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Ermittler wider Willen: mit kanadischer Gelassenheit löst er jeden Fall. Der indigene Polizist DreadfulWater hat in Kalifornien mehr gesehen, als ihm lieb ist. Daher kehrt er zurück in das kleine, ruhige Örtchen Chinook nahe der Grenze zwischen den USA und Kanada. Seinen Lebensunterhalt verdient er als Landschaftsfotograf. Eigentlich. Denn immer wieder braucht Sheriff Hockney Unterstützung im unterbesetzten Polizeirevier. Was mit Tatort-Fotos beginnt, artet gerne mal in umfängliche Ermittlungen aus. Der aktuelle Fall: In einem Mietwagen wurde die Leiche eines Mannes gefunden, der bei der anstehenden Umweltkonferenz einen Vortrag halten sollte. Sheriff Hockney bittet mal wieder DreadfulWater um Hilfe. Und der ganze Ort hilft wiederum ihm bei den Ermittlungen – ob er nun will oder nicht.
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Aus dem kanadischen Englisch von Leena Flegler
© Dead Dog Café Productions Inc. 2018
Titel der englischen Originalausgabe:
»Cold Skies«, Harper Collins, Toronto 2018
© der deutschsprachigen Ausgabe:
Piper Verlag GmbH, München 2020
Covergestaltung: u1 berlin/Patrizia Di Stefano
Covermotiv: Patrizia Di Stefano unter Verwendung mehrerer Bildmotive von Getty Images
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Für Emily, Xavier und Ariella
Vom Gepäckband steuerte Bob Tatum mit seinem Rollkoffer auf direktem Weg den Mietwagenschalter an. Er versuchte, die Steifheit aus Rücken und Beinen zu bekommen. Der Flug von Seattle nach Great Falls war pünktlich gewesen, aber dann hatte der Anschlussflieger nach Chinook irgendein technisches Problem gehabt und knapp fünf Stunden auf dem Rollfeld gestanden.
Immer wieder ein Vergnügen.
Er hatte neben einer dürren Blondine gesessen, die ihre zig Einkaufstaschen wie Zierkissen um sich herum drapiert hatte. Tatum hatte versucht, sie bestmöglich zu ignorieren, hatte sich ans Fenster gelehnt und den Nacken schmerzhaft verdreht, während die Dame eine Schachtel mit Designer-Label nach der anderen hervorgeholt und Zellophan und Klebeband abgefummelt hatte. In der Enge der kleinen Maschine hatte es sich angehört, als würde sie ein Blechdach abdecken.
Und dann dieses Sandwich.
Die Flugbegleiterin hatte es als »Schinken-Käse-Baguette« angepriesen. Tatum war nie in Frankreich gewesen, trotzdem war er sich sicher, dass dieses Brötchen mit einem Baguette rein gar nichts zu tun hatte. Ein Salatblatt wäre nett gewesen. Vielleicht eine Tomatenscheibe. Nicht der kleinste Klecks Senf oder Ketchup, um dem Ganzen einen Hauch von Geschmack oder Würze zu geben. Allerdings war das Sandwich so groß wie ein kleines Holzscheit, und wann immer er einen Bissen nehmen wollte, quoll dicke weiße Schmiere aus beiden Seiten.
Mayonnaise war das nicht gewesen. Da war er sich sicher.
Der junge Mann am Mietwagenschalter hieß dem goldenen Namensschildchen zufolge »Orem«.
»Hab reserviert, auf Tatum.«
»Mr Tatum …« Orem starrte auf seinen Computerbildschirm. »Aus Seattle …«
»Kompaktklasse.«
Orem starrte immer noch auf den Bildschirm. »Sie haben Glück, Mr Tatum, Sie bekommen ein Upgrade. Spitze, oder?«
Mietwagen-Upgrades gehörten nebst der Bordverpflegung, verspäteten Anschlussflügen und nervigen Sitznachbarinnen zu den vielen kleineren Ärgernissen beim Reisen. Tatum war seit Jahren landauf, landab unterwegs, aber Kompaktklasse hatte er sage und schreibe ein einziges Mal bekommen. Sonst war er immer »upgegradet« worden – so nannten es die Mietwagenfirmen, wenn sie einem das Gefühl geben wollten, den Jackpot geknackt zu haben. Als wäre ein größerer, schwerfälliger Spritfresser der Sechser im Lotto.
»Ich hab Kompakt reserviert.«
»Im Moment haben wir leider keine Kompaktklasse hier, aber Sie kriegen einen Suburban ganz ohne Aufpreis.«
Tatum stellte sein Gepäck am Boden ab und schloss die Augen. »Gibt’s eine Alternative?«
»Der ist wirklich sehr geräumig. Und hat ein Schiebedach.«
»Irgendwas Kleineres?«
Orem sah fast gekränkt aus, so als hätte Tatum ihm soeben die Freundschaft gekündigt. »Tja, wir hätten noch einen Jeep Cherokee … Der ginge in Richtung Kompaktklasse.«
Der Vorteil an Regionalflughäfen war, dass man alles zu Fuß erreichen konnte, nur war der Nachteil entsprechend, dass es dort keinen Shuttle gab, der einen ohnehin schon erschöpften und entnervten Passagier mitsamt Reisegepäck vom Terminal zum Mietwagenparkplatz brachte.
Die spätabendliche Luft war abgekühlt. Tatum zerrte seinen Koffer in Richtung Parkplatz und fragte sich – nicht zum ersten Mal –, ob sein Leben anders verlaufen wäre, wenn er sein Studium abgeschlossen hätte. Er hatte drei Jahre Soziologie im Hauptfach studiert, als ihm Kathleen in die Quere gekommen war und mit ihr der Job in der Firma ihres Vaters. Die Firma hatte einen guten Eindruck gemacht. Und Kathleen auch.
Die Mietwagen standen aufgereiht nebeneinander wie Pferde an einer Pferdestange. Von Kompaktklasse keine Spur. Der schwarze Suburban sah eher nach Elefant aus als nach Pferd. Wenn es nach Tatum gegangen wäre, hätte er einen Sportwagen gefahren, irgendwas Wendiges, Schnelles. Nur dass in Sportwagen selten genügend Platz war für eine Ehefrau, drei Kinder und einen sechsstelligen Hypothekenkredit. Sobald er in Rente ginge und die Kinder aus dem Haus wären, würde er sich vielleicht einen gebrauchten Jaguar oder besser noch eine Corvette zulegen. Ein älteres Modell, mit klassisch gerippten, rot-weißen Ledersitzen.
Auf dem Parkplatz standen zwei Jeeps direkt nebeneinander. Er warf einen Blick auf den Schlüsselanhänger, aber da stand lediglich »Jeep«. Kein Kennzeichen, nichts – kein Hinweis darauf, welches von den Pferdchen seins war. Auch die Farbe war im Dunkeln schwer zu erkennen, allerdings sah einer von beiden aus, als könnte er grün sein. Die Farbe der Hoffnung. Mit dem würde er es zuerst versuchen.
Der Wagen war nicht abgeschlossen. Als Tatum die Fahrertür aufzog, versuchte er, sich zu erinnern, ob es Dienstag oder Mittwoch war.
Der Mann, der auf dem Fahrersitz zusammengesackt war, sah nicht so aus, als würde er es Tatum in allernächster Zeit verraten.
Tatum stand in der offenen Tür und sah hoch zum Himmel. Genau das mochte er so sehr am Westen: dass es immer noch Orte gab, an denen die Welt den Anschein hatte, riesig und vielversprechend zu sein.
»Entschuldigung …«
Für einen kurzen Moment überlegte Tatum, den Mann wach zu rütteln, doch dann stieg ihm der Geruch in die Nase. Und zwar nicht die übliche Mietwagenmischung aus Lufterfrischer und Kunststoffpflege. Das hier schmeckte er fast auf der Zunge – leicht bitter, wie Kupfer, mit einem unangenehmen Beigeschmack, der ihn erneut an das Flugzeugsandwich erinnerte.
»Alles in Ordnung bei Ihnen?«
Tatum hatte in der Firma mal an einem Erste-Hilfe-Kurs teilgenommen, als Teil eines Arbeitssicherheitsprogramms. Er versuchte, sich ins Gedächtnis zu rufen, wie das mit der Reanimation funktionierte. Schritt eins: überprüfen, ob der Patient ansprechbar war. Er hatte den Patienten angesprochen. Schon zwei Mal. Schritt zwei, wenn er sich recht erinnerte: Kopf in den Nacken legen und checken, ob der Patient atmete. Wenn nicht: Nase zukneifen und Mund-zu-Mund-Beatmung einleiten. Schritt drei hatte etwas mit Druck auf den Brustkorb zu tun.
Er hatte noch nie eine Leiche gesehen, und er war sich nicht sicher, ob er jetzt eine vor sich sah, aber was immer dieser Mann für ein Problem hatte – Tatum bezweifelte, dass Erste Hilfe hier noch etwas ausrichten würde. Oder anders: Nach dem widerwärtigen Gestank zu urteilen, der ihm aus dem Jeep entgegenschlug, würde er über Schritt eins hinaus nichts weiter unternehmen.
