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Simon, Ben, Marie, Lukas und Tamara sind als Jugendliche für ihre Mitschüler zu nerdig. Daher schotten sie sich als unzertrennliche Freunde von ihnen ab. Plötzlich aber offenbart sich ihnen Paradell mit all seinen Wundern. Eine Parallelwelt, als Schatten im Spiegel unserer eigenen Welt, bewohnt von einer mächtigen Rasse hochentwickelter Wesen. Doch dann werden die fünf Freunde in den existentiellen Konflikt dieser Parallelwelt gezogen, die über uns als Schutzengel wachen sollte, an diesem göttlichen Anspruch aber allzu menschlich zu zerbrechen droht. Als die Heimat der Freunde in tödliche Gefahr gerät, entwickelt sich ein Abenteuer, das sie an ihre Grenzen bringt und dem Leser eine provozierende Sichtweise auf das Thema Verantwortung der Mächtigen und die Macht der Unscheinbaren bietet.
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Seitenzahl: 415
Inhalt
Impressum 3
Widmung 4
Prolog 5
Kapitel 1 – Schatten im Sommer 8
Kapitel 2 – Schatten der Erinnerung 21
Kapitel 3 – Schützender Glaube 35
Kapitel 4 – Rückkehr 49
Kapitel 5 – Schutzengel 65
Kapitel 6 – Paradell 81
Kapitel 7 – Schatten der Dunkelheit 102
Kapitel 8 – Das Wiedersehen 116
Kapitel 9 – Schatten der Träume 136
Kapitel 10 – Angrowins Geschichte 154
Kapitel 11 – Schatten am Horizont 170
Kapitel 12 – Kampf den Schatten 187
Kapitel 13 – Die frohe Kunde 203
Kapitel 14 – Überstürzter Aufbruch 215
Kapitel 15 – Es wird ernst 233
Kapitel 16 – Schatten und Licht 251
Kapitel 17 – Kinder der Schatten 264
Impressum
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie.
Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.
Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.
© 2022 novum publishing
ISBN Printausgabe: 978-3-99130-092-2
ISBN e-book: 978-3-99130-093-9
Lektorat: Tobias Keil
Umschlagfoto: Leeloomultipass, Nextmars, Amador García Sarduy, Welburnstuart | Dreamstime.com
Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh
www.novumverlag.com
Widmung
Für meine Frau, ohne die diese Geschichte nicht existieren würde.
Für meinen Sohn, für den diese Geschichte ein Geschenk ist.
Aber vor allem für euch, die Leser,
die ich versuche mit dieser Geschichte
für eine kurze Zeit aus dem Alltag zu entführen.
Prolog
Inmitten der bis zur Unkenntlichkeit zerstörten Überreste seines Autos schlug er seine Augen auf. Er wusste nicht, wo er war, beziehungsweise wie er dort hinkam. Es war ihm nicht klar, ob er träumte oder nicht.
Er schaute sich um und sein Blick fand einen Rettungssanitäter, der vor ihm auf den Resten seiner Motorhaube hockte. Der Sanitäter sah ihn erstaunt an. Sein Ausdruck sagte: „Huch, der lebt ja.“
In Wirklichkeit war der Helfer nicht überrascht. Er hatte seinen Patienten medikamentös aus der Bewusstlosigkeit geholt, um die Schwere der Verletzungen zu ermitteln. Sonst wäre er verblutet.
Er schaute sich die Umgebung des Patienten genauer an. Überall waren Blut, Glas und Metall. Sein Bein war in einem komischen Winkel unter dem Armaturenbrett eingeklemmt.
Da bewegte sich der Patient und versuchte aufzustehen. „Nein, bloß nicht bewegen. Bleiben Sie liegen“, ermahnte ihn der Sanitäter. „Sie hatten einen Autounfall. Keine Sorge, wir sind bei Ihnen. Wir helfen Ihnen gleich da raus.“
„Was Autounfall?“, dachte er sich. „Das ist doch Unsinn. Das hätte ich mitbekommen. Oder?“ Seine Erinnerung war verschwommen. Er war verwirrt und wusste nicht, was mit ihm los war. „Das, was der Mann da auf der Motorhaube erzählt, macht alles keinen Sinn“, dachte er weiter.
Angestrengt überlegte er und versuchte, sich zu erinnern. Er wusste, wie er morgens das Haus verlassen hatte. Quälend langsam kam die Erinnerung zurück. Er hatte mit dem winzigen Reisekoffer im Hausflur gestanden. Mit dem, den er für seine Dienstreisen über eine Nacht verwendet.
„Schatzi, ich mach mich dann los.“ Aus dem Wohnzimmer waren seine Ehefrau und hinter ihr sein dreijähriger Sohn gekommen. Er umarmte seine Familie zum Abschied. „Tschüss mein Großer. Papa ist morgen wieder da. Sei brav bis dahin. Hörst du?“
Dann wanderte seine Erinnerung weiter auf die Autobahn. Er war unterwegs. Heute war viel Verkehr, aber alles war entspannt. Er hörte Musik und fuhr die Kilometer dahin. Die Straße war für ihn Routine. Die Sonne stand tief und Feuchtigkeit auf der Fahrbahn erzeugte einen geringfügigen Nebel. Nichts, was er nicht vielerorts erlebt hatte.
Plötzlich leuchtete die ganze Welt vor ihm rot auf. Alle Bremslichter schienen gleichzeitig zu erstrahlen. Sofort war das Adrenalin da und er riss die Augen auf. Er bremste kräftig und brachte sein Auto rechtzeitig zum Stehen. Er sah sich im Bruchteil einer Sekunde um und bemerkte einen Transporter, der es deutlich schwieriger hatte, anzuhalten. Der schaffte es, zum Glück, auf den Seitenstreifen auszuweichen und kam dort sicher zum Stehen. „Puh“, hatte er gedacht. „Alles gut, das war ja knapp. Alles ist gut.“
Dann … Dunkelheit und als Nächstes … Das Aufwachen. Und der Sanitäter. „Was war dazwischen?“
Es traf ihn wie ein Schlag. Die Erinnerung brach mit aller Macht über ihn herein. Er war zurück. Im Flashback vor dem Unfall. Er hatte in den Rückspiegel geschaut. „Was ist das?“, hatte er sich in Gedanken gefragt. Ein LKW raste auf das Stauende zu. Zwei oder drei Autos schob er wie Spielzeug zur Seite und hielt unausweichlich direkt auf seinen Kofferraum zu.
„Oh Mist“, war das Letzte, was ihm aktiv durch den Kopf ging. Dann verlangsamte sich alles um ihn herum. Die Welt hüllte sich in Dunkelheit. Er wusste nicht, ob das der Schatten des LKWs war oder nicht. Doch unerwartet war da Licht. Purpurnes Leuchten. Der ganze Innenraum des Autos überzog sich langsam mit dezenten filigranen purpurnen Linien, die pulsierten.
Es krachte im Heck seines Wagens, alles geschah weiterhin in Zeitlupe. Er sah die Risse, die sich über der Heckscheibe ausbreiteten, bis sie zersprang. In diesem Moment verdeckte ein Körper aus Schatten das purpurne Licht und ergriff ihn. Er sah dünne langfingrige Hände, die seinen Kopf hielten. Sie schoben ihn zur Seite und drehten ihn nach vorn. Durch die Frontscheibe erkannte er einen weiteren LKW schräg rechts vor ihm. Er erinnerte sich nicht, dass dort einer war. Langsam schob sich sein Auto unter der hinteren Ecke des LKW-Hecks hindurch, bewegt durch die ungeheure Kraft des zweiten, der sich kontinuierlich tiefer in den Kofferraum grub. Das Dach schälte sich ab und drückte sich zwischen den beiden Kolossen wie eine Ziehharmonika zusammen.
