Die Schattenbrücke – Ins ewige Eis - E. G. Wolff - E-Book

Die Schattenbrücke – Ins ewige Eis E-Book

E. G. Wolff

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Beschreibung

"Wer nach vorne will, muss nach hinten schauen" – Die spannende Fantasy-Saga um Freundschaft, Mut und Vertrauen geht weiter Die Welt wird kälter, die Bedrohung für die Klippe nimmt Gestalt an – doch auch auf dem Hochland selbst verschärfen sich die Fronten. Kjer, Freya und Aiko finden sich nach ihren Abenteuern nur mühsam wieder im Alltag zurecht. Da kommt ihnen ein Auftrag der Aufrührer in den eisigen Bergen gerade recht, doch ihre Gegner sind ihnen schon auf der Spur. Währenddessen stoßen Wigold und seine Gefährten im Regeneichenwald auf ein Geheimnis aus vergangener Zeit – mit ungeahnten Möglichkeiten und Gefahren. Band 2 der spannenden Fantasy-Serie über Verantwortung und Erwachsenwerden

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Seitenzahl: 409

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© Piper Verlag GmbH, München 2021

Redaktion: Uwe Raum-Deinzer

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München), mit abavo vlow (Buchloe)

Covergestaltung: Emily Bähr, www.emilybaehr.de

Covermotiv: Shutterstock.com und Freepik

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

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Inhalt

Cover & Impressum

Widmung

Karte

Kapitel 1: Auf der Jagd

Kapitel 2: Winterbeginn

Kapitel 3: Die Geister des Hochlandes

Kapitel 4: Von Elfen und Trollen

Kapitel 5: Ein Geist in der Stadt

Kapitel 6: Die geheime Feste

Kapitel 7: Im Wettergebirge

Kapitel 8: Das innere Tor

Kapitel 9: Noorby

Kapitel 10: Hunger

Kapitel 11: Die Tisiphone

Kapitel 12: In der Luft

Kapitel 13: Im Land der Eislöwen

Kapitel 14: Verschollen

Kapitel 15: Fjellethed

Kapitel 16: Ein Missverständnis mit Folgen

Kapitel 17: In der Defensive

Kapitel 18: Die List

Kapitel 19: Rückkehr nach Fiskheym

Kapitel 20: Der Feind meines Feindes

Kapitel 21: Die Entscheidung

Namensregister

Für S.,

meine immer emsigere Leserin

Kapitel 1: Auf der Jagd

Noch im Spurt schätzte Wigold die Entfernung zum nächsten Dach ab. Ohne zu bremsen, sprang er im nächsten Moment in schwindelnder Höhe über eine schmale Gasse hinweg. Von unten leuchtete eine Laterne hinauf und mischte sich mit dem Dämmerlicht des Abends. Eine Katze fauchte entrüstet und huschte hastig zur Seite. Dass Menschen hier wie vom Teufel gejagt von Dach zu Dach hasteten, war ihr völlig neu.

Nur einen Augenblick später setzte auch Leif über den Abgrund hinweg. Er landete hart auf dem Schrägdach und stieg dann eilig zum First hinauf, wo Wigold nur eine Sekunde zuvor auf der anderen Dachseite verschwunden war.

Dort rutschte dieser gerade die Schräge hinab, lief ein paar Schritte an der Dachkante entlang und sprang weiter auf das nächste Haus. In Wigolds Kopf arbeitete es. Er durfte nicht zu weit nach links geraten, andernfalls würde er auf die Bergaheymer Ringstraße stoßen, aber er hatte sicher nicht genug Zeit, um sich ein Fenster zu suchen, von dem aus er die Dächer verlassen und auf die Straße absteigen konnte. Sein überaus lästiger Verfolger saß ihm dafür zu dicht im Nacken. Etwa zehn Häuser musste er noch überwinden, dann sollte eine Allee kommen, bei der er mit etwas Glück in einen Baum springen und in der Dunkelheit der Nacht entkommen könnte.

Die nächsten zwei Häuser standen ebenfalls eng beieinander. Vom Dachfirst aus konnte er seinen Verfolger einen Augenblick lang sehen. Zwar holte er nicht auf, aber Wigold gelang es auch nicht, den Abstand zu vergrößern. Wigold schwenkte nach rechts, lief die Dachschräge hinab und sprang auf das nächste Dach. Dieses war alt und in schlechtem Zustand. Als er landete, lösten sich ein paar Schindeln und rutschten in die Tiefe. Er schenkte den am Boden zerschellenden Schieferplatten keine Beachtung, denn für ihn ging es schon wieder schnell das Dach hoch und auf der anderen Seite runter. Auch dort rutschten einzelne Schindeln weg und fielen vor ihm über die Kante. Wigold sprang beherzt ab und landete sicher auf dem nächsten Dach. Weiter vor sich sah er bereits einen Baum über die Häuser ragen. Dort musste die Allee sein.

Im gleichen Augenblick landete Leif mit Schwung auf dem beschädigten Dach und hastete die Schräge hinauf. Eben hatte er Wigold sehen können. Er hatte ein bisschen aufgeholt. Dieses Mal wollte er ihn unbedingt erwischen. Immer wieder hatte er ihn aufgespürt, und immer wieder war Wigold ihm gerade noch entwischt. Jetzt aber hatte er ihn in Sichtweite vor sich. Leif stürmte die Schräge hinab, visierte eine Landestelle auf dem nächsten Dach an und sprang ab. Das heißt, er wollte springen, aber unter dem Druck des hinteren Fußes zerbrachen zwei Schindeln, und Leif rutschte weg. Irgendwie schaffte er es gerade noch, nicht runterzustürzen, aber abbremsen und stehen bleiben war hier an der Kante unmöglich, dafür hatte er zu viel Schwung.

Schon mit dem Oberkörper in Schräglage über der Gasse hängend, stieß er sich mit dem Fuß mit aller Kraft vom Dach ab. Während er mehr fiel als sprang, streckte er die Arme weit nach vorne. Mit den Fingerspitzen erreichte er die Regenrinne des nächsten Hauses. Dann schlug er mit den Beinen einmal unsanft gegen die Hauswand.

»Bloß nicht loslassen«, schoss es ihm durch den Kopf. Leif blickte nach unten. Er hing zweieinhalb Stockwerke über den Pflastersteinen einer der vielen engen Gassen der Bergaheymer Altstadt. Das Dach, an dessen Regenrinne er nun hing, stand so weit über der Hauswand vor, dass er sich an der Wand nicht abstützen konnte. Kurz versuchte er, sich hochzuziehen, aber zum einen bog sich die Regenrinne gefährlich durch, zum anderen würde er nicht genug Halt an der Kante finden, um sich auf das Dach ziehen zu können.

Eilig hangelte er sich ein Stück nach rechts weiter. Dort war die Regenrinne in einem Dachbalken verankert. Mit einer Hand tastete er den Balken ab, aber einen besseren Halt konnte er auch dort nicht finden. Wenigstens schien hier die Regenrinne nicht gleich abzureißen. Hier müsste er ausharren können, bis unter ihm jemand entlangkam, den er um Hilfe anrufen konnte.

Plötzlich gab es einen Ruck! Der Haken, der die Regenrinne im Balken hielt, war mit drei Nägeln im Balken fixiert, und diese Verankerung gab nach. Der erste Nagel hatte sich mit einem Ruck aus dem Holz gelöst!

