aus, was niemals hätte laut gesagt werden dürfen.

»Ruhe!«, schrie er ins Telefon. »Hören Sie auf zu sprechen. Seien Sie still, und zwar sofort.«

Der Anrufer atmete schwer und rang nach Fassung. »Entschuldigung.«

»Wo sind Sie?«

»In einer Telefonzelle. Niemand ist in der Nähe«, fügte der andere schnell hinzu. »Nicht um diese Uhrzeit.«

»Sind Sie sicher?«

»Ja.«

Sein Puls normalisierte sich, doch sein Groll blieb. »Erinnern Sie sich an die oberste Maxime: keine Namen. Keine Daten. Niemals.«

»Entschuldigung«, wiederholte der Anrufer. »Es ist nur so …«

Er wartete, dass der Einfaltspinsel den Satz beendete. Die Uhr im Flur tickte. Wie viel Zeit war vergangen, seit das Läuten des Telefons ihn aus dem Schlaf gerissen hatte? Zwei Minuten? Vielleicht drei? Es war immer wieder verwunderlich und erschreckend, wie ein kurzer Augenblick den Lauf der Welt verändern konnte. Die Entdeckung Amerikas hatte eine globale Macht begründet. Das Attentat von Sarajevo, das den Großen Krieg ausgelöst hatte, führte zum Untergang eines Weltreichs. Was, wenn diese Ereignisse niemals geschehen wären? Wie würde die Welt dann heute aussehen?

»Es ist nur so, dass ich ein bisschen durch den Wind bin«, unterbrach der Anrufer seine Überlegungen. Er räusperte sich. »Es gab da ein Problem.«

»Was denn noch?«

»Es geht um die Mädchen. Die Mädchen, die in der Wohnung lebten.«

»Lebten?« Seine Schultern spannten sich an. Ein pochender Schmerz zog ausgehend von seinem Nacken über seine Schläfen bis in seine Stirn. Er setzte sich. »Was ist mit ihnen?« Er war auf einiges gefasst, doch der nun folgende Bericht übertraf seine schlimmsten Erwartungen.

3

Emmerich verließ das Polizeigebäude und starrte in den Himmel.

»Der Wetterbericht hat angekündigt, dass es heute wieder hochsommerlich werden wird.« Winter trat gemeinsam mit seinem Vorgesetzten auf die Rossauer Lände.

»Es ist schon jetzt unerträglich.« Emmerich zog sein Jackett aus, klemmte es sich unter den Arm und lockerte seine Krawatte. »Nicht mal acht Uhr und die gelbe Sau heizt schon wieder ein, als würde es kein Morgen geben.« Er deutete hinauf in das wolkenlose Blau, das nur von der gnadenlos herunterbrennenden Sonne durchbrochen wurde. »Diese verdammte Hitze treibt die ganze Stadt in den Wahnsinn. Kein Wunder, dass sich die Leute gegenseitig umbringen. Apropos … Womit haben wir es zu tun?«

»Drei tote Frauen in der Brigittenau«, erklärte Winter und blickte auf den Zettel, auf dem er sich die Adresse notiert hatte. »In der Jägerstraße.«

»In der Hochburg des Lumpenproletariats.« Emmerich zündete sich eine Zigarette an und musterte seinen Assistenten, der trotz der vorherrschenden Temperaturen einen Dreiteiler aus Tweed, ein gestärktes Baumwollhemd und eine perfekt gebundene Krawatte trug. »Feine Herrschaften werden wohl ohne Schweißdrüsen geboren.«

»Doch, die haben wir schon, aber halt auch Disziplin.«

Emmerich zog eine Augenbraue hoch und blickte Winter von der Seite an. Dann blies er Rauchkringel in die Luft, als wolle er damit die Sonne vernebeln, und marschierte los.

Schweigend folgten die beiden Kriminalbeamten dem Donaukanal bis zur Brigittabrücke. Obwohl es noch so früh war, herrschte dort bereits reges Treiben. Die Stadt bereitete sich auf einen weiteren Hundstag vor: Schiffsleute und Uferarbeiter versuchten, so gut es ging die Stunden vor der großen Mittagshitze zu nutzen, um die anstrengendsten Tätigkeiten zu verrichten. Angler spannten alte, löchrige Regenschirme auf, die ihnen Schatten spenden sollten, während sie darauf warteten, dass einer anbiss. Obdachlose kletterten die Böschung hinunter, um erst sich selbst und anschließend ihre Kleidung – oder wie man es auch immer nennen mochte – in dem leise dahinplätschernden Wasserlauf zu waschen.