Die ganze Zeit hielt ihn der lebendige Schatten fest und bewegte seine lebenswichtigen Körperteile hin und her, damit nichts zerquetscht oder durchbohrt werden würde. Die schemenhafte Gestalt griff nach dem Bein, erreichte es aber nicht rechtzeitig. Ein grausiges Knacken war das Resultat. „Das ist gebrochen“, hatte der Mann gedacht, ohne jeglichen Schmerz zu empfinden.
Seine Gedanken kehrten zurück in die Gegenwart. Das Blut strömte ihm über den Kopf und aus Unmengen winzigen Schnittwunden. Er hatte jedoch Glück. Außer seinem Bein schien nichts ernsthafter verletzt worden zu sein.
Er schaute in das Gesicht des Sanitäters. Das Licht war genauso verschwunden wie das Schattenwesen.
„Ein Schutzengel“, stammelte der Mann vor sich hin. „Ich habe einen Schutzengel gesehen. Es war ein Schatten. Er hat mein Leben gerettet.“
Kapitel 1 – Schatten im Sommer
– 1 –
Dieser traumhafte Tag im Sommer schien ewig anzudauern. Alles war unbeschwert und jedwede Probleme waren weit weg. Die Welt stand scheinbar still und es herrschte eine wunderbare Ruhe.
Ein paar winzige Meisen saßen auf einem Baum, zwitscherten ihr Lied, dessen Bedeutung ausschließlich ihnen bekannt war. Sie hatten erst das Nest verlassen und erkundeten die Welt mit Neugier und Erstaunen. In der Sonne genossen sie die Ruhe der Natur.
Hals über Kopf durchbrach ein Junge die Stille. Er kam aus dem Dickicht des Waldes gestürmt und vertrieb die Meisen von ihrem Ast. Er lachte beim Rennen und rief: „Oh Mann Ben, du kriegst mich doch nie. Lass es lieber sein, sonst bekommst du einen Herzinfarkt von der Anstrengung.“
Und tatsächlich kam mit gehörigem Abstand ein zweiter Junge aus demselben Gebüsch gerannt. Ben war sichtlich minder vergnügt und atmete schwer. Schweiß stand ihm auf der Stirn und er keuchte: „Hey Simon, das ist unfair. Wir wissen beide, dass du fitter bist. Gib sie mir wieder. Bitte, ist das dauernd nötig?“
„Ach ich helfe dir damit. Das verschafft dir bisweilen Bewegung und bringt Leben in deine ‚schweren Knochen‘“, antwortete Simon und stoppte, um sich vor weiterem Lachen den Bauch zu halten.
Da schimpfte eine hohe Mädchenstimme aus dem Wald hinter Ben: „Komm schon Simon, du weißt, dass das Basecap seinem Bruder gehörte und es das Einzige ist, was er zur Erinnerung behielt.“
Kurz darauf erschien die Inhaberin der Stimme aus dem Dickicht. Sie reichte Simon nur bis zur Brust und sah zu ihm auf. Sie war aber sehr aufgebracht und hatte damit eine bestimmende, eindringliche Ausstrahlung. Simon wusste, dass das bei der sonst zurückhaltenden Marie eine Ausnahme darstellte und in diesen Momenten nicht mit ihr zu spaßen war. Er dachte, dass es klüger wäre mit dem dämlichen Lachen aufzuhören.
Simon setzte demonstrativ ein reuiges Gesicht auf und warf Ben das Basecap zu. Trotz allem verkniff er es sich nicht zu sagen: „Ist es denn notwendig, dass ihn alle überall mit der Mickey Maus auf dem Kopf sehen? Ich meins nur gut. Wir sind in der 8. Klasse, da schauen die coolen Kids komisch.“
Ben sammelte seine Mütze vom Boden auf und schaute sich die fröhlich tanzende, mittlerweile ausgeblichene Maus an. „Seit wann scherst du dich um die coolen Kids? Und mir ist das klar. Dennoch, Stevie hat das Cappi auch nie abgesetzt“, murmelte Ben und stützte sich außer Atem auf den Knien ab. Er versuchte, seinen Kreislauf zu beruhigen. „Es gibt praktisch kein Bild von ihm in meiner Erinnerung, wo er sie nicht trägt.“ Umso mehr er von seinem, viel zu früh verstorbenen Bruder Steve sprach, umso mehr schlich sich die Traurigkeit in seine momentan atemlose Stimme.
Marie legte einen Arm um ihn und, wie immer, blieb ihr jegliche Sprache im Halse stecken, wenn Ben von Steve redete. Sie war gewillt, ihn zu trösten. Leider hatte sie sich mittlerweile beruhigt und ihr Adrenalin-getriebenes Selbstbewusstsein war wieder verflogen.
In dem Moment erschienen zwei weitere Jugendliche, sichtlich entspannter, aus dem Wald. Tamara und Lukas schienen sich nicht an der stürmischen Verfolgungsjagd beteiligt zu haben. Relaxt, Hand in Hand, stießen sie zu den anderen. „Müsst ihr euch immer so kindisch aufführen?“, fragte Tamara und rollte überdeutlich mit den Augen.
„Komm schon Ben, keuch nicht so übertrieben. Du bist ganz verschwitzt und dein Bauch hängt aus dem T-Shirt. Steh auf“, sagte sie, aber schaute ihn dabei nicht an. Lukas hingegen bewegte sich auf Ben zu, ergriff die Mütze aus seiner Hand und setzte sie ihm auf den Kopf. „Alles wieder in Ordnung?“, fragte er und half ihm, zusammen mit Marie, sich wiederaufzurichten.
„Ja, passt schon“, brachte Ben ohne Schnaufen heraus. Und zeigte wieder ein bescheidenes Lächeln im Gesicht. Er rückte sich seine runde Brille auf der Nase zurecht und sagte: „Wir lassen uns doch nicht diesen perfekten Sommerferientag verderben.“
Lukas’ lange dunkelblonde Haare fielen ihm ins Gesicht. Mit dem ihm typischen Schwung des Kopfes warf er sie wieder zur Seite. Er war ständig darauf bedacht, dass seine Haarpracht ordentlich saß. Dann streifte er sein Poloshirt glatt und lächelte Tamara an. Sie schien genauso darauf bedacht, nicht in die allgemein kindisch oberflächliche Art der anderen zu passen. Untypisch für einen Sommerferientag geschminkt und ein hübsches, teuer wirkendes gestreiftes Kleid am Körper, wirkte sie eher für eine städtische Shoppingtour als für den Wald vorbereitet.
Sie lächelte Lukas an und sagte zu den Anderen: „Habt ihr euch wieder eingekriegt? Können wir uns dann wieder zivilisiert weiterbewegen?“
Lukas, Marie und Ben wanderten nebeneinander los, die Arme auf den Schultern der Nachbarn und alles war wie vorher. Sie kicherten und hüpften beim Gehen wie ein klitzekleiner, unausgesprochener Seitenhieb für Tamara. „Sieh her, wie sich Kinder in deinem Alter verhalten.“
Simon hatte wieder zu seiner gewohnten Lässigkeit zurückgefunden, schlenderte neben Ben und auch er legte seinen Arm um dessen Schulter. Das Wunder der langjährigen Freundschaft von Kindern. Sie zankten ständig, aber nichts war ernst genug, dass es länger für schlechte Stimmung sorgte. Erst recht nicht bei 30 Grad im strahlenden Sonnenschein der Sommerferien.
Wie immer, wenn er mit den anderen glücklich war, stimmte Simon sein Lieblingslied an, beste Freunde von den Crimson Kings.
„…Zweifel sind für uns kein Hindernis. Wir stehen füreinander ein. Selbst Gott kann das bezeugen. Wir halten unser Wort …“
Tamara schaute zwar kurz abwertend auf diese wundersame Gruppe mit dem schief singenden Kerl. Aber, nein. Sie schaffte es nicht, sich diesem bezaubernden Freundschaftsmoment zu entziehen.
Vor allem, sie liebte Lukas mehr, als sie sich eingestand. Das, was sie beide in ihren jeweiligen Elternhäusern durchmachten, all der Hass und die Gewalt waren wie vergessen, wenn sie zusammen waren. Mit ihm hatte sie die Möglichkeit, aufrichtig darüber zu sprechen, weil er nachvollziehen konnte, was sie belastete.