»Höchste Zeit für einen Alternativplan«, durchfuhr es Leif, aber das grenzte schon an Galgenhumor, denn wie sollte in seiner Situation ein Rettungsplan aussehen? Wenn sich die Verankerung gänzlich aus der Wand löste, könnte er vielleicht mit der abstürzenden Regenrinne ein Stück nach unten schwingen und irgendwie ein Fenster erreichen oder zumindest die Fallhöhe etwas reduzieren. Doch da gab es schon den nächsten Ruck. Nun waren bereits zwei Nägel aus dem Holz gehebelt worden, und auch der letzte Nagel bog sich langsam, aber stetig nach unten. Gleich würde es für Leif steil abwärts gehen. Er konnte in seinen müde werdenden Fingern spüren, wie der Nagel sich aus dem Holz des Balkens herausarbeitete. Leif spannte seine Muskeln an. Im selben Moment gab es einen dritten Ruck, aber nicht durch den letzten herausgerissenen Nagel, sondern durch eine helfende Hand, die ihn am Handgelenk packte. Mit aller Kraft zog er sich mit dem rechten Arm nach oben, während er am anderen Arm hinaufgezogen wurde. Unvermittelt blickte er in Wigolds Gesicht.

Kurz darauf lag er erschöpft auf der Dachschräge, Wigold neben sich. Beide rangen nach Luft. Leif drehte sich auf den Rücken: »Es wäre schön, wenn wir uns beim nächsten Mal zur Abwechslung mal nicht auf einem Dach begegnen würden. Ich lasse dir eine Stunde Vorsprung«, sagte er immer noch schwer atmend. Wigold stand auf: »Ich finde Dächer gar nicht so schlecht …« Während er zum Dachfirst hinaufstieg, drehte er sich noch einmal um: »Gleichstand!«

Damit verschwand er in der Dunkelheit. Seit Monaten war Leif nun schon hinter Wigold her gewesen. Zweimal hatte er ihn nur um Minuten verpasst, und Wigold hatte sich scheinbar immer wieder in Luft aufgelöst. Leif blieb liegen und blickte zum Mond. Eine Stunde Vorsprung bedeutete folglich, dass er wieder völlig von vorne anfangen müsste. Wigold hatte recht. In der Hauptstadt hatte Leif ihn auf dem Dach erwischt, aber jetzt stand es wieder unentschieden.

Kapitel 2: Winterbeginn

Einarr, der Kapitän der Tisiphone, beugte sich über die Reling, als Kjertan angeritten kam. »Die Schiffe sind vollständig beladen, die Geheimwaffe ist sicher verstaut. Wir können sofort in See stechen.«

Einen Augenblick musterte Kjertan die Flotte kritisch: »Die Schiffe liegen sehr tief … Das wird uns Zeit kosten …«

»Herr, unser Ziel liegt in so weiter Ferne, dass die Hälfte der Besatzung ohnehin erwartet, dass wir von irgendeinem Seeungeheuer verschlungen werden!«

Kjertan betrat das Deck. Einarr gab einen Befehl, die Ruderer setzten ein, und bald hatte die ganze Flotte Noorby verlassen. Kjertan blickte zurück. Langsam verschwand das Land in der Ferne. Einarr trat an ihn heran.

»Es ist gut so … Bis zum letzten Küchenjungen weiß offenbar jeder, dass wir wohl nicht rechtzeitig zurückkommen werden. Dann wollen wir zumindest satt und kampfbereit am Ziel ankommen …«

Kjertan schwieg.

»Jeder ist froh, bei dieser Mission dabei sein zu dürfen, jeder ist hoch motiviert und voll konzentriert!«, sprach Einarr weiter, »denn es ist unsere letzte Hoffnung …«

***

»Kjer, du konzentrierst dich nicht richtig, das war so ein perfekt gerundetes und selten groß gewachsenes Exemplar von Briophytina Thurmvogelida!«

Kjer war ob der eintönigen Tätigkeit in einen Tagtraum abgeglitten. Doctorus Thurmvogel, der auch im neuen Schuljahr der Naturkundelehrer von Freya, Kjer und Aiko war, rümpfte seine spitze Nase und schaute ihn enttäuscht an. Es war ihm unbegreiflich, wie sich ein in Fragen der Naturkunde so talentierter junger Mensch wie Kjer nur so ungeschickt beim Sammeln von Moosproben anstellen konnte.

Kjer blickte auf das Stück Moos, das er in einem Stück vom Turmfundament hatte abheben sollen und das nun, von der Nachmittagssonne angestrahlt, warm und trocken in seiner Hand lag. Es hatte jedoch einen großen Riss bekommen, sodass ein Teil der Pflanze auf dem Stein verblieben war.

»Das war das schönste Exemplar, das ich in diesem Sommer gesehen habe. Jetzt muss ich weitersuchen, und seit die Bruderschaft begonnen hat, immer mehr Türme wieder instand zu setzen, wird die Zahl der möglichen Fundorte immer geringer.«

Hier hatte die Bruderschaft mal was Gutes an sich, fand Kjer, denn mit jedem sanierten Turm wurde Doctorus Thurmvogel die Grundlage für seine langweiligen Moosexpeditionen ein Stück weit entzogen.

Mit enttäuschtem Gesichtsausdruck verschwand Doctorus Thurmvogel um den Turm herum. Kaum war er aus Kjers Blickfeld verschwunden, landete ein erdiger Klumpen Moos in Kjers Nacken. »Ja, konzentrier dich mal besser, du Moosochse«, hörte er Aiko lachen.

Kjer wischte sich den Dreck aus dem Nacken und starrte die Turmmauer an. Er hatte viel zu schlechte Laune, um die passende Reaktion auf Aiko zu zeigen.

Der Sommer war vorbei, nicht mehr lange, und es würde anfangen zu schneien, und noch immer hatten sie nichts von Wigold gehört. Auch nicht von den anderen. Hakon dürfte jetzt wohl gerade an der Klippe liegen, ausgestattet mit einem Brot und einem Stück Ziegenkäse, und beobachten, wie sich die Einschläge der schwarzen metallenen Objekte langsam, aber unaufhaltsam dem Rand der Klippe näherten. Das war auch nicht gerade die spannendste Beschäftigung, aber zumindest eine von großer Wichtigkeit. Er selbst musste dagegen hier an einem x-beliebigen Turm unweit der Hauptstadt Moos zupfen.

Sich der ganzen Sinnlosigkeit seines Tuns bewusst werdend, rupfte er ein großes Stück Moos von der Wand ab und warf es Doctorus Thurmvogel hinterher, der freilich schon verschwunden war. Bei dieser hektischen Bewegung spürte er wieder, dass die Wunde auf seiner linken Handfläche noch immer nicht ganz verheilt war. Die Haut war gerötet, und es würde wohl eine größere Narbe auf der Handfläche zurückbleiben.

Anscheinend war Doctorus Thurmvogel nur noch ein letztes Mal um den Turm gegangen, denn er kam nun von der anderen Seite und schien glücklicherweise ebenfalls genug von diesem Ausflug zu haben.