Emmerich und Winter überquerten die Brücke, die den 9. mit dem 20. Bezirk verband, und liefen an blankgefahrenen Straßenbahnschienen entlang. Immer weiter drangen sie in die Brigittenau vor, wo von den eng aneinandergebauten Mietskasernen jene Wärme abstrahlte, die sich seit Tagen in ihren Mauern angereichert hatte.

»Von oben, von unten, von links und von rechts. Ein Backofen ist nichts dagegen.« Emmerich blieb vor einem großen Zinshaus stehen, öffnete die obersten Knöpfe seines Hemds, krempelte die Ärmel hoch und rieb sich mit dem Taschentuch den Schweiß aus dem Nacken. Die Tatsache, dass sein Assistent noch immer wie aus dem Ei gepellt aussah, entlockte ihm ein ungläubiges Kopfschütteln. »Das kann doch nicht gesund sein«, murmelte er und drückte gegen die Eingangstür, die sich problemlos öffnen ließ.

Es war nicht schwer, den Tatort zu lokalisieren. Aufgeregtes Stimmengewirr wies den beiden Polizisten den Weg durch einen heruntergekommenen Innenhof bis ins Hinterhaus. Ausgetretene Stufen führten in den Halbstock, das sogenannte Mezzanin. In dem Zwischengeschoss fanden sie einen langen, schmalen Flur vor, in dem sich eine Tür an die nächste reihte.

»Ach du Schande«, murmelte Winter, als er durch einen offenen Türspalt spähte, hinter dem sich das Elend der Wohnanlage schonungslos offenbarte.

»Was hast du erwartet?«, fragte Emmerich.

»Nicht so was.« Ungläubig warf sein Assistent einen erneuten Blick in das stickige Loch, das nicht einmal über ein Fenster verfügte. Die Unterkunft bestand aus nur einem einzigen Raum, in dem alle Tätigkeiten verrichtet wurden: Kochen, Waschen, Wohnen und Schlafen.

»Komm«, beschied Emmerich und ging weiter, dem Lärm der Stimmen entgegen.

»Man kann die Leichen schon riechen.« Winter hielt sich eine Hand vor Mund und Nase.

»Der Gestank kommt nicht von den Leichen. Das ist das Aroma der Armut.« Emmerich sah sich um und wies auf eine klapprige kleine Tür am Anfang des Flurs. »Es gibt nur eine Toilette für die gesamte Etage, wahrscheinlich ein Plumpsklo. Bei solchen Temperaturen kann keine Abdeckung der Welt den Gestank davon abhalten, sich im ganzen Haus zu verteilen.«

»Das ist schrecklich. Ich habe gelesen, dass die Hygieniker …«

»Sie müssen die Herren von der Kieberei sein«, wurde Winter von einem alten Mann unterbrochen, der nicht mehr als eine sehr kurze Hose trug.

»Na, von der Philharmonie sind wir jedenfalls nicht.« Emmerich zückte seine Dienstmarke und blickte geradeaus, wo eine Menschentraube den Flur verstopfte.

Die Leute sprachen und gestikulierten wild durcheinander, während eine Horde kleiner Kinder zwischen ihnen Fangen spielte.

»Also mich wundert’s nicht«, sagte eine Frau, während sie versuchte, ihre kleine Tochter einzufangen, die auf Kollisionskurs mit Emmerichs Beinen war.

»Meine Red. Wer si mit Hunden ins Bett legt, derf sie net wundern, wenn er mit Flöh’ aufwacht.« Ein dicker Mann, dessen schmutziges, völlig ausgeleiertes Unterhemd gerade mal die Hälfte seines Bauchs bedeckte, lachte dreckig.

Hinter dem Pulk konnte Emmerich eine offene Tür erkennen, die von einem uniformierten Schutzpolizisten bewacht wurde.