Sie war erst seit kurzem Teil dieser eingeschworenen Gruppe, aber sie wusste, dass nichts diese vier Freunde zu trennen vermochte. Fünf Freunde, berichtigte sie sich in Gedanken und beeilte sich, um die anderen einzuholen, schloss zu Lukas auf und legte den Arm um seine Schulter.
„…Es war nicht immer leicht, doch wir sind der starke Fels. In der Brandung stehen wir und halten allem stand. Die Zukunft können wir deutlich sehen und sind uns sicher sie zu meistern …“
Und da stimmten alle lauthals mit ein.
„…Beste Freunde, das sind wir. Durch dick und dünn da gehen wir. Allein sind wir ein Blatt im Wind. Doch zusammen stehen wir, so fest wie Bäume in der Erde …“
Alle lachten herzlich zusammen. Simon, Ben, Marie, Lukas und Tamara, die fünf Freunde, deren Laune an diesem traumhaften Ferientag offenbar nichts zu gefährden vermochte.
– 2 –
„Herrlich, eigentlich steh ich ja so gar nicht auf die deutschsprachigen Lieder, aber diese Band rockt“, schwärmte Simon, weiter im Takt nickend, da der Song bei ihm im Kopf weiterlief.
Die Liebe für Rockmusik hatte er von seinem Vater. Es war für Simon die beste Zeit gewesen, bei ihm in der Werkstatt im Keller zu sein und ihm bei den diversen hobbymäßigen Basteleien zu helfen. Dort hatte sein Vater regelmäßig das Radio auf die höchste Stufe gedreht und seine liebsten Rockhymnen lautstark mitgesungen. Seit seine Eltern weg waren und er bei seiner Tante wohnte, fehlte ihm das immens.
„Also jetzt auf, weiter, lasst uns hochgehen, sonst kommen wir nie mehr an unserem Platz an“, sagte er und alle stimmten dem zu.
Nach fünf Minuten wichen die Bäume vom Weg zurück und gaben die Sicht frei auf eine atemberaubende Aussicht. Da lag die Stadt unter ihnen mit ihrem hektischen Treiben. All die Menschen, die sich dort tummelten, wie Ameisen hin und her laufend. Doch nach hier oben gelangte der Lärm nicht und die städtische Hektik erschien hier nahezu unwirklich.
Die Stadt breitete sich bis an den Horizont aus. Direkt vor ihnen lag ein dicht bebautes Viertel mit unzähligen, identischen Wohnblöcken. Das war die Heimat der fünf Kinder, die von oben darauf hinabblicken.
Dahinter erstreckte sich eine größere Grünfläche. Beton unterbrach sie auf dem ganzen Areal und ein halbrundes Gebäude rahmte das Gebiet ein. Das war der Stadtpark auf dem ehemaligen Flugplatz.
Die Freunde schauten weiter und undeutlich, am Horizont zeichneten sich die Hochhäuser ab.
Die Sonne prallte heiß auf die Betonwelt unter ihnen. „Erinnert ihr euch an die Lockdowns in den letzten Jahren, als alles da unten wegen des Corona-Desasters wie eine Geisterstadt wirkte?“, fragte Lukas. „Jetzt scheint das wieder wie vergessen und die Großstadt kommt wie früher nicht mal nachts zur Ruhe.“ Seine Freunde nickten bedrückt.
In dem Moment schien sich eine einsame Wolke vor die Sonne zu schieben und die Stadt in einen kühlen Schatten zu tauchen. Es erschien alles wie verschwommen. Die Details der Metropole unter ihnen hatten an Klarheit verloren und waren wie verdeckt.
„Komisch“, sagte Ben, „es wirkt fast so wie ein Déjà-vu. Die Schatten scheinen die Augen getäuscht zu haben, sodass die Menschen und Autos kurz wie verschwunden waren. Ihr wisst, was ich meine, ausgestorben wie es letztes Jahr aussah.“
„Fantasierst du wieder Ben?“, lachte Simon und Lukas stimmte mit ein. „Ja, die Sonne schien und ich dachte, in der Ferne steht Wasser auf den Straßen. Manch einer ist sich sicher, dass das eine Fata Morgana ist, aber hast du Lust zum Baden Ben?“
„Haha“, prustete Tamara, „schade, dass es nicht regnet. Bei einem Regenbogen könnten wir den Goldtopf am Ende suchen.“
„Ist ja gut Leute, es war nur eine Täuschung“, sagte Ben und fuhr mit einem Augenzwinkern fort: „Wollt ihr euch weiter über mich amüsieren, oder wollt ihr stattdessen von meinen kühlen Getränken abhaben? Ihr kennt mich, ich habe genug Durst. Ich trinke das zur Not alles allein aus.“
Er schaute zu Marie, die wieder froh war, sich nicht an den kindischen Neckereien gegen Ben beteiligt zu haben. Er hatte jederzeit gute Sachen für alle dabei. Freunde wie ihn sollte man sich warmhalten.
„Möchtest du vielleicht eine kühle Limo haben, Marie?“, fragte Ben mit einer übertriebenen Freundlichkeit. „Selbstverständlich, das wäre heeerrlich“, antwortete sie mit derselben gespielten Übertreibung. Beide stießen kichernd an und genossen die Frische, die ihre Kehlen hinabrann.
Theatralisch begab sich Simon vor Ben auf die Knie, verneigte sich und flehte: „Oh großer weiser Ben, willst du uns arme verlorene Seelen vor dem Verdursten retten? Wir Sünder haben es nicht verdient, hast du nicht ein Herz?“ Alle lachten ausgelassen über diese Blödelei und Ben verteilte Flaschen aus seinem Rucksack an die Anderen.
Sie genossen ihre Limos in der Sonne. Zusätzlich hatte er ein paar Chips. „Ben denkt grundsätzlich an alles“, freute sich Lukas nach einer Weile in Gedanken.
„Wie kommst du immer an das ganze Zeug ran?“, fragte er Ben. „Ach ihr wisst, dass mir meine Mum keinen Wunsch abschlägt. Erst recht nicht nach Stevie“, fügte Ben hinzu. „Außerdem haben wir eh immer viel zu viel im Haus. Was meint ihr denn, wo das hier herkommt?“ Lachend schlug sich Ben mehrmals auf den Bauch.
„Da hast du Recht, bring das Teufelszeug zu uns. Wir helfen dir es zu vernichten, damit du nicht selbst alles essen und trinken musst“, sagte Simon mit einem breiten Grinsen im Gesicht.
„Alles klar. In dem Sinne … Habt ihr ausgetrunken?“, fragte Ben und kramt im Rucksack für die nächste Runde.
„So gut wie“, antwortete Lukas. „Aber eine Weitere geht auf jeden Fall noch.“
Ben verteilte eine zweite Runde Limos an alle und sie lagen daraufhin schweigend nebeneinander in der Sonne.
– 3 –
„Langsam Zeit umzukehren, meint ihr nicht?“, fragte Tamara. „Wir haben doch vor, nachher ins Kino zu gehen.“
„Ja stimmt“, brummte Simon. „Aber dafür müssten wir uns ja bewegen.“
„Na los“, versuchte Lukas die anderen zu motivieren, während er aufsprang. „Ein Bein vor das andere. Jetzt bloß keine Müdigkeit vorschützen.“
„Ha, einen Euro für das Phrasenschwein von Lukas“, verkündete Simon.
Die fünf Freunde kicherten und packten gemächlich ihre Sachen zusammen. Dabei ließen sie sich absichtlich Zeit, um die Sonne weiter zu genießen.
Als sie schließlich in Bewegung waren und der Weg bergab verlief, wanderten sie unbeschwert dahin.
Im Wald war die Sonne weiterhin behaglich. „Lasst uns nachher nicht wieder zu früh im Kino sein, die Werbung braucht echt keiner“, sagte Lukas.
