Die Schatten im Wald - Thomas King - E-Book

Die Schatten im Wald E-Book

Thomas King

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  • Herausgeber: Piper ebooks
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2021
Beschreibung

Im Leben von Thumps DreadfulWater lief es auch schon mal besser: Seine Freundin braucht eine Pause, ein Bekannter fährt sein Auto zu Schrott, und sein Kater zieht kurzerhand zu den Nachbarn. Ablenkung tut Not! Wie gut, dass das Team einer TV-Show, die sich mit ungereimten Todesfällen befasst, einen polizeilichen Berater sucht. Vor vielen Jahren stürzte ein junges Mädchen im Wald einen steilen Abhang hinab – war es ein Unfall, Selbstmord oder gar Mord? DreadfulWater hat gerade mit den Ermittlungen begonnen, da stirbt die Produzentin der Show am gleichen Ort auf die gleiche Weise …

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www.piper.de

Für meinen Cousin John und meine Cousine Joanne, die gute Geschichten mit schrulligen Katzen mögen

Übersetzung aus dem kanadischen Englisch von Leena Flegler

© Dead Dog Café Productions Inc., 2018

Titel der englischen Originalausgabe: »A Matter of Malice« bei HarperCollins, Toronto, 2019

© Piper Verlag GmbH, München 2021

Covergestaltung: u1 berlin/Patrizia Di Stefano

Covermotiv: Patrizia Di Stefano unter Verwendung mehrerer Bildmotive von Getty Images

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

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Inhalt

Cover & Impressum

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1

Thumps DreadfulWater stand auf seiner Veranda und blickte hinaus in die Nacht, hoch zu dem funkelnden Sternenbogen. Er sollte nicht wach sein. Er war zeitig ins Bett gegangen und sogar eingeschlafen. Trotzdem war er jetzt hier, stand hellwach und deprimiert in der Dunkelheit und wartete darauf, dass die Dämmerung ihn endlich aufspürte.

Was kein Problem wäre. Er hatte nicht vor, irgendwo hinzugehen.

Für die Pragmatiker markierte der Herbst das Ende von Grillabenden, von Ausflügen zum See und Sonnenbädern im Garten. Für all jene mit Hang zum Philosophischen kamen der kalte Himmel und das verblassende Licht eher einer Metapher fürs Altern und für den Tod gleich.

Oder für etwas vergleichbar Melodramatisches.

Thumps mochte die Jahreszeit eigentlich gern. Die kühlen Abende. Die starken Farben in den Bergen. Endlich keine Stech- und Kriebelmücken mehr. Doch dieser Herbst hatte nicht gut angefangen, und er war sich nicht sicher, ob es in absehbarer Zeit besser werden würde.

Als Erstes war da die Reise nach Seattle gewesen. Claire hatte ihn nicht dabeihaben, sondern mit ihrer Krankheit allein klarkommen wollen. Doch er hatte darauf bestanden. Das hatte sich teils als Fehler erwiesen. Ja, er war während des Behandlungsmarathons für sie da gewesen, hatte sie zum Krankenhaus und wieder zurück in ihr möbliertes Zimmer gefahren und parat gestanden, falls sie reden wollte.

Wollte sie aber nicht.

Die OP war an sich gut verlaufen, doch die Chemo war anstrengend. Thumps sah sich genötigt mitanzusehen, wie die Frau, die ihm so wichtig war, im Bad oder auf dem Sofa nur mehr vor sich hin dämmerte und dem Tod so nahe zu sein schien, dass er sich manchmal nach ihr ausstrecken musste, um sicherzustellen, dass sie noch lebte.

Aber sosehr es ihm zusetzte, Claire leiden zu sehen – die Klinik- und Praxisaufenthalte waren noch schlimmer. Thumps hatte keinen Schimmer, ob er die Gesichter der Leute je vergessen würde, die in den Wartezimmern saßen, auf den Fluren auf und ab tigerten oder in Betten und auf Rollbahren lagen, die auf dem Gang geparkt waren wie zu einer Beerdigungsprozession – Menschen, deren Leben vorbei und doch noch nicht vollends vorbei war. Menschen, die genau wussten, dass es keine Hoffnung mehr gab, die aber trotzdem weiter hofften, weil es das Einzige war, was blieb.

Er versuchte, sich einzureden, dass Claire keins dieser wandelnden Gespenster sein würde, dass sie sich wieder erholen und der Schlachtbank gesund und unversehrt den Rücken kehren würde.

Im Lauf zweier Monate sprachen sie mit zig Ärzten, und jeder einzelne betonte, welche Fortschritte die medizinische Forschung im Kampf gegen den Krebs machte. Gegen Ende brachte Thumps die Frage auf, inwieweit Ernährung und Umwelt Auslöser der Krankheit sein mochten. Die medizinische Bruderschaft zuckte bloß mit den Schultern und zückte Flyer für neue Medikamente und neuartige Behandlungsmethoden, die vielversprechende Ergebnisse geliefert hatten.

»Wenn wir Haie wären«, scherzte einer der jüngeren Ärzte, »wäre der Krebs für uns gar kein Problem.«

Thumps und Claire lachten darüber – nicht weil es lustig gewesen wäre, sondern weil sie dringend etwas gebraucht hatten, worüber sie lachen konnten.

Zum Zweiten hatte Thumps seinen Volvo an Cooley Small Elk verliehen, und Cooley hatte einen Unfall gehabt. Irgendein Typ war über Rot gefahren und in ihn reingekracht. Roxanne Heavy Runner, die Stammesratsvorsitzende, rief an und erstattete in allen Einzelheiten Bericht.

»Cooley hat sich ein paar Rippen gebrochen und eine Handvoll Schnitte im Gesicht.«

Empathie und Humor waren nicht gerade Roxannes Stärke, aber sie klang tatsächlich ein klein wenig mitfühlend.

»Ihm geht es gut, aber dein Wagen ist Schrott.«

Okay, »mitfühlend« war vielleicht das falsche Wort.

»Ist nicht weiter wild«, fuhr Roxanne fort. »Die Karre war ja uralt.«

Und drittens: Freeway war weg. Thumps hatte seinen Nachbarn gebeten, sich um die Katze zu kümmern. Virgil »Dixie« Kane war selbst Besitzer eines großen Komondors namens Pops, der wie ein Berg Schmutzwäsche aussah. Der Hund hatte ein ernsthaftes Verdauungsproblem. Freeway schien das nicht zu stören, und soweit Thumps es beurteilen konnte, war Pops Freeways einziger Freund.

Zwei Wochen nachdem Thumps mit Claire nach Seattle gefahren war, war Freeway verschwunden.

»Ich bin davon ausgegangen, dass die Katze wieder heimkommt, sobald sie Hunger kriegt«, berichtete Dixie, »aber das ist nicht passiert.«

Die naheliegende Erklärung war, dass Freeway gestorben war – von einem Auto überfahren oder von einem Kojoten gefressen.

»Ich würde noch nicht aufgeben«, hatte sein Nachbar gesagt. »Bei Katzen weiß man ja nie.«

Thumps suchte den Horizont ab. Nichts. Kein Silberstreif, der Hoffnung machte, dass dort draußen ein Sonnenaufgang lauerte. All das war natürlich Augenwischerei: In einem Moment war es noch pechschwarz, und sobald man nur ganz kurz nicht hinsah, tauchte ein Hauch Röte auf, ein Schwelen, und im nächsten Moment war wie von Zauberhand der Himmel erleuchtet.