Bedächtig schob Tatum die Tür wieder zu – nur für alle Fälle, nicht dass der Mann doch schlief und Tatum ihn weckte. Dann sah er ein letztes Mal hoch zum kalten Himmel, wo die Sterne leuchteten, und stapfte zurück zum Terminal.
Thumps DreadfulWater kauerte unter dem dunklen Tuch und studierte das spiegelverkehrte und kopfstehende Bild des Flusses und der Berge auf der Mattscheibe seiner Laufbodenkamera. Es war kühl draußen. Und es war still. Das einzige Geräusch kam von den Mücken, die ihn umkreisten und auf ihm landen wollten, und Thumps fiel prompt wieder ein, was er am Frühling nicht mochte.
Viecher.
Nicht alle natürlich. Stech- und Kriebelmücken, um genau zu sein. Die kamen immer in Schwärmen – erst die Kriebelmücken, dann die Stechmücken. Kriebelmücken lebten und legten Eier an fließenden Gewässern – ausgerechnet dort, wo es einige der besten Motive gab –, während die Stechmücken für eine warme Mahlzeit überall hingingen.
Thumps kam unter dem Tuch hervor, schlug nach einer Handvoll Blutsauger, die sich wie Dartpfeile in seinen Nacken gedrillt hatten, und scheuchte diejenigen weg, die sich vorne aufs Objektiv gesetzt hatten. Dann stellte er Blende und Belichtung ein, spannte den Auslöser, zog den Schieber raus, drückte ab und schob den Schieber wieder rein.
Die traurige Wahrheit bei der Fotografie war, dass selbst das beste Objektiv ein gutes menschliches Auge nur unzureichend ersetzte. Unter dem Himmelsdach, das sich um einen herum erstreckte, fühlte man sich klein und einsam und seelenruhig. Nicht mal das weltbeste Foto konnte auch nur annähernd einfangen, was man von einem Felsvorsprung über einem Flusstal vor sich sah, wenn das Licht durch die Wolken brach – vom Pfeifen des Windes und dem Geruch von Beifuß in der Luft ganz zu schweigen.
Was ein Landschaftsfoto einfangen konnte, war die romantische Verklärung – ein bestimmtes Gefühl, das man sich an die Wand hängen konnte, um sich an einen eingebildeten Moment zu erinnern, in dem der peitschende Wind ausgeblendet war und sich der Beifußgeruch auch nicht mit den Dieselabgasen der Trucks vermischt hatte, die sich auf der Interstate vorbeiwälzten.
Normalerweise fühlte er sich beim Fotografieren wie frisch belebt, doch heute waren der Ausflug zum Fluss und der Aufstieg anstrengend gewesen. Er hatte keine Ahnung, warum. Klar, Kamera, Rucksack und Stativ waren keine Leichtgewichte, aber das war noch nicht alles. Claire hätte natürlich gesagt, es seien Depressionen, aber auch nur, weil sie Depressionen mochte und sie nicht – wie Männer – als Schwäche betrachtete, als eine Art Kontrollverlust.
Entsprechend war er nicht depressiv. Er fühlte sich nicht depressiv. Tatsächlich war sein Leben in jüngster Zeit gar nicht übel gewesen. Claire war zur Abwechslung mal wieder nett zu ihm, und er hatte endlich seine Küche aufgeräumt, was ihm immer guttat. Es ging doch nichts über frisch sortierte Gewürze, Cornflakes-Schachteln und Konservendosen, um sich wieder wie jemand zu fühlen, der sein Leben im Griff hatte.
Trotzdem war diese Erschöpfung nervtötend. Es war, als hätte ihn jemand zur Ader gebeten und ausbluten lassen. Die andere Sache war, dass er immer wieder dringend pinkeln musste. Beides war ganz plötzlich gekommen. Dann hatte er einen Fehler gemacht und Archimedes Kousoulas von der Aegean-Buchhandlung in Chinook davon erzählt.
»Wann warst du zuletzt beim Arzt?«, hatte Archie gefragt.
»Ich brauche keinen Arzt.«
Archies Brille war zu groß für sein Gesicht. Er sah damit aus wie eine griechische Schleiereule. Er war die Art von Freund, die jeder haben sollte – ob man ihn nun wollte oder nicht.
»Über fünfzig lässt du dich als Mann besser alle zwei Jahre durchchecken.«
»Ich bin noch keine fünfzig.«
»Du siehst aus wie fünfzig.«
Archie hatte mehrere Medizinbücher aus dem Regal gezogen, Thumps’ Symptome nachgeschlagen und sich an eine Diagnose gewagt.
»Schwanger bist du nicht. Also ist es entweder Krebs, die Schilddrüse oder Diabetes.«
»Archie …«
»Könnte natürlich auch alles drei sein.«
Das Licht über dem Fluss war heller geworden. So konnte der Film die Kontraste nicht mehr einfangen. Thumps sah sich nach Wolken um, die das grelle Licht filtern könnten, sodass es wieder weicher wirkte, aber der Himmel war klar und unerbittlich.
Ein Jahr zuvor war Thumps für eine Woche in Toronto bei einem Fotografieseminar mitsamt Ausstellungen, Workshops und Vorträgen gewesen. An einem Nachmittag war er durch die Stadt geschlendert und hatte in der Nähe der Kreuzung Queen und Church einen Laden entdeckt, in dem Fotoequipment von Leuten verkauft wurde, die fast ausschließlich unter dreißig waren. Ein einziger Typ war etwa in Thumps’ Alter gewesen.
»Ich bin John«, stellte er sich vor. »Sie sehen nach Film aus.«
»Vier-mal-fünfer Laufbodenkamera«, erwiderte Thumps, »Dagor-Objektiv von Goerz.«
»Sauber. Und jetzt überlegen Sie, ob Sie nicht langsam auf Digital umrüsten wollen.«
Thumps zuckte mit den Schultern. »Wär das genauso gut wie Film?«
»Nein«, antwortete John. »Bloß anders. Was wiegt Ihr Zeug?«
»Knapp zwanzig Kilo.«
»Mit Stativ?«
»Dreiundzwanzig.«
»Das wär in etwa, worauf es hinausläuft«, sagte John. »Wollen Sie die Vier-mal-fünf in Zahlung geben?«
»Eher nicht.«
»Gut, weil die nichts mehr bringt.«
Thumps sah sich die digitalen Nikons und Canons und Fujis im Regal hinter dem Verkaufsschalter an. Sie sahen kompakt aus. Und leicht.
»Die Großen haben sowieso aufgehört, Film und Fotopapier zu produzieren. Die Chemikalien gibt’s auch nicht mehr lange. Noch fünf Jahre oder so, und das alles könnte Geschichte sein. Erinnern Sie sich noch an elektrische Schreibmaschinen? Die meisten Kids, die hier arbeiten, haben nie eine gesehen.«
»Ich mische die Bäder selbst.«
»Klar«, sagte John, »hab ich auch so gemacht. Hab echt gern im Dunkeln gesessen und mit meinen Messbechern hantiert wie ein verrückter Professor. Die Dämpfe haben mir dann irgendwann die Leber zerfressen.«
John berechnete für Thumps einen Komplettpreis für einen Nikon-Korpus, drei Objektive, eine Canvas-Kameratasche und ein leichtes Stativ mit Schnellwechselplatte. »Wissen Sie, was das Einzige ist, was sich in der Fotografie nicht verändert hat?«
»Was?«
»Sie kostet ein Vermögen.«
Okay. Für heute war Schluss mit dem Fotografieren. Sobald Thumps den Rucksack geschultert hatte, machte sich sein Magen bemerkbar. Zeit fürs Frühstück. Die beste Mahlzeit des Tages. In Chinook gab es dafür zwei Möglichkeiten, zumindest wenn es nach Thumps ging. Entweder bereitete man es sich selbst zu, oder man ging ins Al’s. Thumps war durchaus imstande, sich ein anständiges Frühstück zu machen, aber einer der Vorzüge des modernen Lebens war nun mal, dass es auch jemand anders für einen zubereiten konnte. Besonders wenn dieser Jemand Alvera Couteau war – oder Al, wie alle in der Stadt sie nannten.
Normalerweise wurden derlei gemütliche Lokale in spannenden, wenn auch abgelegenen Orten wie Chinook und mit dem entsprechenden Ruf, man könne dort für kleines Geld richtig gut essen, im Sommer gestürmt, sodass die Einheimischen hinter zig Touristen mit ausladenden Rucksäcken und Reiseführern Schlange stehen mussten. Doch obwohl Chinook von genügend Touristen besucht wurde, verirrten sich nur die wenigsten davon ins Al’s.
Unter anderem weil das Café nicht ganz leicht zu finden war. Es quetschte sich zwischen die Fjord Bakery und Sam’s Laundromat und war nicht ausgeschildert – abgesehen von dem Schildkrötenpanzer, den Preston Wagamese mit Heißkleber neben der Eingangstür befestigt und »Food« draufgepinselt hatte.