Simon lachte: „Fehlt dir die Lust, zum tausendsten Mal den Badeinrichtungsmarkt zu sehen, der denkt, er würde unser gesamtes Leben signifikant verändern?“
„Ja“, fügte Ben hinzu, „oder der Getränkemarkt, dessen Witze so abgedroschen sind, dass es nur noch peinlich ist.“ „Ach warum ist Lokalwerbung so hölzern?“, stöhnte Tamara. „Die sollten einfach …“ Sie stockte mitten im Satz. Irgendwas Großes, aus Glas, schien zerbrochen zu sein. Es klirrte und schepperte. Plötzlich musste sich wieder eine Wolke vor die Sonne geschoben haben und die Schatten breiteten sich im Wald aus.
„Habt ihr das gehört?“, fragte Marie.
„Na das war nicht zu überhören“, antwortete Lukas.
„Ja, es war ohrenbetäubend, aber das Geräusch schien in meinem Kopf und nicht draußen geklungen zu haben“, dachte Marie laut weiter.
„Nein, da hat irgendwer einen Spiegel fallen lassen“, hörten die anderen Simon sagen.
„Warum denn einen Spiegel?“, fragte Marie.
„Ich weiß nicht, hörte sich für mich so an, frag nicht warum. Es klang halb metallisch neben dem gläsernen Klirren.“
„Was es auch war, jetzt ist es … Huch!“ Lukas blieb abrupt stehen. „Herrje, ich dachte, ich würde gegen eine Wand rennen, aber hier ist nichts. Meine Augen spielen mir anscheinend einen Streich.“
„Und dieser Schatten. Unheimlich düster für einen Sommertag mit kaum Wolken. Mich fröstelt es ein wenig“, flüsterte Tamara.
„Hey Leute, bewegt sich da hinten im Wald etwas?“, fragte Simon.
„Jetzt ist aber gut, vorhin macht ihr mich fertig, als ich Gespenster sah, und jetzt das“, beschwerte sich Ben, war aber genauso verunsichert.
So schlagartig, wie sie verschwunden gewesen war, kam die Sonne wieder und alle fingen an, sich zu entspannen.
„Okay, zurück zum Thema“, lachte Simon verlegen. „Isst einer außer mir Nachos nachher im Kino? Ich bin ein klarer Feind von diesem Popcornmonopol, was lange genug …“
Marie unterbrach ihn: „Schaut, war da nicht eine Wolke vor der Sonne. Zumindest dachte ich das, aber da ist nichts am Himmel.“
Und wieder gewannen die Schatten die Oberhand, aber am Himmel schien die Sonne weiter, wie durch einen Schleier.
„Was geht hier vor sich?“, fragte Simon. Und plötzlich hörten alle irgendwelche fremdartigen Stimmen. „Was hast du getan? Ich sagte, du darfst niemals …“, hörten die fünf Freunde bruchstückhaft eine Stimme, die einen ihr innewohnenden schönen Nachhall besaß. Kein Echo, sondern als wenn Musikinstrumente zweistimmig eine Melodie anspielen.
„Das ist doch der falsche Ort, da dachte ich, dass wir es abbrechen müssen“, sagte eine andere Person genauso wunderschön melodisch.
Die Schatten wirkten mit einem Mal nahezu plastisch. Es war nicht zu definieren. Sie waren weder solide und dreidimensional noch flach und leblos wie normale Schatten. Es glich eher tiefschwarzem Rauch, nur mit deutlich klareren Konturen. Da verschwamm es wieder und verlor die Integrität. Es schwankte, als würde es mit der darunter liegenden realen Welt kämpfen und sich beide, mal mehr, mal weniger, überlagern.
„Das Atmen fällt mir schwer“, dachte Marie und die Panik stieg unaufhaltsam in ihr auf.
„Was ist das hier? Träume ich?“, wunderte sich Simon. Ben versuchte um Hilfe zu rufen, aber seine Lunge war wie zugeschnürt. Die Bäume um ihn herum leuchteten unnatürlich rot auf, pulsierten daraufhin glänzender und verfärbten sich purpurn. Deutliche Linien waren auf ihnen zu sehen.
Eine der fremden Stimmen sagte: „Ich glaube, ich habe es. Das müsste es lösen.“
„Puuuhhh…“, entwich es mit einem Schlag aus allen der fünf gleichzeitig. Der Druck ließ nach und herrliche sauerstoffreiche Luft füllte bei jedem Atemzug wieder ihre Lungen.
„Was war das?“, kreischte Tamara. „Ich weiß nicht“, wimmerte Marie. „Aber ich habe Angst.“ Obwohl er mindestens genauso viel Schiss hatte, ergriff Ben Maries Hand zur Beruhigung. Tamara und Lukas umarmten sich zitternd.
„Das geht nicht mit rechten Dingen zu“, sagte Simon. „Und wer waren die komischen Stimmen? Hier ist niemand. Hallo? Haaaaalloooo?“, rief er immer lauter werdend. „Ist da jemand?“ Er drehte sich hektisch hin und her, entdeckte aber nichts Ungewöhnliches.
„Klirrr …“ Und da war es wieder, das Geräusch des zerberstenden Spiegels. Ohrenbetäubender als vorher. Alle fünf erfasste ein Windstoß und sie stürzten zu Boden. Da lagen sie im Dreck und der unnatürlich schmerzliche Druck auf der Brust war wieder da. Regelmäßige Wellen einer abnormalen Energie schüttelten sie durch, sodass sie aus Reflex die Augen fest zugedrückt hielten.
– 4 –
Simon war der Erste, der die Augen behutsam öffnete, und traute ihnen kaum, als er erkannte, was er da vor sich sah. Der Wald war verschwunden, sie waren drinnen. Der Raum war spärlich von diversen glühenden Steinen beleuchtet und die Wände selbst schienen ein dezentes Leuchten von sich zu geben. Sie waren über und über bedeckt mit filigranen Linien, die in einem orangenen Rotton schimmerten.
Einerseits sah es wie ein Altarraum in einer Kirche aus, andererseits war alles unnatürlich und fremd.
„Es ist wunderschön“, dachte Ben. „Diese Muster sind hypnotisch und haben eine elfenartige Eleganz.“
Direkt neben Marie standen zwei Wesen, die bisher keinem aufgefallen waren. Bis zu diesem Zeitpunkt.
„Was ist das denn?“, dachte Simon. „Menschen sind das auf jeden Fall nicht. In was für einen Film sind wir hier geraten?“
Dabei ähnelten sie anatomisch schon grundsätzlich den Menschen. Sie waren zwar außergewöhnlich hochgewachsen, aber ansonsten menschlich. Es waren eher die Details, die sie fremdartig wirken ließen. Die Augen, größer und in verschiedensten Farben schimmernd. Die Gesichtszüge vollkommen glatt und mit spitzem Kinn, sowie die hohe weise wirkende Stirn. Silbriges Haar, was je nach Licht tiefpurpurn schimmerte. Lange feingliedrige Finger und die gesamte Haut von ähnlichen Linien durchzogen wie die Wände des Raums, gleichermaßen filigran. Die Verzierungen hatten ebenso ein ihnen innewohnendes Leuchten. Mal bläulich, mal purpurn wie die Haare.
„Wie ist das möglich? Sie haben die Schattenwand durchbrochen“, wunderte sich das eine Wesen. Und die Stimme schwang wieder in ihrer mehrschichtigen Melodie. Beide waren jedoch seelenruhig. Sie zeigten weder Überraschung noch Angst, sondern betrachteten die fünf Jugendlichen, wie ein Wissenschaftler sein Forschungsobjekt.
„Aber Ligara, du hast mir erklärt, dass das unmöglich ist“, sagte das andere Wesen. „Wo ist Abbadhor? Er war doch eben noch hier. Was er wohl zu diesem Vorfall zu sagen hat?“
Die als Ligara Angesprochene sah feminin aus, auch ihre ganze Statur zeigte, dass sie eine weibliche Vertreterin dieser Spezies war. Trotz des Umstands, dass die Haut keine Falten zu haben schien, waren ihre Gesichtszüge geprägt von Erfahrung, sodass sie mit hoher Wahrscheinlichkeit älter war.