Claire schlief bestimmt noch. Er hatte versucht, sie zu überreden, bei ihm zu bleiben, nur bis sie wieder bei Kräften wäre, aber sie hatte bei sich zu Hause im Reservat sein wollen.

Allein. Das hatte sie deutlich gemacht. Allein.

Thumps lehnte sich ans Geländer und überlegte, was er heute tun müsste. Da war die Sache mit dem Auto. Er musste herausfinden, wohin sie es verfrachtet hatten. Und er musste mit Dolores Cardoza von Chinook Insurance über den Unfall reden. Er musste einkaufen. Das Einzige, was er derzeit im Kühlschrank hatte, waren die Kühlschrankböden.

Und dann der Arzttermin bei Beth Mooney. War der heute oder morgen?

Morgen. Der war morgen.

Thumps hatte es sich zur Lebensaufgabe gemacht, um Ärzte einen Bogen zu schlagen, und da war Beth keine Ausnahme. Seit sie beschlossen hatte, er sei Diabetiker, bestand sie auf regelmäßigen Check-ups. Sie hatte ihm kurz vor der Reise nach Seattle Blut abgenommen, und morgen wollte sie mit ihm die Werte besprechen. Thumps war sich sicher, dass alles im grünen Bereich war, trotzdem würde Beth bestimmt weitere Tests machen wollen. Sie würde ihm erneut einen Vortrag über seine Essgewohnheiten halten und ihm – schon wieder – nahelegen, sich den Kurzfilm der American Diabetes Association über die Risiken seiner Erkrankung anzusehen: Erblindung, Organversagen, Amputationen.

Aber so weit würde es nicht kommen. Um sich elend und deprimiert zu fühlen, reichte seine Vorstellungskraft aus.

Und dann war da auch noch die Frage des Frühstücks.

Als Diabetiker musste Thumps seine Mahlzeiten regelmäßig einnehmen. Und weil er nichts zu essen im Haus hatte, musste er sich einen anderen Ort suchen und jemanden, der bereit war, ihm Essen zu machen. Am besten Alvera Couteau. Er würde den Tag im Al’s beginnen und von dort weitersehen.

Thumps nahm seine Canvas-Schultertasche hoch, um sich zu vergewissern, dass er das Blutzuckermessgerät, den Traubenzucker sowie seine Kamera dabeihatte. Er hatte sich die Tasche in Seattle in einem Outlet gekauft. Sie war tatsächlich nützlicher als gedacht – und sie hatte den unverhofften Nebeneffekt, dass er sich damit tough und geheimnisvoll fühlte, als wäre er ein Fotoreporter auf brandgefährlicher Überseemission.

Er ließ den Blick über die Straße schweifen. Vielleicht lungerte die Katze ja in den Büschen oder versteckte sich unter einem parkenden Auto. Dann setzte er sich seinen Hut in einem verwegenen Winkel auf, ließ den Sonnenaufgang Sonnenaufgang sein und machte sich auf den Weg.

2

Das Al’s befand sich zwischen der Fjord Bakery und Sam’s Laundromat und war nicht ganz leicht zu finden. Ein Kneipenschild gab es nicht. Der einzige Hinweis war der Schildkrötenpanzer, den Preston Wagamese neben die Tür geklebt und mit dem Wort »Food« versehen hatte. Das Al’s war ursprünglich eine Gasse gewesen – bis das Chinook Convention Center gebaut worden war, das nun den Durchgang am hinteren Ende versperrte. Die Stadt war damals davon ausgegangen, dass entweder Otto Lunde, dem die Bäckerei gehörte, oder Sam Maloft, der Besitzer des Waschsalons, die Sackgasse kaufen und sein Geschäft erweitern würde.

Doch es war anders gekommen.

Thumps konnte sich nicht erinnern, je zuvor so früh im Al’s gewesen zu sein, und insgeheim rechnete er damit, dass er dort alleine wäre. War er aber nicht. Wutty Young Beaver, Russell Plunkett und Jimmy Monroe waren bereits da und kauerten wie drei Krähen auf einer Stromleitung auf den drei Barhockern direkt vor dem Grillofen an der Eingangstür. An der Wand über Russells Schulter hing ein großes buntes Plakat mit der Aufschrift: »Stoppt die Pipeline!«.

»Hey, Thumps«, rief Wutty, »lange nicht gesehen!«

»Aber gerade rechtzeitig«, sagte Russell.

»Das stimmt«, pflichtete Jimmy ihm bei, »gerade rechtzeitig!«

Es hatte sich gezeigt, dass an der Sackgasse niemand interessiert gewesen war, sie hatte leer gestanden und begann, sich mit Unrat, Bierflaschen und benutzten Kondomen zu füllen. Teenager, die nichts Besseres zu tun hatten, Landstreicher auf der Suche nach einem Schlafplatz und Damen eines gewissen Gewerbes sorgten dafür, dass nur noch vom »Gassenmotel« die Rede war.

Im Nu wurde die Sackgasse zur öffentlichen Peinlichkeit und zum Albtraum des örtlichen Gewerbedezernats. Nach zwei Jahren andauernder Beschwerden von benachbarten Unternehmen bot die Stadtverwaltung die Gasse zu guter Letzt öffentlich zum Verkauf an. Es gab genau ein Angebot. Für einen Dollar wollte Alvera Couteau dort ein Restaurant eröffnen. Die Behörde schlug ein – Hauptsache, es entstand etwas auch nur annähernd Unternehmerisches –, und neun Monate später nahm das Al’s den Betrieb auf.

Im Al’s gab es fantastisches Essen; Einrichtung und Atmosphäre würden eher keinen Preis gewinnen. Es war düster und eng, der Großteil des Raums ging für die Sitznischen aus Pressspan an der Längswand und den langen lindgrünen Resopaltresen drauf, an dem mehrere verchromte, mit rotem Kunstleder bezogene Barhocker standen. Licht fiel lediglich durch das vordere Fenster, und der Dampf, der vom Grill aufstieg, bildete bratfettgeschwängerte Wolken, die wie eine Gewitterfront in der Luft hingen.

Das Al’s stand in keinem Reiseführer, und Touristen, die sich auf der Suche nach touristischen Abenteuern in das Café verirrten, machten in der Regel sofort wieder kehrt.

Russell Plunkett fuchtelte mit seinem Messer wild in Thumps’ Richtung. »Wutty versucht gerade zu schätzen, wie alt Al ist.«

Jimmy Monroe, der neben Russell saß, fing an zu kichern. »Der Mann ist lebensmüde.«

»Al war da ziemlich deutlich.« Nur für den Fall, dass Wutty schwerhörig sein könnte, sprach er lauter weiter: »Wer immer versucht, ihr Alter zu schätzen, isst sein Frühstück das nächste Jahr auf der Shadow Ranch.«

»Der Mann ist lebensmüde«, wiederholte Jimmy.

»Schon«, sagte Wutty, »aber sie meint es nicht ernst.«

Einige Jahre zuvor hatte Wutty versucht, sich über Als neue Nichtraucherregel hinwegzusetzen. Er hatte sich am Tresen eine Zigarette angezündet und getestet, ob Al ihn rauswarf.

Hatte sie nicht.

