Die Schatten von Detroit - Loren D. Estleman - E-Book
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Die Schatten von Detroit E-Book

Loren D. Estleman

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Beschreibung

Privatdetektiv Amos Walker – sein erster Fall auf den gefährlichsten Straßen der Motown-City … Privatdetektiv Amos Walker schlägt sich seit seiner Rückkehr aus dem Vietnam-Krieg eigentlich mit der Aufklärung von Versicherungsbetrug durch. Doch als er von einem halbpensionierten Gangsterboss angeheuert wird, seine verschwundene Tochter aufzuspüren, bleibt ihm keine andere Wahl, als den gefährlichen Auftrag anzunehmen. Der einzige Hinweis auf Marla Bernsteins Verbleib ist ein pornografisches Foto – ob die Gangstertochter Teil von Detroits berüchtigter Rotlichtszene geworden ist? Walker wird es nur herausfinden, in dem er in die Schattenseite der Stadt eintaucht, einer gefährlichen Spur folgend, die ihn zum Abgrund des Verderbens stößt … »Amos Walker ist das Musterbeispiel des Noir-Detectives.« New York Times Auftaktband der Amos-Walker-Reihe um einen abgebrühten Privatdetektiv im Detroit der 70er und 80er Jahre, die Fans von Michael Connelly und Raymond Chandler begeistern wird! Band 2, »Die Toten von Detroit«, führt Amos Walker zurück in Detroits Rotlichtviertel – im Auftrag einer vermissten Prostituierten, die erst noch entführt werden muss…

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Seitenzahl: 354

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Über dieses Buch:

Privatdetektiv Amos Walker schlägt sich seit seiner Rückkehr aus dem Vietnam-Krieg eigentlich mit der Aufklärung von Versicherungsbetrug durch. Doch als er von einem halbpensionierten Gangsterboss angeheuert wird, seine verschwundene Tochter aufzuspüren, bleibt ihm keine andere Wahl, als den gefährlichen Auftrag anzunehmen. Der einzige Hinweis auf Marla Bernsteins Verbleib ist ein pornografisches Foto – ob die Gangstertochter Teil von Detroits berüchtigter Rotlichtszene geworden ist? Walker wird es nur herausfinden, in dem er in die Schattenseite der Stadt eintaucht, einer gefährlichen Spur folgend, die ihn zum Abgrund des Verderbens stößt …

Über den Autor:

Loren D. Estleman ist ein amerikanischer Krimi- und Western-Autor, der vor allem für seine fesselnde Amos-Walker-Reihe bekannt ist. Neben dem hartgesottenen Privatdetektiv Walker erlangten auch weitere seiner Figuren, wie Old West Marshal Page Murdock und Auftragskiller Peter Macklin, absoluten Kultstatus und machten den preisgekrönten Erfolgsautor weltweit bekannt.

Bei dotbooks veröffentlichte der Autor vier Bände seiner Amos-Walker-Reihe:

»Die Schatten von Detroit«

»Die Toten von Detroit«

»Die Morde von Detroit«

»Die Straßen von Detroit«

Die Website des Autors: http://www.lorenestleman.com

***

eBook-Neuausgabe Juli 2024

Die amerikanische Originalausgabe erschien erstmals 1980 unter dem Originaltitel »Motor City Blue« bei Houghton Mifflin Company, Boston. Die deutsche Erstausgabe erschien 1984 unter dem Titel »Detroit Blues« im Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M – Berlin – Wien

Copyright © der amerikanischen Originalausgabe 1980 by Loren D. Estleman

Copyright © der deutschen Erstausgabe 1984 Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M – Berlin – Wien

Copyright © der Neuausgabe 2024 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/Hlib Shabashnyi (Mann), Mr Brown 928 (Stadt)

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (fe)

ISBN 978-3-98952-241-1

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Bei diesem Roman handelt es sich um ein rein fiktives Werk, das vor dem Hintergrund einer bestimmten Zeit spielt oder geschrieben wurde – und als solches Dokument seiner Zeit von uns ohne nachträgliche Eingriffe neu veröffentlicht wird. In diesem eBook begegnen Sie daher möglicherweise Begrifflichkeiten, Weltanschauungen und Verhaltensweisen, die wir heute als unzeitgemäß oder diskriminierend verstehen. Diese Fiktion spiegelt nicht automatisch die Überzeugungen des Verlags wider oder die heutige Überzeugung der Autorinnen und Autoren, da sich diese seit der Erstveröffentlichung verändert haben können. Es ist außerdem möglich, dass dieses eBook Themenschilderungen enthält, die als belastend oder triggernd empfunden werden können. Bei genaueren Fragen zum Inhalt wenden Sie sich bitte an [email protected].

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Loren D. Estleman

Die Schatten von Detroit

Kriminalroman, Amos Walker ermittelt 1

Aus dem Amerikanischen von Sigrid Kellner

dotbooks.

Widmung

In Memoriam

JOHN BANICH

für unvergessene Wohltaten

Kapitel 1

Gesichter aus der Vergangenheit soll man am besten dort ruhen lassen. Wenn Sie mir am Schluß dieses Bandes darin zustimmen, dürfte sich die Mühe gelohnt haben.

Mein Lektion begann, als ich mir an einer Straßenecke – so ziemlich dem einzigen Ort, wo man das noch ungestraft tun kann – eine Winston ansteckte. Oder besser gesagt versuchte, mir eine anzustekken. Um ganz genau zu sein, war es an der Ecke Watson und Woodward, und ein heftiger Novembersturm pfiff hinüber zum Lake St. Clair.

Ich zog mir den Hut tiefer in die Stirn, um ihn daran zu hindern, bis nach Grosse Pointe zu fliegen, wo er garantiert nichts zu suchen hatte, wandte mich mit dem Rücken zum Wind und hatte meinem dritten Streichholz gerade eine Flamme entlockt, als der Mann, zu dem das obenerwähnte Gesicht gehörte, aus dem Hauseingang kam, in den ich mich geflüchtet hatte, mich anrempelte und mir das Streichholz aus der Hand stieß, so daß es in dem Matsch zu meinen Füßen erlosch.

Um etwas weiter auszuholen: Ich war nun schon seit drei Wochen bei der Midwest-Confidential-Versicherungsgesellschaft in meiner Eigenschaft als Privatdetektiv engagiert und hatte während dieser Zeit den Mann beobachtet, der im ersten Stock des Hauses an der gegenüberliegenden Ecke wohnte. Es war dies ein unschönes, rußgeschwärztes Gebäude, das aus den Anfangsjahren der Detroiter Auto-Industrie stammte und sich trotz einer gewissen Verwahrlosung sowie dem Verfall der umgebenden Nachbarschaft eine unleugbare Würde bewahrt hatte, der auch die anreißerische Aufschrift an dem Vordach des Kinos im Erdgeschoß: 24-STUNDEN-NONSTOP-SEX-SHOW. FÜR JUGENDLICHE UNTER 18 JAHREN VERBOTEN nichts anzuhaben vermochte. Zuvor war dort ein Massage-Salon gewesen und noch früher eine Absteige, in dieser Stadt das natürliche Schicksal eines Hotels, das einmal dazu erbaut worden war, den Millionären einer anderen Epoche als Domizil zu dienen.