Sie drehte sich, um sich im Raum umzusehen oder sich zu vergewissern, dass dieser Abbadhor nicht da war. Dabei wehte ihr ihre reich verzierte Robe um den Körper. Der Stoff wirkte unbeschwert wie eine Feder und floss um ihre Erscheinung. Rein weiß, jedoch mit umfangreichen, goldenen sowie rötlichen, filigranen Verzierungen.
Die Tür zum Raum war geschlossen. Sonst war niemand da. Nur sie beide standen an einer eigenartig glatten Wand, die nicht zu den anderen Wänden passte, die so geschwungen und reich verziert waren. Und neben ihnen am Boden lagen die fünf Jugendlichen.
Die glatte Wand besaß nicht dieses Leuchten durch die Linien. Im Gegenteil, sie schien von einem Schleier aus Schatten verdeckt. Jedoch ließen sich in den Schatten keine Details ausmachen. Es wirkte eher wie statisches Rauschen bei einem alten Fernseher ohne Empfang.
„Lass Abbadhor da mal raus, Angrowin“, beschwichtigte Ligara. „Es ist nicht nötig, dass er alles weiß. Er ist auch nur ein simples Mitglied des Rates. Du wirst schon noch lernen, wie das läuft. Gib dir Zeit und vertraue auf deine eigene innere Stärke und Überzeugung.“ Angrowin sah deutlich jünger aus und ihre weiblichen Gesichtszüge waren daher umso lieblicher anzusehen.
Ligara fuhr fort: „Aber Menschen, die ungewollt nach Paradell kommen, darum sollten wir uns kümmern. Das hat es noch nie gegeben und widerspricht dem Gleichgewicht, über das wir wachen. Das Gleichgewicht der Kräfte ist heilig und gehört um jeden Preis beschützt.“
„Zumindest dieses konkrete Vorkommnis scheint sich von selbst zu lösen“, unterbrach sie Angrowin, indem sie auf die Kinder hinabblickte. Ihre Stimmen verloren in dem Moment an Kraft.
„Oh je, was ist denn jetzt wieder?“, dachte sich Lukas, wo er die beiden immer verschwommener wahrnahm. Da zerfielen ihre Konturen zu Nebel und sie verwandelten sich zu schattenhaften Umrissen, obwohl der Raum klar und deutlich zu sehen war. Doch dann verschwammen die Linien an den Wänden zu Bäumen und deren Ästen. Der Raum verlor seine Kontur und obgleich alles von Schatten überlagert war, erhellte es sich merklich. Die Sonne schien sich ihren Weg zu suchen.
Die fremde Welt, eben noch deutlich und real, wirkte wie ein schlechter Traum. Viele Schatten waren weiterhin überall, aber zerfielen langsam zu Staub. Da kamen die Sonnenstrahlen ausgeprägter zum Vorschein und bald lagen die fünf, wie vorher, im Wald, im Dreck unter der brütenden Nachmittagssonne des Sommerferientags, der so friedlich gestartet hatte.
Es dauerte einige Minuten, bis sich einer von ihnen regte. Alle waren wie in Schockstarre verfallen. Selbst in dem Moment, wo sich die Ersten lösten, brach keiner in Panik aus. Sie waren zwar zutiefst verängstigt, aber die Erfahrung war zu unwirklich und verstörend gewesen, sodass alle zu perplex waren, um zu schreien. Zusätzlich hatten die beiden Wesen eine unheimlich beruhigende Wirkung gehabt, die sich keiner erklären konnte.
– 5 –
„Habe ich geträumt?“, fragte schließlich Ben. „War ich ohnmächtig?“
„Wenn, dann waren wir es alle, wie wir es uns hier im Dreck bequem gemacht haben“, versuchte es Simon mit einem Anflug von unsicherem Humor.
„Außerdem habe ich euch in meinem Traum gesehen“, sagte Marie. „Dementsprechend ist es möglich, dass es keine Illusion war?“
„Wenn ihr alle diese beiden Freaks wahrgenommen und mit mir in dem abgespaceten Raum gelegen habt, ist es eher unwahrscheinlich, dass es ein Traum war“, bemerkte Simon.
Wie aus fernen Gedanken gerissen empörte sich Ben: „Freaks? Die waren majestätisch und wunderschön. Wenn es angesichts des altarähnlichen Raums nicht klischeehaft wäre, würde ich sagen, sie hatten etwas Göttliches an sich.“
„Leute, hört euch doch mal zu“, schimpfte Tamara. „Ihr redet ja, als wären wir soeben in eine andere Welt gereist. Das ist unmöglich. Wir sind von dem Windstoß, woher er auch kam, umgeworfen worden und auf den Kopf gefallen“, sagte sie und verschränkte zur Verstärkung ihrer Aussage die Arme vor der Brust. Die Geste zeigte, dass sie da keine Diskussion zuließ.
„Klar, und unsere Köpfe denken sich solch eine wahnwitzige Geschichte aus und zu allem Überfluss dieselbe“, murmelte Marie kaum vernehmlich.
Alle standen langsam auf, putzten sich notdürftig ab und wirkten außerordentlich wackelig auf den Beinen. Gemächlich kamen sie in Bewegung und setzten ihren Heimweg fort, den sie gefühlt vor Stunden angetreten hatten. In Wirklichkeit waren kaum fünf Minuten vergangen.
Nach einem Augenblick des Schweigens sagte Tamara zu Lukas. „Weißt du was, ich habe echt Kopfschmerzen, geh du nachher mit den anderen ins Kino. Ich glaub, ich gehe früh zu Bett.“
„Ach nee, mir ist auch nicht nach Kino“, antwortete Lukas.
„Ja, wenn ich es mir recht überlege, habe ich nur schlechte Rezensionen von dem Film gesehen“, fügte Ben hinzu und zog sich ebenso von dem Vorhaben zurück, an dem Tag ins Kino zu wollen.
„Ich glaube, die Hitze hat uns alle geschafft. Lasst uns versuchen den Abend in Ruhe ausklingen zu lassen“, schloss sich Marie an.
Nur Simon blieb überrascht stehen. „Echt jetzt, keiner von euch will mitkommen? Soll ich jetzt etwa allein da rein? Nee, dann bin ich auch raus“, schmollte er. Es wirkte jedoch, als wäre er nicht unglücklich gewesen, heimzugehen und für den Rest des Abends dortzubleiben.
„In Sicherheit“, dachten sie alle.
Kapitel 2 – Schatten der Erinnerung
– 1 –
Nachdem sie alle daheim angekommen waren, fiel erst allmählich die eigenartige Trance von ihnen ab. Erst in dem Moment realisierten sie langsam, dass da irgendetwas mit ihnen geschehen war.
Sie schafften es kaum, an sich zu halten, und mussten sich mit den anderen austauschen. Einmal daheim angekommen, wollten sie da jedoch bleiben. Daher eskalierte es in ihrem Gruppenchat und alle tippten exzessiv auf ihre Handys ein.
@Simon> Fühlt ihr auch diese kribbelnde Energie in euch? Ich schaffe es kaum, in Ruhe zu sitzen.
@Marie> Ja, ich weiß nicht, wie ich nachher schlafen soll.
@Lukas> Da sagst du was … Schlafen … ich werde schlimme Alpträume bekommen von dem Ganzen. Da bin ich mir sicher.
Ben schien entgegen seiner sonstigen Art weiterhin keine Angst zu haben. Im Gegenteil. Er schwärmte wieder von den Wesen.
@Ben> Ich habe euch vorhin bereits gesagt, die anderen sind kein Grund für Alpträume. Ich würde mich freuen, sie im Traum wiederzusehen.
Tamara blieb bei ihrer ablehnenden Haltung.
@Tamara> Dann hau du dir mit was Schwerem auf den Kopf, damit du wieder in dieses Traumland kommst.