Stattdessen bediente sie ihn einfach nicht mehr. Keinen Kaffee, kein Essen. Wutty protestierte und tönte, einen hart arbeitenden Mann wie ihn könne sie doch nicht so behandeln, das Café sei eine öffentliche Einrichtung und er Teil dieser Öffentlichkeit.

Es dauerte einen geschlagenen Monat, bis Wutty zu Kreuze kroch, und einen weiteren, ehe Al ihn wieder bediente – und selbst da setzte sie ihm nicht die komplette Portion Hash Browns vor. Und sie füllte seinen Kaffeebecher auch nicht bis zum Rand.

Russell drehte sich zu Wutty um. »Der French Toast auf der Shadow Ranch soll ja ganz reizend sein.«

Der French Toast in der Ranch war tatsächlich reizend. Einige Monate zuvor war Thumps oben gewesen, um mit Vernon Rockland über eine Fotoausstellung zu sprechen. Sie waren zum Frühstück verabredet. Thumps aß Rührei mit Elchwurst und Rockland den French Toast, der auf einer schmalen, rechteckigen Platte mitsamt Erdbeerschnitzen und Heidelbeeren serviert wurde, die wie Blümchen auf dünnen Orangenscheiben drapiert waren. Mit Fruchtpüree-Wirbeln und Minzblättchen als Garnitur. Der Toast an sich war ein ordentliches Mehrkorn und mit Puderzucker bestäubt, und die einzelnen Stücke lehnten in Form eines abstrahierten Tipis aneinander. Thumps wusste noch genau, wie er gedacht hatte, das Ding sehe eher aus wie das Prärieindianer-Schuhkarton-Bastelprojekt eines Grundschülers denn wie eine Mahlzeit.

Al drehte sich vom Grillofen weg. »Na dann.« Sie sah einem nach dem anderen direkt ins Gesicht. »Wer von euch Jungs will anfangen?«

»Zur Hölle, Al«, sagte Wutty, »du weißt, dass ich bloß Spaß gemacht habe.«

Russell legte einen Zehndollarschein auf den Tresen und nahm seinen Hut vom Haken. »Muss zur Arbeit.«

»Ich auch.« Jimmy versuchte, noch vor Russell zur Tür zu kommen.

Thumps hatte damals einen Bissen von Rocklands Frühstück probiert. Der French Toast war trockener gewesen als befürchtet – irgendwie bissfest und trotzdem schlabberig und mit einem leicht fischigen Nachgeschmack, wie er fand. Der Sirup war aber okay gewesen. Echter kanadischer Ahornsirup.

Wutty blieb auf seinem Hocker sitzen, hatte aber sein Handy gezückt und starrte angestrengt auf das Display. Thumps schlenderte weiter Richtung Münzapparat zu seinem Lieblingsplatz.

Al folgte ihm mit der Kaffeekanne. »Was meinst du denn, wie alt ich bin?«

Thumps stützte die Ellbogen auf den Tresen. »Für wie blöd hältst du mich?«

Al schob ihm in eine Serviette gewickeltes Essbesteck hin. »Du bist doch sonst nicht so früh dran.«

»Dachte, ich fange heute mal besonders früh an zu arbeiten.«

»Du arbeitest nicht«, entgegnete Al. »Immer noch Jetlag?«

»Verdammt!« Wutty rutschte von seinem Hocker und hielt sein Handy hoch wie eine weiße Fahne. »Da hat jemand zurückgerufen!« Er ließ einen Fünfer auf dem Tresen liegen und stürmte zur Tür hinaus.

Al sah ihm kopfschüttelnd nach. »Eines Tages muss ich ihn wohl erschießen.«

»Klang, als hätte er einen Job an Land gezogen.«

»Beim Fernsehen«, sagte Al. »Die haben ja keine Ahnung, wen sie sich da einhandeln.«

»Fernsehen?«

»Irgend so eine Realitysache.« Al stellte ihm einen Becher hin und schenkte Kaffee ein. »Ich hab da mal eine Frage. Brauche eine zweite Meinung.«

»Dein Kaffee schmeckt«, sagte Thumps. »Und dein Alter schätze ich nicht.«

»Natürlich schmeckt der Kaffee. Und ich weiß selbst verdammt gut, wie alt ich bin.«

Er nahm einen Schluck. Der Kaffee war kochend heiß und tiefschwarz. »Dann passt ja alles.«

Al lehnte sich mit der Hüfte gegen den Tresen. »Findest du, dass ich knurriger bin, als ich sein dürfte?«

»Ist das die Frage?«

»Das ist die Frage.«

Thumps versuchte, Al anzusehen, ob es sich um eine Fangfrage handelte. »Wie wär’s, wenn ich stattdessen dein Alter schätze?«

»Kennst du Roger Menard?«

»Den Leiter des Gewerbedezernats? Der immer riecht wie ein Wunderbaum?«

»Genau der.« Al zog einen Flyer aus ihrer Schürze. »Dieser Roger hat das hier angeschleppt.«

Auf dem Deckblatt waren ein stilisierter Cowboy und ein stilisierter Indianer zu sehen. Der Cowboy schwenkte seinen Hut über dem Kopf, und der Indianer hatte die Hand zum Hollywood-Klischee-Gruß erhoben.

»Also, Roger erzählt mir, ich sollte mal darüber nachdenken, freundlicher zu sein. Er will, dass ich mich für dieses neue ›Howdy‹-Programm anmelde.«

Thumps konnte die Hash Browns auf dem Grill riechen. Ihm knurrte der Magen. Womöglich brauchte er eine doppelte Portion Toast.

»Menard hat sich hier reingetraut?«

»Nur an die Tür. Hey, ich hab eine neue Soße – schön mit Biss. Willst du die zu den Eiern probieren?«

»Klar.«

»Und willst du gar nicht wissen, was es mit diesem ›Howdy‹-Programm auf sich hat?«

»Nope.«

»Das Gleiche hab ich zu Roger auch gesagt.« Al schlenderte zurück zum Grill.

Thumps entfaltete den Flyer. Darin wurden Stadt und Umgebung in höchsten Tönen gepriesen. »High-Planes-Paradies« war nur einer der Lobestitel, »Western Wonderland« ein weiterer. Beides wurde flankiert vom Versprechen, Chinook sei »fruchtbarer Unternehmerboden«. Es gab eine dreistufige Anleitung, wie Besucher und Touristen willkommen geheißen werden, sowie eine Liste mit Westernvokabeln, die Geschäftsleute in ihren Wortschatz aufnehmen sollten: »skalpieren« statt »über den Tisch ziehen«. »Nuggets« oder »Kopfgeld« statt »Kohle«. »Prärieschoner« statt »Pick-up«. »Howdy, Partner« statt »Kumpel«. »Futter« statt »Essen«.

Als Al mit seinem Frühstück zurückkam, kicherte Thumps noch immer. Sie stellte den Teller vor ihm ab und stemmte die Hände in die Hüften.

»Hier, dein Futter.«

Thumps tippte auf den Flyer. »Ich hab gar kein ›Yihah‹ da drin gefunden.«

»Muss ihnen durchgerutscht sein.« Al neigte den Kopf zur Seite. »Hast du das Ding echt gelesen?«

Thumps legte den Flyer wieder zusammen und hielt ihn hoch. »Schritt eins wäre, dass du zu jedem, der reinkommt, ›Howdy‹ sagst.«

»Howdy – ernsthaft?« Al schnappte sich den Flyer und warf ihn in den Müll.