Der junge Mann hatte alle Mühe, die Meute im Zaum zu halten. »Wie oft soll ich es wiederholen?«, schimpfte er, als sich eine weißhaarige Frau an ihm vorbeischleichen wollte. »Kein Zutritt.«

Völlig ungerührt zwängte sich Emmerich durch den Menschenauflauf und ignorierte die Fragen, die wie Trommelfeuer auf ihn einprasselten. »Worauf wartest du?«, wandte er sich an seinen Assistenten, als dieser ihm nicht folgte.

»Entschuldigung«, murmelte Winter und bedeutete den Hausbewohnern, einen Schritt zur Seite zu treten. »Ent-schul-di-gung!«, wiederholte er mit etwas mehr Nachdruck, doch sie ignorierten ihn einfach.

»Komm endlich«, rief Emmerich und sah seinem Assistenten nicht ohne Schadenfreude dabei zu, wie er sich in seinem feinen Zwirn durch die verschwitzten Leiber schlängelte, peinlich darauf bedacht, den Umstehenden nicht auf ihre bloßen Füße zu steigen. Als er sich an einer verhärmten Frau mit dunklen Ringen unter den Augen und schreiendem Säugling im Arm vorbeidrängte, holte sie eine Brust aus der Bluse, um ihr Kind zu stillen. Winter lief rot an und legte endlich einen Zahn zu.

»Waren die Kollegen von der Spurensicherung schon da?«, wandte Emmerich sich an den Uniformierten.

Der Angesprochene nickte. »Sind gerade gegangen. Sie müssen sich knapp verpasst haben.«

»Gerichtsmedizin?«

»Schon unterwegs. Sollte jeden Moment eintreffen.«

»Wer hat die Toten gefunden?«

Noch ehe der Uniformierte antworten konnte, riss eine ältere Frau mit roten Backen einen Arm in die Höhe. »Hier. I!«, rief sie und trat zu ihnen. Strähnen ihres grau melierten Haars klebten an ihrem runden Gesicht, auf ihrer knielangen Kittelschürze zeichneten sich unter den Achseln und am Brustbein große Schweißflecken ab. Eine säuerliche Ausdünstung umwehte sie.

»Und Sie sind?«

»Roswitha Benisch, die Hausbesorgerin.«

»Sie bleiben hier.« Emmerich wandte sich dem Menschenauflauf zu. »Alle anderen zurück in ihre Wohnungen!«, befahl er. »Halten Sie sich dort zu unserer Verfügung.«

Die Leute hörten zwar auf zu reden, doch sie folgten der Aufforderung nicht, stattdessen sahen sie einander verhalten an. Sie hatten wohl keine Lust, in ihre dunklen, stickigen Löcher zurückzukehren.

Emmerich konnte es ihnen nicht verdenken. »Ab in die Wohnungen!«, befahl er erneut, dieses Mal um einiges lauter. Zur Untermauerung seiner Worte hob er seine Marke in die Höhe. »Oder soll ich Sie abführen lassen?«

Nur widerwillig gehorchten die Schaulustigen.

»Gemma! Geht scho!« Emmerich klatschte in die Hände und drehte sich schließlich zu Frau Benisch um. »Erzählen Sie mir alles.«

»Die Tür war offen«, sagte sie, sichtlich erfreut darüber, endlich das Zentrum der Aufmerksamkeit zu sein. »Erst hab i ma nix dabei gedacht, aber dann hab i das gesehen.« Sie deutete auf eine blutige Schliere am Türrahmen. »I hab den Kopf in die Wohnung gesteckt und es sofort g’rochen. Hat g’stunken wie beim Schlachter.«

»Haben Sie den Tatort betreten?«

»No na ned. Hab ja schauen müssen, was genau da los is. Ned sche, ned sche. So viel kann i Ihnen schon amal verraten.« Die alte Benisch stemmte die Hände in die Hüften. »Wer soll das denn jetzt alles putzen? I mach das nämlich sicher ned.«

»Haben Sie etwas angefasst?«, lenkte Emmerich das Gespräch zurück auf das eigentliche Thema.