»So, zusammenpacken, gebt mir bitte alle gesammelten Proben, damit ich diese ordentlich einsortieren kann, und dann reiten wir wieder zurück. Es wird bald dunkel werden.«

Kjer schmiss die Moosbrocken, die er noch abgezupft hatte, ins Gras, das kniehoch rund um den Turm wuchs. Er hatte heute Mittag bereits zwei seltene Gräser und eine große Flechte bei Doctorus Thurmvogel abgeliefert, das sollte für eine ordentliche Note genügen, und wenn nicht, war ihm das im Augenblick auch herzlich egal.

»Kjer, gib doch bitte eines von meinen Exemplaren ab«, sagte Freya freundlich und hielt Kjer ein rund gewachsenes Schmuckstück von Briophytina Thurmvogelida entgegen. Es war zwar nicht so groß wie das von Kjer unachtsam zerrissene, sollte aber reichen, um Doctorus Thurmvogel glücklich zu machen. »Du kennst doch sein Motto«, lächelte sie ihn freundlich und vielleicht ein wenig herausfordernd an.

»Sag es bitte nicht, ich kann es nicht mehr hören«, erwiderte Kjer.

Aber Freya musste es gar nicht aussprechen, denn das übernahm in diesem Moment Doctorus Thurmvogel höchstpersönlich: »Wer hat noch Proben für mich? Ihr wisst ja: Ohne Moos nichts los!«

Am liebsten hätte Kjer Doctorus Thurmvogel die Kiste mit den gesammelten Pflanzen entrissen und den Inhalt laut schreiend in alle Richtungen gepfeffert, aber er sagte nichts. Wortlos ging er auf die Koppel zu, auf der die Pferde der Schüler standen.

»Was ist denn los mit ihm?«, fragte Fara und schaute ihm stirnrunzelnd hinterher. »Seit Tagen ist er schlecht drauf.«

Freya und Aiko schauten sich an, als hätten sie auch keine Ahnung, was mit Kjer los war. »Ach nichts«, antwortete Aiko ihrer Mitschülerin schließlich, »der ist nur ein bisschen wetterfühlig, glaub ich. Jetzt, wo der Winter wieder vor der Tür steht, verhagelt es ihm das sonnige Gemüt …«

Sobald sie ihre Sachen zusammengepackt hatten, gingen auch die anderen Schüler und Doctorus Thurmvogel nacheinander in kleinen Grüppchen zur nahe gelegenen Koppel. »Kinder, in fünf Minuten geht es los, aber der Unterricht endet hier; wer alleine zurückreiten oder noch ein paar Proben sammeln möchte, kann dies gerne tun.«

Von der Koppel waren es etwa zwei Meilen zur Stadt, und von den umliegenden Hügelkuppen konnte man bereits die Stadtmauer erblicken.

»Lasst uns bitte alleine zurückreiten, ich kann auf Gesellschaft im Moment verzichten«, sagte Kjer zu Freya und Aiko.

»In Ordnung«, meinte Freya zögerlich, »aber die anderen fragen sich schon, was mit dir los ist. Glaubst du denn, Aiko und mich lässt das alles kalt?«

Sie sattelten ihre Pferde und teilten Doctorus Thurmvogel mit, dass sie noch einen kleinen Ausritt machen wollten. Es war einer dieser Tage, die man gerade noch als Spätsommertag bezeichnen konnte, auch wenn der Herbst schon Einzug gehalten hatte. Spinnweben schwebten in der Luft, und blickte man aufmerksam in die Wäldchen, mit denen die endlosen Wiesen und Weiden gesprenkelt waren, so konnte man regelrecht dabei zuschauen, wie sich die grünen Blätter der Bäume gelb und rot färbten. Die Getreidespeicher waren bis an die Oberkante voll, und auch die Brennholzlager waren über den Sommer wieder vollständig aufgefüllt worden. Das Hochland war bereit für den nächsten Winter.

Ihre Hüte trugen die drei Freunde locker auf dem Rücken. Um die Mittagszeit waren sie aber auch um diese Jahreszeit noch ganz nützlich, um sich vor der Höhensonne zu schützen.

»Lasst uns doch bis zu unserem Mauerdurchbruch außen herum reiten«, schlug Freya vor. Sie wusste, dass Kjer auf dem Rücken seines Pferdes schnell bessere Laune bekam.

Da von Kjer und Aiko kein Einspruch kam, saß Freya auf und lenkte Hjuki in die entsprechende Richtung.

So ritten die drei, während alle anderen auf dem kürzesten Weg der Stadt entgegenstrebten, links um diese herum. Tief atmeten sie die frische, kühle Luft ein.

Bald näherten sie sich dem Hauptweg, der von der Hauptstadt über Trygby nach Fiskheym führte. Dort sahen sie, wie zwei Trupps von Reitern der Bruderschaft, aus der Stadt kommend, im Galopp vorbeiritten. »Wohin die wohl so eilig unterwegs sind?«, fragte sich Aiko, erhielt aber ebenso wenig eine Antwort wie zuvor Freya. Überhaupt waren die Freunde recht schweigsam. Wenigstens hellte sich Kjers Miene, wie von Freya erwartet, tatsächlich wieder auf, sobald sie losgeritten waren, und schon nach kurzer Zeit war er wieder zu Scherzen aufgelegt.

»Vielleicht jagen sie ja gerade Wigold«, antwortete Kjer kaum eine Minute später mehr zum Spaß denn ernst gemeint. Doch sogleich überfiel ihn ein schlechtes Gewissen, und er bereute seinen Scherz – Freya machte sich ohnehin schon genug Sorgen um ihren Bruder.

»Na, das ist doch prima«, konterte Freya jedoch mit einem Lächeln, das er erleichtert wahrnahm, »solange sie ihn jagen, haben sie ihn nicht.« Von Aiko und Kjer unbemerkt, verfinsterte sich jedoch ihr Blick, und sie sah sorgenvoll den Reitern hinterher.

Als sie die vertrauten Pferdeweiden erreicht hatten, ritten sie auf ihrem gewohnten Sandweg der Mauer entgegen. Kurz davor kam ein Wanderer auf sie zu. Soweit man dies auf die Entfernung erkennen konnte, schien es sich um einen Mann mittleren Alters zu handeln. Unter einem breitkrempigen Hut, der es schwierig machte, sein Gesicht zu erkennen, hingen lange graue Haare hervor.

Kjer musterte ihn genau: »Was will denn ein Wanderer zu dieser Jahreszeit hier draußen? Und dass der ein Pferd auf unserer Weide stehen hat, glaube ich auch nicht, sonst hätte ich ihn schon mal gesehen. Ich wette, das ist er.« Kjer wandte seinen Blick nicht mehr von dem Wanderer ab. Anscheinend spürte dieser Kjers Blick, denn als sie fast auf seiner Höhe waren, schaute er auf und nickte ihnen zu. Kjer grüßte zurück. Dann ritten sie an ihm vorbei.

»Der wievielte war das jetzt, den du für Berno gehalten hast? Der Zehnte?«, fragte Freya. Kjer antwortete nicht. Freya übte sich in Geduld oder tat zumindest so, denn auch sie hoffte sehr auf Nachricht von ihrem Bruder. Ihr größter Wunsch war, dass er bald wohlbehalten zu ihr zurückkehren würde, aber sie hatte nicht die geringste Ahnung, wo er stecken könnte.