Der Mann in der Wohnung über dem Film-Theater hatte gegen einen Klienten der Midwest Confidential Klage erhoben wegen einer Sturzverletzung, aufgrund derer er sich angeblich nur noch mit Hilfe von zwei Stöcken und Stahlschienen an den Unterschenkeln fortbewegen konnte. Medizinische Untersuchungen hatten sich als nicht überzeugend erwiesen, und da es zu den Gepflogenheiten der Versicherungsgesellschaft gehörte, alle Ansprüche zu überprüfen, war es mir zugefallen, dem Kläger auf die Schliche zu kommen, vorausgesetzt, er simulierte nur.

Vor allem war bei diesem Unternehmen Geduld gefragt. Manchmal zu Fuß, manchmal auf der gegenüberliegenden Straßenseite in meinem Auto sitzend, hatte ich den größten Teil des Novembers damit verbracht, das Kommen und Gehen George Gibsons im Auge zu behalten in der Hoffnung, ihn eines Tages ohne seine Stöcke zu erwischen. In meiner Tasche steckte eine Kodak Instamatic 20, die beste Erfindung moderner Technologie seit der Möglichkeit, Telefonleitungen anzuzapfen, um ein Ereignis auf der Stelle festzuhalten. Der Nikon in meinem Wagen war natürlich prinzipiell der Vorzug zu geben, nur ließ sie sich leider sehr viel schlechter verstecken. Und lieber nahm ich jederzeit einen Qualitätsverlust in Kauf, als Entdeckung zu riskieren.

Trockener, körniger Schnee von der Art, wie er gewöhnlich in der Stadt fällt, häufte sich auf den Vorsprüngen unbenützter Eingangstüren und säumte in schmalen Bändern die Abflußöffnungen. Vom Wind getrieben, formte er weiße Schlangen auf dem Straßenpflaster, jagte über schmutziges, zerknülltes Zeitungspapier hinweg, riß alte Flugblätter mit Wahlparolen fort und ließ leere Kondom-Packungen und zerbrochene Styropor-Becher gegen die verbeulten Rostlauben prallen, die herrenlos am Bordstein standen. Der Sturm nagte an den brüchigen Ecken der Häuser mit grellfarbigen Schildern, die jede Art von hetero- und homosexuellen Vergnügungen anpriesen, und ließ lockere Bretter klappern, die vor die kaputten Schaufenster verlassener Läden genagelt waren. Mit ihren aus Farbdosen aufgesprühten Totenköpfen und gekreuzten Knochen waren sie als Treffpunkt von Straßenbanden zu erkennen, die man besser mied. Zwei Häuserblocks weiter südlich hatten sich am Fuße des Renaissance-Centers, unweit der Stelle, wo der erste Selbstmörder gelandet war, eine Schar grinsender Menschen versammelt. An einem Backsteinbau forderte mich ein verwittertes Schild mit übergroßen Buchstaben auf, »Detroit einen zweiten Blick zu schenken«. Die Luft war bitter wie eine alte Nutte und roch nach Auspuffgas.

Als mir das Streichholz aus der Hand gerissen wurde, war ich innerlich darauf gefaßt, mich gegen die übliche Gruppe magerer junger Schwarzer zur Wehr setzen zu müssen. Deshalb war ich überrascht, daß ich, als ich herumschnellte, einem wohlgenährten nordischen Typ mit grauen Augen gegenüberstand, unter dessen Mütze aus synthetischem Pelz blonde Haarsträhnen hervorkamen. Noch überraschter war ich, als ich ihn eine Sekunde später erkannte.

Das Erkennen war nicht gegenseitig. Fast ohne mir einen Blick zu schenken, murmelte er eine unterdrückte Entschuldigung und drängte an mir vorbei, um mit steifen, ausholenden Schritten in südlicher Richtung davonzueilen. Ich starrte ihm einen Moment lang nach. Dann warf ich entschlossen meine Zigarette weg, die ich bei dem Zusammenprall beinahe durchgebissen hatte, und nahm seine Verfolgung auf. Es sah nicht so aus, als ob Gibson heute noch einmal herauskommen würde, und der Zufall, im wahrsten Sinne des Wortes, auf jemanden gestoßen zu sein, den ich zuletzt vor sieben Jahren in einer anderen Hemisphäre gesehen hatte, weckte meine Neugier.

Wo immer er hinwollte – er war entweder bereits im Verzug oder wollte sich zumindest nicht verspäten. Zweimal noch prallte er fast mit Fußgängern zusammen, als er sich seinen Weg durch das dichte Gewühl auf den Bürgersteigen bahnte und dabei mit den Augen die Straße nach einem Taxi absuchte. Und einmal war er gezwungen, einen wilden Charleston aufzuführen, um nicht hinzufallen, als er auf einem Stück Glatteis ins Rutschen geriet. Nicht, daß ihn diese Beinahe-Malheurs vorsichtiger gemacht hätten. Eher beschleunigte er noch sein Tempo, wie um die verlorene Zeit aufzuholen. Ich folgte ihm in – wie es in Agenten-Romanen immer heißt – diskreter Entfernung, was bedeutet, daß ich mir fast den Hals verrenkte, um ihn nicht aus den Augen zu verlieren.

Hätte er ein Taxi erwischt, wäre ich jetzt noch um etliches jünger. Dann hätte ich ihn eben nicht weiterverfolgen können, wäre nach Hause gefahren und hätte später vielleicht von ihm in der Zeitung gelesen. Wahrscheinlich hätte ich noch ein paar Minuten über ihn nachgedacht, und das wäre alles gewesen. Es war schon recht bald, daß ich mir wünschte, die Dinge hätten diesen Verlauf genommen. Aber es waren keine Taxis in Sicht, und ich werde auf ewig den Taxi-Dienst für das verantwortlich machen, was später geschah.

Ich beschattete ihn bis Adelaide, wo er endlich eines der gelben Fahrzeuge erspähte und zum Bordstein trat, um es heranzuwinken, als ein blauer Nova, den ich zuvor gar nicht bemerkt hatte, von der äußeren Fahrspur der Woodward Avenue herüberwechselte und meinen Mann zwischen zwei parkenden Wagen einklemmte. Er zögerte einen Augenblick, machte dann fluchend kehrt und wollte um einen der parkenden Wagen herumeilen, als der Beifahrer des Nova ausstieg und seinen Namen rief. Die nasale Stimme war Rhett Butler in Reinkultur.