»Natürlich ned«, beteuerte sie. »I hab gleich nach der Polizei schicken lassen.«

»So ein Rotzbub ist gegen sieben in die Wachstube in der Othmargasse gestürmt«, erklärte der Uniformierte. »Der Kleine schrie Zeter und Mordio, hat irgendwas von Blut und Umbringen gefaselt. Also bin ich ihm hierher gefolgt. Als ich gesehen habe, was los ist, habe ich sofort in der Polizeizentrale angerufen. Ich hoffe, das entspricht dem Protokoll.«

»Alles richtig gemacht.« Emmerich klopfte ihm auf die Schulter. »Dann wollen wir mal sehen, womit wir es hier genau zu tun haben.« Er betrat die finstere Küche, die direkt hinter der Eingangstür lag. Nach einem Lichtschalter tastete er vergeblich, doch er brauchte keine Beleuchtung: Der Geruch verriet ihm auch so, was er wissen musste. Hat g’stunken wie beim Schlachter. Damit hatte die Hausbesorgerin recht gehabt. Der unverwechselbare Gestank des Todes hing schwer und metallisch in der Luft.

Blut, Angstschweiß und drückende Hitze. Das war eine Kombination, die Emmerich nur zu gut kannte. Damals, an der Front, hatte er sie öfter erlebt, als ihm lieb gewesen war. Er hielt inne. Für den Bruchteil einer Sekunde war er wieder im Schützengraben, hörte das Donnern der Granaten, spürte das Vibrieren ihrer Einschläge, sah die Leichenteile und die Fratzen der Männer, die vor lauter Grauen den Verstand verloren hatten. Mit einem Mal tauchte Luises Antlitz auf. Ihre Lippen waren blass, ihr Blick voller Wehmut. Er schloss die Augen, versuchte die Erinnerungen zu verscheuchen. »Gehen wir’s an«, sagte er, mehr zu sich selbst als zu Winter, und durchschritt die Küche.

Sein Assistent blieb dicht hinter ihm.

Das angrenzende Zimmer war ungefähr fünfzehn Quadratmeter groß und hatte ein schmales Fenster, das in den Innenhof mündete. Es war stickig und düster, obwohl draußen die Sonne strahlte.

Emmerich blieb in der Tür stehen. Es dauerte ein paar Sekunden, bis sich seine Augen an die Lichtverhältnisse gewöhnt hatten und er das Chaos, das sich vor ihm ausbreitete, erfassen konnte: ein umgestürzter Schrank, aus dem Kleider und Schuhe quollen, zerbrochenes Geschirr und aufgeschlitzte Matratzen. Mittendrin zwei tote Frauen. Eine lag mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden, um ihren Kopf eine dunkle Lache aus getrocknetem Blut. Die andere saß in einer Ecke, das Kinn auf die Brust gesunken, die Beine ausgestreckt – wie eine Marionette, deren Fäden durchtrennt worden waren.

»Sieht aus, als wären sie erschlagen worden«, sagte Emmerich.

Winter hatte seinem Vorgesetzten über die Schulter geschaut. »Herr im Himmel«, murmelte er. Seine Stimme war gedämpft, da er sich ein Taschentuch vor Mund und Nase hielt. »Dieser Gestank …«

»Wie oft soll ich es dir noch sagen?« Emmerich zog seinem Assistenten das Taschentuch vom Gesicht. »Wenn du bei Leib und Leben Karriere machen möchtest, dann musst du dich abhärten. Wie war das nochmal gleich mit dem Adel und der Disziplin?«

Winter würgte leise, während er angestrengt nickte. »Ist das die dritte?« Er deutete auf einen Vorhang, der aus der Halterung über dem Fensterrahmen gerissen worden war. Darunter zeichnete sich eine Silhouette ab.

»Welche dritte?«

»In der Meldung, die ich von Fräulein Grete erhalten habe, war von drei Opfern die Rede.« Winter wies auf den Boden. »Außerdem gibt es drei Matratzen und drei Garnituren Bettwäsche.«

»Tatsächlich.« Emmerich stieg vorsichtig über einen zersplitterten Stuhl und hob den Vorhang in die Höhe. Darunter entdeckte er ein zerbeultes Grammophon, aber keine weitere Leiche. »Die dritte Bewohnerin ist nicht hier.« Er sah sich um. Überall lagen Schallplatten und farbenfrohe Kleider verstreut, an den Wänden hingen Postkarten und Plakate. »Bunt und lebenslustig«, murmelte er und betrachtete das wilde Durcheinander. »Die jungen Dinger haben sich nicht kampflos ihrem Schicksal ergeben.«

