DIE SCHATTEN DER DONGRIA - Dirk Hammer - E-Book

DIE SCHATTEN DER DONGRIA E-Book

Dirk Hammer

4,0

Beschreibung

David Waldau, ein Journalist aus Berlin, reist für Recherchen nach Indien, um über die Dongria Kondh zu berichten – ein Bergvolk, das den Gott Niyam Raja anbetet und gegen einen übermächtigen Rohstoffkonzern kämpft, der in ihrem Gebiet eine Bauxitmine errichten will. Dort lernt er auch noch eine marxistische Rebellengruppe kennen, die sich aus ihren Dschungelverstecken heraus Kämpfe mit der Distrikt-Regierung liefert. Während er immer tiefer in die Motive und Konflikte der verschiedenen Gruppen eindringt und dabei selbst ins Visier gerät, entdeckt David noch etwas anderes, etwas Unfassbares, das seit Jahrtausenden in den Wäldern der Niyamgiri-Hügel lebt und die Gewissheiten der gesamten Menschheit aus den Angeln heben könnte …

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Die Schatten der Dongria

Impressum

Deutsche Erstausgabe Copyright Gesamtausgabe © 2023 LUZIFER Verlag Cyprus Ltd. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Cover: Michael Schubert

Dieses Buch wurde nach Dudenempfehlung (Stand 2023) lektoriert.

ISBN E-Book: 978-3-95835-826-3

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

Inhaltsverzeichnis

Die Schatten der Dongria
Impressum
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Epilog
Über den Autor

»Nun schwärmen sie in großen Kolonien aus, sicher aufbewahrt in riesigen schwerfälligen Robotern, abgetrennt von der äußeren Welt, mit der sie über verschlungene indirekte Wege kommunizieren und die sie durch Fernkontrolle manipulieren. Sie stecken in dir und mir; sie haben uns geschaffen, als Körper und Geist, und ihre Erhaltung ist der ultimative Grund für unsere Existenz.«

Richard Dawkins, »Das egoistische Gen«

Prolog

Als Bob die kurze Holztreppe herunterstieg und auf den Waldboden trat, versanken die Absätze seiner Wildlederschuhe in nasser Erde. Schon am Morgen hatte es geregnet und erst am späten Nachmittag aufgehört. Deshalb nennt man diese abstoßende Gegend wohl auch Regenwald, dachte Bob und schaute sich missmutig um. Sein Büro, wenn man diesen primitiven, auf ein abgeholztes Areal inmitten der zugewucherten Wildnis gesetzten Container überhaupt so nennen konnte, hatte ihn zumindest vor diesem endlosen Regen geschützt. Was ihn nicht davon abhielt, diesen Ort zu hassen. Es war eine entlegene Außenstelle, an die ihn seine Firma geschickt hatte, mitten in ein unterentwickeltes, trostloses Ödland. Bob vergrub seine Hände in den Taschen seines Regenmantels, ein elegantes, aus Polyurethan geschneidertes Designerstück, das er über seinem Anzug trug. Er erinnerte sich gut daran, wie er den halbtransparenten Parka bei einem New Yorker Herrenausstatter gekauft hatte. In einem anderen Leben.

Wenige Meter abseits des Bürocontainers standen die Hütten der einheimischen Wachleute, die ihm aufgrund irgendeiner Sicherheitsrichtlinie seiner Firma nicht von der Seite wichen. Bob konnte deutlich drei von ihnen sehen. Sie taten das, was sie immer taten, nämlich gar nichts. Saßen auf den Bänken vor ihren Unterkünften, die kaum mehr waren als grob gezimmerte Holzbaracken, und starrten kauend in die Gegend. Was waren das eigentlich für seltsame Pflanzenblätter, auf denen sie ununterbrochen herumbissen, um im Minutentakt einen Strahl bräunlichen Speichels auf den Dschungelboden zu spucken? Nutzlose, unzivilisierte Kreaturen, dachte Bob.

Den Weg zu seiner Unterkunft würde er heute allein antreten. Er würde verzichten auf sinnlose Versuche, die Einheimischen zur Eile anzutreiben, während diese sich mit provozierender Langsamkeit zum Aufbruch rüsteten. Verzichten auf feindselige Blicke aus undurchschaubaren Gesichtern. Er wandte sich ab und begann, dem regennassen Pfad zu folgen. Er führte in den Wald hinein und schließlich, nach einem viertelstündigen Fußmarsch entlang einer in das Buschwerk gerodeten Schneise, zu einer Siedlung des hiesigen Volksstammes. Dort befand sich ein Bauwerk namens »Odisha Park Hotel«, eine seltsame Kombination aus Betonzellen und Holzdächern, in der Bob seit seiner Beförderung vor vier Wochen residierte.

Seine Beförderung. Division Manager Exploration Ventures East Asia. Ein wahrhafter Triumph, eine Prämie für die freudlosen Jahre in den Niederungen der unteren Führungsebene. Nun war er Teil des Top-Managements, nicht mehr als drei Stufen unterhalb des CEOs. Bob erlaubte sich ein boshaftes Grinsen, als er daran dachte, wie er seiner Exfrau von der neuen Position berichtet hatte. Sie hatte gerade ihre Sachen abgeholt, überflüssigen Krempel, den er ihr finanziert hatte. »Schön für dich«, hatte sie gesagt, und sich mit zwei Koffern voller Kleidung, Küchengeräten und Teilen seiner Wohnungseinrichtung davongemacht. Vermutlich zu ihrem neuen Deckhengst. Bettenverkäufer. Einen noch niedrigeren Ersatz für immerhin neun Ehejahre hatte sie wohl nicht finden können. Soll die alte Fregatte doch glücklich werden mit diesem pomadigen Kamel, dachte Bob, als er einem modrigen Baumstamm auswich, der in den sumpfigen Pfad gekippt war.

Die Dämmerung hatte inzwischen eingesetzt, viel zu plötzlich, wie Bob fand. Mit zusammengekniffenen Augen legte er den Kopf in den Nacken. In diesem Teil des Urwalds wuchsen die Bäume so dicht, dass sie ein geschlossenes Dach aus ineinander verschlungen Ästen und Blattwerk bildeten. Kein Himmel war zu sehen, sondern dunkles, feucht schimmerndes Grün. Vögel flatterten unsichtbar zwischen den Zweigen. Affen sprangen raschelnd und knackend durch das Geäst und stießen ihre fast menschlichen Brülllaute aus.

Als Bob daran dachte, wohin ihn seine Beförderung geführt hatte, kniff er die Augen zusammen, und sein Grinsen verwandelte sich in eine wütende Grimasse. Ganz sicher gab es weder in seiner noch in irgendeiner anderen Firma einen zweiten Bereichsleiter, der in einem feuchten Containerbüro hauste. Er führte einen Mitarbeiterstab aus unwilligen Hilfsarbeitern, die noch nicht einmal seine Sprache beherrschten. Diese Sache hatte er sich anders vorgestellt. Wie um ihn zusätzlich zu verhöhnen, stimmten die Vögel, die unsichtbar und lärmend die Baumkronen über ihm bevölkerten, einen durchdringenden, schrillen Gesang an.

Nun, zumindest war Bob wieder er selbst. Keine Frau, die nörgelnd und fordernd ihre eigenen Befindlichkeiten zum Maßstab seiner Entscheidungen machte. Keine langweiligen Städtereisen. Keine geisttötenden Streitereien über ihre Unzufriedenheit und seine Schuld. Nach fast einem Jahrzehnt konnte Bob wieder tun, was er wollte, und was er wollte, waren Frauen. Junge Frauen. Die einzige Entschädigung, auf die ein Mann nach einer Scheidung hoffen konnte. Gleich nachdem Bob mit einem kleinen Flugzeug in Bhubaneswar gelandet war, wo er in Vorbereitung seiner Aufgabe im abgelegenen Niyamgiri-Gebiet einige Tage verbracht hatte, war er auf Beutejagd gegangen. Indien war ein Entwicklungsland, das war allgemein bekannt, und der Bundesstaat Odisha einer der ärmsten des Landes. Die hiesigen Frauen würden sich vor ihm auf den Rücken werfen, damit er sie aus der Armut befreie und in ein Leben im westlichen Wohlstand führe. So in etwa hatte Bob es erwartet.

Doch wo waren die Frauen? Sämtliche Bars waren von Männern besetzt, sehnige Typen mit schwarzen Haaren und brauner Haut, die sich laut und unablässig unterhielten oder zähnefletschend über einen Witz lachten, den nur sie verstanden. Sperrten sie ihre Töchter ein? Bob war zwei Tage lang durch die lärmenden Innenstadtstraßen gelaufen, hatte an Resopaltischen mit den Händen viel zu scharf gewürztes Hühnerfleisch gegessen und die schwindende Hoffnung auf ein exotisches Abenteuer mithilfe einiger Biere gegen einen realen Alkoholrausch getauscht. Erst am dritten Tag hatte er den »Five Star Beauty and Spa Parlour« entdeckt, wo ihn Massagespezialistinnen aus Thailand professionell entspannten.

Bob blieb stehen. Ein Geräusch, lauter und anders als die Geräuschkulisse des ihn umgebenden Dschungels, hatte ihn aus seinen Gedanken gerissen. Es hörte sich an wie ein Keuchen, so als versuchte ein Raucher seine Bronchien zu reinigen. Es war aus dem Dickicht neben ihm gekommen, aus Richtung der Hügelkette, die sich schräg hinter ihm in einigen Kilometern Entfernung abzeichnete. Bob drehte sich langsam nach rechts und musterte das dichte Buschwerk, doch mehr als eng nebeneinanderstehende Farne, Palmen und andere grünblättrige Gewächse in allen Größenordnungen konnte er nicht erkennen. Hoch über ihm lärmten Vögel unsichtbar in den Baumkronen. Ihr anfangs konfuses Geschrei hatten sie zu einer gemeinsamen Tonfolge synchronisiert. Drei Töne folgten in einem eigentümlichen Rhythmus aufeinander, um nach einer kurzen Pause wieder von vorn zu beginnen. Was trieb diese Tiere nur dazu? Mit wachsender Nervosität schaute Bob nach oben, doch die Verursacher des eigenartigen Gesangs waren nicht zu sehen.