Bei dem Klang seines Namens blieb der Mann stehen und drehte sich um. Das gab dem Fahrer des Nova Gelegenheit, ebenfalls auszusteigen, um den parkenden Wagen herumzugehen und sich meinem Mann von hinten zu nähern. Fahrer und Beifahrer sahen sich ähnlich wie Brüder. Beide hatten sie das gleiche fleischige Gesicht und eine große Nase, beide trugen sie dunkle Anzüge mit schwarzen Schlipsen unter grauen Mänteln, und beide hatten sie ihre ziemlich langen schmutzig-blonden Haare mit Pomade zurückgekämmt, so wie es noch im Süden Mode ist. Der Fahrer war älter und größer, aber abgesehen davon hätten sie Zwillinge sein können.

Es entspann sich eine gedämpfte Unterhaltung, in deren Verlauf ich mich – Macht der Gewohnheit – in einen Hauseingang verzog und so tat, als benütze ich dessen Schutz, um mir eine frische Zigarette anzuzünden, während ich die Situation beobachtete. Eine gutangezogene junge Frau, die zufällig vorbeikam, bedachte meine Zigarette mit einem strafenden Blick. Ich nahm einen tiefen Zug und grinste die junge Frau durch den Rauch hindurch an.

»Ziehen Sie keine falschen Schlüsse«, sagte ich mit einem Augenzwinkern. „Das ist Marihuana.« Aber das machte die Sache bei ihr auch nicht besser. Ohne zu antworten, strebte sie weiter.

Ich konnte nicht verstehen, was die drei sagten, doch nach dem Tonfall und den Gesten zu urteilen, war mein alter Bekannter über irgend etwas aufgebracht, und die beiden anderen versuchten ihn zu besänftigen. Nach ein paar Sekunden vergeblichen Hinundhers legte der jüngere der beiden Rotnacken seine Hand auf den Arm des dritten Mannes, wie um ihn zum Wagen zu eskortieren, und letzterer schien ihm auch bereitwillig zu folgen. Aber das schien in der Tat nur so. Ich war drei Jahre lang Militärpolizist gewesen und wußte es besser. Mit diesem Griff an seinem Ellbogen war es meinem alten Bekannten unmöglich, Widerstand zu leisten. Oder er mußte sich damit abfinden, für den Rest seines Lebens einen steifen Arm zurückzubehalten. Der Fahrer hatte sich des anderen Arms mit dem gleichen Griff bemächtigt. Zusammen führten sie den Mann wie einen geprügelten Hund zum Wagen.

Im letzten Augenblick, als die hintere Tür schon geöffnet war und sie ihn hineinschoben, lockerte der jüngere der Entführer seinen Griff, und der Gefangene begann sich zu wehren. Sein Widerstand wurde von seinem Peiniger jedoch sofort mit einem kurzen, wohlgezielten Stoß in die Magengrube gebrochen. Es war ein Boxhieb, der den Gefangenen wirkungsvoll ruhig stellte. Er versteifte sich und klappte vornüber zusammen. Der jüngere Mann stieg neben ihm ein und zog hastig die Tür hinter sich zu, während der andere zur Fahrerseite eilte, sich hinter das Lenkrad setzte und unverzüglich losfuhr. Der Nova verschwand geräuschlos in Richtung Süden.

Die ganze Aktion war Maßarbeit gewesen. Wer nicht ganz genau hingesehen hatte, mußte annehmen, eine der üblichen Fahrgemeinschaften habe auf dem Heimweg einen Mitfahrer eingesammelt. Wahrscheinlich erregte ich selbst, wie ich mitten auf dem Bürgersteig stand und die Nummer des Nova in mein abgegriffenes Notizbuch kritzelte, mehr Aufsehen als der ganze Vorfall. Was ein Kommentar – oder auch nicht – über die Haltung der Detroiter gegenüber Kriminalität sein mochte, je nachdem, ob man für die Zeitungen arbeitete oder für den Bürgermeister.

Ich sah mich meinerseits nach einem Taxi um, aber ich brauche wohl nicht zu erwähnen, mit welchem Ergebnis. Dann steuerte ich zur nächsten Telefonzelle, wozu ich leider ziemlich weit tippeln mußte, und rief die Polizei an. Ich verlangte Lieutenant John Alderdyce zu sprechen, und nachdem ich meine Bitte noch zweimal für irgendwelche Mädchen aus der Telefonzentrale wiederholt hatte, meldete sich die tiefe Stimme des Lieutenants.

»Alderdyce.«

»John, hier spricht Amos Walker. Ich brauche dringend den Besitzer einer Autonummer.«

»Dann ruf die Zulassungsstelle an.«

»Da kenne ich keinen. Deshalb wollte ich dich bitten.«

»Worum handelt es sich denn?«

»Eine Entführung.«

»Wende dich an das FBI.«

»Nun laß die Ausflüchte, John. Es geht wirklich um Leben und Tod.« Wie ich selbst fand, klang das ziemlich melodramatisch. Also unternahm ich einen zweiten Versuch. Aber es gab keine andere Möglichkeit, es auszudrücken. Ich skizzierte Alderdyce, was ich gesehen hatte. Es folgte eine Pause, bevor er sprach. Wer mit ihm telefonierte, hätte nie vermutet, daß er ein Schwarzer war. Auf der West Side in einer Mittelklasse-Gesellschaft aufgewachsen, hatte er an der University of Michigan studiert, wo ihm im Konkurrenzkampf mit weißen Studenten kaum noch etwas von dem lässigen, gedehnten Tonfall geblieben war, den die Generation seiner Eltern während des Zweiten Weltkriegs in den Norden gebracht hatte.

»Kannst du das Opfer beschreiben?« wollte er wissen.

»Besser noch. Ich kann dir seinen Namen geben.«

»Verdammt rücksichtsvoll von ihm, sich vorzustellen.« In seinem Ton schwang leichte Reizbarkeit mit.

»Der Bursche war mein Kompaniechef in Nam. Deshalb bin ich ihm gefolgt. Captain Francis Kramer, etwa vierzig Jahre alt, ungefähr einsfünfundsiebzig, Gewicht neunzig Kilo, blonde Haare, graue Augen. Hast du alles mitbekommen?«

»Wort für Wort.«

Ich beschrieb die Entführer und den Wagen, den sie gefahren hatten. Dann gab ich die Zulassungsnummer durch. »Hör mal«, sagte ich, »wenn du den Wagenhalter nicht für mich ausfindig machen willst, gib die Sache wenigstens an die zuständigen Leute weiter. Ich will schließlich von niemandem einen Gefallen.«

»Wie viele Augenzeugen gibt es außer dir?«

»Gar keine.«

»Gar keine?« Sein Unglauben war mit Ärger gepaart. »Auf der Woodward Avenue um halb sechs Uhr nachmittags? Wen willst du eigentlich auf den Arm nehmen? Menschenleer ist es dort zum letztenmal während der Krawalle gewesen.«

»Ich habe ja auch nicht behauptet, daß keine anderen Leute da waren. Sie haben die Entführung nur nicht gesehen.«