»Nicht begeistert genug.« Thumps rührte die Soße in sein Rührei. »Du könntest auch mal ein ›Yippie‹ einstreuen.« Er musste sich ein Grinsen verkneifen. »Natürlich nur, wenn dir der Sinn danach steht.«

Das Al’s war im Augenblick leer. Nicht mehr lange, und die Leute würden Schlange stehen, um hier zu essen.

Al lehnte sich gegen den Kassentresen. »Dann erzähl mal von Claire.«

Thumps’ Grinsen war schlagartig wie weggefegt.

»Roxanne meinte, dass sie alles erwischt haben. Aber das sagen die Ärzte ja immer.«

»Es geht ihr gut.«

»Hab dich so bald gar nicht zurückerwartet. Dachte, du würdest erst mal bei ihr bleiben.«

Thumps zog den Kopf ein und hoffte, dass es schnell vorbeiginge.

»Alle machen sich Sorgen.« Al schlenderte zurück zum Grill. »Im Übrigen auch um dich.«

Dass Claire ihn als fahrenden Ritter auf einem weißen Ross und Helden von in Not geratenen Damen betrachtete, hatte er gar nicht erwartet, aber doch, dass seine Bemühungen in Seattle ihre Beziehung stärken würden. Dass sie beide einander näherkämen. Dass sie gemeinsame Sache gegen die Krankheit machen würden. Stattdessen war Claire zusehends von ihm weggedriftet, hatte sich von ihm zurückgezogen und war verstummt.

Thumps hatte versucht, sie festzuhalten, aber der Abstand hatte sich zusehends vergrößert, bis er gar nicht mehr an sie herangekommen war. Er hatte sich eingeredet, sie sei nur deprimiert, der Krebs und die Medikamente seien schuld, und zu Hause würde alles besser werden.

Aber als sie schließlich zurück in Chinook waren, hatte Claire ihn bloß abgesetzt und war allein weitergefahren.

»Warst du schon in diesem neuen Café? Beim Budd’s die Straße runter? In diesem schicken Bistro mit Bio-Espresso und Kaffee mit unterschiedlichen Geschmäckern?«

Thumps blickte auf. »Was?«

»Mirrors«, rief Al über das Zischen des Grills hinweg. »Wer bitte schön nennt sein Café Mirrors?«

Thumps versuchte, mitfühlend auszusehen.

»Und hast du schon mit dem Sheriff gesprochen?«

»Mit Duke?«

»Er hat sich nach dir erkundigt.«

»Weshalb?«

Al fuchtelte mit dem Pfannenheber in seine Richtung. »Keine Ahnung. Aber wenn du ihn siehst, sag schön Howdy von mir – und frag ihn, welches Pferd er an der Stange festbinden will.«

3

Das Gewerbedezernat meinte es mit der Howdy-Kampagne ernst. Rote und gelbe Pelargonien hingen in Ampeln von Straßenlaternen, Szenen aus Pferdeopern wurden auf Schaufenster von Geschäften gepinselt – sogar bei dunklen, leer stehenden –, und die Parkuhren bekamen allesamt einen Howdy-Sticker verpasst, sodass man nicht mehr sehen konnte, wie viel Parkzeit einem noch blieb.

Die Hauptstraße überspannten Banner, auf denen das »Sommer-Powwow Chinook« angekündigt wurde.

Was immer es damit auf sich hatte.

»DreadfulWater!«

Als Thumps sich umdrehte, war Sheriff Duke Hockney mit seinem schwarz-weißen Ford Bronco rechts rangefahren.

»Wurde auch Zeit, dass Sie wieder da sind.«

Um Mode scherte sich Duke nicht. Macy, seine Ehefrau, kaufte für ihn ein, und sie hielt die Dinge gern schlicht: langärmelige Hemden in unauffälligen Farben, dunkelgrüne Twillstoffhosen, bequeme Arbeitsschuhe.

»Stehen Sie jetzt den ganzen Tag hier rum?«

»Ich mache ein Päuschen.«

»Das passiert, wenn man keinen richtigen Job hat«, sagte Hockney und stieg aus dem Wagen.

Heute trug er ein buntes Cowboyhemd mit Druckknöpfen, dazu Bolokrawatte, Lederweste und eine riesige goldglänzende Gürtelschnalle, auf der »Rodeo« stand. Wenn Hockney sich nach vorn beugen würde, schoss es Thumps durch den Kopf, würde die Schnalle ihn in der Mitte zerteilen.

»Ich habe einen Job.«

»Fotografie ist kein Job«, sagte Duke, »sondern ein Hobby. Wie Modellflugzeugbau und Vogelbeobachtung.«

Die Bolokrawatte – mit einer türkis-silberfarbenen Brosche – sah um Dukes Stiernacken irgendwie merkwürdig aus: als wollte jemand mit Zahnseide einen Bären erdrosseln.

»Ermittlungsarbeit – das ist ein echter Job«, fuhr Duke fort. »Und Sie waren früher mal Ermittler.«

Thumps fragte sich, ob er raus ins Reservat fahren und sein Lager auf Claires Fußmatte aufschlagen sollte. Vielleicht war ihr entfallen, dass er sich ihretwegen Gedanken machte, und musste nur daran erinnert werden.

»Steigen Sie ein«, sagte Hockney. »Ich hab was für Sie.«

»In diesem Fall«, entgegnete Thumps, »steig ich ganz gewiss nicht ein.«

»Verdammt, DreadfulWater, ich will Ihnen einen Gefallen tun!«

Der Sheriffstern auf seiner Westenbrust sah aus wie ein Requisit, das John Wayne in Geier kennen kein Erbarmen hätte tragen können. Thumps fragte sich, welche Überraschungen noch in der neuen Garderobe des Sheriffs lauerten. Leder-Chaps? Cowboystiefel? Sporen?

»Ich genieße lieber das Wetter.«

»Es gibt frische Croissants und Espresso.«

Thumps versuchte, seine Fassungslosigkeit zu verhehlen. »Wie konnte das denn passieren?«

Hockney stieg wieder ein und ließ den Bronco anrollen. »Steigen Sie endlich in den Wagen, verdammt.«

Die Fassade des Sheriff’s Office sah im Großen und Ganzen so aus wie zwei Monate zuvor – nur dass jemand ein riesiges handgemaltes Schild mit der Aufschrift »Sheriff« in vergoldeten Lettern angebracht hatte, das Thumps an Rinderauftrieb und Wildwest-Show-Plakate der Jahrhundertwende erinnerte.

»Ist das da eine Pferdestange?«

Duke grummelte leicht bärbeißig in sich hinein, schlug die Tür des Bronco hinter sich zu und marschierte in seine Dienststelle.

Wer auch immer die Fassade umdekoriert hatte, hatte drinnen ebenfalls sein Unwesen getrieben. Rostige Wildfallen, Navajo-Teppiche, ein Gestell mit ausgestopften, zum Flug ansetzenden Enten, ein Ölschinken mit Indianern auf Büffeljagd. An der Wand hinter Dukes Schreibtisch hing ein riesiger Elchkopf.

»Schöner Elch.«

»Geschlagene zwei Monate«, sagte der Sheriff, »und Sie sind immer noch nervig wie eh und je.«

Der Elchkopf war leicht zur Seite geneigt, als hätte das Tier irgendetwas im Wald gehört und würde danach Ausschau halten.