In diesem Moment zerbrach etwas im Wald, näher und deutlicher zu hören als das Geräusch zuvor. Bob musterte die grünlichen Strukturen aus blättrigem Buschwald neben seinem Pfad, doch auch diesmal war nichts als die dichte Dschungelvegetation zu erkennen. Er trat einen Schritt zurück. Was lebte außer lästigen Vögeln und aufdringlichen Affen eigentlich noch in diesen Wäldern? Gab es hier etwa noch Tiger? Bob nahm an, dass diese Großkatzen inzwischen ausgestorben waren, der Lebensraum zerstört, gewildert von Bauern oder was auch immer diese Tierschutzorganisationen beklagten.

Er schaute sich um. Wo waren diese wertlosen Hilfsarbeiter, wenn man sie benötigte? Waren sie nicht auch zu seinem Schutz da, oder wofür sonst trugen sie Maschinenpistolen? Bob hatte mehr als einmal das Gefühl gehabt, dass diese Männer ihn mehr bewachten als beschützten. Weit war er noch nicht gekommen, vom Exploration-Camp nicht mehr als zehn Minuten Fußmarsch entfernt, doch wenn das, was da durch den Urwald schlich, ein Tiger war, konnte er nicht hoffen, es rechtzeitig zu schaffen.

Hilft es bei Tigern eigentlich, sich totzustellen?, fragte sich Bob gerade, als etwas aus dem Buschwerk hervorbrach. Es kam mit großen Sätzen auf ihn zu, wie ein Athlet beim Dreisprung, ein rasendes Knäuel aus sehnigen Gliedern und gelben Zähnen. Noch ehe Bob erkennen konnte, was ihn attackierte, hatte ihn die Kreatur erreicht. Im Ausweichreflex zuckte Bob zur Seite und verdrehte seinen Oberkörper, um ihn aus der Angriffslinie zu bringen. Dicht vor ihm sah er einen grauen Schemen vorbeistürzen. Er spürte einen Luftzug, der scharf nach Raubtierschweiß und nasser Erde roch. In seinem Unterleib ruckte es. Dann hörte er, wie etwas neben ihm klatschend auf dem nassen Pfad landete und sich Sekundenbruchteile später in die Büsche schlug. Verblüfft blickte Bob nach links, wo es im dichten Unterholz verschwunden war.

Verwunderung empfand er auch, als er an sich herabsah, um den Grund für das plötzliche Brennen in seiner Bauchgegend zu suchen. Er war verletzt. Der Regenmantel hing in Fetzen unter ihm, genauso wie Anzugjacke und Hemd. Der weiße Stoff war getränkt von dunklem Blut, das aus vier großen, quer über Bauch und Brust verlaufenden Schnitten quoll. Und noch etwas bemerkte Bob. Es war nicht nur Blut, was seinem Körper entwich. Die Wunden an seinem Bauch waren so tief, dass dunkles Gewebe in nassen Schlingen aus ihm heraushing.

Erst jetzt spürte Bob, wie sich Schmerz vom Bauch ausgehend in seinen Rumpf fraß. Es war, als würde sein Leib mit glühendem Metall geflutet. Gleichzeitig fühlte sich sein Körper kalt an, und er begann zu zittern. Stöhnend ging er in die Knie, neigt sich zur Seite und fiel schließlich in eine Pfütze seines eigenen Blutes auf den Rücken. Sie hat mich erwischt, dachte Bob vage, während seine Gedanken begannen, wie Sand zu zerfließen. Die grüne Welt um ihn herum verschwamm, und er bemerkte kaum, wie sich zwei Klauen, bewehrt mit langen und überaus scharfen Krallen, von hinten um seine Schultern schlossen. Die Vögel waren verstummt, und dies war das Letzte, was Bob bemerkte, als er mit kräftigen Zügen über den erdigen Boden geschleift und schließlich in den Dschungel geschleppt wurde. Die Sonne war untergegangen, und Bobs Dasein verlor sich in Dunkelheit.

Kapitel 1

David Waldau lag seit mehreren Minuten wach, ohne die Augen zu öffnen. Während die ersten trägen Gedanken durch sein Bewusstsein schwappten, reichte seine Kraft noch nicht, um seine Lider zu bewegen. Durch das gekippte Fenster hindurch lauschte er dem Klang einer belebten Straße im Berliner Stadtteil Kreuzberg. Gedämpft und gleichzeitig prägnant drangen die Geräusche der Stadt in sein Hörzentrum: Autos beschleunigten mit aufheulenden Motoren, Fußgänger unterhielten sich laut und unverständlich, Bustüren schlossen sich zischend. Hin und wieder eine Krankenwagensirene. Der Tag musste schon vor einer ganzen Weile begonnen haben.

Eine Zeit lang dachte David an nichts Besonderes. Ließ die Geräusche in sein Hirn branden, atmete den Geruch der Umgebung. Ein weiblicher Geruch. Ihr blumiges Parfüm, der fruchtige Duft von Duschgel und Körpersprays, aber auch eine süßliche Note, deren Ursprung die Diätlimonaden waren, die sie von morgens bis abends trank und in großen Mengen in der Wohnung lagerte.

Michelle war ihr Name, und mit ihr hatte er den Abend und die Nacht verbracht. Nicht nur diese Nacht, sondern viele Nächte, seit sie vor acht Monaten eine Beziehung begonnen hatten. Sie hatten sich auf einem Firmenevent seines Verlages in der Salitos Beach Strandbar kennengelernt. Michelle hatte eine Praktikantin aus der Personalabteilung begleitet. Sie stand barfuß im künstlich aufgeschütteten Sand und betrachtete die Yachten im Tempelhofer Spreehafen, als David sie angesprochen hatte.

Jetzt lag sie neben ihm, unsichtbar, denn er hielt seine Augen weiterhin geschlossen. Gleichzeitig spürte er die Anwesenheit ihres Körpers an seiner Seite. Michelle schlief noch, und David lauschte eine Weile ihrer leise schnorchelnden Atmung. Ohne Frage hatte er selten eine Frau von solch plastischer Schönheit gesehen. An ihrem ersten Abend hatte sie eine leger geschnittene Sommerhose aus cremefarbener Viskose getragen, dazu ein dunkles, an interessanten Stellen verheißungsvoll glitzerndes Top. Doch das eigentlich Faszinierende war ihr Blick gewesen. Wenn sie mit ihm sprach, sah er in tiefblaue Augen hinter halbgeschlossenen Lidern, die immer ein wenig an ihm vorbeizublicken schienen, so als betrachtete sie in Wahrheit etwas in der Ferne, das ihre Aufmerksamkeit fesselte. Dabei zeigte sie unentwegt ein entrücktes Lächeln, ganz egal, ob sie ihm von ihrer aktuellen Anstellung bei einer Eventmanagement-Agentur erzählte oder zuhörte, wie er von einer interessanten Recherche-Reise berichtete.

Auf dem Rücken neben ihr liegend, die Augen noch immer nicht geöffnet, dachte David daran, wie sie in jener Sommernacht einander nicht mehr von der Seite gewichen waren, bis die Kellner bereits begannen, Getränkegläser einzusammeln und Liegestühle zurück in ihre vorgesehene Position zu rücken. Vielleicht war es die seltsam melancholische Stimmung des beginnenden Morgens gewesen, die sie daran gehindert hatte, ihrem körperlichen Verlangen, dessen sie sich unausgesprochen bewusst waren, gleich in der ersten Nacht nachzugeben. Vielleicht glaubten beide, dass die Verbindung umso intensiver würde, je länger sie den unausweichlichen Sex hinauszögerten. Am Ende hatte sie sich mit einem Kuss von ihm verabschiedet, der nach Rum und Limetten schmecke. Er war allein, aber in bester Stimmung nach Hause gegangen.

Sie waren schnell zusammengekommen, und es war, als wäre ihre Beziehung eine endlose Wiederholung dieser ersten Nacht, die nun jedoch zuverlässig mit genau jenem Finale endete, auf das sie beim ersten Mal verzichtet hatten. Sie gingen viel aus, und meistens war es Michelle, die den Besuch einer Vernissage, ein Essen im Sternerestaurant oder die Eröffnungsparty irgendeines neuen Clubs vorschlug. Diese Abende endeten gewöhnlich in ihrer winzigen Wohnung in Kreuzberg, die aus kaum mehr als einer Kochnische und einem riesigen Bett bestand. Dort hatte David, angespornt von Michelles ausgeprägter Lust, ausgedehnte und variantenreiche Geschlechtsakte vollzogen. Eine sehr angenehme Zeit, erinnerte sich David und versuchte probeweise, seine Augen einen Spaltbreit zu öffnen.

Tageslicht schien in scharf umrissenen Strahlen durch die Öffnungen des nicht vollständig geschlossenen Rollladens. Die plötzliche Helligkeit zuckte wie ein stechender Blitz durch Davids Kopf, und ihm wurde schmerzhaft die Bilanz des gestrigen Abends bewusst, die mehr als nur ein paar Drinks enthielt. Dass er und Michelle ihre Leidenschaft mit viel Alkohol ölen mussten, war eine bedenkliche Entwicklung, die sich, erst heimlich und später unübersehbar, in ihre Beziehung geschlichen hatte.

Die Anzeichen waren zunächst subtil. Ein kurzes Zögern, bevor sie eine Bemerkung von ihm lächelnd erwiderte, so als hätte sie eine kleine spontane Verärgerung abwehren müssen. Ein kaum merkbares Trödeln, wenn sie sich für einen gemeinsamen Abend schick machte. Eine latente Unzufriedenheit, die sich in immer häufigeren Beschwerden über Kleinigkeiten zeigte, wenn etwas ihren Ansprüchen nicht genügte. Nach weiteren Wochen, in denen sie sich gegenseitig mit wachsendem Misstrauen betrachteten, hatten sie schließlich begonnen, sich offen zu streiten. David fragte sich immer häufiger, welchen Preis er für das Zusammensein mit Michelle zu zahlen bereit war.