»Aber du.«

»Weil ich besonders darauf geachtet habe. Ich sagte doch bereits, diese Kerle waren Profis.«

»Also gut, ich gebe die Sache weiter.«

»Warum kannst du sie nicht selber übernehmen?«

»Weil ich beim Morddezernat bin. Und weil ich mit der Ermordung von Freeman Shanks alle Hände voll zu tun habe. Aber keine Sorge, ich werde die Kollegen bitten, besonders sorgfältig zu recherchieren, weil du mit Kramer befreundet warst. Wenn unsere Väter nicht Partner gewesen wären, würde ich das allerdings nicht tun. Noch gehst du mir nicht auf den Wecker, Walker, aber das wird sicher noch kommen.«

Seine letzte Bemerkung ließ ich unbeachtet. »Ich war mit Kramer nicht befreundet. Ich sehe es nur nicht gern, wenn Leute am hellichten Tag auf offener Straße entführt werden. Das weckt in mir die Frage, wer als nächster dran ist.«

»Halte dich zur Verfügung. Die Kollegen werden noch mit dir sprechen wollen.«

»Ich habe einen Anrufbeantworter und einen Piepser, falls die Batterien noch funktionieren«, versicherte ich ihm. »Gibt es ihm Fall Shanks schon irgendwelche Hinweise?«

»Mehrere hundert. Deshalb werde ich auch ein angesehenes Mitglied des Detroiter Yacht-Clubs sein, bevor er gelöst ist. Es sei denn, du hättest auch bezüglich Shanks etwas auf Lager?« Es war Ironie, aber aus Verzweiflung geboren. Die Untersuchung der Hintergründe des gewaltsamen Todes des populären schwarzen Arbeiterführers, der im August des Jahres erschossen worden war, zog sich schon drei Monate hin, und sowohl die News als auch die Free Press verlangten nach Aufklärung oder nach den Köpfen gewisser Verantwortlicher.

»Who killed Jimmy Hoffa?« sagte ich.

»Scher dich zum Teufel, Walker.« Dann hatte er aufgelegt.

Kapitel 2

Kommen Sie ruhig mal vorbei und besuchen Sie mich in meiner bescheidenen Hütte gleich westlich von Hamtramck. Aber bringen Sie nicht zu viele Polen mit. Die Nachbarschaft ist überwiegend ukrainisch, und alte Animositäten lassen sich nur schwer überwinden. Es ist ein einstöckiges Holzhaus, während der großen europäischen Hungersnot in den zwanziger Jahren gebaut, als die Auswanderer scharenweise hierherkamen, und kann sich eines Bades, eines Schlafzimmers und eines kombinierten Wohn- und Eßzimmers rühmen, das allerdings nur groß genug ist für eines von beiden. Eine Küche ist natürlich auch vorhanden. Es ist nicht gerade die Lobby des Detroit Plaza, aber es bietet doch mehr Platz, als ein einzelner Mensch braucht. Vielleicht werde ich Ihnen, wenn wir uns besser kennen, von der Person erzählen, die es einmal mit mir geteilt hat. Auf alle Fälle genügt es meinen Ansprüchen so lange, bis mich die Steuern bei lebendigem Leibe auffressen.

Ich kam gerade rechtzeitig nach Hause, um die wichtigsten Meldungen der Sechs-Uhr-Nachrichten auf Kanal 4 mitzukriegen, den Teil, der nach dem ersten Werbespot kommt, wenn die »heile Welt«, mit der sie heutzutage so gern beginnen, vorbei ist. Über Francis Kramer war nichts dabei. Auch auf den Kanälen 2 und 7 kam nichts zu diesem Thema, aber im Gegensatz zu Kanal 4 wird dort im allgemeinen mit den härteren Sachen aufgemacht, und ich konnte die entsprechende Meldung verpaßt haben. Die Abendausgaben der News und der Free Press hatte ich mir unterwegs gekauft, aber ich erwartete nicht, Kramer darin zu finden. Seinen Leberhaken hatte er kassiert, als die Blätter schon auf der Straße gewesen waren.

Mein Abendessen war ein Fertiggericht aus der Tiefkühltruhe. Nicht; daß ich etwa nicht kochen kann. Aber ab und zu ist es doch ganz lustig festzustellen, daß irgendwo irgend jemand einem vorgegebenen Muster folgt. Erbsen in der einen Abteilung, Fleisch in der anderen, und in der dritten kleine, runde Kartoffeln, säuberlich aufgereiht wie die Zinnsoldaten. Ich zerstörte die Schlachtordnung mit einem kräftigen Stich meiner Gabel.

Meine Verdauungssäfte waren dabei, sich zur Vernichtung zu sammeln, als ich zum Fernsehgerät zurückkehrte. Die Kanadier übertrugen Eishockey, und ich sah ein paar Minuten zu. Aber dann drehte ich ab, weil sich die Bodychecks häuften. Wenn ich die menschliche Natur in ihren schlimmsten Formen sehen wollte, konnte ich auch zu den Nachrichten zurückschalten. Ich spreche von den Fans, nicht den Spielern.

Ich erwog, eine 78er-Platte aufzulegen, entschied mich jedoch dagegen. Meine Sammlung von Jazz und frühem Rock war eine Quelle des Stolzes für mich gewesen, bevor die Scheidungsmodalitäten mir nur noch einen schäbigen Rest übriggelassen hatten. Eine Platte davon anzuhören, würde mich nur in Depressionen versetzen.

Aus reiner Langeweile überflog ich das ausgedruckte Fernsehprogramm und wurde dabei fündig. Der Zwanzig-Uhr-Film auf Kanal 50 brachte Humphrey Bogart. »Die barfüßige Gräfin«, nicht einen seiner besten, aber immerhin Bogart. Bis Beginn hatte ich noch anderthalb Stunden totzuschlagen. Also ließ ich mich in meinem einzigen Sessel nieder, um mich systematisch und intelligent der Lektüre der Free Press zu widmen. Zuerst las ich den Beetle-Bailey-Comic.

Das Telefon schrillte gerade in dem Moment, als Rossano Brazzi mit Ava Gardners Leiche auf den Armen aus den Büschen trat. Ich ließ es bimmeln, bis der Nachspann über den Bildschirm flimmerte, und meldete mich erst beim siebenten Läuten.

»Amos Walker?« Eine nichtssagende Stimme, nicht jung, nicht alt. Aber eindeutig männlich. Ich bestätigte seine Vermutung.