»Wo haben Sie den her?«

»Aus derselben Quelle wie die verdammte Pferdestange.«

Neben Dukes Schreibtisch stand ein Spucknapf aus Messing. Thumps war sich einigermaßen sicher, dass dies hier Hockneys Arbeitsplatz war; trotzdem sah alles eher aus wie ein Westerndeko-Trödelladen.

»Sehen Sie viel fern?«

»Nope.«

»Ich auch nicht«, sagte Duke. »Macy schon. Am allerliebsten Realityshows.« Der Sheriff verpasste sich einen Klaps an die Schläfe, als wollte er eine schlechte Erinnerung aus seinem Gehirn hinausbefördern. »Gestern Abend hat sie mich gezwungen, mit ihr zusammen eine Sendung namens Exhibit A anzusehen – mit diesem indigenen Schauspieler, den Sie so mögen, diesem … Graham … Graham …«

»Greene.«

»Egal. Sie kennen den Spruch ›zuschauen, wie die Farbe von den Wänden blättert‹?«

»So wie ›wenn Männer Sport gucken‹?«

»An Männern beim Sportgucken ist nichts verkehrt.« Duke hielt auf seinen greisen Espressokocher zu, der auf einem Beistelltischchen stand. »Kaffee?«

Thumps wusste nur zu gut, was aus der alten Kanne kam. Er hatte mehrmals den Fehler gemacht, Dukes Kaffee zu kosten.

»Ich kann nirgends Croissants sehen.«

Der Sheriff goss heißen Teer in einen Becher.

»Und auch keinen Espresso.«

»Ich hab nie behauptet, ich hätte Croissants und Espresso hier.«

Auf einem der Aktenschränke entdeckte Thumps eine weiße Papiertüte mit einem Logo, das er noch nie gesehen hatte. Ein tänzelndes Zeichentrick-Eichhörnchen. Über dem Nager stand in Schablonenschrift Skippy’s.

»Hat neulich hier aufgemacht«, erklärte Duke. »Gute Burger – schön dick und saftig.«

»Ich will keinen Burger«, entgegnete Thumps. »Die Rede war von Croissants und Espresso.«

Hockney schüttelte den Kopf. »Was Sie brauchen, ist ein richtiger Job. Der Sie von Ihren Sorgen ablenkt.«

»Von meinen Sorgen?«

Der Sheriff führte den Becher an die Lippen und bewegte den Unterkiefer vor und zurück, als wollte er den Kaffee in mundgerechte Stücke zerbeißen.

»Haben Sie Ihr Auto schon gesehen?«

Thumps wartete auf die Fortsetzung.

»Sie dürften ein neues brauchen.« Der Sheriff räusperte sich. »Schon mal von einer Sendung namens Böse Absichten gehört? Die spielen Cold Cases nach. Macys Lieblingssendung. Und jetzt drehen die eine Folge hier in Chinook.«

»Da wird Macy begeistert sein.«

»Sicher«, sagte der Sheriff. »Und sie wollen, dass jemand den Fall noch mal für sie durchgeht – jemand mit Erfahrung und Ermittlungsroutine. Jemand, der sich mit Polizeiarbeit auskennt.«

»Bin nicht interessiert.«

»Sie dürfen mit Filmstars abhängen. Die servieren da jeden Morgen frische Croissants und haben so eine schicke verchromte Espressomaschine.« Duke hielt kurz inne. »Vielleicht können Sie Claire mit zu den Dreharbeiten nehmen. Sie hinter den Kulissen herumführen. Vielleicht heitert es sie auf.«

»Bin nicht interessiert.«

»Die zahlen auch gut.«

»Warum übernehmen Sie das nicht?«

Der Sheriff verzog das Gesicht. »Die Stadt steht nicht auf Nebenjobs. Das sähe ja aus, als würden sie mir nicht genug bezahlen.«

»Tun sie auch nicht.«

»Außerdem muss ich mich um diese dämliche Howdy-Kampagne des Dezernats kümmern«, fuhr Duke fort. »Was glauben Sie denn, warum ich so etwas anhabe? Was glauben Sie denn, warum es hier in meinem Büro aussieht wie in einem verdammten Streichelzoo?«

»Erklären Sie es mir?«

»Hören Sie. Ich hab gerade die Producerin und ihr Team kennengelernt.« Jetzt lächelte Hockney wieder. Immer ein schlechtes Zeichen. »Was ist schon dabei?«

»Worum genau soll es denn gehen?«

»Genau?«

»Sie haben erwähnt, dass sie Cold Cases nachstellen.«

Duke stieß seinen Becher gegen die Tischkante. Der schwarze Schlamm rührte sich nicht. Der Tisch sehr wohl. »Trudy Samuels.«

Der Name sagte Thumps zunächst nichts. Dann fiel es ihm wieder ein. »Samuels? Wie in Big Sky Oil-Samuels?«

»Genau«, sagte Duke. »Damals war Emmitt Tull hier der Sheriff. Die Leiche wurde an der Belly Butte gefunden. Emmitt ging von einem Unfall aus. Zu der Zeit hat man eher ungern über Selbstmorde gesprochen.«

»Aber?«

»Trudys Stiefmutter – Adele Samuels – hat auf Mord gepocht und Stein und Bein geschworen, dass Trudy von ihrem Freund umgebracht wurde.«

»Immer ein guter Ansatz.«

»Der Freund hieß Tobias Rattler.« Duke hielt inne, um zu sehen, ob Thumps ihm zuhörte.

»Der Schriftsteller?«

»War er da noch nicht«, erwiderte Hockney. »Damals war er bloß ein Junge aus dem Reservat.«

»Obduktion?«

»Ohne eindeutiges Ergebnis. Trotzdem hat Tull diesen Rattler durchleuchtet. Die Samuels-Familie war damals immerhin eine große Nummer.«

»Und?«

»Dem Polizeibericht zufolge wollten die beiden sich an dem Abend, als Trudy starb, einen Film ansehen. Nur dass Rattler behauptet, sie sei nicht im Kino aufgetaucht.«

»Dann hat er kein Alibi.«

»Aber auch kein Motiv. Und es gab keine beweiskräftigen Spuren, die ihn mit Trudys Tod in Verbindung gebracht hätten.«

»Und die Fernsehleute wollen den Fall jetzt lösen?«

»Böse Absichten löst keine Fälle. Solche Sendungen wirbeln bloß Staub auf und wühlen im Dreck.« Duke hielt erneut inne. »Sicher, dass Sie die Sendung nicht kennen?«

»Ganz sicher.«

»Warum haben die dann ausdrücklich nach Ihnen gefragt?«

»Nach mir?«

»Ausdrücklich«, wiederholte der Sheriff. »Schon komisch, oder?«

Thumps betrachtete den Elchkopf an der Wand. Wahrscheinlich war das Letzte, was das Tier gehört hatte, die Kugel, die es erwischt hatte. Oder es war ein Elchkumpel, der es um einen Gefallen gebeten hatte.

»Das Produktionsteam ist im ehemaligen Budd’s eingezogen.« Duke lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und legte die Füße auf den Schreibtisch. »Sydney Pearl und Nina Maslow«, fügte er lächelnd hinzu. »Sie dürfen gern später Danke sagen.«

4

Wenn Thumps sich je die Mühe gemacht hätte, eine To-do-Liste zu erstellen, hätte darauf ganz sicher nicht die Zusammenarbeit mit einer Reality-Fernsehproduktion gestanden.