Wenn ein einzelnes Atom von einem Lichtquant getroffen wird, geht es in einen angeregten Zustand über. Das Atom erreicht ein höheres Energieniveau, doch gleichzeitig ist seine Struktur nun auf elementarer Ebene gestört. Das System wird instabil, der angeregte Zustand endet, spontan und unausweichlich, und die mit dem Lichtquant absorbierte Energie entweicht zurück ins Universum, während das Atom in seinen Grundzustand fällt. War Liebe nicht letztlich Chemie, die auf der Quantenmechanik der Atome gründete? Hatten deshalb auch menschliche Beziehungen eine eingebaute Halbwertzeit, eine endliche mittlere Lebensdauer, und fielen früher oder später unvermeidlich auf das niedrigste Energieniveau zurück?

David warf einen Blick auf Michelle, die nur halb bedeckt bäuchlings auf ihrem Laken lag. Sie war in ihrer Unterwäsche ins Bett gestiegen, hatte nur ihren BH gegen ein übergroßes T-Shirt getauscht. David richtete sich auf, wartete einen Augenblick, bis er sich sicher war, dass sein Kreislauf die Lageänderung vertragen würde, und stieg aus dem Bett. Im Badezimmer nahm er seine Zahnbürste, das einzige Utensil, das er dauerhaft bei Michelle deponiert hatte. Während er seinen Mundraum von dem modrigen Belag befreite, in den sich die gestrigen Cocktails und ein nächtlicher Kebab verwandelt hatten, dachte er über sie nach.

Sie schien es nicht eilig zu haben, zu ihrer Arbeitsstelle zu kommen, obwohl es ein Wochentag war. Ihr Job war ihr anscheinend gleichgültig. Wenn sie davon erzählte, dann meist von ihren Kollegen, nie über die Tätigkeit selbst. Die Arbeit war für sie kaum mehr als profaner Broterwerb, oft nicht einmal das. Eine lästige Störung ihrer Freizeit. War sie müde oder verkatert, schlief sie aus und erschien spät im Büro. Schaffte sie es bis zum Mittag nicht aus dem Bett, meldete sie sich krank. Eine verantwortungslose Einstellung, indifferent in Bezug auf alles, was nicht ihren unmittelbaren Bedürfnissen diente. Ein Dasein, demgegenüber David zunehmend Abscheu empfand.

Er selbst war noch heute mit seinem Auftraggeber verabredet. Sie würden über mögliche Reportagen sprechen, die er schreiben und an den Verlag verkaufen würde. Den Termin einfach ausfallen zu lassen, war keine Option. Denn obwohl David freier Journalist war, konnte er sich seine Aufträge keineswegs aussuchen. Es war harte Arbeit, mit eigenen Geschichten einigermaßen regelmäßig Honorare einzustreichen. Man musste beweglich bleiben, erahnen, was Leser finden würde, Orte besuchen und mit Menschen sprechen, Narrative entwickeln. Im Zeitgeist schwimmen. Zwei oder drei feste Partnerverlage kultivieren, die seine Dokumentationen druckten. Das Grundgerüst einer Reportage entwickelte David oft schon, bevor er einen Abnehmer gefunden hatte. Diese Vorarbeit war notwendig, damit die Verlage ihrerseits seine Recherchen sponserten. Erst wenn der Bericht authentisch und die Fakten solide schienen, hatte die Reportage eine Chance auf Veröffentlichung.

Nach einer Andeutung von Körperpflege zog er seine Kleidung vom Vortag an und begann, sich mit der Kaffeemaschine zu befassen, die den größten Teil der Kochnische ausfüllte. Eine rundliche Apparatur mit allerlei Tasten, Leuchten, Hebeln, Öffnungen, Schubfächern und Düsen. In eine der Öffnungen musste eine Alukapsel geschoben werden, die eine Portion Kaffeepulver enthielt. Ratlos betrachtete David einen Drahtständer, in den ein Büffet aus verschiedenfarbigen Kapseln einsortiert war. Er griff nach einem der Aludöschen und las die Aufschrift. »Lungo« stand da. War das jetzt Kaffee? Diese Maschinen konnten schließlich alles Mögliche zubereiten. Er setzte die Kapsel wieder zurück an ihren Platz und begann, in den Hängeschränken nach Pulverkaffee zu suchen, als er hinter sich ein gepresstes »Was suchst du in meiner Küche?« vernahm. David drehte sich um und erblickte Michelle, die im Rahmen der Tür zum Hauptraum lehnte. Augenblicklich wurde ihm klar, dass sie wütend war.

Diesmal schaute Michelle nicht an ihm vorbei. Sie starrte ihn direkt an, ihre Augen funkelten unter zornig zusammengezogenen Augenbrauen hervor. Die Wut brodelte in ihr wie in einem Druckkochtopf, nur mühsam von ihren zusammengepressten Lippen zurückgehalten. Ein Überdruckventil, das sich jede Sekunde öffnen könnte.

»Du denkst mal wieder nur an dich«, stellte sie in vorwurfsvollem Tonfall fest. »Auf die Idee, dass ich vielleicht auch einen Kaffee möchte, kommst du gar nicht.«

David versuchte ein Lächeln, bevor er so ruhig wie möglich antwortete. »Du hast bis eben geschlafen. Ich mache dir gerne einen Kaffee, wenn du mir erklärst, wie diese Maschine funktioniert. Darf es ein Lungo sein?«

Michelle, die ihn weiterhin zornig taxierte, war nicht besänftigt. »Wenn ich dich erst darum bitten muss, kannst du es auch gleich sein lassen«, keifte sie David an, noch bevor er seinen Satz beendet hatte. »Vielleicht kommst du mal von selbst darauf, was ich gerne hätte? Nie weißt du, was ich brauche. Du verstehst mich einfach nicht.«

David schaute sie verständnislos an. Er war noch müde und spürte einen starken Drang, sich der Auseinandersetzung zu entziehen. Die Wohnungstür war keine drei Meter entfernt. Doch er widersetzte sich dem Fluchtreflex und überlegte stattdessen, welche Antwort Michelle beschwichtigen würde. »Wir hatten doch gestern viel Spaß«, meinte er schließlich. »Lass uns im Bett etwas frühstücken. Vielleicht können wir später über unsere Beziehung reden.«

»Von wegen Spaß. Ich wär noch länger geblieben, aber du wolltest ja wie immer plötzlich nach Hause. Du bist so ein Langweiler.«

Ein Langweiler, weil er an einem Wochentag um drei Uhr morgens vorgeschlagen hatte, nach Hause zu gehen? Lohnte sich ein gemeinsamer Abend nur dann, wenn er im Exzess endete? Michelle erschien David auf einmal sehr fremd. Gab es überhaupt Auffassungen, die sie teilten? Oder war Sex der einzige Katalysator, der diese Verbindung aufrechterhielt? Ihm kam es vor, als wartete jenseits der körperlichen Affinität nichts als Verständnislosigkeit, Vorwürfe oder, wenn sie nicht miteinander sprachen, eine gereizte, lauernde Leere. Auf einmal schien es ihm, als zerfalle ihre Beziehung wie ein Atom, dessen innere Anziehungskräfte dem Auseinanderdriften seiner Elementarteilchen nichts mehr entgegensetzen konnten.

Michelle passte nicht zu ihm. David hätte es sehen, hätte die Zeichen erkennen müssen. Eine Frau, die kaum in der Lage war, ihre Wohnung, geschweige denn ihr Leben in Ordnung zu halten. Die ihn gezwungen hatte, ihre Beziehung in einer obskuren Beratungssitzung von einer Astrologie-Expertin beurteilen zu lassen. Die mit Kuscheltieren im Bett schlief. War er blind gewesen? Abgelenkt vermutlich, denn an ihrem Körper gab es vieles, was den klaren Verstand in den Hintergrund treten ließ. Er betrachtete die attraktive Frau, die ihn noch immer mit zänkischem Gesicht anstarrte, und traf eine Entscheidung.

»Michelle«, sagte David in einem Tonfall, mit dem er versucht hätte, ein ängstliches Pferd zu beruhigen, »ich kann verstehen, dass du wütend bist. Es lief nicht so gut in letzter Zeit. Vielleicht brauchen wir etwas Abstand voneinander.«

»Was soll denn das jetzt heißen?«, keifte Michelle, ohne ihn ausreden zu lassen. »Du bist so was von feige. Für wen hältst du dich eigentlich? Du willst jetzt einfach so abhauen? Vielleicht entschuldigst du dich mal. Aber dazu bist du ja nicht fähig, du arroganter Sack. Ja, hau nur ab, du brauchst gar nicht erst wiederzukommen.«

Sie hatte sich in Rage geredet, und ihre Stimme glich immer mehr dem Kreischen einer elektrischen Säge. David war langsam zurückgewichen. Bevor er die Tür aufriss und Michelles Behausung verließ, ging er ins Badezimmer und steckte seine Zahnbürste ein.

Kapitel 2

Nachdem David im Treppenhaus eine knarrende Holztreppe herabgestiegen und durch die Eingangstür ins Freie getreten war, atmete er tief ein. Es war ein mäßig warmer Sommertag. Seine Kopfschmerzen waren abgeklungen und hatten ein taubes Gefühl in seiner Stirnhöhle hinterlassen, das er mit frischer Luft, etwas zu essen und Kaffee vertreiben würde.