»Ben Morningstar möchte mit Ihnen sprechen.«

Meine Hand zerdrückte den Hörer nicht. Aber es war nahe daran. Ben Morningstar war nicht jemand, mit dem man telefonierte. Es war ein Name in Newsweek, ein Foto bei der Beerdigung eines Killers mit dem Teleobjektiv quer über die Straße geschossen, ein Paar nervöser Hände, die in den frühen fünfziger Jahren während eines Kongreß-Hearings mit einer Packung Zigaretten gespielt hatten. Er war Anthony Quinn in einer nur wenig verschleierten Rolle, die nie bis in die Kinos gelangt war, weil die Anwälte alle Hebel in Bewegung gesetzt hatten. Er war der Schlagring in der Hand jedes öffentlichen Anklägers, dessen Blick sich auf das Justizministerium richtete. Für Hymie »the Lip« Lipschitz, einen kleinen Alkohol-Schmuggler und Ganoven, längst vergessen, hätte es im Fernsehen nicht die Wiederaufführung der alten Warner-Brothers-Streifen gegeben, war er achtzig Pfund Zement und eine Lunge voll Flußwasser gewesen. Nach ein paar Sekunden, die mir wie ein Stunde vorkamen, hatte ich wieder genug Stimme gefunden, um zu sagen: »Ich höre.«

»Mr. Morningstar benutzt das Telefon nicht«, erklärte die Stimme. »Wir schicken Ihnen einen Wagen.«

»Aus Phoenix?« Das war der Ort, wo er sich laut Newsweek zur Zeit aufhielt.

»Von Grosse Pointe. Halten Sie sich in etwa einer Stunde bereit.«

»Das paßt mir aber gar nicht. Ich muß morgen früh raus. Er kann mich morgen nachmittag in meinem Büro erreichen.« Morgen früh mußte Gibson aus dem Haus, um sich seine Arbeitslosenunterstützung abzuholen. Und wenn er auch nicht dumm genug war, ohne seine Stöcke loszugehen, konnte man nicht wissen, was er tat, wenn er es eilig hatte.

»Wir werden einen Wagen schicken.« Es klickte, und dann kam nur noch das Freizeichen.

Ich hielt noch eine Weile den Hörer ans Ohr, bis eine Stimme vom Band mich aufforderte, den Hörer aufzulegen. Ich gehorchte, bevor das automatische Warnsystem losblöken konnte. Das war auch so etwas, um das uns die Technologie gebracht hatte – das Recht, das Telefon uneingehängt zu lassen. Mein einziger Trost war, daß ich mich in diese Situation, wie immer sie sich erweisen mochte, ausnahmsweise einmal nicht selbst hineingeritten hatte. Jedenfalls soweit ich wußte.

Fünf Minuten vor elf ertönte die Türklingel. Keine schlechte Zeit für die Strecke quer durch die Stadt, aber auch nicht überwältigend. Da die Unruhen von 1967 dem Detroiter Nachtleben, oder was davon noch übriggeblieben war, einen lähmenden Schlag versetzt hatten, war gewöhnlich nach halb elf nichts mehr auf den Straßen los. Bis früh um zwei, wenn die illegalen Pinten mit ihrem Ausschank begannen, konnte man vom oberen Ende der Woodward, ohne irgendwie dabei behindert zu werden, mit einer Kanone einen Volltreffer auf der Cobo Hall landen.

Als ich aufmachte, rechnete ich eigentlich halb damit, ein Paar Galgenvögel in ausgepolsterten Anzügen mit Platz genug für Schulterhalfter vor mir zu sehen, die Nase schief eingeschraubt im Gesicht und mindestens einem Blumenkohlohr. Ich war enttäuscht, einen hochgewachsenen jungen Farbigen auf der Schwelle zu finden, von der Art, wie sie auf Plakaten der United Negro College Fund abgebildet sind, sehr ernst und seriös aussehend, mit Hornbrille und einem blauen Hughes & Hatcher unter dem leichten grauen Mantel. Ein Typ, wie ich ihn eher unten in Wayne State anzutreffen erwartet hätte.

»Mr. Walker?« Eine forsche Stimme mit nur einer entfernten Spur von Alabama bei den R’s. Es war nicht die Stimme, die ich am Telefon gehört hatte. Seine kräftigen, etwas vorstehenden Zähne stachen weiß von der kaffeebraunen Haut ab, wenn er sprach. Mit der Brille erinnerte er mich an Little Stevie Wonder, ein weiteres Detroiter Produkt.

»Wo ist Ihr Kumpel?« fragte ich ihn.

»Mein Kumpel?«

»Tretet ihr nicht gewöhnlich paarweise auf?« Ich kämpfte mich in meinen Mantel, setzte den Hut auf und strich die Krempe zwischen Daumen und Zeigefinger glatt.

Einen Moment lang klopfte er meine Bemerkung von beiden Seiten ab. Dann hellte sich seine Miene auf, und er lächelte, daß mich sein Gebiß blendete. »Sie haben zu viele alte Filme gesehen. Für George Raft bin ich zu schwarz und für Barton MacLane zu mager.« Er trat zur Seite, während ich herauskam, die Tür hinter mir zudrückte und abschloß.

»Ein Schwarzer, der alte Filme kennt«, sagte ich kopfschüttelnd, als wir zusammen zur Straße gingen. Ich schlug meinen Mantelkragen hoch. Der Sturm hatte sich gelegt. Der Himmel war klar wie früher einmal der Lake Michigan, und die Kälte kam direkt aus dem Weltraum. Wenn man atmete, war es, als zöge man geriebenes Glas in die Lungen. »Ich wußte nicht, daß Sie zu den Eingeweihten gehören.«

»Wir verbringen nicht unsere ganze Zeit damit, Schnapsläden auszurauben und weiße Frauen zu vergewaltigen.« Die Art, wie er das sagte, ließ die Temperatur noch um ein Grad sinken. Dann spürte er plötzlich, daß ich es nicht ernst gemeint hatte, und verzog das Gesicht zu einem Grinsen. »Ich bemühe mich, Stepin Fetchit zu vermeiden.«

Ich lachte. »Ich wollte schließlich wissen, mit wem ich es zu tun habe.«

»Prüfung bestanden?«

»Mit Auszeichnung.«

Er reagierte so erheitert, wie es diese Bemerkung verdiente, und öffnete die Beifahrertür eines gelben Pinto für mich. Damit war ich wieder eine Illusion ärmer. Nächstens würde er mir noch erzählen, daß sie ihre Maschinenpistolen gegen Luftgewehre eingetauscht hatten.

Als Autofahrer war er keine Offenbarung, aber wenigstens wußte er, wer an Stopp-Straßen die Vorfahrt hatte – eine Kunst, die allmählich ausstirbt – und besaß die Geistesgegenwart, ein paar Spaßvögeln, die beim Näherkommen nicht abblenden wollten, die Augäpfel zu braten. Nach einem Dutzend Querstraßen fragte ich ihn, wie lange er Taxis gefahren habe.

Auf seinem Gesicht breitete sich langsam ein Grinsen aus. »Woher wußten Sie das?«

»Sie kennen die Abkürzung von Hamtramck nach Grosse Pointe, aber ich wette meinen nächsten Honorarscheck, daß Sie nicht aus dieser Gegend sind. Der Rest war Kombination.«

»Ein richtiger Sherlock Holmes!« Er nahm mit Karacho eine gefährlich nach Glatteis aussehende Kurve.