Hier und da tauchten sogar Touristen auf, aber die gingen auch sofort wieder. Nicht dass das Café irgendwie einschüchternd gewirkt hätte. Im Grunde war es eher unauffällig. Kaum mehr als ein schmaler, lang gezogener Schlauch mit Sitznischen aus Pressspan auf der einen Seite und einem lindgrünen Resopaltresen mit klapprigen Barhockern aus zerkratztem Chrom und rotem Kunstleder auf der anderen Seite.
Um ganz sicherzugehen, war es immer dunkel. Licht fiel bloß durch das Fenster neben dem Grillofen. Außerdem war es leicht klamm. Und dann die süßlichen Geruchswirbel und -ströme, die durch das Lokal wogten: mal Bratfett, mal verbrannter Toast, schwarzer Kaffee und Schweiß. In Thumps’ Vorstellung fühlten sich Leute, die hier erstmals spontan von draußen hereinkamen, als wären sie unter Wasser geraten.
Stammgäste saßen am Tresen so nah am Grill und an der Kaffeemaschine wie nur möglich. Das Al’s würde in nächster Zeit wohl kaum in einem dieser Hochglanzblättchen mit Restaurantempfehlungen stehen. Trotzdem war das Essen allererste Sahne.
Al war eine der wenigen auf dieser Welt, die wussten, wie man Rühreier machte. In den meisten anderen Lokalen wurden komplett einwandfreie Eier mit Milch oder Wasser versaut und diese unselige Mischung dann in einer Teflonpfanne zubereitet. Das Geheimnis perfekter Rühreier war aber, dass man die Eier bloß leicht mit der Gabel kläpperte und sie dann au naturel in eine heiße Gusspfanne mit geschmolzener Butter gab – und wenn sie gerade anfingen zu stocken, gab man ein Stück kalte Butter dazu. Das verlangsamte den Garprozess, sodass die Eier am Ende eine weiche, leckere Masse bildeten.
Bis Thumps im Al’s ankam, war das Lokal auch schon wieder leer. Er steuerte seinen Lieblingsplatz an – den siebten Hocker von hinten – und ließ sich darauf nieder.
»Du hast die anderen verpasst.« Al schlenderte am Tresen entlang auf ihn zu. »Kaffee?«
»Definitiv«, antwortete Thumps.
»Warst du wieder Fotos machen?«
»Ich bin Fotograf. Das ist mein Beruf.«
»Warst mal Polizist«, wandte Al ein. »Das war auch mal dein Beruf.«
»Schon klar. Aber jetzt bin ich keiner mehr.«
»Du siehst ein bisschen müde aus.«
»Fotografie ist harte Arbeit.«
»Versuch’s vielleicht mal mit B12«, sagte Al. »Soll gut sein für die Energie.«
»Mit meiner Energie ist alles in Ordnung«, erwiderte er. »Ich brauch bloß was zu essen.«
»Dein Kumpel meint, es ist Krebs.«
Man konnte auch draußen auf der Shadow Ranch frühstücken. Dort sah es gepflegter aus, die Portionen waren größer, und es kümmerte keinen, selbst wenn man mit dem Kopf unterm Arm hereinkam. Nur war das Essen nicht so gut.
»Archie erzählt einen Scheiß.«
»Weiß ich.« Al winkte mit der Kaffeekanne in Thumps’ Richtung. »Den neuen Herd schon gekauft?«
»Noch nicht.«
»Muss ein Vermögen kosten.«
In Wahrheit sogar mehr als das. Als Thumps den Bungalow an der Water Street gekauft hatte, war ein Elektroherd drin gewesen, und der hätte auch ausgereicht, allerdings passte es Thumps nicht, wie lange die Herdplatten brauchten, bis sie heiß waren, wie ungleichmäßig sie Hitze abgaben, wenn er ein Sößchen anrührte, und wie sich alles irgendwie ganz leicht nach Alu und brüchig anfühlte, wenn er einen Topf auf die Platte stellte.
Vier Platten. Wie konnte jemand mit vier Platten anständig kochen? Wenn man eine große Pfanne auf die vordere Platte stellte, waren die daneben und die hintere doch schon halb bedeckt.
Sechs. Nur mit sechs Platten konnte man kochen. Und mit Gas. Allerdings nicht mit diesen gedeckelten Dingern, bei denen die Flamme bloß aus winzigen Düsen kam wie bei einem Schweißbrenner.
Offen. Das war das Geheimnis. Die Flammen mussten gleichmäßig über die Unterseite der Pfanne rollen können – nur so entstand auch gleichmäßige Hitze.
»War’s das Teil im Schaufenster bei Chinook Appliances?« Al schnaubte. »Das setzt Danielle im Leben nicht runter.«
»Das Nachfolgermodell kommt demnächst.«
»Schau dir mal diese Induktionsdinger an.«
Induktionsherde waren der letzte Schrei. Und Thumps hatte sich welche angeschaut. Aber da kochte er lieber in einem Mikrowellenofen ohne Tür.
»Diese Elektromagnetsache soll schneller sein als ’ne Fritteuse.«
»Bin mir nicht so sicher, ob das gesund ist.«
»Das haben sie über Mikrowellen auch gesagt.« Al warf sich ein sauberes Geschirrtuch über die Schulter. »Gehst du zur Konferenz?«
»Konferenz?«
»Diese große Wassergeschichte im Buffalo Mountain Resort«, erklärte Al. »Hat Archie dich noch nicht angemeldet?«
Allmählich war ihm Archies Name für diesen Vormittag zu oft gefallen. »Du weißt, was ich esse, oder?«
»Klar.«
»Meinst du, ich könnt’s bekommen?«
»Archie sagt, ich soll dir die Kartoffeln einkürzen«, meinte Al. »Nur falls es Diabetes ist.«
»Kartoffeln sind Gemüse.« Thumps stützte sich schwer auf die Ellbogen. »Gemüse ist gesund.«
»Kartoffeln sind ja wohl eher Stärke.« Sheriff Duke Hockney war in der Tür aufgetaucht. Das Licht in seinem Rücken wollte ebenfalls herein, war aber nicht mutig genug, sich an dem Mann vorbeizuzwängen. »Himmel, DreadfulWater, Sie sehen ja fertig aus!«
»So sieht er immer aus«, gab Al zurück. »Kaffee, Sheriff?«
Auf zwei gegen einen konnte Thumps verzichten. »Ich würde besser aussehen, wenn ich was zu essen bekäme.«
»Suchen Sie sich eine Ehefrau.« Hockney zog sich die Hose zurecht und hievte sich auf einen Hocker.
Al schüttelte den Kopf. »Ziemlich hoher Preis für was zu essen.«
»Was Sie nicht sagen.«
Hockney war schon Sheriff von Chinook gewesen, da hatte Thumps noch gar nicht hier gewohnt, und er war sich halbwegs sicher, dass Duke auch noch Sheriff sein würde, wenn er selbst längst wieder weg wäre. Dukes Ehefrau, Macy, war anscheinend der Ansicht, ihr Mann sehe aus wie John Wayne, allerdings lag das bloß an seinem Gang: breitbeinig und raumgreifend. Die meiste Zeit sah er eher aus wie ein Büffel mit zu kurzen Ärmeln.
»Wissen Sie noch, diese Konferenz, zu der Macy und ich immer fahren?«
»Strafverfolgung? In Toronto?«
»Ganz genau.«
Thumps wusste, dass Toronto für Duke nicht gerade ein Traumziel war, aber Macy mochte die Stadt. Und weil die Gemeinde Chinook Dukes Aufenthalt bezahlte, konnte Macy ihrem Mann immer noch einen Kurzurlaub abquatschen, obwohl seine Vorstellung von einem Urlaub eher darin bestand, mit einem Bier in der Hand hinter dem Haus zu sitzen.
»Die findet neuerdings in Las Vegas statt.« Hockney nahm einen Schluck. »Frauchen ist nicht begeistert.«
»Mag sie Vegas nicht?«
»Findet sie geschmacklos.«
»Vegas ist geschmacklos.« Al schenkte ihnen Kaffee nach. »Also hat Macy für Duke einen Antiterrorgipfel in Costa Rica rausgesucht. Schönes Resort direkt am Strand.«
Thumps zuckte mit den Schultern. »Klingt doch nicht schlecht.«
Hockney zog den Zuckerpott zu sich heran und zerschrammte das Resopal. »Hat Ihnen schon mal jemand gesagt, dass Sie ein Arschloch sind?«
»Regenwald, Strand, Sonne«, sagte Thumps, »was ist daran so verkehrt?«
»Haben Sie eine Ahnung, wie viel Macys Ticket mich kostet? Und schon mal was von Leptospirose gehört?«
»Das ist eine Tropenkrankheit«, erklärte Al. »Ziemlich fies.«
»Und dann Chagas«, fuhr Duke fort, dem die Richtung zu gefallen schien. »Kriegt man von Blutsaugerwanzen, die einem im Schlaf ins Gesicht beißen und dann in die Bisswunde kacken. Klingt das für Sie immer noch nicht schlecht?«
»Dann fahren Sie halt nicht.«
»Muss ich aber.« Duke riss beide Hände hoch. »Sonst wird das mit ihr die Hölle!«
»Okay«, sagte Thumps, »dann fahren Sie.«
»Er kann nicht«, ging Al dazwischen. »Er hat keinen, der hier für ihn einspringt, wenn er weg ist.«
Schlagartig wurde Thumps hellhörig.