Bis zum Mittag musste er sich in den Büros eines Zeitschriftenverlages in der Nähe vom Potsdamer Platz einfinden. Dort war er mit Oliver verabredet, einem kaum dreißigjährigen Redakteur, der seinen Auftraggeber vertrat und mit ihm über ein mögliches Engagement zu sprechen bereit war. Eine neue Reportage aus dem Ausland vielleicht, wenn David Glück hatte, vielleicht auch nur ein paar Interviews mit Pressesprechern irgendwelcher wichtiger Organisationen. Letztlich würde er akzeptieren müssen, was man ihm anbot. Auf Michelles nichtssagende Tätigkeit in ihrer Event-Agentur hatte er nicht selten mit dem überheblichen Gefühl herabgeblickt, selbst etwas Tiefgründigeres und Bedeutsameres zu erschaffen. Aber kam es darauf an? War das, was David tat, wirklich wertvoller als irgendein Bürojob?

Offenbar nicht, denn sein Beruf wurde seit längerem von Leuten obsolet gemacht, die ebenfalls Reportagen verfassten, ohne sich um Authentizität und analytische Präzision zu kümmern. In heimischen Amateurstudios produzierten sie Reiseberichte, in denen nicht die Landschaft, nicht die Kultur und Geschichte des Landes und auch nicht seine Bewohner den Kern der Geschichte bildeten, sondern sie selbst. Blogger. Für den traditionellen Journalismus waren sie wie Uber-Fahrdienste für Taxiunternehmen: Eine anspruchslose, billige Alternative, deren Erfolg die Qualitätsansprüche der traditionellen Gewerbe zur Farce machte.

Was war geschehen, dass diese penetrante Selbstdarstellung der Blogger eine so große Fangemeinde anzog? Ein guter Autor hielt sich im Hintergrund und ließ seine Geschichte wirken. Bei den Bloggern war es genau umgekehrt. Aufgeblasene Wichtigtuer, deren Verständnis für das Wesen fremdländischer Kulturen nicht über die oberflächliche Darstellung einer Netflix-Serie hinausging. Und doch waren es genau diese Blogger, die mit ihren gesellschaftspädagogischen Machwerken den investigativen Journalismus in die Ecke getrieben hatten und im Begriff waren, ihn zu begraben.

David würde dies nicht zulassen. Zu vielschichtig und bedeutsam waren die Ereignisse, die sich jeden Tag auf dem Planeten abspielten, als dass man sie den Bloggern überlassen durfte. Eine einzige Reportage könnte den Ausschlag geben. Ein passendes Thema, lebensnah berichtet und im richtigen Stil geschrieben, könnte neue, junge Leser gewinnen und so die klassischen Magazine und Zeitungen zu der Bedeutung zurückführen, die sie verdienten. David verspürte eine beinahe kämpferische Entschlossenheit, die perfekte Reportage abzuliefern, die Reportage seines Lebens. Ein einziger, zehnseitiger Text, überregional beachtet und preisgekrönt, mit dem er seinen Platz im klassischen Journalismus für alle Zeiten sicherstellen würde.

David beschloss, zu Fuß am Halleschen Tor vorbei nach Berlin-Mitte zu laufen. Die kleine Stadtwanderung würde ihn an einigen Straßenbäckereien vorbeiführen. Er sah sich um. Eines der Fenster im vierten Stockwerk des Altbau-Mehrfamilienhauses gehörte zu Michelles Wohnung. Von ihr war nichts zu sehen. Er wandte sich ab, und auf einmal spürte er ein intensives Gefühl der Entlastung, eine lange vermisste Freiheit. Entspannt und gleichzeitig voller Tatendrang begann er, mit sportlicher Geschwindigkeit die lebhaften Straßen des früheren Berliner Arbeiterviertels entlangzulaufen.

Am Blücherplatz stieß David auf ein Straßenfest. Schon als er sich dem Gebiet näherte, war ihm aufgefallen, dass immer mehr Menschen die Gehwege bevölkerten und ihn zu einer langsameren, dem allgemeinen Durchschnitt angepassten Schrittgeschwindigkeit zwangen. Dabei hatten Musik und Stimmengewirr die Straßengeräusche immer stärker überlagert. Schließlich gelangte er zu einem unbebauten Areal, auf dessen Grasflächen im Schatten von Lindenbäumen Zelte, Pavillons und Musikbühnen aufgebaut waren. Besuchermengen drängten sich über schmale Wege dazwischen, vor allem jüngere Menschen im Freizeitlook, aber auch Familien mit Kindern jeden Alters. Statt eine Ausweichroute zu suchen, lief David direkt hinein.

Bei den meisten Aufbauten, die an beiden Seiten die Durchgänge säumten, handelte es sich um zeltartige Konstruktionen, die im Stil unterschiedlicher Kulturen dekoriert waren. Frauen in exotischen Trachten verkauften ländertypische Gerichte, Händler boten Kunstgegenstände und andere kulturelle Artefakte zum Kauf an. Über dem Ganzen hing der Geruch von gebratenem Fleisch und fremdartigen Gewürzen. Das Thema der Veranstaltung bildeten offenbar die kulturellen Traditionen verschiedener Ethnien, die sie in Form von traditioneller Musik, überlieferten Tänzen, Essen, Kleidung und Kunstgegenständen präsentierten. Die Mischung völlig unterschiedlicher Stile wirkte auf David chaotisch und gleichzeitig reizvoll. Menschen lächelten in die Menge, Musikgruppen spielten die fröhlichen, entspannten Rhythmen südlicher Länder und vermittelten zusammen mit dem sanften Sommerwetter eine unbeschwerte, friedliche Atmosphäre. David fühlte sich wohl.

An einem der Stände blieb er stehen. Direkt am Rand des Durchganges befand sich eine Verkaufstheke, an der Reisgerichte in Pappschüsseln gereicht wurden. Eine Frau undefinierbaren Alters befüllte die Schüsseln aus drei großen Tontöpfen. Sie war mit einem orange-gelben Sari bekleidet und hatte ihre schwarzen Haare zu einem unbegreiflich langen Zopf geflochten. Dahinter stand ein geschlossenes Zelt, das wohl die Vorräte und einen Rückzugsraum für das Personal beherbergte. Seidentücher hingen vor der Theke bis knapp über den Boden, farbenfroh bedruckt mit gelbroten Ornamenten. Es roch nach Ingwer, Koriander und Chili.

David bestellte sich eine Portion der schärfsten Curry-Sorte. Während er stehend das würzige Gemisch gabelte, betrachtete er die Menschen, die zwischen den Kulturpavillons entlangflanierten. Ein Elternpaar schob einen Kinderbuggy vor sich her, darin schlafend ein kleines Mädchen mit Schnuller. Ein mittelalter Mann mit Glatze und Vollbart, in schicker Sportkleidung, daneben seine junge Frau mit Kopftuch, stark geschminkt und ebenfalls modisch gekleidet. Ein junges Paar, der Mann mit Armeehose in Tarnmuster und ärmelloser Weste, die Frau dunkelhäutig, schlank, die schwarzen Haare in Bündeln zu dünnen Zöpfen geflochten. Typische Berliner des einundzwanzigsten Jahrhunderts, dachte David, als er die unterschiedlichen Menschen betrachtete, die sich aus den verschiedensten Ländern stammend hier in Berlin-Kreuzberg eingefunden hatten.

Als er einem bärtigen Typen mit Brille hinterhersah, der seinen Rucksack an einer Schlaufe über die Schulter tragend den Weg entlangschlurfte, blieb sein Blick an einem Banner hängen, das über dem Eingang des indischen Pavillons angebracht war. Aufgedruckt war ein stilisierter schwarzer Kopf vor einem unscharfen grauen Hintergrund, daneben in großen Buchstaben das Wort »Selbstbestimmung«. David steckte sich die letzten Reste des schmackhaften Currygerichts in den Mund und ging kauend in Richtung des Aushangs. In der zweiten Zeile stand in etwas kleineren Lettern »Human Dignity International kämpft für die Dongria Kondh«. Wer oder was war Dongria Kondh? Eine Antwort, so schien es, würde er im Zeltinneren finden. Eine der Stoffbahnen, die den Eingang bildeten, war hochgeschlagen und ließ eine Öffnung frei. Orte besuchen und mit Menschen sprechen, dachte David und lugte durch den Spalt. Er hatte einen dunklen, beengten Raum erwartet. Stattdessen stellte er fest, dass sich auf der anderen Seite ein rundes, nach oben offenes Areal befand, das kreisförmig durch Stoffwände vom Außenbereich abgegrenzt war.

Geduckt schritt David durch den Spalt und schaute sich um. An den äußeren Zeltwänden hingen Stoffbahnen, die mit Figuren der hinduistischen Theologie bedruckt waren. Im Zentrum der detailreichen Darstellungen saßen die Gottheiten im Schneidersitz, mit erhabener Körperhaltung und entrücktem Blick. Gleichzeitig war ihre Anatomie ein naturgetreues Abbild des Menschen, mit fein ausgearbeiteten Zügen, die Extremitäten anatomisch korrekt dargestellt, die Brüste der Göttinnen rund wie Bowlingkugeln. Ein anziehendes Panoptikum der Hinduistischen Mythologie.

David wandte sich zur sonnenbeschienenen, runden Mittelfläche der Anlage, wo sich eine kleine Ausstellung befand. Verstreute Schautafeln illustrierten Projekte von »Human Dignity International« mit Bildern und Textausschnitten. Andere Besucher waren nicht zu entdecken, und er begann, sich die verschiedenen Fotostrecken anzusehen. Die Kampagnen der Organisation befassten sich offenbar mit dem Schutz indigener Völker, die von Landnahme, Urbanisierung und Industrialisierung bedroht waren.

Was Davids Aufmerksamkeit besonders fesselte, war eine Schautafel im hinteren Bereich der Ausstellung. Sie zeigte sechs vergrößerte Fotos, auf denen Menschen vor einem grünlichen Hintergrund aus Blättern abgebildet waren. Irritierend war die Tatsache, dass diese Menschen ausgestreckt auf dem Boden lagen. Es waren keine Werbebilder für eine Reise nach Indien, auch keine Urlaubsfotos oder Ansichtskarten, sondern Abbildungen von Verletzten oder Toten.