»In einem von sechs Fällen klappt es.«

»Ich glaube allmählich, der Boss hat gar keine so schlechte Wahl getroffen?«

»Wofür?«

Er wechselte das Thema. »Ein Weißer, der einen Filzhut trägt«, meinte er grüblerisch, den Blick auf die Fahrbahn gerichtet. »Ich wußte nicht, daß Sie zu den Eingeweihten gehören.«

»Neunzig Prozent der Körperwärme entweichen durch den Kopf und die Füße«, erklärte ich. »Wollen Sie mal meine Socken sehen?«

Er gluckste unterdrückt, ohne zu antworten. Die Grenzen waren abgesteckt. Ich fragte ihn nicht über seine Mission aus, und er interessierte sich nicht für meine Garderobe. Blieb nur noch das Wetter, über das es wenig zu sagen gab. Den Rest der Fahrt legten wir schweigend zurück.

Wer immer gesagt hat, alle Menschen seien gleich erschaffen, muß dabei einen Wohnsitz in Grosse Pointe im Auge gehabt haben. In dieser Demokratie kann jeder kleine Junge in der Hoffnung aufwachsen, einmal dort zu wohnen, vorausgesetzt, seine Kreditwürdigkeit ist erstklassig und es macht ihm nichts aus, sich bis über beide Ohren zu verschulden. Vor etwas über hundert Jahren noch befand sich ein recht beträchtlicher Teil dieser Gegend unter der Kontrolle von Billy Boushaw, Chef des Ersten Polizeireviers des Bezirks Nummer eins, dessen alte Kneipe und Matrosen-Absteige an der Nordwestecke von Beaubien und Atwater Street lag. Aber dieses Stück Geschichte wird in den hiesigen Schulen nicht gelehrt. Jetzt ist hier die Domäne der Reichen, wo die meisten Streifenwagen unterwegs sind. Auf Landkarten erscheint sie gewöhnlich grün eingezeichnet.

Das Haus war allerdings eine Enttäuschung. Es hatte nicht mehr als vierzig Räume, und die österreichische Kavallerie hätte sich in Sechserreihen aufstellen müssen, um durch die Eingangstür zu kommen. Eine Steinmauer von zwei Meter fünfzig schirmte ein fünf Morgen großes Parkgelände ab, das von in Hausnähe auf Bäumen montierten Scheinwerfern in grelles, gelbes Licht getaucht war. Im Sommer mußte das verheerende Wirkung auf den Rasen haben. Hier war der Punkt, wo wir die Grenze zwischen öffentlicher Imagepflege und privater Notwendigkeit überschritten.

Der Mann, der, als wir vorfuhren, hinter dem mit Stahlspitzen versehenen Eingangstor erschien, hatte unbedeckte blonde Haare, die ihm bis zum Kragen reichten, und scharfe teutonische Gesichtszüge von der Art, die Jahr für Jahr unverändert aussehen, bis sie schließlich über Nacht zusammenfallen. Im Augenblick brauchte er sich deswegen noch keine Sorgen zu machen. Er war jung, gesund und sonnengebräunt und trug eine dunkelblaue Marinejacke über einem weißen Hemd mit Rollkragen. Ich überzeugte mich davon, daß auch er nicht derjenige war, mit dem ich am Telefon gesprochen hatte, als mein Chauffeur aus dem Wagen stieg, um mit ihm zu reden und er mit einem deutschen Akzent antwortete, der direkt aus Stalag 17 zu stammen schien. Ben Morningstar war ein Arbeitgeber, der auf Chancengleichheit achtete.

Nach einer kurzen Unterhaltung, während der er sich umdrehte, um mich durch die Windschutzscheibe zu mustern, nickte der Germane und entriegelte das Tor. Bis der Schwarze wieder eingestiegen war, hatte er es aufgerissen, und wir fuhren durch. Eine Haarnadel-Auffahrt mit frisch gefegtem Asphaltbelag führte an einem dürftig modernen Vorbau vorbei und verbreiterte sich zu einem Wendekreis vor einer angebauten Garage, die nicht dürftig genannt werden konnte. Wir hielten vor dem Vorbau und stiegen aus.

Die Tür wurde von einem Mann in einem rot-schwarz karierten Hemd geöffnet, dessen Bindfadenkrawatte von einem Hopi-Totem aus Silber mit Türkisen zusammengehalten war. Er hatte ungefähr meine Größe, mochte also etwa ein Meter achtzig sein, und trug ein breites Lächeln zur Schau, das bis zu seinen Augen reichte, tief in Krähenfüße eingebettete Brillanten. Von Natur aus hager, hatte er mit den Jahren einen kleinen Bauch angesetzt, den er durch einen Gürtel mit Rodeo-Schnalle einzuzwängen versuchte. Seine Levis waren so neu, daß sie raschelten, wenn er sich bewegte. Im Gesicht hatte er zahllose kleine Furchen und Fältchen, von einer Sonne eingebrannt, wie es sie in Michigan nicht gab. Er sah aus wie fünfzig, konnte aber ebensogut vierzig oder sechzig sein, und hatte den Kopf voll üppiger schwarzer Haare, die ihm in einer natürlichen Welle über die rechten Augenbraue fielen. Es war ein großer Kopf, viel zu groß für den Rest des Mannes, ausgenommen die Hände. Mit einer davon umschloß er meine Hand in einem Griff wie eine elektrische Stromschiene.

»Sie müssen Amos Walker sein«, bemerkte er und schraubte sein Lächeln noch um eine Spur höher, während er beiseite trat, um uns eintreten zu lassen. Sein Tonfall war reinstes El Paso.

»Und Sie müssen Paul Cooke sein.« Ich bemühte mich, meine Hand freizukriegen und knetete die Knochen wieder an die richtige Stelle zurück.

Sein Blick wurde starr. »Sind wir uns schon einmal begegnet?«

»Sie sind berühmt. Seit die ›Aktuelle Stunde‹ im vergangenen Jahr diese Enthüllungsgeschichte über Ihr Hotel in Tucson gebracht hat. Wie wurde es doch gleich genannt? ›Der Palast des Kleinen Cäsar.‹«

Das Lächeln war ausgelöscht. Es sagte etwas, das ich nicht wiederholen kann, und fuhr dann fort: »Darüber ist das letzte Wort sowieso noch nicht gesprochen. Wissen Sie, daß ich zumachen mußte, nachdem diese Sendung gelaufen war? Keine Buchungen mehr für Tagungen und Kongresse. Die Gäste hatten Angst, in ihren Betten von Maschinenpistolen durchlöchert zu werden. Dabei ist nie irgend etwas Schlimmes passiert in den sechs Jahren, die ich den Laden besessen habe. Nun gut, eine Vergewaltigung vor achtzehn Monaten, aber das Verfahren wurde niedergeschlagen. Es stellte sich nämlich raus, daß die Frau eine Nutte war. Diese Armleuchter in New York werden schon noch merken, wie scharf man solche Verleumdungen bestraft.«

Seine Gesichtslandschaft war jetzt eine Wüste. Kein Lächeln hatte je dort geblüht, noch würde eins irgendwann aufsprießen. Er warf einen Blick auf den Schwarzen, der einen Schritt in meine Richtung machte. Ich las ihm durch die Brillengläser seine Absicht von den Augen ab.