»Wenn Neuigkeiten kommen, dann kommen sie. Wir sollten uns nicht verrückt machen …«

Hinter den Weiden hing eine Staubwolke in der Luft. »Sie üben wieder«, stellte Aiko fest. Zu Hunderten wurden die Reiter der Bruderschaft seit dem Sommer zu großen Manövern zusammengezogen.

»Wenn du deinen Aegir verkaufen willst, wäre jetzt ein toller Zeitpunkt«, lachte Aiko. »Die Preise für gute Pferde sind durch die Decke gegangen, seit die Bruderschaft ständig neue Reitertrupps aushebt, als gäbe es kein Morgen.«

»Oder damit es noch ein Morgen gibt«, antwortete Kjer nachdenklich.

Zwei Wachen der Bruderschaft saßen in einem improvisierten Wachhäuschen vor ihrem Mauerdurchbruch und nickten ihnen freundlich zu. Sie kannten das Trio schon, und so durften sie passieren. Fremde dagegen wurden zu den Haupttoren umgeleitet. Seit Wigold und die anderen flüchtig waren, hatte man eine Vielzahl von Mauerdurchbrüchen versiegelt, dieser aber war erhalten geblieben, auch wenn Kjer die Kontrollen lästig fielen. »Ich glaube immer noch, dass Wigolds Flucht ein willkommener Anlass für die Bruderschaft war, um die Stadt besser kontrollieren zu können«, flüsterte er. »Das machen die nicht nur zu unserem Schutz …«

Ein Schatten hatte sich über die Stadt gelegt, aber noch war es den meisten Menschen möglich, wegzugucken und sich der Pflege ihrer Balkonpflanzen hinzugeben.

Die Sonne stand bereits so tief, dass sie den Boden auf dieser Seite der Stadtmauer nicht mehr erreichte, und im frühabendlichen Schatten wurde es recht schnell ungemütlich kühl.

»Das ist auch neu«, sagte Kjer grimmig und zeigte auf einen Anschlag, der auf dem kleinen Platz vor den Ställen aushing. Werde Reiter in der Bruderschaft, stand dort in großen Lettern geschrieben und darunter noch verschiedene Erläuterungen über Sinn und Vorzüge des Reiterdaseins. »Die meisten von denen, die sich da melden, werden sowieso als Wachen enden. Zum Reiter taugen doch die wenigsten.« Aiko und Freya sahen sich an. Dieses große Pergament in unmittelbarer Nähe ihres Stalls und ihrer Häuser hatte gerade noch gefehlt. Die Bruderschaft rüstete auf. Ganz massiv sogar, und sicher war Wigold nicht der Grund dafür.

Freya war immer noch bemüht, Kjers Stimmung zu heben, die seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen wieder einen ordentlichen Dämpfer erlitten hatte: »Kommt, wir trinken bei mir zu Hause noch einen heißen Tee, meine Großmutter hat getrocknete Früchte besorgt. Das Wetter ist ja schon danach. Heute Abend könnten wir mal wieder eine Runde Karten spielen. Wenigstens ist morgen Sonntag, da dürfen wir ausschlafen …«

Sie stellten ihre Pferde in den Stall und gingen zu ihren Häusern. »Heute Abend geht in Ordnung«, sagte Kjer, »aber ich würde jetzt gerne noch einen Moment Ruhe haben.«

Erneut warfen sich Aiko und Freya einen Blick zu. »In Ordnung«, sagte sie zögerlich, »dann komm einfach rüber, wenn dir danach ist …«

Kjer ging an seinem Olivenbäumchen vorbei, das in den nächsten Tagen wieder in sein Zimmer geschleppt werden musste, und betrat durch die Küchentür das Haus. Neela und Freda saßen gerade am Tisch und waren mit Hausaufgaben beschäftigt, denn sie befanden sich nun in ihrem ersten Schuljahr.

Kjer ging hoch in sein Zimmer und legte sich auf sein Bett. Er blickte zur Wand. Dort hatte er alle Berichte aufgehängt, die er über Wigold und die anderen gefunden hatte, überwiegend veraltete Aushänge die er sich hatte beschaffen können. Die Geister des Hochlandes hatte der Hochlandbotschafter Wigolds Gruppe nach ihrem Verschwinden getauft, und der Name hatte sich als so einprägsam erwiesen, dass der Mittagskurier und selbst die Bruderschaft ihn übernommen hatten.

Sonderermittler Gerdis Thoosten war nach dem Entkommen der Geister ziemlich unter Druck geraten, hatte sich aber in seinem Amt halten können, zumal ihm ja keine Fehler nachweisbar waren. Dennoch hatte sein Ansehen einen ziemlichen Kratzer bekommen, denn Wigold und die anderen Aufrührer hatten nun einmal unter seiner Aufsicht gestanden. Immer wieder waren die Geister irgendwo gesichtet worden, aber jedes Mal hatten sich diese Hinweise als falsch herausgestellt, oder aber sie waren vor Eintreffen der Suchtrupps wieder verschwunden. Irgendwann waren die Berichte über die Geister des Hochlandes dann seltener geworden, weil es nichts Neues mehr zu berichten gegeben hatte.

Neben Kjers Bett lag ein einzelnes zerknülltes Pergament. Auf diesem war ein Werbebericht der Bruderschaft abgedruckt. Obwohl Papier und Pergament teuer waren, suchte die Bruderschaft auch auf diesem Weg junge Männer und Frauen für ihre Wach- und Reitereinheiten. Man lockte sie mit guter Bezahlung und guter Ausbildung.

Bereits im Sommer, kurz nachdem sie in Fiskheym gewesen waren und dort die Einschläge an der Klippenkante einen so deutlichen Sprung nach oben gemacht hatten, hatte die Bruderschaft mit der Werbung begonnen. Die Kasernen am Stadtrand wurden erweitert und ausgebaut, und mehr und mehr Bekannte von Kjer, auch ältere Jungs aus ihrer Schule, meldeten sich bei der Bruderschaft.

Aber Kjer suchte nur nach Berichten über Wigold, wurde jedoch, wie bereits in den letzten Tagen, nicht fündig. Die Geister schienen sich, ihrem Wesen entsprechend, geistergleich in Luft aufgelöst zu haben.

***

Leif ging auf einen der vielen Pferdeställe der Bruderschaft in einer der vielen Kasernen am Stadtrand zu. Sein Pferd stand bereits fertig gesattelt davor. Mit ihm hatten sich zwei bewaffnete Reitertrupps für den Ausritt aus der Hauptstadt bereit gemacht.