Alle Aufnahmen zeigten Variationen desselben Motivs, leblose Körper, auf einem dunklen Waldboden ausgestreckt. Bei einigen waren Verletzungen zu erkennen, die großen Schnittwunden glichen. Die Toten trugen robuste Stiefel, lange graue Hosen und grüne Militärhemden, einige zusätzlich Westen mit aufgenähten Taschen. Man hatte sie stehend aus nächster Nähe schräg von oben fotografiert, in der Totale und ohne Details aufzunehmen, so als habe ein Pressefotograf die Bilder für eine Kriegsreportage erstellt.

»Krass, oder?« David zuckte zusammen und schaute sich um. Ein Mann hatte sich unbemerkt neben ihn gestellt. Er war mittelgroß, trug eine dunkelgrüne, weit geschnittene Polyamid-Trekkinghose, darüber einen grauen Fleece-Pullover mit einer auf den Rücken herabhängenden Kapuze. Die Haare waren halblang und hingen strähnig über sein Gesicht. Er trug einen Bart, der nicht mehr Dreitagebart, aber noch nicht Vollbart war. Mit braunen Augen, die müde wirkten, schaute er David an. »Da werden Menschen ermordet, weil sie für ein menschenwürdiges Leben kämpfen, und hier nimmt niemand Notiz davon.« Der Typ sprach in einem merkwürdig leiernden Tonfall, bei dem er die Vokale in die Länge zog.

»Wer hat diese Fotos gemacht?«, wollte David wissen.

»Alle Fotos hier sind in Indien entstanden, meine Freunde und ich haben sie selbst geschossen. Oder wir haben sie von unseren Kontakten vor Ort«, erläuterte der Mann in seiner schleppenden Sprechweise. »Es geht um eines unserer Projekte im Norden. Wir helfen den Dongria Kondh.«

Schon wieder dieser Ausdruck. Der Mann sprach, als wäre Dongria Kondh allgemein bekannt, doch David war sich sicher, noch nie davon gehört zu haben. Mit den Verhältnissen in Nordindien war er ohnehin nicht vertraut. Die Andeutungen des Mannes waren wenig aufschlussreich, doch die Anzahl und die Bekleidung der Toten auf den Fotos ließen eine gewalttätige Auseinandersetzung erahnen, die mehr war als ein Familienkonflikt oder lokale Kämpfe im Kriminellenmilieu. David wartete ab, ob der Mann seine Erläuterung fortsetzen würde, doch er hatte sich abgewandt und betrachtete verträumt eine Fotowand in der Nähe, auf der Menschen vor einem Dschungelpanorama abgebildet waren. David ging halb um ihn herum und zwängte sich so in sein Blickfeld. »Wer sind diese Toten?«, fragte er.

Der Bartträger blickte auf. »Es waren Freunde von uns. Genauso wie wir von Human Dignity International haben sie sich für die Dongria Kondh eingesetzt. Das ist der Grund, weshalb sie ermordet wurden.« Der Mann hielt inne. Innezuhalten war offenbar seine Gewohnheit, denn obwohl David ihn erwartungsvoll anschaute, folgten keine weiteren Erläuterungen. »Wer sind die Dongria Kondh?«, fragte er schließlich.

»Die Dongria Kondh sind ein eigenständiges Volk im Norden Indiens. Sie leben an den Niyamgiri-Bergen, das liegt im Bezirk Odisha.« Davids Gesprächspartner deutete mit dem Kinn auf die Fotos vor ihm. »Dort gibt es nur Natur. Berge, Flüsse und endlosen Wald. Die Dongria leben in kleinen Dörfern, sie bauen Pflanzen an und gehen auf die Jagd. Sie nehmen aus der Natur nur das, was sie zum Leben brauchen.«

Tatsächlich waren auf den Fotos dunkle Menschen abgebildet, die in einer losen Gruppe zwischen einfachen, rechteckigen Holzhütten standen. Alle Aufnahmen, es waren etwa zehn, zeigten offenbar dieselbe Szene, die in unterschiedlichen Blickwinkeln und Entfernungen fotografiert worden war. Statt Hosen hatten sich die Männer bunt gemusterte Stoffe wie Duschhandtücher um die Hüften gebunden. Ihre Oberkörper, hager und gleichzeitig muskulös, waren nackt. Die Frauen waren ebenfalls mit bunten Tüchern bekleidet, die in mehreren Schichten bis zum Hals um den Körper gewunden waren, in der Taille mit einem Stoffband geknotet.

Besonders auffällig war ihr Körperschmuck. Auf einem der Bilder war eine junge Frau in Nahaufnahme zu sehen, und David konnte erkennen, dass sie nicht nur unzählige Ketten um den Hals trug, sondern auch Ringe aus einem silbrigen Metall, das in der Sonne glänzte. Beide Ohrmuscheln waren mit dutzenden Ringen behängt, so dicht, dass die Ohren vollkommen durchlöchert sein mussten. Am auffälligsten waren jedoch drei große, goldfarbene Ringe, die jeweils durch ihre Nasenflügel und quer durch die Nasenscheidewand gestochen waren. Alle starrten ausdruckslos in die Kamera, was der dörflichen Szenerie etwas Unnahbares, fast Abweisendes verlieh. Auch Kinder waren zu sehen, im Aussehen kleine Kopien ihrer Eltern, die mit denselben ernsten Gesichtern in die Kamera schauten.

Fasziniert betrachtete David die Menschen auf den Fotos. Ihre Körper wirkten gesund, ihre Haltung selbstbewusst. Offenbar besaßen sie wenig mehr als das, was sie zum Überleben benötigten, und außer den Plastiklatschen, die sie an den Füßen trugen, schienen sie keinerlei Produkte aus industrieller Fertigung zu verwenden. David fragte sich, unter welchen Bedingungen sich eine Volksgruppe auf diese Weise isolieren konnte. Waren sie von der Industriegesellschaft durch irgendeinen Umstand übersehen worden, oder verteidigten sie aktiv ihre naturverbundene Lebensweise? »Die sehen doch eigentlich ganz zufrieden aus«, stellte er schließlich fest. »Warum brauchen sie Hilfe?«

»Bodenschätze.« Der Mann hatte jede einzelne Silbe betont und verlieh dem Wort damit eine Schwere, die es zur Antwort auf alle Missstände der menschlichen Gesellschaft machte. »In den Niyamgiri-Bergen gibt es Bauxit. Das braucht man für die Produktion von Aluminium. Es soll ein riesiges Bergwerk entstehen, das den Urwald kaputt macht und den Dongria Kondh die Lebensgrundlage zerstört. Deshalb helfen wir ihnen, und deshalb sind alle in Gefahr, die das Bergwerk-Projekt gefährden.« Er drehte sich wieder zu den Fotos mit den getöteten Kämpfern. »Die Regierung des Distrikts will das Projekt, um sich gemeinsam mit dem Bergwerkkonzern auf Kosten der Dongria zu bereichern. Die Toten auf den Bildern gehören zu einer Gruppe, die das verhindern will. Sie haben sich mit mächtigen Gegnern angelegt.«

»Indien ist eine Demokratie«, wandte David ein. »Es gibt Zeitungen und das Internet.«

Resigniert hob der Mann die Schultern. »Wir haben die Bilder an die größten Zeitungen geschickt, aber keine wollte die Story veröffentlichen. Klar, wir posten die Bilder auf unserer Website und in den sozialen Netzwerken, und wir machen in Ausstellungen wie dieser hier auf die Dongria Kondh aufmerksam. Aber um wirklich Druck auszuüben, bräuchten wir prominente Unterstützung, Regierungsvertreter, Popmusiker, Filmstars vielleicht. Die Sache ist bisher nicht groß genug.«

David überlegte. Er war kein Filmstar, aber die Geschichte selbst hatte eindeutig das Potenzial, viele Menschen zu fesseln. Menschen, die seine Reportage lesen würden. »Wie heißt du?«, fragte er.

»Ich bin der Andi, und du?«

»David. David Waldau. Vielleicht kann ich euch helfen.«

»Echt jetzt?« Zum ersten Mal hob Andi seine Augenlider, um David überrascht anzusehen. »Wie willst du das denn machen?«

»Ich bin freier Journalist. Ich veröffentliche Reportagen in verschiedenen Printmedien und Online-Nachrichtenkanälen. Ich würde gerne über euch und die Dongria Kondh schreiben. Aber dafür muss ich dorthin, nach Indien. Kannst du mir einen Kontakt nennen, jemanden, der sich dort auskennt? Habt ihr dort einen Treffpunkt, ein Büro oder etwas Ähnliches?«

»Wir haben eine lokale Gruppe in Bhubaneswar. Von dort aus fahren wir mit Autos in das Niyamgiri-Gebiet und übernachten bei den Dongria, wenn es nötig ist. Die E-Mail-Adresse und die Telefonnummer vom Büro stehen auf unserem Flyer. Frag am besten nach Laura Bergmann.« Andi überreichte David ein Flugblatt. Es bestand aus einem beidseitig bunt bedruckten DIN-A4-Blatt, das dreimal gefaltet war und in Bildern und kurzen Texten das Schicksal der Dongria Kondh beschrieb. Die Kontaktdaten von Human Dignity International waren im Impressum verzeichnet.

»Vielen Dank, du hörst von mir.« Während David Andi die Hand schüttelte, dachte er an seinen Termin im Verlag. Die morgendliche Aufbruchsstimmung hatte ihn nicht getäuscht. Diese Geschichte war gut, und sie war noch unentdeckt. Alle Zutaten waren vorhanden, warteten auf ihn in der indischen Provinz, und David würde sie zusammensuchen, würde unpassende oder fragwürdige Informationen verwerfen, die wichtigen Fakten sorgfältig präparieren, aus dem Lebensrecht eines Naturvolks den moralischen Unterbau schaffen, würde das Ganze mit persönlichen Geschichten würzen, die exotische Kulisse als Geschmacksverstärker, würde seine Leser hineinziehen in eine sinnliche und aufrüttelnde Welt, weit entfernt und gleichzeitig emotional berührend. Zuversichtlich verließ David das Zelt und machte sich auf in Richtung Berlin-Mitte.