»Tja, ich nehme an, wenn ich nach Costa Rica muss und so tun, als wäre ich Terrorexperte, dann wäre es doch das Mindeste, dass Sie so tun, als wären Sie Sheriff.«
»Sheriff?«
»Kommissarischer Sheriff.« Hockney schob die Hand in die Tasche, angelte eine Dienstmarke heraus und schob sie über den Tresen. »Sie waren mal Cop. Gerüchten zufolge sogar ein halbwegs guter.«
»Ich will aber nicht kommissarischer Sheriff sein.«
»Tja«, sagte der Sheriff, »und ich will nicht nach Costa Rica.«
»Im Leben nicht.«
»Sie sind nur ein bisschen außer Übung.«
»Nicht außer Übung«, sagte Thumps. »Außer Diskussion.«
Duke beugte sich vor und nahm sich ein Stück von Thumps’ Toast. »Und wie der Teufel will, ist etwas passiert, womit Sie direkt wieder im Spiel wären.«
Als Duke die Abfahrt zum Flughafen Chinook nahm, hatte Thumps sämtliche guten Argumente vorgebracht, die ihm hatten einfallen wollen, warum er nicht Sheriff spielen konnte.
»Sie haben vier Leute unter sich.«
»Haben nicht genug Erfahrung«, sagte Hockney.
»Was ist mit Lance Packard?« Thumps versuchte, ganz ruhig und rational zu klingen. »Lance wäre geeignet.«
»Sie erinnern sich – diese große Strafverfolgungskonferenz in Toronto, zu der Macy mich immer schleppt?«
»Die nach Las Vegas verlegt wurde?«
»Vegas und Costa Rica sind gleichzeitig«, sagte der Sheriff. »Und Packard übernimmt Vegas.«
Allmählich machte sich Verzweiflung in Thumps breit. »Was ist mit Andy?«
Andy Hopper war länger Hockneys Stellvertreter gewesen, als Thumps denken konnte. Andy war eine dieser bewundernswerten Mischungen aus Bigotterie und Ignoranz – ein arroganter Schnösel, der keine eigene Meinung hatte und sie trotzdem überall kundtat.
»Hopper hat gekündigt«, sagte Duke. »Schon vergessen?«
»Klar«, sagte Thumps, »aber der würde aushelfen, wenn Sie ihn fragen.«
»Er verkauft jetzt Gebrauchtwagen für Norm Chivington.«
»Und ich mache jetzt Fotos.«
Hockney parkte vor dem Terminal. »Würden Sie Andy ein Auto abkaufen?«
»Darum geht es nicht.«
»Aber Sheriff soll er sein, wenn es nach Ihnen geht?« Hockney schüttelte den Kopf. »Wie wär’s, wir befördern Sie direkt zu meinem Vertreter? So können Sie sich schon mal an den Posten gewöhnen.«
Der junge Mann am Schalter trug eine schwarze Anzughose und ein rotes Sakko über dem weißen Hemd mit Krawatte. Dem goldenen Schildchen zufolge hieß er »Orem«. Thumps fragte sich, ob Andy Hopper ebenfalls Sakko tragen musste, wenn er Autos verkaufte. Und ob er ein Namensschild hatte.
»Ich bin Sheriff Hockney.« Routiniert zückte Duke seine Dienstmarke.
Orem stellte sich an seinen Computer. »Provinz oder County?«
»Was?«
»Für den Behördenrabatt«, erklärte Orem. »Mit oder ohne Navi?«
»Ich brauche kein Auto.« Hockney holte sein Notizbuch hervor und blickte kurz darauf hinab. »Ein Bob Tatum hat eine Leiche in einem Ihrer Fahrzeuge gemeldet.«
»Oh, das«, sagte Orem. »Das war ein Missverständnis. Der Typ war nur betrunken.«
»Tatum?«
»Nein, der Typ im Auto.«
»Ist schon ein Unterschied, ob jemand betrunken oder tot ist.«
»Die Zentrale war nicht begeistert«, sagte Orem, »das kann ich Ihnen versichern.«
Hockney lehnte sich an den Schalter, legte die Hände flach auf den Tresen und winkelte die Ellbogen ab. »Warum fangen wir nicht noch mal von vorne an?«
»Sicher«, sagte Orem. »Mr Tatum sollte mit dem Flieger aus Great Falls um zehn nach sechs hier ankommen, aber der Flug hatte Verspätung. Fast fünf Stunden. Ist das zu fassen? Er wollte Kompaktklasse, nur hatten wir keine da, also haben wir ihn upgegradet. Das ist bei uns Usus.«
»Dann gab es also gar keine Leiche?«
»Es war quasi mitten in der Nacht«, erklärte Orem. »Auf dem Parkplatz waren zwei Jeeps übrig, ein blauer und ein grüner. Mr Tatum dachte, der grüne wäre seiner.«
»Und in dem war die Leiche?«
»Da war keine Leiche.« Orem blickte geradezu wehmütig drein. »Mr Lester war bloß … unpässlich.«
Thumps hätte am liebsten eingeworfen: »Zwar nicht tot, aber total stramm«, doch Orem schaffte es auch ganz gut alleine, den Sheriff zur Weißglut zu bringen.
»Lester?«
Orem fingerte kurz am Computer herum. »James Lester. Aus Sacramento.«
»Irgendeine Vorstellung, wie dieser James Lester sturzbetrunken in einem Ihrer Fahrzeuge gelandet ist?«
»Er hatte es gemietet.« Orem sah erst Duke an, dann Thumps. »Da war er natürlich noch nicht betrunken. Das war vor zwei Tagen. Als er hier ankam.«
Hockney drehte sich zu Thumps um. »Warum versuchen Sie es nicht mal?«
Thumps hatte gerade über seinen neuen Herd nachgedacht und darüber, wie viel einfacher es wäre, über einer offenen Flamme eine schöne Essigreduktion herzustellen.
»Hat Lester den Wagen zurückbringen wollen?«
»Glaub ich nicht.« Orem sah erneut im Computer nach. »Er hätte den Wagen noch für weitere vier Tage gehabt.«
»Dann hat er vielleicht jemanden abholen wollen.«
»Sie meinen so was wie … eine Frau?«
»Sicher«, sagte Thumps. »So was wie eine Frau.«
»Vielleicht war er ja deshalb betrunken.« Jetzt nahm Orem Fahrt auf. »Vielleicht kam sie nicht, vielleicht hat sie ihm ja eine E-Mail geschickt oder eine SMS, dass sie mit ihm Schluss macht.«
Thumps warf Hockney einen flüchtigen Blick zu. Noch steckte die Waffe des Sheriffs im Holster.
»Und als Lester kapierte, dass er gerade die Liebe seines Lebens verloren hat, da hat er vielleicht beschlossen, seinen Kummer zu ertränken?«
Hockney schnaubte. »Seinen Kummer ertränken?«
»Okay«, ging Thumps eilig dazwischen. »Sie sind also zu dem Wagen gelaufen und haben ihn geweckt.«
»Oh, nein, hab ich nicht«, sagte Orem. »Ich hab Mr Lester gar nicht gesehen. Wir dürfen den Schalter nicht unbeaufsichtigt lassen. Normalerweise sind wir hier zu zweit, aber nachts, wenn kaum was los ist, will Mr Chivington nicht mehr Leute als nötig bezahlen.«
Schlagartig war Duke wieder im Rennen. »Chivington?«
»Der Geschäftsführer.«
»Geschäftsführer? Norm Chivington?« Dukes Augen leuchteten. »Dann gehört diese Mietwagenfirma also Norm Chivington?«
»So ist es«, sagte Orem. »Sowie Mr Tatum mir das Problemchen geschildert hatte, hab ich Mr Chivington angerufen. Er kam vorbei und hat sich um alles gekümmert.«
»Das glaub ich gern«, sagte Hockney, »das glaub ich nur zu gern.«
Thumps sah sich in der Halle um. An einer Wand hing ein großes Poster mit einem glücklichen Pärchen am Strand. Das Meer war unglaublich blau, der Sand unglaublich weiß, der Mann und die Frau unglaublich knackig. Eine Szene, wie sie nur Photoshop hervorbringen konnte.
»Es war nicht Mr Tatums Schuld«, sagte Orem. »Das hätte jeder von uns falsch interpretiert.«
Duke nickte. »Was meinen Sie, DreadfulWater? Hätten Sie das auch falsch interpretiert?«
»Klar. Besoffen und tot sind ja fast dasselbe.« Thumps zeigte auf eine Überwachungskamera an der Wand hinter Orem. »Vielleicht könnten wir uns mal das Video ansehen.«
»Leider«, sagte Orem, »funktioniert die nicht.«
»Natürlich nicht.« Hockney schüttelte den Kopf. »Gibt’s Kameras auf dem Parkplatz?«
»Nein«, antwortete Orem. »Aber es gibt jemanden, der dort nachts seine Runde dreht. Manchmal stellen die Leute einen Wagen dort ab und vergessen zu bezahlen.«
»Und dieser Jemand checkt die geparkten Wagen?«
»Randy, glaub ich, oder Sandy …«
»Andy?«, schlug Thumps vor.