»Sollen wir den beiden anderen Trupps nach Trygby folgen? Wir könnten doch auch mit den Seilbahnwagen nach Fiskheym fahren und von dort aus wieder die Suche aufnehmen. Wenn die auf der Straße sind, werden die doch wohl nach Fiskheym wollen«, schlug Arvid, einer der beiden Truppführer vor, sobald Leif die Reiter erreicht hatte, »dann schneiden wir ihnen den Weg ab.«

Leif schüttelte den Kopf. »Ich habe mir die genaue Liste übermitteln lassen, was die Flüchtigen, falls sie es überhaupt wirklich waren, vor zwei Tagen in Trygby gekauft haben: Es war ein großer Vorrat an ausnahmslos lange haltbaren Lebensmitteln, wie Graupen, Zucker, Mehl, Speck, Trockenobst und Öl.« Während er dies sagte, holte Leif eine Karte des gesamten Hochlandes aus der Tasche und faltete sie auf. Zwei Reiter ergriffen sie und hielten sie in der Luft gespannt offen. Leif blickte auf die Karte: »Wenn sie Richtung Fiskheym wollten, hätten sie nicht so viele Sachen in Trygby eingekauft. Das sieht mir eher nach einem Vorrat für den Winter aus. Außerdem meiden sie ohnehin die größeren Wege und Straßen, sonst hätten wir sie schon längst erwischt.«

Er zog seinen wildledernen Handschuh aus und fuhr mit dem Zeigefinger auf der Landkarte des Hochlandes entlang. »Die Lebensmittel, die sie gekauft haben, sind nicht nur allesamt lange haltbar, sondern im Verhältnis zur Kraft, die sie spenden, auch relativ leicht. Als ob die Flüchtigen vorhätten, das alles zu Fuß in ihr Versteck zu tragen. Es gibt nur ein einziges Gebiet, in das man nicht zu Pferde hineingelangen kann, um sich zu verstecken. Ich würde mein Schwert darauf verwetten, dass die Geister im Regeneichenwald untergetaucht sind. Wir reiten jetzt direkt dorthin, vielleicht stoßen wir unterwegs auf ihre Fährte. Irgendwo müssen sie ja auch ihre Pferde unterstellen. Falls sie unentdeckt in den Wald gelangen wollen, ist es zwingend notwendig, sie außerhalb zu verstecken. So viele Höfe im Umland des Regeneichenwaldes gibt es aber nicht. Wir können also leicht vor Ort erfragen, ob irgendein Bauer oder Pferdezüchter schon einmal auffällig geworden ist. Außerdem müssen wir natürlich mit den Trupps am Regeneichenwald sprechen. Alle sollen verstärkt nach Spuren im Schnee Ausschau halten, sobald welcher fällt. Wir werden sicherstellen, dass die Patrouillen nicht reduziert werden, egal, wie viel Schnee fallen sollte! Es war sehr unvorsichtig von ihnen, so viele Lebensmittel auf einmal zu kaufen. Eine weitere kleine Unachtsamkeit, und wir haben sie!« Damit stieg er auf sein Pferd und verließ mit den etwa dreißig Reitern die Stadt.

Kapitel 3: Die Geister des Hochlandes

Auf beiden Seiten des Kanals, der einen Teil des Wassers der Sonderelva durch den Regeneichenwald hindurchleitete, ritten ein paar Reiter der Bruderschaft entlang. Immer wieder hielten sie kurz an und sahen sich um, als ob sie sich vergewissern wollten, dass sich niemand außer ihnen hier aufhielt. Unweit erhoben sich bereits die ersten Regeneichen in den sternenklaren Nachthimmel.

»Jetzt können wir«, flüsterte Wigold leise. Aus der Uferböschung tauchten Lowiks, Bernos, Gunders und sein eigener Kopf auf. Dann stiegen die vier so geräuschlos wie möglich in den Kanal hinab.

Lowik fluchte leise, als das kalte, dunkle Wasser seine Beine erreichte. Wigold hielt ein Seil in der Hand. Gemeinsam zogen sie daran. Langsam näherte sich ihnen aus dem dunklen Wasser ein schwarzer Körper. »Wir müssen es noch einmal umdrehen, aber leise …«, forderte Wigold. Mit kräftigen, gleichmäßigen Bewegungen zogen sie den Körper vollständig zu sich an die Oberfläche des Kanals. Es war ein umgedrehtes Boot. An der Außenwand waren Steine befestigt, um es unter Wasser zu halten, selbst wenn in ihm Luft eingeschlossen war.

Die Handgriffe der vier Geister sahen einigermaßen geübt aus. Sie nahmen ein paar Steine ab, sodass sich das Boot weiter aus dem Wasser hob, dann kippten sie es zur Seite, damit frische Luft hineingelangen konnte. »Jetzt die Rucksäcke«, flüsterte Wigold, und Lowik watete wieder an die Böschung, um die dort versteckten und wasserfest umhüllten Rucksäcke zum Kanal zu ziehen. Plötzlich ruderte er mit den Armen, gefolgt von einem lauten platschenden Geräusch.

»Verflixte Wurzel«, schimpfte Lowik, als er sich wieder aufgerappelt hatte. Kurz hielten alle wie erstarrt inne. »Pferdehufe«, flüsterte Gunder. Jemand näherte sich ihnen im Galopp!

»Schnell jetzt«, zischte Wigold. Hastig zog Lowik die Rucksäcke ins Wasser, während Wigold, Gunder und Berno die letzten Steine wieder ans Boot hingen. Keine Minute später waren die schwimmenden Rucksäcke im Boot verschwunden. Das Boot ins tiefere Wasser schiebend, schaukelten sie es, so leise es die Eile erlaubte, nach rechts und links. Luft entwich und das Boot begann in die Tiefe zu sinken. Die Reiter waren nahe. Es verschwand lautlos unter der Wasseroberfläche und mit ihm die vier Geister.

Prustend tauchten sie unter dem umgedrehten Boot wieder auf. Hier war es absolut dunkel. »Alles klar bei euch?«, fragte Wigold.

»Klar«, antworteten Berno und Gunder gleichzeitig.

»Muss wohl«, erwiderte Lowik.

»Dann los!«, befahl Wigold. Ihre nackten Füße sanken im weichen Schlamm ein. Sobald sie im tieferen Wasser waren, kamen sie gerade noch mit den Fußspitzen an den Boden heran. »Perfekte Luftmenge«, befand Gunder.

»Das war jetzt wichtig«, stimmte Wigold zu, denn die Reiter dürften jetzt auf ihrer Höhe sein. Aber von der Wasseroberfläche aus war nichts zu sehen. Hätten sie zu viel Luft geladen, wäre das Boot vielleicht nicht weit genug abgesunken. Hätten sie dagegen zu viel Luft abgelassen und das Boot hätte zu wenig Auftrieb gehabt, hätten sie mit ihren Füßen zu viele faulige Luft aus dem Schlamm freigesetzt, die sich dann im Boot gesammelt und das Atmen gefährlich gemacht hätte. Etwa zehn Minuten trieben sie so am Grund des Kanals entlang. Die Luft im Boot wurde immer schlechter.

»So stark, wie die Strömung derzeit ist, sollten wir nun da sein«, meinte Wigold und tauchte unter der Reling hindurch in den Kanal hinaus. Mit einem Seil in der Hand hielt er Kontakt zum Unterwasserboot. Er stieß sich vom Grund ab und erreichte mit ein paar Zügen die Oberfläche. Um ihn herum standen Bäume. Wigold lauschte in die Dunkelheit, dann schwamm er zum Ufer und begann das Boot mit kräftigen Armbewegungen zu sich zu ziehen. Lowik, Gunder und Berno spürten die Richtungsänderung, tauchten ebenfalls auf und halfen mit. Das Boot wurde unter Wasser liegend festgebunden, dann zogen sie sich im Schutze der weit ausladenden Äste einer alten Regeneiche trockene Kleidung aus ihren Rucksäcken an. Das Laub unter ihren Füßen raschelte. Sie setzten die großen schweren Rucksäcke auf und gingen in den Wald hinein.