Kapitel 3

Siebentausend Kilometer entfernt sprang eine junge Frau mit dem Kopf voran in einen Hotelpool. Sie stieß sich aus dem Stand ab, reckte die Arme nach vorne und zerriss die vollkommen glatte Wasseroberfläche, als sie eintauchte. Mit durchgedrücktem Rücken beschrieb sie anschließend einen anmutigen Bogen unter Wasser, während Wasserbläschen um ihren makellosen Körper sprudelten. Es war ein sonniger Tag in Bhubaneswar, der Hauptstadt des indischen Bezirks Odisha. Sonnenstrahlen fielen durch das klare Wasser auf die bronzefarbene Haut der Schwimmerin, so als erkundeten Lichtfinger die Perfektion ihres Körpers. Sie tauchte auf. Ihre schwarzen Haare schmiegten sich nass und glänzend um ein Gesicht, dessen jugendliche Schönheit vollkommen mit der Umgebung harmonierte.

Der Pool, den sie nun mit eleganten Armzügen durchschwamm, verband die überdachte, halboffene Terrasse einer luxuriösen Hotelsuite mit dem Außenbereich. Dieser präsentierte sich als Dschungellandschaft, in der Farne, Palmen und Hibiskussträucher wuchsen, dezent beleuchtet von versteckten Lichtquellen. Wasserläufe plätscherten Felskaskaden herunter, dazwischen standen Skulpturen hinduistischer Gottheiten und Steinelefanten, die aus ihren nach oben gereckten Rüsseln im Sonnenlicht glitzernde Wasserbögen spritzten.

Unter dem Terrassendach, das von strahlend weiß gestrichenen Säulen gehalten wurde, gruppierten sich im Halbkreis um den Pool herum Sitzgruppen aus weißem Bast. Sie waren mit lachsfarbenen Kissen belegt und reihten sich um niedrige Tische. In der Mitte des Pools und damit gleichzeitig im Zentrum des Arrangements befand sich ein mehrstöckiger Brunnen, der an vier Seiten von marmornen Meerjungfrauen gehalten wurde. Sie lagen aufgestützt auf der Seite, schuppige Schwanzflossen und nackte Brüste zur Schau stellend, und zeigten ein ewig frivoles steinernes Lächeln.

Die Frau im Pool war nicht die einzige Anwesende. Um einen der niedrigen Terrassentische herum saßen vier Personen, eine Frau und drei Männer. Einer von ihnen war Amarjeet Chakrabarti, ein stämmiger, kleingewachsener Mann, dessen Oberlippenbart genauso struppig und dunkel war wie seine Augenbrauen. Mit einem Silberlöffel häufte er Joghurtsoße auf ein Stück Chapati-Brot, stopfte es in seinen Mund und blickte zufrieden kauend in die Runde. Er saß breitbeinig auf der flachen Sitzbank. Sein runder, harter Bauch wölbte sich zwischen seinen Knien unter einem weißen Hemd, das er über einer ebenfalls weißen Stoffhose trug. Als Einziger schien er bequem zu sitzen und wirkte vollkommen entspannt.

Sein Gegenüber war ein gutes Stück größer und hatte Mühe, seine Beine zwischen Sitzbank und Tisch zu platzieren, ohne Knie- und Hüftgelenke zu verdrehen. Er trug einen grauen Anzug im englischen Stil, hieß Oscar Martin und aß ebenfalls von dem weichen indischen Brot. Er hatte es wie ein Toast mit dem Yoghurt-Kräuter-Dip dünn bestrichen und biss nun vorsichtig von einer Ecke ab, so als fürchte er die beißende Schärfe einer im Brot verborgenen Chilipaste.

An seiner rechten Seite saß Jessica Baker, eine schlanke Blondine im Businesskostüm. Sie hatte das Fladenbrot verschmäht und stattdessen von verschiedenen frittierten Gemüse-Canapés gekostet, die als Teil der Vorspeisenvariation in kleinen Porzellanschalen serviert worden waren. Nun saß sie zurückgelehnt, ihre gebräunten Beine übereinandergeschlagen auf dem niedrigen Sitzmöbel und beobachtete die Männer mit einem Gesichtsausdruck, aus dem Interesse, aber auch Ungeduld sprach.

Der Vierte in der Runde war ein junger Mann, der sich weder an der Unterhaltung noch am Essen beteiligte. Er trug Jeans und ein auffälliges gelbes T-Shirt, das sich über einen muskulösen Oberkörper spannte. Das hervorstechendste Merkmal war sein Gesicht, oder besser das, was man davon nicht sah. Die obere Gesichtshälfte wurde von über Stirn und Schläfen hängenden Haaren verdeckt, während auf Wangen und Kinn ein dichter schwarzer Bart wucherte. Das wenige, was der Haarwuchs nicht verdeckte, verschwand unter einer dunklen Sonnenbrille mit tropfenförmigen Gläsern. Niemand hatte ihn vorgestellt, doch die Tatsache, dass er sich hin und wieder verstohlen mit Amarjeet Chakrabarti beriet, wies ihn als seinen Assistenten aus.

Jeder der Anwesenden hatte einen dickwandigen Sektkelch vor sich stehen, gefüllt aus einer übergroßen Champagnerflasche, die abseits in einem großen Eiskübel ruhte. Amarjeet schluckte einen Chapati-Bissen herunter und griff nach seinem Glas, um es demonstrativ nach oben zu halten. »Cheers, meine Freunde!« Der Inder sprach flüssiges Englisch, jedoch schnell und in schwer verständlicher Betonung. »Das sind großartige Dinge, die wir gemeinsam erreichen. Die Schätze meines und die Technologie Ihres Landes verbinden sich zum Nutzen aller. Lasst uns darauf unser Glas erheben.« Amarjeet ließ den Rand des Champagnerkelchs unter seinem buschigen Schnauzbart verschwinden und schlürfte seinen Inhalt. Die anderen hoben ebenfalls ihre kristallenen Gläser.

Oscar trank einen kleinen Schluck, während er sein Gegenüber nachdenklich betrachtete. Was sollte diese verfrühte Euphorie? Noch waren keine Verträge unterzeichnet, noch gab es nicht mehr als vage Absichtserklärungen. Amarjeet Chakrabarti war der Gouverneur des hiesigen Bundesstaats Odisha, und Oscars Partner hatten ihn als Schlüsselperson für die Vergabe von Schürfrechten eingeführt. Doch statt Konditionen zu verhandeln und die nächsten Schritte zu planen, hatte er ausschweifend über Nebensächlichkeiten schwadroniert, über Hindutempel, Bräuche und Essgewohnheiten der lokalen Bevölkerung.

Wann kam er zur Sache? Breitbeinig und schmerbäuchig saß er da, in seinem hochgeschlossenen weißen Hemd, aus dessen Kragen und Ärmelaufschlägen schwarze Haare sprossen. Eine Goldkette hing schwer und aufdringlich über seiner Brust. »Herr Chakrabarti«, sagte Oscar, während er das Glas zurück auf den Tisch stellte. »Die Raffinerie ist kurz vor der Fertigstellung. Mit der Errichtung des Bergwerks können wir jederzeit beginnen, sobald wir uns über die Konditionen einig sind. Sie sagten, dass Sie für die Sicherheit garantieren können? Wir sind auf einen reibungslosen Betrieb angewiesen, denn unsere Kunden erwarten Liefertreue.«

»War das Wasser erfrischend, meine Süße?« Die Frage Amarjeets richtete sich nicht an Oscar, sondern an die junge Schwimmerin. Sie hatte den Pool verlassen und war von hinten an den schwergewichtigen Inder herangetreten, um ihm die Hand auf die Schulter zu legen und einen Kuss auf die Wange zu hauchen. »Zieh dich um, ich komme nachher zu dir. Vorher habe ich noch etwas mit meinen Freunden zu besprechen.« Die Dame lächelte kurz in die Runde, warf ein hauchdünnes Tuch über ihren äußerst knappen Bikini und schritt schließlich in Richtung Hoteleingang. »Sie ist wirklich ein bezauberndes Mädchen«, stellte Amarjeet zufrieden fest und leerte den Rest seines Champagners.

Oscar starrte der jungen Frau konsterniert hinterher, räusperte sich schließlich und richtete sein Wort wieder an Amarjeet. »Sicherheit ist entscheidend für unser gemeinsames Vorhaben, mehr als alles andere. Für Clark Fork Mining ist diese Unternehmung der Schlüssel, um in die Top Ten der Rohstoffkonzerne aufzuschließen. Wir müssen absolut sicher sein, dass die Investition in Ihrem Einflussbereich ungefährdet ist.« Er warf einen Blick auf seine Kollegin, die die Szenerie kommentarlos beobachtete. »Wird die lokale Bevölkerung angemessen entschädigt? Ich lese immer noch von Protesten.«

Amarjeet wischte sich ausführlich den Mund mit einer dicken Stoffserviette. Er setzte sich zurück und legte seine kurzen, aber muskulösen Arme zu beiden Seiten ausgestreckt auf die Lehne. »Für die Dongria ist das Bergwerk und die Raffinerie eine einmalige Chance«, sagte er schließlich. »Zum ersten Mal in ihrem Leben werden sie in festen Häusern wohnen, mit Wasseranschluss und Elektrizität. Sie werden ihren Hüttendörfern nicht lange hinterhertrauern.« Amarjeet warf einen Blick in Richtung Hoteleingang. Der Hauptgang würde bald serviert werden.