Es hätte der Volvo darauf gestanden. Er hatte den Wagen immer noch nicht zu Gesicht bekommen und keine Ahnung, wie schlimm der Schaden war. Aber wenn Roxannes Schilderung und die Andeutung des Sheriffs der Wahrheit entsprachen, dann konnte er ihn abschreiben. Er versuchte, sich zu erinnern, ob er Unfälle mitversichert hatte.

Auf der Liste hätte auch Cooley Small Elk gestanden. Mit dem hatte er auch noch nicht wieder gesprochen und wusste daher nicht, wie schwer sich der große Mann bei dem Unfall verletzt hatte.

Und definitiv hätte Claire darauf gestanden. Sie hätte ganz oben gestanden, auch wenn er keinen blassen Schimmer hatte, was er diesbezüglich tun sollte oder konnte. Er hatte sie seit ihrer Rückkehr aus Seattle nicht wiedergesehen. Seine Anrufe waren allesamt auf ihrem Anrufbeantworter gelandet, und sie hatte nicht zurückgerufen.

Budd’s Clothing – »Kleidung für die ganze Familie« – war seit 1943 im Geschäft gewesen, was Leo Budd nie müde geworden war zu erwähnen.

Inzwischen war der Laden geschlossen.

Leo und seine Frau Fanny hatten eines Abends kurzerhand beschlossen, dass sie es leid waren. Sie hatten Ware und Einrichtung an einen Händler aus Missoula verscherbelt, das Ladengeschäft zum Verkauf angeboten und waren nach Florida gezogen.

»Wir haben etwas in den Keys gefunden«, hatte Leo allen erzählt. »Direkt bei Marathon. Nichts Großes – aber zumindest scheint dort immer die Sonne.«

Leo und Fanny hatten annähernd die ganze Stadt eingeladen, sie dort zu besuchen, auch wenn Thumps niemanden kannte, der die Einladung angenommen hatte. Andererseits waren sie auch nicht wahnsinnig lange dort geblieben. Sechs Monate nach ihrer Abreise waren sie wieder zurück in Chinook – beide einen Hauch dicker und einen Hauch gebräunter.

»Es war ganz wunderbar dort.« Leo zeigte Fotos herum. »Das Meer, kein Schnee, freundliche Leute. Allerdings lungerten dort alle immer nur in Unterwäsche herum und haben getrunken. Oder sie sind zum Angeln rausgefahren – und haben wieder nur in Unterwäsche herumgelungert und getrunken. Das mit dem Angeln haben wir einmal ausprobiert und sind seekrank geworden.«

Irgendwer hatte einen Cowboy und einen buckelnden Bronco auf das große Schaufenster gemalt, und über dem Mann und seinem Gaul baumelte ein rot-gelbes Howdy-Banner. Daneben klebte ein Bogen grünlichen Kopierpapiers mit der schmucklosen Aufschrift Veritas Productions.

Thumps war noch nie bei einer Produktionsfirma gewesen und hatte nicht die leiseste Ahnung, was ihn dort erwartete. Trotzdem war die wilde Mischung aus Schreibtischen, Secondhandstühlen und einem langen Klapptisch mit Papierstapeln in unterschiedlichen Farben alles in allem eine Enttäuschung. In der Ecke, wo einst die Schuhabteilung gewesen war, stand jetzt ein wuchtiges Kopiergerät, und jemand hatte eine Spanplatte aufgebockt und mit Snacks beladen.

Duke hatte nicht gelogen. Es gab Croissants. Und es gab Obst und Kaltgetränke.

Und Espresso.

Auf einem separaten Tisch thronte ein blitzblanker Chrom-LED-Würfel, der aussah, als könnte er eine ganze Kleinstadt mit Strom versorgen.

Neben der Maschine stand eine schlanke Frau mit kurzem dunklem Haar. Ihr weißes Oberteil und die Jeans waren eindeutig zwei Nummern zu klein. Die Sachen waren zwar nicht aus Gummi, aber der Effekt war der gleiche.

»Mr DreadfulWater, nehme ich an?«

Thumps versuchte, den Blick nicht von der Kaffeemaschine abzuwenden.

»Nina Maslow«, stellte die Frau sich vor. »Der Sheriff hat mir schon alles über Sie erzählt.«

Ninas Zähne waren strahlend weiß. Ihr Lächeln fühlte sich an wie Stroboskoplicht in einem dunklen Zimmer. Sie streckte ihm die Hand entgegen. Ihre Haut war geschmeidig und schimmerte, die Fingernägel waren manikürt und lackiert. Thumps’ Hand ähnelte eher einem Holzscheit, das zu lange Wind und Wetter preisgegeben war.

»Ich würde Ihnen ja einen Latte anbieten, aber die Maschine ist noch nicht so weit.« Maslow schnitt eine Grimasse. »Irgendwer hat den Siebträger verlegt.«

Thumps versuchte, mitfühlend dreinzublicken.

»Wir hätten natürlich auch einen dieser Vollautomaten aufstellen können«, fuhr sie fort, »ohne Siebträger. Ohne Hebel. Nur eine Handvoll Tasten. Haben Sie die Werbung mit George Clooney und Danny DeVito gesehen?«

»Nope.«

»Den beiden hätte ich mehr zugetraut«, sagte Maslow. »Da kommt der Kaffee fertig gemahlen in diesen kleinen Plastikkapseln – der ist doch schon muffig, bevor er nur in die Nähe der Maschine kommt! Trotzdem kann man ein kompletter Idiot sein und damit mittelmäßigen Espresso machen. Sofern einem der Müll egal ist, den man damit produziert.«

»Espresso für Dummies …«

»Genau«, sagte Nina. »Richtig guter Espresso geht nur, wenn man alles selbst macht – frische Bohnen, eine anständige Mühle und eine Profimaschine.«

Thumps versuchte gerade, sich zwischen einem Käsecroissant und Obst mit Käse zu entscheiden, sodass er den Typen, der an ihm vorbeirauschte, zunächst nicht mal sah.

»Hast du das Skript gelesen?« Der Mann war groß und schlaksig, blond und blauäugig, hatte perfekte Zähne und ein Kinn, mit dem man Holz hätte zersägen können. »Warum bin ich in der dritten Szene nicht im Bild?«

Nina neigte den Kopf, sodass sie perfekte Sicht auf die Gurgel des Mannes hatte. »Mr DreadfulWater, darf ich Ihnen Mr Calder Banks vorstellen? Calder ist das Gesicht von Böse Absichten.«

Thumps konnte sich nur zu gut vorstellen, dass Banks das Gesicht von irgendwas war. Der Typ sah aus, als wäre er einem Hochglanzmagazin entsprungen. Obendrein hatte er eine sonore, tragende Stimme.

»Ich habe das Skript gelesen«, sagte Nina, »ebenso wie Sydney.«

»Und?«

Irgendetwas an Banks kam ihm bekannt vor, als hätte er den Mann schon einmal gesehen. Im Fernsehen? Im Kino?