Gefolgt von Winter verließ Emmerich den Raum, ging durch die Küche und trat zurück auf den Hausflur. »Die Wände sind dünn hier. Irgendwer muss doch gehört haben, was passiert ist. Warum hat denn keiner was gemacht? Warum hat ihnen keiner geholfen?«

Die alte Benisch, die die ganze Zeit neugierig an dem Uniformierten vorbei in die Wohnung gespäht hatte, verschränkte die Arme vor der Brust. »Wenn i mi wegen jedem Bahö aufregen würd, hätt i schon längst einen Herzkasperl kriegt. Hier im Haus ist’s fast immer laut. Auch in der Nacht. Eheleut streiten, Gschroppen plärren, Hundsviecher bellen … Die drei Luder waren auch ned immer die Ruhigsten. Die ham gern g’feiert und g’lacht und no ganz andere Sachen.« Sie nickte wissend. »I wohn direkt d’runter. Dauernd hat es g’rumpelt und g’pumpelt.«

»Und heute Nacht?«, fragte Emmerich ungeduldig. »Hat es da auch gerumpelt und gepumpelt?«

»Eh«, sagte sie. »Wie so oft halt. I hab drum mim Besen gegen die Decke klopft und kurz aufebrüllt, dann war a Ruh. I hab ja ned wissen können, dass …« Sie deutete in die Wohnung.

»Wann war das ungefähr?«

Sie überlegte. »Zwei? Drei? Jedenfalls zu einer unheiligen Zeit.« Ihr Blick blieb an der blutigen Schliere hängen. »Wer soll denn das jetzt bloß alles putzen?«, fragte sie erneut.

»Putzen?«, mischte Winter sich ein. »Halten Sie es für angemessen, in der gegebenen Situation …«

»Jetzt sag i Ihnen amal was, Sie feiner Herr.« Die Hausbesorgerin bedachte Winter mit einem abfälligen Blick. »Die gegebene Situation schaut so aus: Unsereins rackert sich von früh bis spät ab, und keinen interessiert’s, ob das angemessen is.« Sie schnaubte. »Die Sauerei da drin, die bleibt am End sicher wieder an mir hängen. Weil die drei werden ja schwer selber sauber machen können. Immer …«

»Der feine Herr hier neben mir ist immer noch ein Kriminalinspektor, und Sie sind jetzt einmal schön ruhig«, ging Emmerich dazwischen. »Es sind übrigens nur zwei Leichen. Haben Sie irgendeine Ahnung, wo das dritte Fräulein sein könnte?«

»Nur zwei?« Roswitha Benisch kratzte sich am Kinn. »Wenn i mi recht entsinn, lag am Boden die Mizzi Proll. An der Wand lehnt die Traude Rechberger, und unter dem Vorhang …«

»… lag ein Grammophon«, vollendete Winter den Satz.

Benischs Miene hellte sich auf.

Emmerich vermutete, dass ihre Entzückung weniger dem Überleben der jungen Frau geschuldet war, als mehr der Tatsache, dass es nun doch jemanden gab, der die Wohnung putzen würde.

»Die Irina Novotny fehlt«, erklärte sie.

»Und?« Emmerich sah sie erwartungsvoll an. »Irgendeine Ahnung, warum diese Irina nicht hier ist? Irgendeine Ahnung, wo sie sein könnte? Irgendeine Ahnung, warum jemand die beiden anderen Fräulein umgebracht hat?«

»Woher soll i denn des alles wissen? Sie san doch von der Kieberei.«

»Erinnern Sie sich noch einmal an heute Nacht«, hakte Winter nach. »Jedes Detail kann hilfreich sein. Haben die Damen vielleicht etwas gerufen? Namen zum Beispiel.«

Die Hausbesorgerin wischte sich Schweißtropfen von der Oberlippe und überlegte. »I bin aufg’wacht wegen dem Gepolter«, erzählte sie. »I war no völlig verschlafen. Sie wissen eh: Der Kreislauf bei dera Hitz …« Als wolle sie ihre Worte untermauern, nahm sie den Stoff ihrer Kittelschürze und fächelte ihren stämmigen Beinen damit Luft zu. »I hab an die Decke ’klopft und aufe g’schrie’n, dann war a Ruh. Also bin i wieder eing’schlaf’n.«

»Das ist alles?«, ließ Winter nicht locker. »Zwei Frauen wurden brutal ermordet, eine dritte ist spurlos verschwunden.«

»Fragen S’ die Traxlers. Die wohnen direkt daneben.« Sie deutete auf eine Tür, die einen Spaltbreit offen stand. Dahinter bewegten sich Schatten.