»Einige NGOs sehen das anders.« Jessica Baker, die seit der ersten Begrüßungsrunde geschwiegen hatte, schaltete sich mit klarer Stimme ins Gespräch ein. »Die Aktivisten sind gut organisiert und mit einigen der Dongria-Anführer exzellent vernetzt. Sie wollen das Bergwerk verhindern, und sobald sie damit an die Öffentlichkeit gehen, werden ihnen die Medien in den westlichen Ländern aus der Hand fressen. Wie wollen wir mit dieser Situation umgehen?«

Zum ersten Mal während der Unterhaltung schwächte sich das Lächeln in Amarjeets Gesicht ab, und sein Schnauzbart zuckte unwillig. Er wechselte einen schnellen Blick mit dem Sonnenbrillenträger, dann fixierte er Jessica, schließlich Oscar. Konnte dieser schmächtige Typ tatsächlich ein wichtiger Entscheidungsträger des Rohstoffkonzerns sein? Er war so fleischlos und sehnig wie die Feldarbeiter, die die Ländereien seiner Familie bewirtschafteten. Als Kind hatte er sie oft aus der Ferne beobachtet, wie sie vor ihren Baracken auf dem staubigen Boden saßen und mit Brotfetzen Linsenreste aus ihren Metallschüsseln wischten. Sie hatten genauso sonnenverbrannte Gesichter gehabt wie dieser Oscar Martin. Sein Gesicht war so verhärmt, dass sich die Kiefermuskeln deutlich sichtbar unter der Haut abzeichneten. Die große Nase, die aus dem schmalen Gesicht wuchs, wirkte wie der Schnabel eines Raubvogels.

Es war jedoch vor allem die offensichtliche Unsicherheit seines Geschäftspartners, die Amarjeet störte. Was sollte dieses unablässige Ansprechen von möglichen Problemen, die noch gar nicht aufgetreten waren? Sie würden die Hindernisse aus dem Weg räumen, so wie sie es immer taten. Und wer war eigentlich diese Frau, die er mitgebracht hatte? Als Public Relations Managerin war sie ihm vorgestellt worden. Trieb es Oscar Martin mit ihr? Schlecht sah sie ja nicht aus, aber wer wollte schon etwas von einer Frau, die sich ungefragt in eine geschäftliche Unterhaltung einmischte? Vermutlich handelte es sich um eine dieser amerikanischen Feministinnen, von denen er gelesen hatte. Offenkundig mussten diese Amerikaner noch lernen, wie die Dinge hier gehandhabt wurden. »Um die NGOs werden wir uns kümmern. Zunächst mal werden sie bald keine Büros mehr haben. Den Vertrag von Human Dignity International haben wir schon gekündigt, die anderen werden folgen.«

»Ihr Einfluss hängt nicht so sehr an ihrer lokalen Präsenz«, erwiderte Jessica. »Sie sind vor allem in den sozialen Netzwerken zuhause. Wissen Sie, was Human Dignity International allein über Instagram für eine Reichweite hat? Fast sechshunderttausend Follower.« Jessica hielt dem Blick Amarjeets stand, der sie mit zusammengekniffenen Augen, aber immerhin mit einigem Interesse ansah. »Sie sind damit kampagnenfähig und können die öffentliche Meinung bis zu einem gewissen Grad beeinflussen.«

»Und?« Amarjeet hob beide Arme an, die Handflächen nach oben weisend, so als würde er bei einer Flughafenkontrolle abgetastet. »Es wird immer viel geschrieben, egal ob in der Presse oder im Internet. Die Leute regen sich heute über etwas auf, morgen ist es etwas anderes. Dabei entwickeln wir unser Geschäft, bauen unsere Bergwerke und Raffinerien, Schritt für Schritt, bis es kein Zurück mehr gibt. »Miss Baker«, raunte Amarjeet, der sich nun zu Jessica nach vorn beugte und seine Hände wie zu einer Gebetshaltung zusammenführte, »entweder wir gestalten unser Schicksal oder wir stehen am Rand und schauen zu.«

Jessica nahm nun auch einen Schluck aus ihrem Champagnerglas, dann lächelte sie Amarjeet freundlich an. »Ich freue mich über die Leidenschaft, mit der Sie unsere Sache vorantreiben. Aber mit der öffentlichen Meinung ist es so eine Sache. Sie kann Druck entfalten, der unser Projekt verzögern, vielleicht sogar verhindern kann. Stellen Sie sich folgendes vor …« Während sie sprach, wich Jessicas Oberkörper in einer geschmeidigen Bewegung einem Kellner aus, der begonnen hatte, die Reste der Vorspeise abzuräumen. »Die NGOs schaffen es, die Dongria und unsere Pläne mehr und mehr bekannt zu machen. Große Fernsehsender springen darauf an, Politiker linker Parteien nutzen das Thema, um sich zu profilieren. Human Dignity International wird zu Fernsehsendungen eingeladen, was ihr weitere Reputation einbringt. Die Kampagne verselbständigt sich.«

Oscar saß aufgerichtet auf seiner Sitzbank und verfolgte die Diskussion zwischen Amarjeet und Jessica konzentriert und mit unbewegtem Gesichtsausdruck. Der muskulöse Inder im gelben T-Shirt, der seine Sonnenbrille nicht abgesetzt hatte, konzentrierte sich auf seinen Sektkelch, in den der Kellner gerade nachschenkte. Jessica blickte kurz in die Runde und fuhr fort.

»Aufmerksamkeit ist eine Währung. Von dieser Währung leben nicht nur Presse, Fernsehen und Internet-Blogger, sondern auch die NGOs. Was glauben Sie, wie viele Menschen sich plötzlich in den Niyamgiri-Bergen herumtreiben würden? Waren Sie schon mal an einem Ort, der bei Instagram als Geheimtipp für exotische Schauplätze trendet? Wenn die Dongria Kondh erst einmal mitbekommen, wie viel Geld diese Leute in den Dschungel tragen, können wir den Bauxit-Abbau vergessen.«

Für einen Augenblick sagte niemand etwas. Amarjeet hatte sich wieder zurückgelehnt und schien nachzudenken. »Schön, Sie meinen also, es reicht nicht, diese NGO-Leute aus der Gegend zu vertreiben. Was schlagen Sie vor?«

»Die Dongria Kondh sind der Schlüssel.« Es war Oscar, der sich anstelle von Jessica in die Unterhaltung eingeschaltet hatte. »Sie sind es, die wir auf unsere Seite ziehen müssen. Human Dignity International will sie als Opfer idealisieren. Machen wir sie zu unseren Partnern. Zeigen wir ihnen, dass sie profitieren. Sie werden die kultische Verehrung ihrer Berge schnell vergessen.«

»Sie werden ihre Berge mehr anbeten denn je, wenn sie erst erkannt haben, welche Schätze in ihnen schlummern.« Amarjeet hatte wieder zu seinem zufriedenen Lächeln zurückgefunden und nickte wohlwollend dem Kellner zu, der jedem der vier Anwesenden einen Teller servierte. Darauf lag zwischen Gemüsestreifen und grünlichen Zweigen je ein großer, dampfender Fisch. Er roch würzig nach Koriander und Zwiebel, untermalt von einem frischen Zitrusaroma. Die Fische waren mit einer rötlichen Kruste umhüllt und im Ganzen gebraten, komplett mit Flossen und Kopf. Einzig der Kiefer war halbkreisförmig herausgeschnitten worden. Die Einbuchtung wirkte wie ein neues, grinsendes Riesenfischmaul, so als verspotteten die Fische noch auf dem Teller liegend ihr Schicksal.

Amarjeet musterte die Fischmahlzeit vor ihm. »Ah, Karimeen-Fisch«, sagte er in fast liebevollem Tonfall, bevor er aufsah. »Human Dignity International und die anderen NGOs werden sich lächerlich machen, wenn sie für die Rettung eines Bergvolkes kämpfen, das nicht gerettet werden will.« Mit diesen Worten ergriff er Messer und Gabel und begann, mit Bewegungen, die für einen Mann seiner klobigen Gestalt filigran wirkten, die Würzkruste von seinem Fisch abzuheben.

»Wir brauchen eine Liste von Kontaktpersonen, die Einfluss bei den Dongria Kondh haben«, nahm Jessica den Faden auf. »Wenn wir ihre Anführer überzeugt haben, wird der Rest ein Kinderspiel«. Auch Jessica widmete sich nun ihrem Hauptgericht.

Oscar Martin beäugte argwöhnisch den Bratfisch auf seinem Teller. So einfach war das? Jessica hatte in diesem Punkt gute Arbeit geleistet. Es war besser, diesen Weltverbesserern den Wind aus den Segeln zu nehmen als sie mit offenem Visier zu bekämpfen. Aber das Problem waren nicht Informationsstände in den Fußgängerzonen westlicher Städte, die die Rohstoffindustrie diskreditierten. Auch keine Rucksacktouristen, die in ihr Abbaugebiet eindrangen. Das Problem war, dass einer seiner Mitarbeiter verschwunden war.

Entführt oder getötet, wer wusste das schon, er war einfach nicht mehr aufgetaucht. Verstand Herr Chakrabarti eigentlich, was das bedeutete? Wie konnte er ein solches milliardenschweres Projekt derart unbekümmert betrachten? Welche Fähigkeiten die Leute hier auch immer in einflussreiche politische Ämter führten, Weitsicht und ein kluges Risikomanagement waren es jedenfalls nicht.

Nachdenklich schob sich Oscar ein Stück Karimeen-Filet in den Mund. Zunächst schmeckte er das zarte Fischfleisch, salzig und angenehm, vermischt mit dem exotischen Geschmack einer indischen Currymischung. Doch nach nur wenigen Augenblicken war es, als habe er Batteriesäure geschluckt. Zunge und Gaumen brannten. Ein plötzlich und stark einsetzender Speichelfluss zwang ihn, den scharfen Fischbrei herunterzuwürgen, wo er weitere Bereiche seines Rachens in Brand setzte. Während an seiner Stirn erste Schweißperlen erschienen, wurde ihm bewusst, dass er geistesabwesend den Fisch zusammen mit der Kruste gegessen hatte. Eine Kruste, die zum größten Teil aus kleingehackten Chilischoten bestand. Durch halb geöffnete Lippen sog er Luft ein, um den brennenden Schmerz im Mund zu kühlen, und griff nach seinem Wasserglas.