Durch das Wasser waren sie ziemlich ausgekühlt, und das feuchte Klima des nächtlichen Regeneichenwaldes machte es nicht besser. Nach einer Meile setzte Wigold seinen Rucksack ab. »Für heute reicht es. Übermorgen werden wir die anderen treffen.«

»Mir ist kalt«, sagte Lowik, aber in einem Tonfall, an dem zu erkennen war, dass dies mehr eine Feststellung als eine Beschwerde war.

»Mir auch«, erwiderte Wigold, »trotzdem können wir heute kein Feuer anmachen. In ein paar Tagen sieht es anders aus. Du hast ja zum Glück ein warmes Fell dabei.« In der Tat, Lowik hatte sich ein riesiges Bärenfell gegen die Kälte mitgenommen und sogar trocken durch den Kanal bekommen.

»Und du hast doch sowieso …«, begann Berno mit einem freundlichen Lächeln.

»Sag’s nicht. Mein hart erarbeiteter Kälteschutz wird gerade von Tag zu Tag weniger. Bald bin ich genauso ein Gerippe wie du. Kalte Mahlzeiten sind einfach nicht das Richtige für mich. Schon gar nicht bei diesem Wetter.«

»Du weißt schon, dass du für die Mission nicht vorgesehen warst, oder?«, lachte Wigold, »du könntest jetzt gemütlich mit Timme in Bergaheym sein, es war wirklich deine Entscheidung, mit hier rauszukommen.« Wigold zeigte auf ein Gebüsch vor ihnen. »Lasst uns da für heute Quartier beziehen, dann können wir auch noch die Sachen zum Trocknen aufhängen.«

Sie aßen noch ein Stück hartes Brot, dann legten sie sich, in ihre Decken, beziehungsweise Lowik in sein Bärenfell eingewickelt, nieder und lauschten in die Nacht hinein. Eine Maus raschelte im Laub, ansonsten war es vollkommen still.

»Wenn wir erst einmal wieder bei den anderen sind, werden wir schon eine Stelle finden, wo wir Feuer machen können, und in einer Woche brechen wir hier sowieso alles ab. Wenn der erste Schnee fällt, müssen wir verschwunden sein. Wir dürfen die Bruderschaft auf keinen Fall unterschätzen«, fasste Wigold noch einmal den Plan für die nächsten Tage zusammen. »Es bleibt zu hoffen, dass wir sie durch den Lebensmittelkauf in Trygby nicht wieder auf unsere Spur gelockt haben. Das war schon sehr riskant, aber die Einkäufe auf mehrere Tage zu verteilen, hätte einfach zu viel Zeit gekostet, außerdem können sie uns schlechter einholen, wenn wir in Bewegung bleiben. Wir sollten dennoch damit rechnen, dass sie den Regeneichenwald jetzt unter besondere Beobachtung stellen …«

Wigold lag noch lange wach und blickte nach oben, doch durch das Gebüsch und die Äste der Bäume hindurch, die um diese Jahreszeit gerade dabei waren, ihre Blätter abzuwerfen, konnte er keinen einzigen Stern mehr erblicken. »Die letzten Tage waren schon sehr kräftezehrend. Ich darf ihnen nicht zu viel zumuten«, sprach er zu sich selbst. Schließlich schlief auch er ein.

Der nächste Tag war ein reiner Wandertag. Die überschweren Rucksäcke sorgten dafür, dass selbst Lowik bald nicht mehr kalt war. Am übernächsten Tag erwachten sie noch vor dem Morgengrauen, schulterten ihre schweren Rucksäcke und marschierten bis auf die ein oder andere kurze Rast weiter, bis Wigold schließlich am Nachmittag auf den Stamm einer dicken Regeneiche zusteuerte. »Hier haben wir uns vor drei Wochen getrennt. Von hier ist es höchstens noch eine Meile. Wir müssen jetzt genau nach Norden gehen, ab jetzt können wir nach den Zeichen Ausschau halten.«

»Vielleicht haben sie ja auch schon gefunden, was wir suchen«, meinte Lowik, nachdem sie ein paar Hundert Schritte zurückgelegt hatten.

»Darauf würde ich nicht hoffen«, erwiderte Wigold, »und das war ja auch gar nicht ihre Aufgabe.«

»Schaut mal da!«, rief Gunder plötzlich leise aus. Er war ein Stück rechts von ihnen vorausgegangen und zeigte nun auf den Stamm einer dicken Regeneiche. Die Rinde des Baumes war, wie bei Regeneichen üblich, von unten nach oben in langen Rissen aufgeplatzt. Durch die Risse schimmerte das vom Harz rosagefärbte Holz. Es war schon ein alter Baum, der wahrscheinlich bereits in wenigen Jahrzehnten tiefrotes Holz besitzen dürfte.

Die länglichen Schollen der Borke wiesen ein paar Querrisse auf. Klein und unscheinbar, aber für das suchende Auge doch zu erkennen. Einzelne Querrisse konnte eine Regeneiche natürlicherweise auch mal haben, aber nicht mehrere in so engem Abstand. Die Borkenscholle hatte sieben Querrisse und die daneben von oben nach unten verlaufende Scholle drei. »Siebenhundert Schritte noch nach Norden und dreihundert nach Osten«, las Gunder die Nachricht aus den Rissen in der Borke heraus.

Dem Ziel nahe, beschleunigten sie ihren Schritt und marschierten grob in die vorgegebene Richtung. Während sie so weiter durch den Wald gingen, fanden sie noch drei weitere nach gleichem Schema markierte Bäume und korrigierten ihre Richtung immer den neuen Hinweisen entsprechend. Schließlich verriet ihnen ein Baum, dass sie noch hundert Schritte nach Norden und hundert Schritte nach Osten zu gehen hätten. Wigold schaute auf und zeigte auf ein Dickicht, das ungefähr in dieser Richtung und Entfernung lag. Zielstrebig steuerte er darauf zu: »Ich denke mal, da drin werden sie sein«, sagte er. Er bildete mit den Händen einen Hohlkörper vor dem Mund und ahmte den Schrei eines Käuzchens nach.

Es dauerte einen kurzen Moment, dann raschelte es im Dickicht, und Solveighs Kopf schob sich vorsichtig aus dem Unterholz heraus. »Gut, dass ihr da seid, wir können frischen Proviant brauchen. Eldrid und ich wollten schon auf die Jagd gehen, aber ohne die Möglichkeit, Feuer zu machen, hilft das auch nicht wirklich weiter. Dafür konnten wir das Gebiet, das wir absuchen müssen, stark eingrenzen, denn wir haben etwas entdeckt. Aber kommt erst einmal rein hier.«

Ohne etwas zu erwidern, krochen die Neuankömmlinge auf allen vieren in das Dickicht. Die großen Rucksäcke voller Lebensmittel hatten sie abgenommen und zerrten sie hinter sich her. »Das kann ja gemütlich werden«, äußerte sich Lowik kritisch, als sie sich unter und zwischen den kratzigen Ästen der Büsche hindurchzwängten. Seine düstere Vorahnung sollte sich jedoch nicht bestätigen. Etwas unnatürlich anmutend, war im Dickicht eine kleine Lichtung verborgen. Die Nachmittagssonne erreichte noch den Boden, über ihnen spannte sich der blaue Himmel auf, und das krautige Gras lud zum Verweilen ein.