»Die sind als Nächstes dran«, sagte Emmerich laut. »Was waren die Opfer für Frauen?«, wandte er sich wieder an die Benisch. »Sie bezeichneten Sie vorhin als Luder.«

»Najo, wissen S’ eh. Jung, fesch, ledig. Immer aufg’mascherlt. Haben viel Parfüm und Schminke ’tragen, aber dafür umso weniger G’wand. Die haben die Wohnung am Nachmittag verlassen und sind oft erst in den frühen Morgenstunden heim’kommen. Manchmal ham s’ an Herrenbesuch dabeig’habt. In einer Fabrik oder einem Büro ham die sicher ned g’arbeitet.«

Emmerich verstand. Mehr Frauen als je zuvor mussten sich heutzutage als Prostituierte verdingen. Der Krieg hatte vielen Familien den Ernährer geraubt, und so sahen sich Tausende von Frauen aus allen Schichten und Milieus genötigt, das Geldverdienen zu übernehmen. Aus Mangel an Alternativen boten sich die meisten von ihnen auf den Gassen feil, oder sie arbeiteten in einschlägigen Lokalen. Selbst Beamtinnen, Offiziersgattinnen und verarmte Baronessen mussten ihre Körper verkaufen, um über die Runden zu kommen. »Haben die drei Fräulein auf der Straße gearbeitet oder in einem Etablissement?«

»Woher soll i das wissen? I bin eine anständige Frau. Mit so was hab i nix zu tun.«

Emmerich sah ein, dass er wohl nicht mehr aus der alten Benisch herausbekommen würde. »Halten Sie sich zu unserer Verfügung«, wies er sie an und ging zur Tür der Familie Traxler.

Noch bevor er anklopfen konnte, wurde diese aufgerissen, und die verhärmte Frau von vorhin, jene mit dem Säugling, erschien im Türrahmen. Mittlerweile hatte sie ihren Busen wieder eingepackt und eine Schürze umgebunden. Hinter ihr standen, aufgereiht wie die Orgelpfeifen, sechs weitere Kinder, die die beiden Polizisten mit großen Augen anstarrten. »Ich hab auch nix gehört«, sagte sie und gähnte demonstrativ. »Wissen Sie, wie anstrengend die G’fraster sein können?« Sie deutete auf die Kinderschar. »Wenn endlich alle a Ruh’ geben, schlaf ich so fest, dass man das Haus um mich herum abreißen könnt’, und ich würd’s nicht merken.«

»Da drüben wurden zwei Frauen ermordet. Es gab ganz offensichtlich einen Kampf«, begann Winter. »Sie können mir doch nicht erzählen, dass …«

»Warte, bis du Kinder hast«, unterbrach ihn Emmerich.

»Ich hab’ was gehört«, platzte es aus dem ältesten Kind heraus, einem etwa sechsjährigen Jungen mit strubbeligen roten Haaren.

»Ach ja?« Emmerich beugte sich zu ihm hinunter.

Der Junge nickte ernst. »Du depperte Fut.«

Winter riss die Augen auf, aber Emmerich tätschelte dem Kleinen ungerührt das Haar. »Das hast du dir aber gut gemerkt.«

Der Kleine strahlte.

»Die drei haben übrigens im La Belle gearbeitet«, sagte Frau Traxler, die das Lokal deutsch aussprach und jede Silbe einzeln betonte. »Drüben im Ersten, in der Naglergasse. Das waren eigentlich ganz nette Mädels. Manchmal ein bissl überdreht, aber als Nachbarinnen recht angenehm. Die Irina hat sogar ab und zu auf die Kleinen aufgepasst.«

»Irina Novotny. Wissen Sie vielleicht, wo sie abgeblieben ist?«

»Keine Ahnung.« Die Frau schüttelte den Kopf. »Ich versteh das alles nicht. Die waren noch halberte Kinder. Die haben halt einfach von einem besseren Leben geträumt. Die wollten sicher niemandem was Böses. Die …«