»Ich bin bewaffnet«, sagte ich. »Links an meinem Gürtel. Ein Achtunddreißiger.« Ich knöpfte mit einer Hand mein Jackett auf und breitete dann die Arme aus.

Ohne meinen Blick loszulassen, faßte der Schwarze unter meine Jacke, tastete herum und zog den Smith & Wesson aus dem Halfter unter dem Gurtband meiner Hose. Er reichte die Waffe Cooke, der sie mit Daumen und Zeigefinger am Knauf faßte und zuschaute, wie der Schwarze auch meine Brieftasche herausholte, meine sämtlichen Taschen abfühlte und mit geübter Hand an den Innenseiten meiner Schenkel bis zu den Knöcheln hinabfuhr. Nachdem er sich wieder aufgerichtet hatte, nahm er mir, als sei ihm das erst verspätet eingefallen, den Hut vom Kopf und unterzog ihn der gleichen sorgfältigen Prüfung. Als er mit mir fertig war, wußte er, wieviel Kleingeld ich bei mir hatte, ohne es gesehen zu haben. Schließlich trat er mit einem kurzen Nicken zurück und gab die Brieftasche an den Texaner weiter. Cooke klappte sie auf, studierte die Fotokopie meiner Berufslizenz und gab die Tasche dann wieder an den Schwarzen zurück, der sie mir aushändigte. Mein Glaube an gewisse Regeln war wiederhergestellt.

»Nicht besonders schlau«, sagte Cooke, meinen Revolver noch immer mit spitzen Fingern wie eine tote Ratte haltend. Es gab etliche in seiner Branche, die keinen Geschmack an Schießeisen hatten. Sie bezahlten andere, für sie Waffen zu tragen.

»Normalerweise ist dies nicht mein Revier«, erwiderte ich ausweichend.

Er gab sich damit zufrieden. »Nachher kriegen Sie das Ding wieder zurück«, meinte er etwas unwillig und streckte den Revolver dem Schwarzen entgegen, der ihn nahm und in seiner Jackentasche verschwinden ließ. Dann geleiteten mich Stevie Wonder und der Mitternachts-Cowboy ohne weitere Vorreden durch ein mit dicken Teppichen ausgelegtes Foyer zur Audienz.

Kapitel 3

Den Leibwächter mußten sie sich von einer Schauspielervermittlung besorgt haben. Eher etwas zu kurz geraten, mit leicht angewinkelten Armen und einem Brustkasten, für dessen Umfang ein Bandmaß nicht ausreichte, gab er keine schlechte Kopie des Felsens von Gibraltar ab, wie er so zwischen den Schiebtüren zur Bibliothek stand, als wir uns näherten. Sein schwarzer Anzug saß ihm wie eine zweite Haut auf dem Körper, und den gestreiften Schlips trug er zu einem Knoten gebunden, den man auch mit Hammer und Meißel nicht aufbekommen hätte. Einen Hals besaß er nicht. Vielleicht hatte er einmal einen besessen und jemand hatte ihm zufällig den Kopf abgeschlagen, um dafür eine braune, grau-gesträhnte Perücke auf den Stumpf zu kleben und letzteren ersatzweise mit Gesichtszügen zu bemalen. Denn aufgemalt hätten seine Züge durchaus sein können, so flach und leblos wie sie waren, mit blasenähnlichem Narbengewebe über den Augen und einem Halbmond toter weißer Haut auf jeder Wange. Entweder er hatte die Ohren von Roderick Usher, oder er hatte uns durch den Türspalt beobachtet, denn wir waren noch nicht ganz herangekommen, als er beide Flügel schon lautlos aufrollen ließ und eine Pose einnahm wie aus »Tausendundeiner Nacht«. Mit dem einen Unterschied, daß er einen Daumen in das Knopfloch seines linken Jackettaufschlags gehakt hatte, wo etwas unter seinem Arm die Linie seines Anzugs verdarb. Im Theater hätte ich über ihn gelacht. Hier nicht.

»Schon in Ordnung, Merle«, versicherte Cooke. »Das ist der Bursche.«

Merle musterte mich zweifelnd. »Hat er eine Waffe bei sich?«

Bingo. Der weiche Wohlklang seiner Stimme stand in solchem Kontrast zu seiner Rausschmeißer-Figur, daß er von mir automatisch als der Mann am Telefon ausgeklammert worden war, bevor er den Mund aufgemacht hatte. Aber das war ein Irrtum gewesen. Ja mehr noch, als ich ihn jetzt gleichzeitig sah und hörte, wußte ich plötzlich, wer er war.

»Nicht mehr. Wiley hat ihn durchsucht.«

»Auch die Socken?«

Cooke nickte und bedachte mich mit einem schiefen Blick. »Das fragt er immer«, erläuterte er. »Seit sich vor zwei Jahren jemand mit einer kleinen Remington in den Strümpfen an ihm vorbeigeschmuggelt hat.«

Ich erinnerte mich an den Vorfall. Zwei Kugeln aus einer Zweiunddreißiger. Eine war in die Brust gedrungen, die andere hatte sich von einem Punkt unmittelbar über der rechten Schläfe unter dem Skalp entlang an der Schädeldecke einen Weg bis zum Nackenansatz gebahnt. Zwei Wochen später war Morningstar aus dem Krankenhaus direkt hinein in einen Schwarm aufflammender Blitzlichter entlassen worden. Seinen Kontrahenten hatten sie noch am Nachmittag der Schießerei im Wohnzimmer des Opfers vom Fußboden abgekratzt. Danach gab es den üblichen politischen Zirkus, die übliche Verhandlung vor einem Geschworenengericht und im Jahr darauf als Konsequenz die üblichen Kongreß-Neuwahlen. Die unerwünschte Publizität hatte Morningstar, wie es hieß, zum Rückzug ins Privatleben gezwungen. Der leere Platz, den er hinterließ, war kurz darauf von jemand mit einem klangvollen mediterranen Namen eingenommen worden.

»Sind Sie nicht Merle Donophan?« fragte ich den Leibwächter.