@Tamara> Die Energie kommt rein vom Adrenalin. Das ist klar. War wahnsinnig erschreckend vorhin.
@Marie> Diese Energie nicht, das hatte ich noch nie. Adrenalin kenne ich zu gut, wenn diese groben Idioten in der Schule wieder hinter mir her sind und Streberschelte spielen.
@Lukas> Ich glaube, wir wissen alle nichts damit anzufangen, was da mit uns passiert ist. Unwirklich genug war es auf jeden Fall, dass es schwer als Realität zu akzeptieren ist. Es ist jetzt vorbei und irgendwem davon erzählen ist unmöglich. Das glaubt uns niemand.
@Simon> Es ist das Beste, wenn wir alle schlafen. Morgen sieht das eventuell anders aus.
Alle wünschten sich lapidar eine gute Nacht und damit war die Diskussion vorerst erledigt.
Simon lag ausgestreckt in seinem zu kurzen Bett und schaute sich in dem winzigen Zimmer um. Die Wohnung seiner Tante war leider deutlich enger als die, in der er früher mit seinen Eltern gewohnt hatte. Er war ihr dennoch übermäßig dankbar, dass sie sich um ihn kümmerte, nachdem seine Eltern verschwunden waren. Er würde sich da kaum beschweren.
Er schaute an die gegenüberliegende Wand, wo ein schmales Regal hing. Das hatte er einst zusammen mit Dad in dessen Werkstatt gebaut. Heute standen darauf seine diversen Pokale von gewonnenen Handballturnieren, mittig der goldene Ball aus der letzten Landesmeisterschaft.
„Bester Spieler des Matchs, Simon Gideon“ stand auf der dahinterstehenden Urkunde und er lächelte, als er das las.
Sein Blick schweifte weiter zu dem Foto an der Wand. Es zeigte ihn zusammen mit seinen Eltern zu der Zeit ihres letzten gemeinsamen Urlaubs in London. Alle drei hatten sie, breit grinsend, vor der Tower Bridge gestanden.
Sein Blick verweilte kurz darauf, bis er sich seufzend davon losriss und zum Lichtschalter griff. Er machte die Augen zu und entgegen seiner früheren Annahme schlief er zügig ein.
– 2 –
Simon fand sich in seinem alten Zimmer wieder, in dem er aufgewachsen war. Sein Dad war bei ihm. „Wann können wir denn endlich los?“, quengelte Simon.
„Das Volksfest läuft uns nicht weg Junge“, antwortete sein Vater ungeduldig.
Zumindest hatte die Vorhersage gestimmt, dass er eine traumreiche Nacht vor sich hatte. Nur kam das Erlebnis von früher am Tag offenbar nicht vor. Er träumte wie gewohnt von seinen Eltern. Der Tag, von dem er diesmal träumte, war drei Jahre her und eine Weile nicht mehr in seinen Träumen aufgetaucht. Es handelte sich um den Volksfestbesuch, als er zwölf Jahre alt war, der sich tief in sein Gedächtnis gebrannt hatte.
Im Traum ließ er nicht locker: „Wir wollten längst unterwegs sein. Nicht dass wir nachher wieder ewig an den Achterbahnen anstehen.“
Charles Gideon, versuchte, seinen Sohn zu beschwichtigen: „Mum braucht nicht mehr lange, sie beeilt sich ja. Wenn du ein bissel geduldig bist, ist nachher ein Abstecher an den Schießstand drin und ich gewinne dir da, was immer du dir wünschst. Deal?“
Simon wusste, dass das ein guter Deal war. Sein Vater war ein wahrer Künstler an diesen Schießbuden. Er gewinnt ihm mit Sicherheit den Hauptpreis.
„Okay! Deal“, sagte Simon, grinste seinen Vater an und die beiden bewegten sich von seinem Zimmer durch die Diele zur Haustür. Sie wohnten zwar in einem von diesen langweiligen Wohnblöcken, aber ihre Wohnung im dritten Stock war mit ihren vier Zimmern schön geräumig.
Da kam endlich seine Mum zu ihnen. „Entschuldigt, dieses neue Kleid. Da waren überall die Preisschilder und Nadeln dran.“ Sie trug ihr neues Sommerkleid und lächelte Simon mit ihrem einnehmenden liebevollen Blick an, den eine Mutter ausschließlich für ihr Kind übrig hatte.
Wie immer vermochte es Simon dann nicht ihr böse zu sein.
Sie schlossen die Wohnungstür, stiegen die drei Etagen des Treppenhauses nach unten zum Auto und waren auf dem Weg.
Die ganze Fahrt war Simon übermäßig aufgedreht und saß kaum im Auto still. „Sind wir bald da?“, fragte er zum gefühlt einhundertsten Mal.
Als sie da waren, war ihnen dennoch ein Parkplatz deutlich weiter vorne, wie es Simon befürchtet hatte, vergönnt. Sie fuhren alle seine Lieblingsachterbahnen sogar zweimal, ohne lange anzustehen.
Simon war glücklich und zufrieden: „Der Tag ist nahezu perfekt. Es fehlt nur, dass du dein Versprechen einlöst Dad.“ Er grinste und zwinkerte seinem Vater zu. „Schau da, hinter dem Zuckerwattestand. Eine Schießbude. Komm schon Dad.“ Er zog ihm, ohne eine Antwort abzuwarten, am Arm und ließ nicht locker.
Nach ein wenig gespielter Gegenwehr ließ sich Charles von seinem Sohn zum Schießstand zerren und gab dem Schausteller zehn Euro für seine Schüsse.
„Ich versuche es mit den bewegten Entchen als Ziel“, kündigte Charles selbstbewusst an. Er zielte nur kurz, schoss und der Schuss streifte die erste Ente an der Ecke, sodass sie widerwillig langsam umfiel. Aber sie war unten. Das zählte. „Ah, sie zieht minimal nach links“, murmelte er für sich. Dann setzte er wieder an und die restlichen Schüsse fielen, ohne abzusetzen, in einer schwindelerregenden Schnelligkeit.
„Alle Enten sind weg“, verkündete der Schausteller überrascht den Umstehenden. „Wir haben hier einen Meisterschützen. Damit dürfen sie sich da von den kleinen Plüschtieren eines aussuchen oder aus den Kisten da vorne.“
„Hey, was ist mit den Hauptpreisen da hinten in der Ecke?“, fragte Simon. „Dad hat alle Enten erwischt, warum bekommt er dann nicht, was er will?“
Der Schausteller antwortete: „Hör zu Junge, die Hauptpreise bekommt man nicht so einfach. Die sind für die Allerbesten vorbehalten.“
„Mein Dad ist der Allerbeste“, verkündete Simon nachdrücklich mit stolzer Stimme. „Nicht wahr Mum? Dad kann niemand das Wasser reichen.“
„Na klar. Dein Vater ist ein Superheld. Der Typ in der Bude ist zu knauserig und rückt die großartigen Preise nicht raus“, bestätigte ihm seine Mutter.
Charles sagte: „Das stimmt Sophia, das ist immer eine gemeine Abzocke an diesen Buden. Aber dem zeig ich es.“ Und an Simon gewandt fügte er hinzu: „Du sollst deinen Hauptpreis bekommen. Versprochen ist versprochen.“
Er rückte dicht an den Schausteller ran und sprach flüsternd, aber unmissverständlich zu ihm. „Okay, mein Freund, ich zahle nochmal doppelt so viele Schüsse, dass ich genug für die zweite Reihe Enten habe und sie drehen die Geschwindigkeit auf Anschlag. Ich habe meinem Sohn den Hauptpreis versprochen. Wenn ich alle erwische, bekomme ich eins von denen, ohne Wenn und Aber.“
Der Schausteller willigte mürrisch in den Deal ein. Hauptsächlich, weil er sich versprach, damit mehr Interessenten an seinen Stand zu locken. Er hatte vor, die Aktion werbewirksam anzupreisen.