»Kriminalinspektor Winter, adrett wie immer«, tönte da plötzlich die Stimme von Doktor Hirschkron durch den Flur. Der Gerichtsmediziner trug seine Arbeitskleidung, ein gestärktes Hemd, am Kragen eine Fliege, darüber einen dünnen weißen Arbeitsmantel. »Und Kriminalinspektor Emmerich.« Er ließ seinen Blick über Emmerich wandern, unter dessen Achseln sich mittlerweile tellergroße Schweißflecken gebildet hatten. »Auch wie immer.« Hirschkron lächelte und zwirbelte seinen Schnurrbart. »Wie schön, dass zumindest manche Sachen in dieser schnelllebigen Zeit Bestand haben.«

Emmerich vermutete, dass der Gerichtsmediziner auf die neue Regierung unter Johann Schober anspielte. Unwillkürlich musste er an die unangenehme Begegnung mit dem jetzigen Bundeskanzler bei dessen Abschiedsfeier denken, die mittlerweile drei Wochen zurücklag. »Den beiden Fräulein da drin wäre es wohl auch lieber gewesen, alles wäre beim Alten geblieben«, lenkte er seine Gedanken wieder auf den Fall.

Er verabschiedete sich von Hirschkron, nickte der Nachbarin und deren Kindern zu und wandte sich anschließend an Winter. »Gehen wir’s an«, sagte er. »Wir haben einen Fall zu lösen.«

4

Es war kurz vor zehn Uhr, als Emmerich und Winter den Tatort endlich verließen. Obwohl die Sonne ihren Zenit noch lange nicht erreicht hatte, war die Hitze bereits unerträglich. Die Luft flirrte, nach Wolken hielt man vergebens Ausschau, und das laue Lüftchen, das durch die Gassen wehte, fühlte sich an, als würde einem Satan höchstpersönlich in den Nacken hauchen.

»Nicht einmal in der Hölle ist es so heiß wie hier in Wien«, murrte Emmerich.

Winter widersprach nicht. Schweißperlen rannen über seine Schläfen, verstohlen lockerte er seine Krawatte. »Der Asphalt ist schon ganz weich«, stellte er fest. »Es fühlt sich an, als würde man auf türkischem Honig stehen.«

»Gehen wir, bevor wir uns in Dörrobst verwandeln.« Emmerich öffnete einen weiteren Knopf an seinem Hemd und lief los.

Am Donaukanal herrschte noch mehr Trubel als zwei Stunden zuvor. Zwar waren die meisten Arbeiter verschwunden, doch an ihrer statt suchte nun eine Vielzahl von Menschen im Schatten von Bäumen oder im Flusswasser nach Abkühlung. Die Einzigen, denen die Affenhitze nichts auszumachen schien, war eine Horde von kleinen Mädchen und Buben. Seit Beginn der Sommerferien waren viele Kinder tagsüber auf sich allein gestellt und trieben sich nun unbeaufsichtigt in der Stadt herum. Das Areal rund um die Brigittabrücke übte eine ganz besondere Anziehungskraft auf sie aus.

Sie tobten über die Uferböschung und hielten dabei nach Dingen Ausschau, die beim Be- und Entladen der Lastenschiffe verloren gegangen waren. Ein kleines Mädchen jauchzte freudig, als es eine Kartoffel fand, sofort kam der Rest der Bande angelaufen und versuchte, ihr das wertvolle Gut abzunehmen.

»Schleichts euch!«, schrie ein alter Fischer. »Raufts euch woanders!« Er hob einen Stein auf und hielt ihn drohend in die Höhe.

Die Kinder stoben wie eine aufgescheuchte Hühnerschar kreischend auseinander und rannten lachend fort.

Emmerich betrachtete das Treiben und wurde von Traurigkeit erfüllt. Den Rest des Weges dachte er an Emil, Ida und Paul, seine drei Stiefkinder, die nach dem brutalen Mord an ihrer Mutter einen Teil ihrer Unbekümmertheit verloren hatten. Dass ihr Vater im Gefängnis saß und auf seinen Prozess wartete, machte die Sache nicht gerade besser. Emmerich dachte an seine Zeit im Waisenhaus. Gebrochene Kinderseelen – er konnte ein Lied davon singen.