»Genau«, sagte Orem, »Andy. Der arbeitet für Chivington. Also, nicht hier, sondern draußen, als Händler.«
Als sie zurück im Sheriff’s Office waren, steuerte Thumps erst mal ohne Umwege die Toilette an. Dass der Harndrang so unvermittelt kam, machte ihm am meisten zu schaffen. In einem Moment war noch alles in Ordnung, und im nächsten musste er auch schon die Beine in die Hand nehmen, damit kein Malheur passierte. Vielleicht hatte Archie doch recht, vielleicht sollte er sich mal durchchecken lassen.
»Sie dürften sogar auf meinem Stuhl sitzen.« Duke goss sich eine Tasse Kaffee ein.
Thumps hatte keine Vorstellung, wie viel Kaffeepulver Hockney in die alte Espressokanne löffelte und wie lange er den Kaffee vor sich hin köcheln ließ. Aber ihm reichte schon, was er am Ende dabei herauskommen sah.
»Und Sie dürften meinen Kaffee trinken.«
Thumps sah Duke dieses Gebräu schon seit Jahren trinken, ohne dass der Mann jemals mit der Wimper gezuckt hätte. »Gehen Sie eigentlich zum Check-up?«
»Zu was für einem Check-up?«
»Beim Arzt.«
Duke stellte seine Kaffeetasse gefährlich nah an der Tischkante ab. Auch der Tisch zuckte nicht mit der Wimper. »Bammel vor dem, was Archie gesagt hat?«
»Warum fragen Sie eigentlich nicht Archie, ob er Sheriff spielen will?«
»Warum weise ich Sie nicht jetzt gleich in Ihren neuen Job ein?«
»Ich brauche keine Einweisung«, sagte Thumps. »Ich brauche einen neuen Herd.«
»Sie spielen hier in meiner Abwesenheit Sheriff, und ich spendiere Ihnen den neuen Herd.« Hockney streckte ihm die fleischige Hand entgegen.
»Sie spendieren mir den Herd?«
»Klar«, sagte der Sheriff. »Wie viel kann der schon kosten?«
Thumps schmunzelte, schrieb den Preis auf einen Post-it-Block und schob ihn über den Schreibtisch.
Ungläubig starrte der Sheriff die Summe an. »Das ist nicht Ihr Ernst.«
»Doch«, sagte Thumps. »Friss oder stirb.«
Hockney starrte immer noch die Summe an, als sein Telefon klingelte.
»Ja? Sheriff’s Office?«
Wer auch immer in der Leitung war, schien nonstop auf Hockney einzureden. Als er schließlich auflegte, war er eindeutig nicht mehr zu Späßen aufgelegt.
Duke schob den Post-it-Block zurück zu Thumps. »Sie erinnern sich noch, dass Sie meinten, Sie wären in Sachen Polizeiarbeit außer Übung?«
Thumps schloss die Augen. »Was kommt als Nächstes?«
Duke stand auf und schob seinen Gürtel zurecht. »Sie wissen, was man über Übung sagt?«
Das Wagon Wheel Motel war irgendwann in den Fünfzigerjahren entstanden. Die ursprüngliche Neonreklame gab es noch immer: ein Planwagenrad mit Leuchtröhren-Speichen, die der Reihe nach aufblinkten, um Bewegung zu simulieren. Selbst der Split-Rail-Zaun entlang der Grundstücksgrenze stand noch, war aber mittlerweile mit so viel Draht geflickt, dass mehr Rost als Holz zu sehen war. Direkt an der Zufahrt warb ein Schild für kostenloses Kabelfernsehen und High-Speed-Internet.
Als Hockney den Motelparkplatz ansteuerte, stand Eleanor Lake bereits vor dem Personalbüro und hatte die Hände in die Hüften gestemmt. Thumps’ Mutter hatte auch immer so dagestanden, wenn ihr Sohn etwas getan hatte, was ihr gegen den Strich ging.
»Eleanor sieht nicht glücklich aus.«
»Eleanor sieht nie glücklich aus«, sagte Duke. »Ein echter Besen, die Frau.«
Beth Mooneys Kombi parkte vor einer der Zimmertüren. Für Thumps gab es nur zwei Gründe, weshalb sie hier sein konnte.
»Beth ist da.« Er fragte sich, ob Hockney seinen Verdacht gleich bestätigen würde.
»Das seh ich auch.«
Beth Mooney war eigentlich Hausärztin, aber eben auch die Leichenbeschauerin des Countys. Hier und da machte sie Hausbesuche, wenn Patienten zu krank waren, um zu ihr in die Praxis zu kommen. Wenn sich aber Beth und der Sheriff gleichzeitig an ein und demselben Ort einfanden, hieß das in aller Regel, dass sich in nächster Nähe ein Toter befand.
»Wofür zur Hölle bezahlen wir Sie überhaupt?« Eleanor war keine eins sechzig groß, hatte einen stahlgrauen Bürstenschnitt und das Gemüt einer Rasierklinge.
»Morgen, Eleanor«, sagte der Sheriff und tippte sich an den Hut, wie John Wayne es vielleicht getan hätte.
»Warum haben Sie den Fotografen mitgeschleift?« Eleanor stemmte erneut die Hände in die Hüften. »Wir brauchen hier verdammt noch mal keine Ansichtskarten.«
»Vielleicht erzählen Sie mir erst mal, was passiert ist.«
»Hab ich doch schon am Telefon. Wollte das Zimmer sauber machen, und da lag er. Selbstmord. So einfach ist das.«
»Nur dass Sie es am Telefon nicht mir erzählt haben.« Hockney versuchte, nicht genervt zu klingen. »Sie haben Beth angerufen.«
»Natürlich hab ich sie angerufen. Brauch für einen Selbstmord ja wohl nicht die Polizei. Außerdem holt sie doch auch die Leichen ab, oder nicht?«
»Sobald ich ihr grünes Licht gebe«, sagte Duke.
»Und wie wär’s, wenn Sie genau das täten? Und zwar pronto. Ich verdien doch nichts an einem leeren Zimmer.«
Thumps überließ es Duke, Eleanor mit der vorschriftsmäßigen polizeilichen Vorgehensweise vertraut zu machen, und schlenderte unterdessen zu den Türen der Motelzimmer. Beth stand in der Tür zu Nummer zehn. Hinter ihr war ein großer, hagerer Mann im Fernsehsessel in sich zusammengesackt. Hellgrauer Anzug. Cremeweißes Hemd. Blaue Krawatte. Vielleicht Anfang fünfzig. Nicht dass sein Alter groß eine Rolle gespielt hätte. Älter würde er ja nicht mehr.
»Hi, Beth.«
»Ist der Sheriff auch da?«
»Plaudert noch mit Eleanor.«
»Dann muss wahrscheinlich gleich jemand genäht werden.« Beth zog sich wieder in den hinteren Teil des Zimmers zurück und schoss noch ein paar Fotos von der Leiche. »Wie gut, dass ein Arzt anwesend ist.«
»Soll ich das übernehmen?«
»Fragt der Fotograf oder der kommissarische Sheriff?« Sie trat ein Stück näher an die Leiche heran und machte ein Foto von der Schusswaffe, die neben dem Sessel am Boden lag. »Weil du hier nämlich gerade mitten durch meinen Tatort marschierst.«
Seit Beth und Ora Mae sich getrennt hatten, wirkte Beth immer leicht gereizt, und es sah nicht danach aus, als hätte die Zeit, die doch angeblich alle Wunden heilen sollte, bei ihr bisher irgendwas ausrichten können.
Thumps bedachte sie mit einem flüchtigen Lächeln. »Eleanor meint, es war Selbstmord.«
»Archie meint, du hast Krebs.«
»Seit wann hörst du auf Archie?«
»Wann war dein letzter Check-up?«
»Ich brauche keinen Check-up.«
»Okay, anders«, sagte Beth. »Warst du überhaupt je bei einem Check-up?«
Thumps umrundete das Bett. »Sieht nach Kopfschuss aus.«
»Und wonach sieht’s noch aus?«
»Nach einer Leiche. Nach einer Bahre. Nach einer attraktiven Leichenbeschauerin mit einer Kamera in der Hand.«
»Tod tritt ein«, dozierte Beth, »die Muskeln erschlaffen und …?«
Das Bild, das Thumps sofort vor Augen stand, behagte ihm nicht. »Blase und Darm.«
»Blase und Darm.« Beth machte ein paar Nahaufnahmen von der ihr zugewandten Gesichtshälfte des Mannes. »Archie will, dass du zu mir zum Check-up kommst.«
»Da sind Flecken auf der Hose«, stellte Thumps fest. »Aber das Sesselpolster sieht sauber aus.«
»Du fühlst dich mies und kommst nicht zu mir in die Praxis?« Beth nahm den Revolver hoch und ließ ihn in einen Asservatenbeutel fallen. »Gehst dich aber bei Archie ausheulen.«
»Ich hab mich nicht bei Archie ausgeheult.« Thumps überlegte schon, wieder nach draußen zu gehen und zuzusehen, wie Eleanor Hockney in Stücke riss. »Du siehst aus, als würdest du wieder Sport machen. Und hast du eine neue Frisur?«
»Reden wir jetzt über Ora Mae?« Beth ging neben dem Sessel in die Hocke. »Wenn ja: Das ist Geschichte.«
»Ich wollte nur …«
»Einfühlsam sein?«
»Aufmerksam.«
»Und diese spezielle Geschichte«, fuhr Beth fort, »ist so was von tot und begraben.«
Thumps überlegte fieberhaft, was ihm sonst besser nicht auffallen sollte, als er Hockneys breiten Schatten hinter sich erahnte.