„Na mein Junge, schau aufmerksam hin. Such dir einen der Hauptpreise aus“, sagte Charles. Simon betrachtete die Auslage neugierig. Es gab gewaltige Plüschtiere, einen ferngesteuerten Truck sowie eine Legoburg. Ihn beeindruckte das alles nicht.
Doch da entdeckte er, was er wollte. „Da, Dad, siehst du die Rockgitarre? Wow, ist die cool. Die ist es.“ Simons Augen leuchteten. Es war zwar eine Kindergitarre, aber sie sah verdammt echt aus.
„Gut mein Sohn. Dann aufpassen und Daumen drücken“, sagte Charles, zwinkerte Simon zu und schulterte wieder das Gewehr.
„Aufgepasst, aufgepasst, kommen Sie näher Leute. Schaut euch diesen tollkühnen Schützen an“, schrie der Schausteller aus voller Kraft. „Dieser Herr wagt das Unmögliche.“ Er wedelte enthusiastisch mit den Armen und winkte die vorbeiziehenden Volksfestgäste heran. „Die schnellste Geschwindigkeitsstufe, das hat bisher keiner geschafft. Werden Sie Zeugen dieses wagemutigen Versuchs!“
Sophia küsste Charles als Glücksbringer auf die Wange: „Viel Glück Schatz.“ Er lächelte und setzte das Gewehr an.
Die Enten rasten in einer unfassbaren Geschwindigkeit hin und her. Für die meisten Zuschauer waren sie zu fix, um sie zu erkennen. Sie verschwommen vor ihren Augen.
Charles zielte minimal länger und atmete entspannt. Währenddessen wich die Sonne dem Schatten und ein zarter Windzug kam auf. Die ganze Bude schien sich zu verdunkeln. Und viele Schatten streiften langsam über die Ziele an der Wand.
„Oje, das wird knifflig“, dachte Simon und hielt den Atem an. In dem Moment ließ sein Vater seinen Atem allmählich entweichen und schoss. In herrlich gleichmäßigem Takt machte es Peng und jedes Mal hörte man direkt das beruhigende metallische Pling einer umfallenden Ente.
Die Schatten verdichteten sich mit jedem Pling der Enten; die Konturen ließen nach, aber Charles ließ sich nicht ablenken. Er machte unbeirrt weiter. Simon hielt konstant den Atem an und es schmerzte geringfügig in der Brust. Da kamen die letzten drei und peng, peng, peng sowie drei Pling, Pling, Pling.
Die letzte Ente fiel und die umstehende Menge entlud die Anspannung und brach in Jubel aus. Simon atmete in einem Stoß aus und jubelte am lautesten.
Die Sonne hatte ihren Weg wiedergefunden und alle Schatten waren weg, als wären sie niemals da gewesen. Simon war zu fokussiert, um dem Ganzen größere Aufmerksamkeit zu widmen.
Sophia umarmte Charles. „Glückwunsch, mein Revolverheld“, lachte sie. Und zum Schausteller sagte sie mit Nachdruck: „Keine Ausreden mehr. Mein Sohn erhält die Gitarre dahinten.“
„Aber selbstverständlich“, verkündete er an alle Zuschauer gewandt. „Schaut, schaut, der Meisterschütze hier hat den Hauptpreis redlich verdient. Wer vermag es ihm nachzumachen? Wer akzeptiert die Herausforderung und versucht als Nächster sein Glück? Hier gibt es Gewinne, Gewinne, Gewinne. Einer besser als der andere.“ Tatsächlich trauten sich Andere heran und es entstand eine beträchtliche Schlange an potenziellen Kunden vor der Schießbude.
Der Besitzer schritt zu den Hauptpreisen und holte die Gitarre herunter. „Hier mein Junge, die ist für dich. Dein Vater hat sie fair erkämpft. Viel Spaß damit.“ Simon bedankte sich artig und freute sich wie ein Schneekönig über seine neue Gitarre.
– 3 –
„Sophia, ich glaube, wir haben uns alle Zuckerwatte verdient. Findest du nicht?“, fragte Charles.
Sophia antwortete: „Klar, mein Revolverheld und mein kleiner Rockstar bekommen heute alles, was sie sich wünschen.“ Sie ging zum Stand nebenan und kaufte eine mächtige Portion Zuckerwatte. Alle drei zupften sich eine Zeit lang schweigend ihre Stückchen ab und genossen sie sowie die Sonne, die auf sie herunterschien.
Sophia sagte nach kurzer Zeit: „Hier Simon, halt den Rest, du darfst es aufessen, wenn du magst. Ich muss zur Toilette.“
Da schloss sich Charles an: „Gute Idee, ich komm fix mit. Simon, du wartest hier.“
„Klar, kein Problem, ich habe ja meine Zuckerwatte“, kichert er.
Als sich seine Eltern umgedreht hatten, krochen wieder die Schatten heran. Alles verdunkelte sich. Schemenhafte Silhouetten überlagerten die Welt und rangen mit der Realität.
Simon dachte: „Schade, die Sonne war so schön“, hatte aber nur Augen für seine Zuckerwatte. In dem Moment sah er einen der Schatten an seiner Zuckerwatte vorbeihuschen. Da schaute er auf und ein weiterer bewegte sich vor ihm. Die Form war kaum auszumachen. Mal schien es menschlich, mal wie unförmiger Nebel.
Eine Stimme neben ihm klang überraschend unnatürlich doppelt, sodass er dachte, er musste sich verhört haben. „Die beiden dahinten. Los. Wir haben keine Zeit zu verlieren.“
Simon schaute sich um, niemand anderem schien irgendetwas aufzufallen. Außerdem sah er niemanden, der das gesagt gehabt haben könnte. „Die Stimme hat sich melodisch angehört“, dachte Simon. „Aber sie hatte einen fiesen Unterton.“
Langsam wurde ihm ungemütlich. Eine unnatürliche Kälte schlich sich ihm in die Knochen und er hoffte, dass Mum und Dad bald wieder da wären. Er schaute in Richtung der Toiletten, sah aber kein Zeichen von ihnen.
Die Luft wurde gefühlt zunehmend dicker und es atmete sich kontinuierlich schwerer. Da hörte Simon ein Klirren von Glas, das aber auch irgendwie metallisch erschien. Gleich darauf zerfielen die Schatten zu Staub und der Druck war aus der Umgebungsluft verflogen. Auch die Sonne war wieder da.
„Was war das?“, rief Simon deutlich hörbar. „Was war das Klirren und wo sind die Schatten hin?“ Eine Frau, die neben ihm stand, schaute ihn an, als wäre er verrückt geworden.
„Was willst du Junge? Fantasierst du?“, fragte sie und nahm deutlich Abstand zu ihm ein.
Da seine Eltern immer noch nicht zurück waren, packte ihn langsam die Angst. Er dachte zwar: „Mensch Simon, du bist elf Jahre alt, das ist lächerlich Angst zu haben, weil Mummy und Daddy ein paar Minuten weg sind.“ Er drehte sich dennoch zu den Toiletten und nach kurzem Zögern flitzte er rüber und suchte seine Eltern.
Leider war nichts von ihnen zu entdecken. „Muuum, Daaad“, rief er. Keine Antwort. Dabei war das ein billiges transportables Klohäuschen, die hätten ihn da drin hören müssen. Seine Panik wuchs ständig weiter. Allen logischen Erklärungsversuchen zum Trotz schaffte er es nicht, sich dagegen zu wehren.
Im Traum rannte er zunehmend hektischer umher und rief nach seinen Eltern, während die Panik ins Unermessliche stieg.
– 4 –
Im Bett in der Gegenwart warf sich Simon wild umher und zerwühlte das ganze Bettzeug. Schweißgebadet wachte er auf.
„Muuum, Daaad!“, rief er nochmal kräftig in die Dunkelheit seines Zimmers. Seine Tante Olivia kam an die Tür, steckte den Kopf durch den Spalt und fragte: „Simon, alles in Ordnung? Ich habe dich rufen gehört.“
„Alles klar, es war nur ein Alptraum“, beruhigte Simon sie. Er selbst war alles andere als beruhigt. „Okay, dann ist alles wieder in Ordnung? Kann ich dir noch irgendetwas bringen?“, fragte seine Tante. „Nein, ist schon gut. War nur ein Traum“, bestätigte er erneut, auch um sich selbst zu vergewissern.