Er richtete einen ausdruckslosen Blick auf mich. »Und wenn?«

»Sie waren vor drei Jahren noch bei den Detroiter Red Wings. Ich habe Sie ein paarmal im Olympia in Aktion gesehen.«

»Ja?« quetschte er aus dem Mundwinkel hervor und paßte nun wieder besser in mein Weltbild. »Auch beim letzten Spiel?«

»Leider nein. Davon habe ich bloß gehört. Eine tätliche Auseinandersetzung. Sie haben einen Spieler von den Paple Leafs mit Ihrem Stock bearbeitet.«

»Er hat mich zuerst geschlagen. Der einzige Unterschied war, daß ich beide Hände benützt habe und er nur eine. Warum haben sie also mich rausgeschmissen und nicht ihn?«

»Er sitzt noch immer in einer Heilanstalt und starrt die Wände an.«

»Laß sie, um Himmels willen, reinkommen, Merle, und mach diese verdammte Tür zu. Zug ist schlimmer als eine Pistolenkugel.«

Wenn Sie noch nie einen Menschen mit einem Kehlkopfgenerator sprechen gehört haben, kann ich es Ihnen nicht beschreiben. Ein Abfallkipper oder eine automatische Müllvernichtungsanlage, die plötzlich der menschlichen Sprache mächtig geworden sind, trifft als Vergleich nur sehr mangelhaft. Am ehesten dürfte noch Alvino Rey herangekommen sein, als er in der alten »King Family Show« seine elektronische Gitarre reden ließ. Daran mußte ich jedenfalls denken, als der monotone Klang an mein Ohr drang.

Der Raum besaß die ganze Wärme und Geborgenheit eines Wartezimmers beim Zahnarzt. Einzige Lichtquelle war eine jener kupfernen christbaumartigen Stehlampen mit trichterförmigen Metallschirmen, die wie die Blätter von Gummibäumen herabhängen. Wie das bei den meisten gemieteten Häusern, gleich welcher Größenordnung, der Fall ist, ließ das Ganze jede Persönlichkeit vermissen. Die mußte von der Gestalt beigesteuert werden, die neben der Lampe in einem grünen Armsessel kauerte.

Ob Benjamin Morningstar, ohne zweiten Vornamen, auf die Achtzig zusteuerte oder sie bereits hinter sich hatte, wußte niemand, nicht einmal Ben selbst. Die Strafregister-Eintragung seiner ersten Verhaftung im Jahre 1917 hatte 1900 in dem Kästchen mit der Beschriftung »Datum der Geburt« vermerkt, das konnte jedoch durchaus auf der Vermutung eines überarbeiteten Polizisten beruhen. Aber ein paar Jahre rauf oder runter spielten jetzt sowieso keine Rolle mehr.

Er trug einen ausgebeulten senffarbenen Pullover mit Schalkragen über etwas, das vermutlich ein teures weißes Hemd war, aber lappig und ungestärkt viel zu weit an seinem eingeschrumpften Körper hing. Seine anthrazitgrauen Hosen mit Nadelstreifen und Umschlägen, die zu zwei Dritteln die braunen Schuhe bedeckten, saßen ebenso locker. An der rechten Armlehne des Sessels hing ein dicker Spazierstock mit Gummispitze. In Reichweite des Stocks ruhte auf seinem Schoß eine zuckende Hand. Die andere Hand hatte er zum Gesicht gehoben, wo sie einen fleischfarbenen Napf aus perforiertem Plastikmaterial um seinen Mund und seine Nase preßte.

Seine Augen waren große, feuchte Pflaumen, die hinter dicken Brillengläsern schimmerten, als er uns entgegenblickte. Weiter oben, an seinem Stirnansatz, wuchs ihm dichtes, glattes Haar, schwarz und glänzend wie neue Gummigaloschen, durch das sich eine auffallende weiße Furche zog, die den Weg einer Kugel beschrieb, an die außerhalb dieses Raumes niemand mehr dachte. Nicht ein graues Haar war zu sehen. Das ließ Morningstar um so hinfälliger wirken, wie einen schäbigen, alten Stuhl, den man mit einem frisch gestärkten Spitzendeckchen auf der Rücklehne aufgeputzt hat.

Als wir alle eingetreten und die Türen hinter uns geschlossen waren, ließ er den Filter sinken, und ich sah erst jetzt seine Adlernase, über deren Rücken sich straff und glänzend die Haut spannte, die Streifen lockeren Fleisches, die unter seinem Kinn die Narben von seiner Halsoperation bedeckten, und den breiten, ausgemergelten Mund mit den herabgezogenen Lippen. Einen Moment lang zeigte sich als dünner roter Streifen so etwas wie Leben um seine untere Gesichtshälfte, wo der fleischfarbene Napf gegen seine Haut gepreßt war, aber das schwand schnell wieder.

Der Blick seiner wäßrigen Augen blieb sekundenlang auf mir haften und glitt dann zu dem Leibwächter weiter. »Nimm ihm seine Sachen ab, Merle«, befahl er. »Man kann von niemandem erwarten, daß er einem Vorschlag zuhört, wenn er schwitzt wie ein Schwein.«

Erst nachdem er es erwähnt hatte, merkte ich, daß der Raum überheizt war. Die Anlage schien auf volle Pulle zu laufen, und ich konnte die heiße Luft durch die quadratische Reguliervorrichtung im Fußboden hinter mir aufsteigen spüren. Ich zog meinen Mantel aus und reichte ihn zusammen mit meinem Hut dem Ex-Hockeyspieler, der vorgetreten war, um beides entgegenzunehmen.

»Mein Gott, ein Fedora«, rief er aus, noch immer Allen Jenkins. Er konnte das an- und abstellen. »Seit Jahren habe ich niemand unter fünfzig mit einem Filzhut als Kopfbedeckung gesehen.«

Darauf hatte ich meinen Vers schon an den Mann gebracht, also schwieg ich, während er zu einer Tür auf der gegenüberliegenden Seite ging, sie öffnete, meine Sachen auf einem Bett in dem dunklen Schlafzimmer deponierte, um dann wieder auf seinen Platz in der Mitte des Raumes zurückzukehren. Er bewegte sich mit einem gleitenden Schwung, die eine Schulter vorgereckt, als befände er sich noch immer auf dem Eis. Seine Hände waren zusammengepreßt, unbehaarte Knoten von Muskelsträngen mit doppelt soviel Fingerknöcheln, wie ich sie besaß. Zu viele Hockeyschläger hatten in der Hitze des Gefechts unsanft damit Berührung gehabt.

Cooke fing einen Blick des Schwarzen auf und nickte, worauf der Schwarze einen Schritt vortrat und meinen Achtunddreißiger auf die polierte Platte des Tisches neben dem linken Ellbogen des alten Mannes legte.

»Den haben wir bei ihm gefunden«, erläuterte der Texaner.

Morningstar gönnte der Waffe einen Blick. »Gebt ihm das Ding zurück.«

Niemand reagierte. Cooke wollte zu sprechen anfangen, doch der alte Mann schnitt ihm mit einer gereizten Bewegung der rechten Hand das Wort ab. »Könnt ihr nicht sehen, daß er nicht geladen ist, verdammt noch mal?«

Der Texaner zögerte. Dann trat er auf den Tisch zu und nahm den Revolver in die Hand, um ihn zu untersuchen. Durch die Löcher in der Kammer fiel Licht. Er sah mich an.

»Sie haben mich nicht gefragt«, sagte ich.