Auf der Lichtung standen bereits drei kleine Zelte. Es wäre richtig gemütlich gewesen, hätte man nur ein Feuer anmachen können.

Neben Solveigh waren Eldrid und Frerich im Regeneichenwald geblieben. Solveigh und Eldrid waren ein Herz und eine Seele, auch wenn sie sich noch gar nicht so lange kannten. Sie waren so entfernt voneinander aufgewachsen, wie es auf dem Hochland nur möglich war. Eldrid, als gebürtige Quellthalerin – oder genauer Gletschertalerin – mit langen braunen Haaren, war es durchaus gewohnt, sich auch mal mit Bären und Wölfen zu messen, wohingegen Solveigh, als gebürtige Fiskheymerin, eher eine beschauliche und friedliche Kindheit gehabt hatte. Beide waren siebzehn Jahre alt, trugen einen Langbogen als Jagdwaffe, Eldrid aus Eibe und Solveigh aus Regeneiche, und verstanden auch sehr gut damit umzugehen. Und beide mochten Wigold.

»Es ist wirklich schön hier«, stellte Gunder anerkennend fest. Ohne den Neuankömmlingen auf der Lichtung eine Pause zu gewähren, holte Solveigh aufgeregt ein zerknittertes Stück Papier hervor, auf dem grob der Regeneichenwald skizziert war. Auch Frerich erhob sich, um auf die Karte blicken zu können. Er war sechzehn, hatte hellblonde Haare, trug ein schon recht abgewetztes Hemd und eine ähnlich alte Hose und war wie Solveigh auf einem Hof unweit von Fiskheym aufgewachsen. An seinem Gesicht war abzulesen, dass er sichtlich froh darüber war, wieder männliche Unterstützung im Wald zu haben.

Solveigh räusperte sich: »Ich glaube, wir haben etwas gefunden beziehungsweise wissen jetzt zumindest genauer, wo wir suchen müssen. Hier drinnen gibt es nämlich noch eine Zone, die zusätzlich bewacht wird. Damit gibt es also mindestens vier Sicherungsbereiche der Bruderschaft. Die äußerste liegt bekanntlich mehrere Meilen vor dem Regeneichenwald. Die zweite Zone ist der bewachte Streifen an der Waldkante. Wir selbst befinden uns gerade irgendwo im dritten Bereich. Hier kommen nur ganz selten Streifen oder Reiter vorbei. Ihr wart aber kaum weg, da sind wir etwas weiter nördlich auf ein felsiges Gebiet gestoßen, das völlig anders aussieht als alle Landschaften, die ich bislang auf dem Hochland gesehen habe, und da es ziemlich mühsam ist, da durchzukommen, sind wir erst einmal daran entlanggelaufen. Nach kurzer Zeit haben wir dabei eine verlassene Feuerstelle gefunden, und da die Bruderschafter bestimmt auch nicht gerne über Felsen klettern, sind wir weiter um das Felsengebiet herumgegangen. Es reicht bis an die Klippenkante. Zweimal sind wir auch einer Streife der Bruderschaft begegnet, aber sie haben uns nicht gesehen. Zum Glück waren sie ziemlich laut, dadurch konnten wir uns immer rechtzeitig verstecken.«

»Kein Wunder«, meldete sich Frerich zu Wort, »wenn ich fünfhundert Jahre im Kreis gelaufen wäre und nie einen Eindringling gesehen hätte, zumal es ja noch drei weitere Sperrlinien weiter außen gibt, dann wäre ich auch nicht mehr so sorgsam.«

Solveigh tippte mit ihrem Finger auf das Stück Papier. In der Skizze des Regeneichenwaldes waren etwa ein Dutzend Feuerstellen eingezeichnet, dazu zwei weitere Kreuze, die mit Müll beschriftet waren, zwei Kreuze, bei denen Kontakt mit Streife, und fünf Kreuze, bei denen Hufspuren geschrieben stand.

Es war unschwer zu erkennen, dass all diese Fundstellen zusammen einen Halbkreis bildeten, der einen Radius von etwa sechs Meilen hatte und erst an der Klippenkante endete.

»Wir sind etwa hier«, führte Solveigh weiter aus und zeigte auf einen Punkt, der sich ungefähr eine Meile südlich von dem Kreis befand. »Der Halbkreis innerhalb dieser Wachlinie wird komplett von dem Felsgebiet ausgefüllt.«

»Siehst du, Lowik«, freute sich Wigold, »wenn man Feuer anmacht, kommt einem jemand auf die Spur. Wir wussten ja, dass es hier irgendwo sein muss. Solveigh, Eldrid, Frerich, das war super Arbeit. Es hat sich endlich gelohnt, dass wir den Wald so systematisch abgesucht haben. In diesem Kreis werden wir Antworten finden! Habt ihr schon irgendetwas erkennen können, was dort vielleicht verborgen ist?«

Solveigh schüttelte den Kopf: »Wir sind in der letzten Woche jeden Tag drinnen gewesen, aber wir haben nichts Besonderes gefunden. Na ja, obwohl, eigentlich ist der ganze Bereich etwas Besonderes. So ein Felsgebiet habe ich echt noch nie gesehen. Auf Schritt und Tritt versperren einem Felsbrocken den Weg. Es ist ziemlich schwierig, diese Trümmerlandschaft abzusuchen. Wir sind immer wieder über kleinere Felsen geklettert, nur um dann doch wieder in einer Sackgasse zu landen. Aber irgendetwas muss da sein!«

Wigold schaute nach oben. Die Dämmerung würde erst in etwa zwei Stunden einsetzen. »Spricht etwas dagegen, dass wir uns das heute noch anschauen?«, fragte er die drei.

»Nein, gar nichts. Es gibt sehr gute Schleichwege in das Gebiet, und drinnen haben wir keinerlei Spuren der Bruderschaft gefunden. Außerdem …« Solveigh zögerte einen Moment. »Außerdem ist es hier nicht ganz geheuer.« Sie schaute Hilfe suchend zu Eldrid.

Eldrid übernahm. »Bitte lacht nicht, und, Berno, du kannst dir deine dummen Sprüche sparen, aber irgendetwas stimmt nicht mit dieser Lichtung, es ist fast so, als ob es hier spuken würde.«

»Dabei sind wir doch die Geister …«, witzelte Berno.

»Nein, im Ernst«, fuhr Eldrid entschieden fort, »wir hatten die Lebensmittel in einem Baum versteckt, am nächsten Morgen lag alles auf dem Boden. Es war zwar windig, aber eigentlich kann das nicht von selbst heruntergefallen sein.«

»Völlig unmöglich«, pflichtete Frerich ihr bei.

Die vier Neuankömmlinge schauten sie überrascht an. »Geister, die vor Geistern Angst haben«, grinste Berno. Wigold schwieg.