„Na dann schlaf gut weiter, mein Junge“, sagte Olivia mit sanfter Stimme.
Nach Schlaf war ihm nicht zu Mute. „Oh Mann, davon habe ich ja seit Ewigkeiten nicht mehr geträumt. Und wenn, dann nie so lebhaft“, dachte er sich.
„Und an die Schatten erinnere ich mich erst recht nicht“ er erschauderte und zog sich die Decke weiter bis ans Kinn. „War das mein Kopf, der die heutigen Erlebnisse im Traum mit dem Tag vor drei Jahren verbunden hat? Waren die damals wirklich da und ich habe das im Licht all der Ereignisse später vergessen?“
Er wusste nur eins, an dem Tag hatte er so lange gerufen, bis er die Aufmerksamkeit der Leute erregt hatte. Der Sicherheitsdienst des Volksfestes hatte ihn im weiteren Verlauf befragt und zu guter Letzt die Polizei gerufen. Doch auch die waren machtlos. Man hatte seine Eltern ausgerufen und die Polizisten hatten das ganze Volksfest durchsucht. Nachdem alle Gäste am Abend das Festgelände verlassen hatten und von seinen Eltern keine Spur zu finden war, hatte man sie offiziell als vermisst gemeldet und seine Tante Olivia angerufen.
Leider war das auch schon alles gewesen. Man hatte sie nie gefunden. Nicht mal irgendwelche Hinweise hat es in den folgenden Jahren gegeben.
Seither lebte Simon bei seiner Tante Olivia Gideon. Die Schwester seines Vaters hatte nach ihrer Scheidung wieder ihren Mädchennamen angenommen und wohnte seitdem in ihrer Nähe. Simon hatte bereits davor eine enge Beziehung zu seiner Tante gehabt. Danach setzte sie alles daran ihm die erste Zeit zumindest erträglicher zu gestalten, bis er sich damit abgefunden hatte, dass seine Eltern für immer weg waren.
Er grübelte, da ihm eine spezielle Frage keine Ruhe ließ. Haben die komischen Wesen, die er an dem Tag mit seinen Freunden gesehen hatte, irgendetwas mit dem Verschwinden seiner Eltern zu schaffen? Oder hatte ihm sein Gehirn einen blöden Streich gespielt. Er grübelte, bis die Müdigkeit langsam zurückkam.
Er gähnte ausgiebig und beim Einschlafen schaute er kurz auf die Gitarre in der Ecke, bevor ihm die Augen wieder zufielen. Der letzte Gedanke, der ihm durch den Kopf schwebte, war: „Mein kleiner Rockstar bekommt heute alles, was er sich wünscht …“ Er schlief mit einem Lächeln ein, aber eine einsame Träne floss ihm aus dem Augenwinkel.
– 5 –
Am nächsten Morgen waren die Schrecken der Nacht verblasst. Simon stand erst gegen halb zehn Uhr auf. Als er in die Küche kam, fand er Müsli, eine Schüssel sowie eine Packung Milch für ihn bereitgestellt. Seine Tante stand deutlich früher auf und hatte bereits gefrühstückt. Bestimmt war sie zum Markt gefahren.
Simon holte sich etwas frischen Saft aus dem Kühlschrank und setzte sich an den Küchentisch. Sein Platz wurde von der Sonne erwärmt und er träumte gelassen, ohne konkrete Gedankengänge, vor sich hin, während er frühstückte.
Als er fertig war, holte er sein Handy heraus und schrieb im Gruppenchat:
@Simon> Hey Leute, seid ihr wach?
@Simon> Wollen wir nachher in den Park? Es ist schließlich die letzte Ferienwoche, das sollten wir nutzen, oder?
Die anderen waren einverstanden und planten, sich um ein Uhr zu treffen.
Simon ging ins Bad und stand eine Weile vorm Spiegel. Er duckte sich etwas. Da er mit 1,88 deutlich größer als seine Tante war, hing der Spiegel für ihn zu tief. Er betrachtete seine zotteligen gewellten rotbraunen Haare, die nach Bettfrisur aussahen. Das war aber seine normale Frisur. Einen Kamm sahen die nur sporadisch.
Er warf sich eine Hand voll Wasser ins Gesicht, was ihn gleich mehr aufweckte. Beim Anblick seiner Haut, die am Ende der Ferien noch recht blass war, dachte er: „Na, ausreichend braun werde ich ja nie, das ist echt unfair.“
Simon war schlank und drahtig. Ganz der Sportler. Er warf sich ein zweites Mal Wasser ins Gesicht und kam langsam in die Gänge. Er putzte sich flink die Zähne und sprang unter die Dusche. Als er fertig war, suchte er sich ein weißes lässiges T-Shirt und eine dunkelblaue Jeans heraus. Die Surfer Halskette, die er immer trug, holte er sich vom Nachttisch und damit war er bereit.
Der Weg zum Park war für ihn nur zehn Minuten mit dem Fahrrad, somit wäre er zu früh dort gewesen, wenn er sofort losgefahren wäre. Aber er konnte da auf die anderen warten. Das war besser, als bei dem Wetter länger drinnen zu bleiben.
Er legte seiner Tante einen Zettel hin und machte sich auf den Weg.
Er nahm die Pfade durch die Hinterhöfe seines Wohngebiets. Das war besser, als an der Hauptstraße Fahrrad zu fahren. Zwischen den ganzen Wohnblöcken gelangte die Sonne nie komplett bis auf den Boden. Als er das Viertel verließ und zum alten innerstädtischen Flugplatz kam, der mittlerweile als Park genutzt wurde, hellte sich alles merklich auf und er dachte: „Das wird nochmal ein wunderschöner Sommerferientag.“
Er fand eine einzelne Baumgruppe auf der weiten offenen Rasenfläche und wählte diesen Platz. Mangels Fahrradständer wurde sein altes Gefährt unter den Baum gelegt und er platzierte sich daneben in den Schatten. Er schloss die Augen und genoss einen Luftzug, der sehr erfrischend war.
„Hi Simon“, riss ihn nach Kurzem eine hohe Stimme aus seinen Gedanken. Er machte die Augen wegen der Sonne langsam auf. „Ah Marie, hi, wie geht’s?“
„Gut“, antwortete Marie. „Ist sonst keiner da?“, fragte sie.
Simon antwortete mit einem verschmitzten Lächeln. „Na du bist wie immer pünktlich wie die Maurer.“ Und mit einem kurzen Blick auf die Handyuhr ergänzte er: „Dreiviertel eins, du kennst die andern. Maximal von Ben könnte man erwarten, dass er bis ein Uhr hier ist. Aber die beiden Turteltäubchen wären in einer halben Stunde noch pünktlich für ihre Verhältnisse. Ich weiß nicht, wer von den beiden länger für seine Haare braucht.“
„Ah, stimmt“, murmelte Marie und lächelte verlegen. Sie hatte eine eigene Decke dabei, die sie auf dem Boden ausbreitete und sich draufsetzte. Marie trug ein unauffälliges beigefarbenes Kleid. Es war knielang mit kurzen Ärmeln. Sie saß still auf ihrer Decke und schaute über die weite Grasfläche des Parks.
„Bist du hergelaufen?“, fragte Simon. „Ja, ich war noch in der Bibliothek und die liegt auf halbem Weg.“
„Hast du was Interessantes zum Lesen gefunden?“, fragte er weiter.
„Ach, ich habe schonmal was wegen der Schule für nächste Woche geschaut. In Geschichte kommen nach den Ferien die Napoleonischen Kriege dran“, antwortete Marie verlegen.
Simon ließ sich grinsend zurück ins Gras fallen. „Ach Mariechen, du bist unverbesserlich. Noch sind Ferien. Genieß das, solange du kannst.“