»Darf ich dich daran erinnern, wie die Rollen hier verteilt sind?«, fragte Nina in mütterlichem Ton. »Du bist nicht der Autor. Du bist nicht der Producer. Du bist der Star.«

»Vielleicht könntest du Sydney darauf hinweisen.« Banks donnerte sein Skript auf den Tisch. »Kein Calder Banks, keine Sendung. Ist sie oben?«

»An deiner Stelle würde ich sie jetzt nicht stören«, sagte Maslow. »Sie telefoniert gerade mit dem Sender.«

»Mit den Idioten aus L. A.«

»Ganz richtig«, sagte Maslow, »mit denselben Idioten aus L. A., die unsere Gage zahlen.«

»Okay.« Banks holte tief Luft. »Dann sag ihr, sie soll mich anrufen. Wir müssen reden.«

Thumps wartete noch, bis Banks verduftet war. »Hat der nicht in …«

»Er ist der Troy Donahue unserer Generation«, sagte Maslow. »Attraktiv, launenhaft und kämpft eindeutig eine Gewichtsklasse zu niedrig.«

»Aber?«

»Aber in Japan lieben sie ihn.« Nina blies ein paar Küsschen in die Luft. »Wenn Sie wollen, dass Ihre Karriere kurz und elend ist, werden Sie Schauspieler! Vor fünf Jahren sollte Calder die Hauptrolle in einer Top-TV-Serie kriegen, und dann – zack – war alles vorbei.«

Irgendwo fingen Bob Wills und die Texas Playboys an, Across the Alley from the Alamo zu spielen. Nina schnappte sich ihr Handy, ging in Richtung Ladenfront, und Thumps dämmerte, dass er womöglich falschgelegen hatte: Vielleicht waren ihr Oberteil und die Hose sehr wohl aus Gummi.

»Er ist gerade angekommen … Okay … Schon unterwegs!«

Das Handy landete in ihrer Gesäßtasche – was Thumps nie für möglich gehalten hätte.

»Haben Sie sich je gefragt, wo L. Frank Baum seine Inspiration für die Böse Hexe des Westens herhatte?«

»Der Zauberer von Oz?«

»Heute ist Ihr Glückstag.« Nina nickte bedächtig. »Sie dürfen sie jetzt gleich persönlich kennenlernen.«

5

Das Budd’s verfügte über die einzige Zwischenetage in ganz Chinook, ein Umstand, der womöglich sogar der einstigen Kundschaft entgangen war, die hier regelmäßig eingekauft hatte. Es handelte sich um eine Art Empore, die zwischen das Erdgeschoss und den ersten Stock gequetscht worden war. Thumps war sich nicht sicher, wer auf diese Schnapsidee gekommen war, argwöhnte aber, dass es ein misstrauischer Ladenbesitzer gewesen sein musste, der Verkäufer und Kunden im Blick behalten wollte.

Derlei Emporen waren weitgehend Überbleibsel der Vergangenheit, denn offene Lösungen bescherten dem Erdgeschoss zwar den Hauch luftiger Großzügigkeit, allerdings war damit auch wertvoller Raum verschwendet, und jüngere Gewerbe verzichteten inzwischen darauf.

Maslow hüpfte die Treppe hinauf. Thumps trottete hinter ihr her.

»Sydney Pearl«, sagte Nina, als wäre der Name allein schon genug.

»Ist er berühmt?«

Nina blieb wie angewurzelt stehen. »Sie. Sydney ist eine Frau.«

Thumps lächelte gequält. »Peinlich.«

»Sydney und ich sind die Producerinnen. Sie ist für die Finanzierung und die Gesamtorganisation zuständig, ich suche die Themen aus und kümmere mich um die Recherche. Jede macht das, was sie am besten kann.«

»Klingt gut.«

»Sie haben also zwei Chefinnen.«

»Sofern ich den Job annehme.«

Nina runzelte die Stirn. »Warum sollten Sie ihn nicht annehmen?«

»Vielleicht ist sie mir nicht sympathisch«, sagte Thumps. »Vielleicht sind Sie mir nicht sympathisch.«

»Ich bin total nett.« Maslows Lachen war fast so überzeugend wie ihr Lächeln. »Aber dass Sie Sydney nicht mögen – das kann ich Ihnen garantieren.«

Thumps wartete ab.

»Niemand mag Sydney«, fuhr Nina prompt fort. »Die Frau kann eine echte Schreckschraube sein.«

Thumps wartete noch ein bisschen länger.

»Und sie hat eine Waffe.« Maslow strich sich die Hose glatt. »Trotzdem ist sie eine der besten Producerinnen in der ganzen Branche.«

Er konnte von der Treppe zum Eingang sehen. Dass der Laden leer geräumt war, schien ihn größer zu machen, und kurz dachte Thumps darüber nach, lieber früher als später Reißaus zu nehmen.

»Klingt nicht gerade nach einer Empfehlung …«

»Beim Fernsehen gibt es nicht viel zu empfehlen«, erklärte Nina. »Die Branche ist ein einziges Elend. Aber beim Film ist es noch viel schlimmer.«

»Warum will man dann dorthin?«

»Weil es aufregend sein kann.« Sie zuckte die Achseln. »Scheinwerferlicht und Reisen … Alkohol, Drogen, Rock ’n’ Roll.«

»Klingt anstrengend.«

»Das Hauptproblem sind die Leute. Entweder ist man ein selbstverliebter, rücksichtsloser Psychopath – oder nur an Geld und Sex interessiert.« Maslow lächelte erneut, aber irgendwie hatte die Strahlkraft gelitten. »Also, Mr DreadfulWater – zu welcher Kategorie gehören Sie?«

Die Empore war nicht sehr groß und die Decke umso niedriger. Allerdings konnte man von hier oben nach unten sehen und sich einbilden, man wäre der Chef.

Leo Budd hatte seinen Arbeitsplatz auf der Empore gehabt. Thumps konnte sich noch an Sofas und Tische erinnern. Und an die Wände – die waren mit Fotos von Budd zusammen mit Prominenten plakatiert gewesen, die mal durch Chinook gekommen waren und in Budds Laden haltgemacht hatten. Sein Lieblingsfoto war eins von ihm mit Willie Nelson, als dieser gerade unterwegs zu einem Konzert in Missoula gewesen war.

Budds Fotos waren mittlerweile verschwunden und das Mobiliar ausgeräumt oder verkauft. Von dem, was früher ein Bekleidungsgeschäft gewesen war, war nichts mehr übrig. Womöglich war es genau das, was Leute und Gebäude gemeinsam hatten. Auch das Zwischengeschoss war leer – mit Ausnahme eines schweren Schreibtischs, einer Handvoll Stühle sowie einer längeren, klobigen Couch, die aussah, als würde jemand darauf übernachten.

»Mr DreadfulWater«, sagte Maslow, »darf ich Ihnen Sydney Pearl vorstellen?«

Die Frau am Schreibtisch war vielleicht Mitte fünfzig, eventuell sogar Mitte sechzig. Sie hatte dünnes, schulterlanges weißes Haar, das glitzerte, als wäre sie gerade erst durch einen Eisregen gelaufen. Mit der dick gerahmten Brille sah sie aus, als wollte sie gleich ein paar Bahnen ziehen. Oder etwas zusammenschweißen.

»Mein Auto?«

»Morgen«, entgegnete Maslow. »So schlimm war es nicht.«

»Beim nächsten Mal bitte ein bisschen vorsichtiger!«

»Ist ein hartes Pflaster«, sagte Maslow.

An der Schreibtischkante stand eine große bernsteinbraune Flasche. Whiskey.

Oder Scotch. Noch immer versiegelt.

Sydney Pearl gab Thumps mit einer Geste zu verstehen, er möge sich auf einen Klappstuhl setzen.

Lagavulin. Jetzt, da Thumps mit der Flasche auf Augenhöhe war, konnte er lesen, was auf dem Etikett stand. Lagavulin 21.