»Fall schon gelöst?«
»War Selbstmord«, sagte Thumps. »Genau wie Eleanor behauptet hat.«
»Nicht mal Andy wäre so blöd.«
»O doch.«
Hockney trat auf den Sessel zu. »Das sieht man nicht mehr alle Tage.«
»Eine Leiche?«
»Ein Massagebett.« Duke sah fast wehmütig aus. »Da steckt man einen Quarter rein, und das Ding rüttelt einen in den Schlaf.«
»Resopal-Chrom-Tisch und passende Stühle«, sagte Thumps, »und ein Flauschteppich.«
»Fünfzigerjahre«, sagte Duke. »Das höchste der Gefühle.«
Beth richtete sich auf und drückte die Beine durch. »Sagt Bescheid, wenn ihr durch seid mit der Inneneinrichtung.«
»Darf ich ihn ein Stück bewegen?«
»Aber sicher doch.« Beth machte einen Schritt von der Leiche weg. »Ihr wisst, was ein verdächtiger und ein natürlicher Tod gemeinsam haben?«
Thumps hatte sofort die Antwort parat. »Nichts geht mehr?«
Hockney tätschelte ihm die Schulter. »Sehen Sie? Geht doch!«
Beth streifte die Latexhandschuhe ab und schlug ihr Notizbuch auf. »In beiden Fällen stehen die Toten normalerweise nicht mehr einfach auf und laufen herum.«
Duke beugte sich über die Leiche und sah sie sich genauer an. »Gibt’s schon einen Todeszeitpunkt?«
»Wollen Sie gar nicht wissen, wie er gestorben ist?«
»Ich weiß, dass er nicht in dem Sessel gestorben ist.« Es war nicht als Frage formuliert, und Hockney erwartete auch keine Bestätigung.
Beth hielt einen weiteren Asservatenbeutel hoch. Darin steckte eine Brieftasche. »James Lester.«
»Lester?« Thumps drehte sich zu Duke um, aber der schien wenig überrascht zu sein.
Er schlug sein Notizbuch auf. »James Lester. Führerschein aus Kalifornien, wohnhaft in Sacramento.«
»Derselbe James Lester, der sturzbesoffen am Flughafen war?«
»Scheint so.« Hockney nahm den ersten Beutel hoch. »Waren irgendwo Autoschlüssel?«
»Fehlanzeige.«
»Bemerkenswert.« Duke wandte sich an Thumps: »Finden Sie das nicht bemerkenswert?«
»Passiert doch ständig«, entgegnete Thumps.
Duke streifte sich Handschuhe über und fischte den Revolver aus dem Asservatenbeutel. »Smith & Wesson mit verdecktem Hahn. 22er Magnum.«
»Ganz süß«, sagte Beth, »für eine Knarre.«
»Sieben Schuss.« Hockney kippte die Trommel heraus. »Drei abgefeuert.«
Thumps fragte sich, ob sein Wunschherd wohl mit abnehmbarem Grill käme oder ob er sich den gesondert kaufen müsste. Wenn er das nächste Mal bei Chinook Appliances vorbeischaute, würde er sich bei Danielle danach erkundigen.
Der Sheriff ließ den Revolver zurück in den Beutel fallen und drückte ihn Beth in die Hand. »Also, DreadfulWater, was glauben Sie?«
»Ich bin Fotograf.«
»Ich liebe es, meine Zeit zu vergeuden und erwachsenen Männern bei der Arbeit zuzusehen.« Beth versiegelte den Beutel und drehte sich zu Thumps um. »Zwei Uhr heute Nachmittag«, sagte sie. »Bei mir.«
»Ich brauche keinen Check-up.«
»Sei pünktlich.«
Eleanors Laune besserte sich kein bisschen, selbst nachdem Duke und Thumps Lesters Leiche in Beths Kombi verladen hatten. »Kann ich das Zimmer jetzt putzen? Ist ja nicht so, als hätte ich alle Zeit der Welt.«
»Das Zimmer ist immer noch ein Tatort, Eleanor.«
»Und wie zum Teufel wollen Sie jemanden festnehmen, der sich selbst die Lichter ausgeblasen hat?«
»Sie haben nicht zufällig einen Schuss gehört?«
»Was glauben Sie eigentlich, was das hier für ein Motel ist?«
Hockney zog seine Hose nach oben. »Ich besorge Absperrband und versiegele das Zimmer. Dann schick ich ein paar meiner Leute rüber, die sich alles noch mal genau ansehen.«
»Sie meinen, die alles noch mehr durcheinanderbringen«, sagte Eleanor.
»Und wenn wir dann fertig sind, können Sie Ihr Zimmer wieder zurückhaben.«
»Sie kriegen zwei Stunden«, sagte Eleanor. »Dann geh ich mit dem Staubsauger rein.«
Der Sheriff schüttelte den Kopf. »Wenn meine Leute Sie und Ihren Staubsauger in dem Zimmer antreffen, Eleanor, dann landen Sie im Handumdrehen in meinem Motel. Haben wir uns verstanden?«
Eleanor stampfte zurück in ihr Büro. Unter ihren Sohlen stob der Schotter auf. Duke lehnte sich an einen Pfeiler und kratzte sich genüsslich den Rücken.
»Sie wissen, dass die mal Krankenschwester war?«
»Vielleicht will sie ja auch mal kommissarischer Sheriff sein?«
»Gehen wir ein Stück«, sagte Duke, »und genießen die Frühlingsluft.«
Der Sheriff schlenderte erst bis ans eine Ende, dann bis ans andere Ende des Parkplatzes.
»Wie gut sind Sie in Mathematik?«
»Eine Kugel in Lester«, sagte Thumps. »Fehlen noch zwei.«
»Vielleicht hat er versucht, sich umzubringen«, spekulierte Hockney, »aber zwei Mal danebengeschossen.«
»Suchen wir jetzt den grünen Jeep?«
»Ja.« Hockney nahm seinen Hut ab und rieb sich den Schädel. »Sehen Sie einen?«
»Nope.«
»Wie geht’s Ihrem Volvo?«
»Bestens.«
»Vielleicht sollten Sie den Herd vergessen und stattdessen über ein anderes Auto nachdenken.«
»Ich brauche kein anderes Auto.«
Duke zog die Tür seines Streifenwagens auf und rutschte hinters Steuer. »Und nachdem Sie jetzt auf der Suche nach einem Auto sind, wüsste ich sogar, wo wir eins finden könnten.«
Chivington Motors war mehr oder weniger ein großer Acker voller Gebrauchtwagen und Trucks am westlichen Stadtrand von Chinook. Norm Chivington behauptete gerne, er hätte den größten Gebrauchtwagen-Fuhrpark im ganzen Bundesstaat. Nicht dass das für irgendwen außer für ihn selbst eine Rolle gespielt hätte.
»Schon mal ein Auto bei Norm gekauft?«
»Nope.«
»Ich schon«, sagte Hockney. »Das wird richtig gut.«
»Geht’s hier um den Buick, den Sie für Macy gekauft haben?«
»Ganz genau.«
»Den mit dem Riss im Motorblock?«
Hockney summte ein paar Takte eines fröhlichen, beschwingten Liedchens vor sich hin. »Irgendeine Vorstellung, wie unser Mr Lester tot in diesem Motelzimmer enden konnte?«
Dieser Typ aus Seattle, Bob Tatum, war erst nach elf Uhr gelandet. Vielleicht hatte er Gepäck aufgegeben, vielleicht auch nicht. Zehn Minuten am Mietwagenschalter, dann noch mal zehn Minuten bis rüber zum Parkplatz. Alles in allem maximal eine halbe Stunde. Er hatte Lester in dem grünen Jeep entdeckt, den der Tote selbst angemietet hatte, und anschließend Orem Bescheid gesagt. Orem hatte Norm Chivington alarmiert, der wiederum zum Flughafen gekommen war, Lester aus dem Vollrausch geweckt und ihn zurück ins Motel gefahren hatte.
»Lester war schon tot, noch bevor Tatums Flieger gelandet ist.«
»Ja, war er«, sagte Duke.
Dann hatte Chivington also einen Toten vorgefunden. Und selbst wenn die Leichenstarre noch nicht eingesetzt hatte, war sturzbetrunken von mausetot durchaus zu unterscheiden.