»Herrlich«, riss Winter ihn aus seinen trüben Gedanken, als sie wenig später das Polizeigebäude betraten. Die Wände des Vestibüls waren mit Marmor ausgekleidet, wodurch das Gemäuer zumindest im Eingangsbereich halbwegs kühl blieb.

»Nicht viel los heute.« Emmerich zündete sich eine Zigarette an und sah sich um. Abgesehen von einer feinen Dame, die auf einer Wartebank saß, war keine Menschenseele zu sehen.

»Es ist zu heiß für Verbrechen«, sagte der Mann am Empfang.

»Sagen Sie das unserem Mörder.«

»Und sagen Sie das den Einbrechern, die unsere Villa ausgeraubt haben«, rief die Frau. »Wir waren auf Sommerfrische in Bad Ischl, und als wir zurückgekommen sind, war alles weg. Das Silber, die Pelze … Bei den Torbergs ist genau dasselbe passiert, und bei den von Hohenaus auch.«

Emmerich verdrehte die Augen, sein Mitleid mit den Reichen hielt sich in Grenzen. »Wer sich Sommerfrische oder sogar zwei Wohnsitze leisten kann, den sollte so etwas nicht sonderlich schmerzen«, murmelte er in Winters Richtung.

»Was haben Sie da gesagt?« Die Frau kniff die Augen zusammen und legte den Kopf schief.

»Nichts.« Winter bugsierte seinen Vorgesetzten zur Treppe. »Er meinte nur, dass der Verlust Sie sicher schmerzt.«

Als Emmerich nach oben stieg, machte sich seine Kriegsverletzung bemerkbar. In seinem rechten Bein steckte seit der Schlacht von Vittorio Veneto ein Granatsplitter, der nicht entfernt werden konnte und ihm ständig Probleme bereitete. Arthrofibrose hatten die Ärzte diagnostiziert. Für die Mediziner nur ein Wort, aber er musste mit dem elenden Zustand leben.

Unauffällig versuchte er, sein rechtes Bein weniger zu belasten. Im ersten Stock angekommen, legte er eine kurze Pause ein, sah über die Balustrade nach unten und musterte die Dame. »Sommer in Wien ist eine Zeit der Armen«, murrte er. »Die Gestopften fliehen wie die Ratten aus der Stadt, während der Pöbel darbt und schwitzt. Das wahre Verbrechen sind nicht die paar gestohlenen Dinge – es sind die Zustände, in denen der Großteil der Bevölkerung leben muss. Wie zum Beispiel unsere beiden Opfer.«

»Wir können die sozialen Umstände nicht ändern, aber wir können den Mörder fassen und zumindest so für ein bisschen Gerechtigkeit sorgen.«

Emmerich nickte. »Hast ja recht, Ferdinand. Legen wir los.«

Auch in der Abteilung Leib und Leben war wenig von der sonst üblichen Betriebsamkeit zu spüren. Gewöhnlich huschten Sekretärinnen mit Aktenordnern beladen durch die Flure, und hinter den dunkelbraunen Holztüren aus Nussbaum klingelten Telefone und klapperten Schreibmaschinen. Heute jedoch lag der Gebäudetrakt wie ausgestorben da, jeder einzelne Schritt der beiden Kriminalpolizisten hallte durch die gespenstische Ruhe des verwaisten Flurs.

»Am besten, wir beginnen mit …«, setzte Emmerich an, als plötzlich eine Tür aufgerissen wurde und Peter Brühl aus seinem Büro trat.

»Emmerich und Winter.« Brühl ließ seinen Blick über Emmerichs verschwitztes Hemd wandern, das bis zum Brustbein aufgeknöpft war. »In puncto Repräsentation könnten Sie sich ein Beispiel an Ihrem Assistenten nehmen.«

»Ich repräsentiere die Abteilung, indem ich eine gute Aufklärungsquote vorweisen kann.« Emmerich trat nah an Brühl heran und schnippte eine imaginäre Fluse von dessen Revers. »Die beste derzeit«, fügte er hinzu und grinste.

»Sie sind mir gerade mal um einen Fall voraus«, konterte Brühl. »Bis zum Ende des Jahres habe ich Sie locker ein-, wenn nicht gar überholt.«