»Haben Ihre Ermittlungsbehörden schon Erkenntnisse zum Verschwinden meines Mitarbeiters? Sie wissen schon, Bob Mason, er leitete die geologischen Untersuchungen oben in den Bergen. Es ist gerade zwei Tage her, dass er verschwunden ist.«

»Ja, ich habe von dem Fall gehört. Wir haben sofort umfangreiche Maßnahmen eingeleitet, um den Fall zu klären. Möglicherweise eine Entführung durch kriminelle Banden, so etwas kommt gelegentlich vor. Meist lassen sie ihre Opfer nach kurzer Zeit wieder frei.«

»Wenn es eine Entführung war, sollte es eine Lösegeldforderung geben«, warf Oscar ein. »Weder Clark Fork Mining noch Herrn Masons Angehörige wurden kontaktiert. Wir haben mit seiner Exfrau gesprochen. Sie hat seit seiner Abreise nach Bhubaneswar nichts mehr von ihm gehört. Allerdings schien sie sich keine großen Sorgen um ihn zu machen.«

Er räusperte sich und trank einen Schluck Wasser, um die letzten Chilireste aus seinem immer noch brennenden Mundraum zu spülen. »Wir wissen, dass nicht nur Kriminelle in der Gegend aktiv sind. Es gibt die Adivasi People Liberation Front, eine politisch motivierte Gruppe von Maoisten, die aus den Niyamgiri-Bergen heraus agiert. Wäre es möglich, dass sich die APLF dem Kampf gegen den Bauxit-Abbau angeschlossen und meinen Mitarbeiter auf dem Gewissen hat?«

Amarjeet hatte seinen Karimeen-Fisch inzwischen vollständig verspeist und nur ein makellos präpariertes Grätenskelett übriggelassen. Er tauschte einen kurzen, aber eindringlichen Blick mit seinem Begleiter aus, der still und aufmerksam die Unterhaltung verfolgte. »Naxaliten-Gruppen wie die APLF sind lange besiegt«, ließ Amarjeet schließlich wissen. Seit Ende der Siebzigerjahre gibt es keine nennenswerten Aktivitäten von Maoisten in Odisha. Heute sind die Rebellen ein Mythos. Ein paar übermütige Jugendliche, die gerne mit den Sicherheitsorganen Katz-und-Maus spielen. Sie haben weder eine Organisationsstruktur noch Waffen in nennenswerter Zahl. Wir behalten sie im Auge. Um die Rädelsführer kümmert sich meine Militärpolizei.«

»Die geologischen Untersuchungen stehen vor dem Abschluss«, erwiderte Oscar, dessen Gesichtszüge sich entspannt hatten. »Wir werden mit der Errichtung der Förderanlagen in etwa acht Wochen beginnen. Vorausgesetzt, es gibt bis dahin keine weiteren Vorfälle mehr.«

»Sie haben mein Wort. Ich garantiere für Sicherheit. Wenn die Förderkette steht, bekomme ich die Hälfte des Gewinns. Das ist meine Bedingung.«

Amarjeet dachte an seine Familie, zuhause in Kalkutta. Seine Frau, ihre runden, auch nach all den Jahren anziehenden Hüften, die vollen Brüste, ihr makelloses Gesicht. Seine vier Kinder. Warum hatten es drei Mädchen sein müssen? Sie würden ihn noch ein Vermögen kosten, Geld, dass er benötigte, um Rajesh, seinem einzigen Sohn, die Grundlage für ein würdiges Leben zu finanzieren. Er brauchte diese Bauxitmine mehr, als Oscar ahnte, und er würde weiterhin dafür sorgen, dass nichts und niemand sich dieser Unternehmung in den Weg stellte.

Die Sonne hatte sich auf den Horizont zubewegt. Ihre flachen Strahlen spiegelten sich an der glatten Wasseroberfläche des Pools, dämpften die Kontraste der Umgebung und ließen die Gesichter der Anwesenden rötlich schimmern. Das Dessert wurde serviert, ein aromatisch gewürzter Reispudding. Amarjeet orderte eine Flasche süßen indischen Rum, den er so überschwänglich lobte, dass sich schließlich alle einschenken ließen und von der ungewohnten Spirituose kosteten.

Der durchtrainierte junge Inder im gelben T-Shirt lehnte sich zurück und verschränkte die Hände im Nacken, pralle Bizeps dehnten die Ärmel seines T-Shirts. Er verachtete die Amerikaner. Verweichlichtes Pack. Nun, die Globalisierung brachte es wohl mit sich, dass man auch mit solchen Leuten zusammenarbeiten musste. Konzernmanager hin oder her, er würde dieses merkwürdige Paar im Auge behalten.

Bei Oscar hatte sich eine vorsichtige Zufriedenheit eingestellt. Einige wenige mündliche Zusagen, die Absicht weiterzumachen. Mehr war hier wohl nicht zu erreichen. Was die NGOs betraf, konnte er sich auf Jessicas Geschick verlassen. Die Nachspeise würde er hinter sich bringen, dann durfte er endlich zurück in sein eigenes Hotel. Er würde noch einen Bericht verfassen, seine Partner über die Unterredung informieren.

Jessica betrachtete den Pool und die dahinterliegende Vegetation. Die Schatten der Palmen und Sträucher hatten sich in der untergehenden Sonne zu einer düsteren Kulisse verbunden. Das Poolwasser wirkte dunkel und abweisend wie ein modriger Tümpel. Die Rebellen, ein Mythos?, dachte sie. Oscar hatte sich anscheinend auf die Beschwichtigung eingelassen. Er war einer der intelligentesten Menschen, die sie kannte, analytisch, vorausschauend und anpackend. Doch er irrte sich: Diese Operation würde er nicht kontrollieren können. Hatten sie eine Ahnung, mit wem sie hier Geschäfte machten? Was wussten sie schon über die Motive Amarjeets, über seine Verbindungen, darüber, was in seinem Einflussbereich vor sich ging? Was auch immer Bob Mason widerfahren war – sie waren dem näher, als ihnen lieb sein konnte.

Aus unsichtbaren Lautsprechern erklang elektronische Musik, langsam und rhythmisch. Sie war schon vorher dagewesen, hatte sich leise im Hintergrund versteckt und war nun lauter gestellt worden. Auch die Lichter wurden bunter und schufen eine Atmosphäre wie auf einer Cocktailparty. Die vier Gesprächsteilnehmer saßen beisammen wie eine Gesellschaft von Urlaubern, doch das Gespräch war verstummt.

Kapitel 4

Etwa vierhundert Kilometer entfernt im Landesinneren lief sie mit schnellen Schritten keuchend durch den unberührten Urwald, der die Niyamgiri-Hügelkette im Distrikt Kalahandi säumt. Sie folgte wie von unsichtbarer Hand geführt einem kaum erkennbaren Pfad und wich dabei geschickt Ästen und Felssteinen aus, so als erspürte sie den Weg zu ihrem Bau. Trotz des schweren Gepäcks, das sie trug, war sie glücklich.

Es hatte schwere Zeiten gegeben, sie erinnerte sich genau. Sie und ihre Schwestern waren oft ausgeschwärmt und mit kaum mehr als ein paar Vogeleiern und mageren Füchsen zurückgekehrt. Doch etwas hatte sich geändert. Menschen waren gekommen. Fremde, die nach Zigaretten rochen und sich in großen Gruppen durch ihre Reviere bewegten. Sie waren unaufmerksam und leicht zu überraschen.

Der Geruch wurde stärker, der Geruch ihrer Schwestern. Ein betörender Geruch, in dem sie sich einhüllen, in dem sie baden wollte. Bald würde sie zuhause sein. Schon hörte sie das Atmen der anderen, das leise Rascheln der Gräser, durch die sie sich bewegten. Es war bereits dunkel, und sie alle würden nun heimkehren. Sie erreichte die Höhle und schlüpfe hinein, ihre Last durch den schmalen Eingang hinter sich herschleifend.

Ein wohliges Gefühl durchfuhr sie, und als sie sich an den Körpern ihrer Schwestern vorbeidrückte, wollte sie vor Glück zerfließen. Doch erst würde sie ihr Geschenk abliefern. Sie bahnte sich einen Weg zu den hinteren Räumen, wo sich die Schöpferin aufhielt. Sie nahm das Geschenk hoch und trug es auf ihren nach vorne gestreckten Armen. Sie bückte sich und trat ein, bückte sich noch mehr, bis ihre Zähne fast den Boden berührten, das Geschenk zur Schöpferin emporstreckend. Als diese sich zu ihr beugte und den schlaffen Leib entgegennahm, durchflutete Glückseligkeit ihren Körper wie ein Jubeln von Millionen Sinneszellen.

Kapitel 5

Organisch. Es war das erste Wort, das David Waldau einfiel, um den Verkehr in Indien zu beschreiben. Seit er das Flughafengebäude verlassen und in ein Taxi gestiegen war, schaute er aus dem Fenster und beobachtete fasziniert, was auf den Straßen Bhubaneswars vor sich ging. Hatte er sich im Flughafen noch durch ein modern gestaltetes, geordnetes und klimatisiertes Areal bewegt, war er durch die großen Flügeltüren hindurch in eine andere Welt getreten.

Auf den ersten, flüchtigen Blick hätte man den Verkehr als chaotisch bezeichnen können. Doch das war er nicht. Zwar gab es offenbar keinerlei Regeln, doch die Ströme aus unterschiedlichsten Vehikeln schienen einer emergenten Ordnung zu gehorchen. Sie bewegten sich wie Wasseradern durch das Straßengewirr, vereinigten sich, verzweigten, fuhren ineinander und durchdrangen sich gegenseitig, ohne dass es zu Kollisionen kam. Wie Gnuherden, die sich auf natürlichen Pfaden durch die Savanne wälzten. Tatsächlich hatte David neben unzähligen Autos und Bussen, Motorrollern, Tuk-Tuks und Fahrrad-Rikschas auch einige unbegleitete Kühe gesehen, die ihren eigenen rätselhaften Wegen folgten.