»Aber Ihnen hat Norm nicht Bescheid gesagt.«
»Nein«, sagte Duke, »hat er nicht.«
»Haben Sie die Lösung schon?«
»Nein, aber ich bin hellauf begeistert, dass ausgerechnet Norm in die Sache verwickelt ist.«
Aus einiger Entfernung sah der Fuhrpark tatsächlich stattlich aus. Von Thumps bekam Norm für den ersten Eindruck die volle Punktzahl. Chivington Motors verfügte über einen Fertigbau-Showroom aus Alu und Glas sowie über ein Verkaufsgebäude, die beide leicht erhöht auf einem Hügel thronten und straff organisierte Reihen aus Kraftfahrzeugen in sämtlichen Größen überblickten, deren Windschutzscheiben allesamt mit Werbeslogans, Kilometerstand-Stickern und Angebotspreisen dekoriert waren. An einer Seite hatte Norm ein lang gezogenes weißes Pergolazelt errichten lassen, um die teureren Gefährte vor der Sonne und vor den Hagelschauern zu schützen, die hier draußen in der Prärie zu jeder Jahreszeit niedergehen konnten.
Thumps hatte Andy Hopper fast wieder vergessen, doch als der Sheriff den Parkplatz vor dem Verkaufsgebäude ansteuerte, grinste Hopper ihnen schon entgegen, als hätte er soeben seine zwei weltbesten Freunde erblickt.
»Sheriff!«
»Hallo, Andy.«
Andy Hopper war einer dieser großen, schlanken jungen Kerle, die gerne mal in Modeversandkatalogen für Unterwäsche und Badebekleidung posierten. In der Highschool war er der Star der Footballmannschaft gewesen. Und Prom-König. Und derjenige, von dem seine Mitschüler gedacht hatten, er würde eines schönen Tages die steilste Karriere von allen machen.
»Und Thumps!« Andy griff beherzt nach Thumps’ Hand und schüttelte sie ausgiebig. »Wie zur Hölle geht’s Ihnen beiden?«
Hockney hätte um ein Haar ein Grinsen zustande gebracht. »Ist der Geschäftsführer zu sprechen?«
»Was?«
Das Einzige, womit Andy sich nicht brüsten konnte, war ein klarer Verstand. Was gewissermaßen nicht weiter tragisch war. Soweit Thumps es beurteilen konnte, hatte Andy auch noch nicht mitbekommen, dass es für ihn wohl nie mehr besser als in der Highschool werden würde.
»Norm?«, half der Sheriff ihm auf die Sprünge.
»Verdammt, Duke«, sagte Andy und grinste immer noch von einem Ohr zum anderen, »was immer Norm Ihnen verkaufen kann, kann ich Ihnen genauso gut verkaufen. Und so bleibt’s auch in der Familie, Sie wissen schon …«
»Bin leider offiziell hier.«
Andy grinste zwar weiter, aber bei Weitem nicht mehr so strahlend. »Hat Norm was angestellt?«
»Das werde ich erst mal mit ihm besprechen müssen.«
»Hab ein paar Eins-a-Geschosse hier stehen«, sagte Andy. »Anschauen kostet nichts.«
»Weißt du«, sagte Hockney, »jetzt wo du’s erwähnst – Thumps hat mal erzählt, dass er sich vielleicht nach was Neuem umsehen will.«
Andys Miene hellte sich wieder auf. »Es geht doch nichts über einen neuen Wagen. Wir machen mobil und so.«
»Vielleicht kannst du ihn ja rumführen«, sagte der Sheriff, »während ich mich mit Norm unterhalte.«
»Klar doch.«
»Fang am besten mit einem Jeep an«, sagte Hockney. »Thumps ist für mich immer schon ein Jeep-Typ gewesen.«
Die jüngeren Modelle standen unter dem großen Zeltdach, jedes einzelne gewaschen und auf Hochglanz poliert. Thumps musste an seinen Volvo denken und fragte sich, wann er den eigentlich zuletzt gewaschen hatte.
»Viele kaufen ja nur privat«, sagte Andy, »Craigslist, AutoTrader, Kleinanzeigen – aber das ist am Ende jedes Mal ein Fehler. Ich hatte hier mal einen Typen, der seinen Wagen bar an einen anderen verkauft hat. Und raten Sie mal, was passiert ist.«
Thumps fuhr mit der Hand über die Motorhaube eines verhältnismäßig jungen Ford Mustang. Er konnte die weiche Wachspolitur regelrecht spüren.
»Der Käufer hat sich nicht die Mühe gemacht, den Wagen umzumelden, geschweige denn zu versichern. Ein paar Tage später kracht er in einen Lieferwagen rein. Totalschaden. Und raten Sie mal, wessen Versicherung für den Schaden aufkommen musste.«
Keiner der Jeeps im Zelt war grün.
»Und dann diese Frau, die ich kenne – die hat sich einen Gebrauchten vom Schwarzen Brett im Supermarkt gekauft. Wie sich herausstellte, war er geklaut.« Andy verstummte und schüttelte traurig den Kopf. »So was muss man von Anfang an richtig angehen. Geschäfte nur mit Profis.«
»Sind das alle Jeeps, die ihr habt?«
»Kaum Kilometer auf dem Zähler, Top-Ausstattung«, sagte Andy. »Welchen wollen Sie Probe fahren?«
»Ich hab über Grün nachgedacht.«
»Grün?«
Thumps versuchte, keine Miene zu verziehen. »Ja, traditionelle Indianerfarbe.«
»Kein Scheiß?« Andy legte den Arm um Thumps’ Schultern und bugsierte ihn zurück in Richtung Showroom. »Dann ist heute Ihr Glückstag!«
Der grüne Jeep stand immer noch feucht und schimmernd auf einem der Werkstattstellplätze.
»Diese kleine Schönheit ist ein richtiges Schnäppchen«, verkündete Andy. »Hey, Sie sind doch Cherokee, oder?«
Thumps nickte.
»Ein Jeep Grand Cherokee.« Andys Zwinkern sah eher aus wie ein Krampf im Augenlid. »Das muss doch ein gutes Omen sein!«
»Der ist gewaschen worden.«
»Kostet nichts extra.« Andy griff zur Tür – vergebens.
»Abgeschlossen?«
»Ich hol schnell den Schlüssel.« Er wieselte los zum Büro. »Bleiben Sie, wo Sie sind!«
Thumps umrundete den Jeep und versuchte es mit den übrigen Türen. Womöglich war das hier gar nicht der grüne Jeep, den Lester gemietet hatte. Womöglich war das hier bloß irgendein grüner Jeep, der gerade frisch aus einem Dreijahres-Leasingvertrag entlassen worden war und jetzt ein neues Zuhause suchte. Thumps versuchte, sich auszumalen, wie er hinter diesem Steuer säße. Immerhin ein Cherokee, vielleicht hatte Andy ja recht. Vielleicht war es ein Omen. Im Winter wäre so ein Vierradantrieb echt praktisch, und der Volvo wurde ja nicht jünger.
Thumps selbst allerdings auch nicht.
»Also, was meinen Sie?« Mit einem riesigen Schlüsselring kam Andy auf ihn zumarschiert. »Rufen Sie Ihren Preis auf, und ich sag Ihnen unseren.«
»Wie viele Kilometer?«
»Ich bin auf Ihrer Seite.« Andy versuchte es mit einem Schlüssel nach dem anderen. »Wenn ich Ihnen den nicht verkaufe, krieg ich keine Provision.«
Fasziniert sah Thumps zu, wie Andy die Schlüssel nacheinander durchprobierte, und merkte nicht mal, dass Hockney sich zu ihnen gesellte.
»Hey, Sheriff«, sagte Andy. »Können Sie sich Thumps am Steuer eines so fantastischen Wagens vorstellen?«
Hockney hatte zwei Becher Kaffee mitgebracht. Einen davon drückte er Thumps in die Hand. »Norm hat in seinem Showroom eine dieser schicken Kapselmaschinen stehen. Die Auswahl an Kaffees, die diese Teufelsmaschine ausspucken kann, sollten Sie sehen! Ich hab Ihnen einen Pumpkin Spice Latte mitgebracht.«
»Ist nicht Ihr Ernst.«
»Und eine Flasche Wasser, für alle Fälle.«
»Ich nehm das Wasser.«
»Die Kunden lieben diese Maschine«, sagte Andy, der soeben begann, die Schlüssel ein zweites Mal durchzugehen.
Hockney stellte seinen Becher auf einer kleinen Werkzeug-Stahlkiste ab. »Sieht aus, als gäb’s Probleme.«
»Nicht der Rede wert«, sagte Andy und legte den Turbo ein. »Der Schlüssel muss hier irgendwo sein.«
War er aber nicht. Thumps und Hockney sahen zu, wie Andy den dritten Durchgang startete.