»Also«, sagte Pearl, »dann ist das unser Mann?«

Sie war keine hübsche, geschweige denn schöne Frau. Sie sah eher aus, als wäre ihr das Gesicht mit einem Edding aufgemalt worden. Ihre Finger waren spindeldürr, die Nägel kurz und stumpf. Die Haut an den Händen hatte die Farbe und Textur eines alten Sattels.

»Nina hat gesagt, dass Sie mir das Leben erleichtern wollen.«

Sydney Pearl trug einen perlmuttbesetzten Revolver in einem Schulterholster.

»Dann erzählen Sie doch mal, Mr DreadfulWater – wie viel wissen Sie über den Fall Samuels?«

»Modell 85.« Thumps zeigte auf den Revolver. »Kaliber .38? Galgo-Classic-Holster?«

Pearl zog die Waffe aus dem Holster und schob sie quer über den Tisch neben die Flasche. »Nina hat erwähnt, dass Sie Cop waren.«

Thumps nahm den Revolver mit dem Lauf nach unten zur Hand und betrachtete ihn von allen Seiten. »Wusste gar nicht, dass Fernsehen so gefährlich ist.«

»Eine meiner ersten Produktionen war Magnum«, erklärte Pearl. »Die hat Tom Selleck mir geschenkt. Also – der Fall Samuels.«

»Keinen Schimmer.«

»Das klingt nicht hilfreich.«

Sofort war Nina zur Stelle. »Bis heute Abend hab ich ihn auf Kurs.«

»Na gut.« Pearl schob den Revolver zurück ins Holster. »Wie gut kennen Sie Tobias Rattler?«

»Hab ihn nie getroffen.«

Pearl drehte sich zu Maslow um. »Ich hoffe, du weißt, was du tust.«

»Logisch.«

»Ergebnisse«, sagte Sydney.

»Schon klar.«

»Ich bezahle ihn nicht für ›war stets bemüht‹.«

Thumps stand auf und zupfte sich die Hose zurecht. »Das stimmt, das tun Sie nicht.«

Er war schon den halben Straßenzug weit gekommen, ehe Maslow ihn eingeholt hatte. »Sie können doch nicht einfach hinwerfen!«

»Ich habe den Job gar nicht erst angenommen.«

»So schlimm ist Sydney nicht. Sie ist nur auf Zack.«

Thumps hatte einiges zu erledigen. Cooley besuchen. Freeway finden. Mit Claire reden. Einiges, was wichtiger war als eine halbseidene Fernsehproduktion.

»Hören Sie – was, wenn ich Ihnen einen Kaffee spendiere?« Maslow berührte ihn am Arm. »Das bin ich Ihnen schuldig.«

Thumps war sich nicht sicher, ob er noch einen Kaffee vertragen würde. »Sie schulden mir gar nichts.«

»Unterdessen kann ich Ihnen ein bisschen was über die Sendung erzählen und Sie überzeugen. Meinen Sie, das wäre möglich?«

Das Mirrors lag gegenüber vom Tucker. Thumps hatte einen Artikel in der Zeitung gelesen, demzufolge das Bistro einem uruguayischen Kaffeehaus nachempfunden war.

»Dem Café Brasilero«, erklärte Nina, während sie die Straße überquerten, »in Montevideo.«

Thumps hatte schon mal von Uruguay gehört und ganz bestimmt auch schon mal von Montevideo, aber das Café Brasilero sagte ihm nichts.

»Eduardo Galeano?«

»Okay …«

»Du liebe Güte«, sagte Maslow, »Sie kennen Eduardo Galeano nicht?«

»Aus dem Fernsehen?«

»Er gehört zu den bekanntesten Autoren Südamerikas. Das Café Brasilero in Montevideo war seine Lieblingskneipe. Erzählen Sie mir jetzt aber nicht, dass Sie Mirrors nicht kennen!«

»Mirrors? Wie das Café?«

»Erinnerung an das Feuer? Die Füße nach oben? Das Buch der Umarmungen?«

Das Mirrors mochte gerade erst aufgemacht haben, doch mit seinen Sprossenfenstern in der unverputzten Ziegelmauer und den frisch aufpolierten Holzelementen sah es aus, als existierte es hier bereits seit hundert Jahren. Das Innere war in dunklem Holz gehalten, das mit Sinn und Verstand abgeschliffen und mittels alter Treidelketten diskret auf alt getrimmt worden war.

»Ich hätte Galeano gern kennengelernt«, sagte Nina. »Aber er ist gestorben, bevor ich die Möglichkeit hatte.«

Der wuchtige Bartresen im rückwärtigen Bereich schien geradewegs aus einem Saloon des 19. Jahrhunderts zu stammen. Entlang der Wände konnte man noch vage die Konturen ausgebleichter Lettern und alter Reklamebilder erkennen, die sich auf dem Holz abzeichneten, während unter der eingezogenen Blechdecke kreuz und quer Holztische und Stühle standen.

»Fenster?«, fragte Nina. »Da können wir rausgucken.«

»Klar.«

Bis auf zwei Frauen, die sich über Laptops beugten und sich an Designer-Kaffees in der Größe von Badewannen festhielten, war das Mirrors verwaist.

»Der Sheriff meinte, Sie waren mal Cop.« Nina hatte sich für den Platz mit dem Rücken zur Wand entschieden. »Er hat gesagt, wir können Ihnen vertrauen.«

Thumps mochte es nicht, mit dem Rücken zur Tür zu sitzen. Alte Gewohnheit, alte Instinkte. Von hier aus würde er nicht sehen können, wer hereinkäme.

»Was wissen Sie grundsätzlich über Realityfernsehen?«

»Hab nie was in der Art gesehen.«

Nina sah ihn unverwandt an. »Nie …«

»Nein.«

»Expedition Robinson?Der Bachelor?«

Thumps schmunzelte leicht. »Ich führe ein behütetes Leben.«

»Aber einen Fernseher haben Sie?«

Thumps nickte. »Irgendwo, ja.«

Wie aus heiterem Himmel tauchte eine Bedienung mit zwei Speisekarten auf.

»Kaffee«, sagte Thumps.

»Natürlich«, erwiderte die junge Frau. »Lieber handgefiltert oder Maschine? Latte, Cappuccino, Flat White, Espresso …«

»Einfach schwarz.«

»Unser Tagestipp wäre ein Mokka macchiato mit Räuchermandel …«

»Einfach nur schwarzen Kaffee.«

»Der Cortado wäre auch zu empfehlen …«

»Ich nehme den Tagestipp«, sagte Nina, »und einen Lemon-Cranberry-Muffin.«

Thumps spähte zur Tafel über dem Tresen, auf der sämtliche Kaffee- und Teespezialitäten aufgeführt waren. Bei zweiunddreißig hörte er auf zu zählen.

»Okay«, sagte Nina, »zuallererst müssen Sie wissen, dass es im Realityfernsehen nicht um die Realität geht. Es geht um Unterhaltung.«

Thumps fragte sich, was ein Café Zorro war. Oder ein Café Guillermo. Bestimmt etwas mit Sahne, vielleicht auch mit Schokolade.

»Aber nur weil Böse Absichten Unterhaltungsfernsehen ist, heißt das nicht, dass wir es nicht mit ernsten Dingen zu tun hätten.« Nina zog einen dicken Ordner aus der Tasche. »Trudy Samuels …«

Ende der Leseprobe