»Wissen Sie, was«, sagte er dann, »bestimmt hat Norm den Schlüssel noch.«
Hockney nickte. »Und Norm scheint verschwunden zu sein.«
»Ist bestimmt zu Mittag essen«, sagte Andy, »und hat die Schlüssel mitgenommen.«
»Ist ja seltsam«, sagte Hockney. »Man kann doch kein Auto ohne die Schlüssel verkaufen.«
»Er hat ihn erst heute Morgen gebracht«, erklärte Andy. »Hat garantiert vergessen, die Schlüssel rauszulegen.«
Hockney drehte sich zu Thumps um. »Wie wichtig ist Ihnen dieser spezielle Wagen?«
»Sehr wichtig«, antwortete Thumps.
»Hey«, ging Andy dazwischen, »ich wette, Sie haben einen Multipick bei sich im Wagen. Hab ich recht?«
Hockney schmunzelte in sich hinein. »Wenn das Norm recht ist?«
»Klar, verdammt«, sagte Andy. »Norms Motto lautet: ›Alles für den Verkauf.‹«
Der Sheriff brauchte keine dreißig Sekunden, und der Jeep war entriegelt. Lesters Vertrag mit der Mietwagenfirma lag immer noch im Handschuhfach.
»Ich kann Ihnen ein Spitzenangebot machen.« Andy schaukelte auf seinen Fersen vor und zurück. »Bin heute in totaler Wahnsinns-Verkaufslaune.«
Thumps holte den Spurentechnik-Koffer aus Dukes Streifenwagen, während der Sheriff in der Dienststelle anrief und den Abschleppdienst anforderte, der den Jeep auf das Polizeigelände mit den beschlagnahmten Fahrzeugen bringen sollte.
»Riechst du das?« Hockney rümpfte die Nase. »Benutzt ihr immer Ammoniak, um eure Karren zu waschen?«
Andys gute Laune war inzwischen verflogen. »Woher soll ich das wissen, verdammt? Ich verkauf hier nur, ich wasch sie nicht.«
»Ammoniak vernichtet Blutspuren«, stellte der Sheriff fest. »Das hast du aber schon gewusst, oder?«
»Blut? Was denn für Blut?«
Hockney versiegelte sämtliche Türen und drückte seinem einstigen Deputy eine Visitenkarte in die Hand. »Der Abschlepper ist unterwegs. Norm geht nicht an sein Handy. Wenn du ihn also siehst, sag ihm, dass er mich anrufen soll.«
»Ist echt nicht meine Aufgabe«, maulte Andy. »Sagen Sie ihm das selber.«
»In dem Fall«, wandte sich Hockney an Thumps, »müssen wir den guten alten Andy hier wohl ebenfalls mitnehmen und auf der Dienststelle seine Aussage aufnehmen.«
Andy schob die Hände in die Taschen. »Schon gut, ich richt’s aus.«
»Will dir wirklich keine Unannehmlichkeiten machen.«
»Ich sag doch, ich richt’s aus.«
»Und während du gerade so schön kooperierst«, sagte Duke und zückte sein Notizbuch, »wann genau bist du gestern eigentlich am Flughafen gewesen?«
»Am Flughafen?«
»Du hast bei Norms Mietwagen nach dem Rechten gesehen.«
»Ja, das gehört zu meinem Job.«
»Acht Uhr abends? Neun Uhr? Viertel vor zehn?«
»Was spielt das für eine Rolle?«
»Jetzt denk mal scharf nach«, sagte Hockney.
»Neun, halb zehn, so in dem Dreh.«
»Und stand dieser spezielle grüne Jeep um diese Uhrzeit auf dem Flughafenparkplatz?«
»Wohl nicht.« Andy tippte sich an die Schläfe. »Wenn er da gestanden hätte, hätte ich ihn bemerkt.«
Duke bedachte Andy mit einem flüchtigen Lächeln. »Dann will ich mich hiermit im Namen der Gemeinde Chinook für deine Mitarbeit bedanken.«
»Das hier wird Norm nicht gefallen«, sagte Andy. »Dass Sie den Wagen mitnehmen und so.«
»Tja«, sagte der Sheriff, »ich weiß.«
Als sie zurück zum Streifenwagen liefen, fiel Thumps der merklich beschwingte Gang des Sheriffs auf.
»Sie haben Ihren Pumpkin Spice Latte vergessen.«
Duke schüttelte den Kopf. »Nein, hab ich nicht.«
»Wissen Sie …« Thumps versuchte, besorgt zu klingen. »Kann sein, Sie müssen Norm verhaften.«
»Gott«, sagte Hockney, »an manchen Tagen liebe ich diesen Job wirklich.«
Hockney setzte Thumps vor dem Aegean ab. »Andys alte Uniformen dürften Ihnen sogar passen.«
Thumps schüttelte den Kopf.
»Jetzt seien Sie nicht so. Denken Sie mal an Macy. Die wird nicht begeistert sein, wenn Sie nicht für diese mickrige Woche den kommissarischen Sheriff spielen.«
»Macy ist Ihre Frau«, gab Thumps zurück, »und Ihr Problem.«
»Urlaube sind Frauen sehr wichtig«, sagte der Sheriff. »Sie wissen, was ich damit sagen will?«
»Ich bin echt nicht der Mann, den Sie brauchen.«
»Das stimmt«, sagte Duke, »aber Sie sind der Einzige, den ich habe.«
Das Aegean war die einzige richtig authentische Buchhandlung in ganz Chinook. Sie war in der alten Carnegie-Bibliothek untergebracht, die Archie Kousoulas aus den Klauen eines Baulöwen aus Denver gerettet hatte, der das Gebäude einreißen und dort Eigentumswohnungen hatte errichten wollen.
Die Vorstellung eines solchen Denkmal-Armageddons hatte Archie auf die Barrikaden gebracht. Er hatte das Gemeindeamt gestürmt und dort ein Gegenangebot vorgelegt. Für einen symbolischen Kaufpreis erstand er das Gebäude, beantragte nationale Fördergelder, um es zu sanieren, und verwandelte den Bau im italienischen Renaissancestil mitsamt Säulen, Rundbogen und Kuppel in eine todschicke Buchhandlung und ein Gemeindezentrum. So bescherte er der Stadt Kultur und bewahrte zugleich ein Stück Stadtgeschichte.
Als Thumps die alte Bibliothek betrat, war er sich nicht sicher, ob er Archie einfach nur freundlich und wohlwollend daran erinnern sollte, dass persönliche Informationen – wie die zum Gesundheitszustand – auch persönlich zu bleiben hatten. Oder ob er auf alle Nettigkeit verzichten und dem kleinen Griechen einfach den Hals umdrehen sollte.
Die Beleuchtung im Laden war ungewöhnlich gedämpft, als wären hier jüngst harte Zeiten angebrochen und als müsste Kousoulas Stromkosten sparen.
»Thumps!« Archie stand an einem Tischchen mit Büchern neben einem großen Plakat. »Du hast ja keine Ahnung, was für Sorgen ich mir gemacht hab!«
»Hast du überall rumerzählt, ich wäre krank?«
»Du bist krank«, sagte Archie. »Wir wissen nur noch nicht, was du hast.«
»Ich bin nicht krank.«
»Was hat Beth denn gesagt?« Archie verschränkte die Arme vor der Brust und sah ihn erwartungsvoll an. »Hat sie dir Blut abgenommen? Ist es ernst?«
Thumps rieb sich die Augen. »Zum einen zieht Beth keine voreiligen Schlüsse. Und zum anderen braucht mir hier niemand Blut abzunehmen.«
»Du machst Witze«, sagte Archie. »Du warst noch gar nicht bei ihr?«
Der Baulöwe aus Denver hatte von der Gemeinde schon grünes Licht bekommen. Die meisten Leute hätten an diesem Punkt eingelenkt. Aber nicht Archie.
Er hatte die folgenden Monate quasi das Rathaus belagert, war der Bürgermeisterin und dem Stadtrat auf die Nerven gegangen, hatte dem Bauamt zugesetzt und bei der Denkmalbehörde Rabatz gemacht. Er schrieb dem Gouverneur. Er rief jeden einzelnen Abgeordneten und Senator der umliegenden vier Bundesstaaten an, telefonierte sich durch zum National Register of Historic Places und schrieb an sämtliche großen Zeitungsredaktionen in ganz Nordamerika.
Als das nicht funktionierte, beschaffte er sich tragbare Lautsprecher, kettete sich an eine der kannelierten Säulen und verlas mehrere Absätze aus Norman Tylers Historic Preservation: An Introduction to Its History, Principles, and Practice, aus Robert E. Stipes A Richer Heritage: Historic Preservation in the Twenty-First Century und aus Jane Jacobs’ Tod und Leben großer amerikanischer Städte, bis ihn die Behörden zu guter Letzt wegen Hausfriedensbruchs und Erregung öffentlichen Ärgernisses festnehmen ließen.
Thumps holte tief Luft. »Archie, jetzt hör mal gut zu. Ich bin nicht krank.«
»Das ist die erste Phase der Auseinandersetzung mit der eigenen Sterblichkeit.«
»Was …?«
»Die Verleugnung.« Archie starrte auf Thumps’ Jacke hinab. »Was zur Hölle ist das?«
»Was?«
»Das da«, sagte Archie, »in deiner Tasche.«
»Was denn?«
Ende der Leseprobe