Solveigh senkte ihre Stimme: »Irgendetwas Komisches geht hier vor sich. In den letzten Nächten war in den Bäumen ein Rascheln zu hören, als ob hundert Katzen in ihnen herumtollen würden, und letzte Nacht …« Sie zeigte auf einen großen Ast, der mitten auf der Lichtung lag. »… letzte Nacht kam plötzlich ein Wind auf, und da ist dieser Ast da auf Eldrids Zelt geknallt, sodass es zusammengeklappt ist. Wir haben das schon geklärt, das war kein dummer Streich von Frerich, aber da hingen überhaupt keine Äste über dem Zelt. Irgendjemand …« Sie schauderte. »… oder irgendetwas will uns hier nicht haben.«

Wigold blickte auf den schweren toten Ast, der unweit der Zelte auf der Wiese lag. »Bei uns war es völlig windstill, und wir waren nicht weit weg«, sagte er nachdenklich.

»Es ist ja nichts passiert, aber es wirkte auf uns wie eine klare Drohung«, führte Solveigh weiter aus.

Wigold drehte sich einmal im Kreis um. Ganz so heimelig erschien ihm die Lichtung plötzlich nicht mehr. »Warum hat das Unterholz eigentlich diese Lichtung nicht schon längst überwuchert?«, schoss es ihm durch den Kopf.

»Wo sind die Lebensmittel jetzt?«, fragte er schließlich.

»Die haben wir daraufhin auf der Lichtung vergraben. Das ist vielleicht nicht ideal, wenn Schnee drauffällt und wir die Stelle suchen müssen, aber einige Verpackungen waren schon beschädigt …«, antwortete Solveigh. »Dann lasst uns besser gleich noch mal nachschauen, was die Bruderschaft in dem Felsgebiet bewacht. Je eher wir die Lichtung verlassen, desto besser, und heute Nacht stellen wir eine Wache auf«, entschied Wigold voller Tatendrang.

»Ich komme mit«, sagten Gunder und Berno gleichzeitig. Ihre Neugierde war ebenfalls geweckt, und sie hatten noch Kraft übrig. Lowik schien die Idee, heute noch einmal eine große Runde zu drehen, dagegen nicht gerade zuzusagen, das sah man seinem Blick sofort an.

»Also dann«, sagte Solveigh. Sie konnte Wigold verstehen. Es war nicht nur die verständliche Neugier, endlich das zu finden, wonach sie schon zwei Jahre suchten, es war auch die Notwendigkeit, keine Zeit mehr zu verlieren. Denn mal ganz abgesehen von den unheimlichen Vorkommnissen auf der Lichtung, wenn erst einmal Schnee gefallen war, kämen sie nicht mehr ohne Weiteres zurück. Es würde zu kalt werden, um durch den Kanal zu tauchen, und vor allem würden sie Spuren im Schnee hinterlassen, wodurch die Reiter der Bruderschaft ein leichtes Spiel hätten. Von der Klippe hatte es ebenfalls keine guten Nachrichten gegeben. Die hohen Einschläge, die Kjer und Aiko beobachtet hatten, waren nochmals weiter hinaufgewandert. Wigold gab dem Hochland nur noch wenig Zeit, bis die metallischen schwarzen Dinger, was auch immer sie sein mochten, die Klippenkante erreichen würden.

Angeführt von Solveigh krochen Wigold, Berno und Gunder ein weiteres Mal durch das Unterholz und gingen dann nach Norden. Sie huschten von Deckung zu Deckung, denn am Rand des Felsgebietes bestand wieder die Gefahr, auf Wachen oder Reiter der Bruderschaft zu stoßen. Nach einer Weile flüsterte Solveigh: »Wir sind jetzt auf der Linie, auf der wir zwei alte Feuerstellen gefunden haben. Genau hier sind wir einer Streife der Bruderschaft begegnet.« Unwillkürlich duckten sich nun alle beim Gehen etwas. Es dauerte nicht lange, dann öffnete sich der Wald, und sie standen vor dem Felsgebiet.

Es war in der Tat ein ungewohnter Anblick, der sich ihnen bot: Raue, steile, bis zu hundert Schritt hohe Felsen und Felsgrate erhoben sich vor ihnen, die Zwischenräume waren mit Schutt und Brocken übersät, und dazwischen standen immer wieder vereinzelte hohe Regeneichen. »Das sieht ja aus wie ein verwüstetes Labyrinth für Riesen«, beschrieb Berno diese bizarre Landschaft ziemlich zutreffend. Über eine schräge Schotterfläche laufend, gelangte die Gruppe hinter den ersten Felsen.

»Seid ihr schon mal auf einen der Felsen geklettert?«, fragte Wigold, während er eine weitere Schotterhalde emporstieg, die bis auf die halbe Höhe des nächsten Felsens reichte.

»Nein«, antwortete Solveigh. »Wir haben keinen gefunden, an dem man gefahrlos hinaufklettern könnte. Ihre Wände verlaufen senkrecht nach oben. Deshalb haben wir damit noch gewartet.«

»Es ist an sich nicht schwer, weiter ins Innere vorzudringen«, erläuterte Solveigh, »aber wir können hier sehr leicht was übersehen, weil man wirklich ständig irgendein Hindernis vor sich hat oder eine der Regeneichen einem die Sicht versperrt. Frerich ist schon einmal abgerutscht und von drei Schritten Höhe runtergestürzt. Ich fürchte, dass wir hier mit mehr Geistern« – auch Solveigh hatte mittlerweile den von den Aushängen in Umlauf gebrachten Namen für die Rebellen übernommen – »oder zumindest mit deutlich mehr Zeit zu Werke gehen müssen. Das einzig Erfreuliche an dieser Trümmerlandschaft ist, dass es auf dem ganzen Hochland kaum einen Ort geben dürfte, an dem man ungestörter ist, denn hier drinnen haben wir keine einzige Spur gefunden, die auf Patrouillen der Bruderschaft hinweisen würde.«

»Eine Woche gebe ich uns noch«, erwiderte Wigold knapp. »In einer Woche kann einiges geschehen, und wir sind doch bereits zu siebt.« In ihm arbeitete es. Wie könnte man nur das Suchgebiet noch weiter eingrenzen, vor allem, weil sie gar nicht genau wussten, was sie überhaupt suchten. Was mochte sich nur in dieser undurchsichtigen felsigen Trümmerlandschaft verbergen?

Die ständige Flucht vor Leif und den anderen Reitern der Bruderschaft hatte Wigolds Sinne geschärft. Unterbewusst blieb sein Blick an einer großen Regeneiche hängen, die unweit von ihnen emporwuchs. Irgendwie fühlte er sich beobachtet, aber er konnte nichts Verdächtiges erkennen. Langsam wurde es dunkel. Wigold schüttelte seinen Kopf, als ob er die Einbildung, die ihn befallen hatte, abschütteln wollte. »Lasst uns umkehren. Morgen ziehen wir um und verlegen unser Lager zwischen diese Felsen, dann können wir es endlich auch wieder riskieren, ein Feuer zu entzünden …«

»Ich hätte wirklich nicht gedacht, dass sich so ein wildes und unbekanntes Gebiet auf dem Hochland versteckt«, sagte Eldrid am Abend zu Wigold. »Selbst die wildesten Klüfte und Täler im Wettergebirge sind längst erforscht …«

»Erforscht ist dieses Gebiet garantiert auch, und zwar bis zum letzten Felsbrocken, aber die daraus gewonnenen Erkenntnisse werden in irgendeinem Archiv der Bruderschaft verwahrt sein«, antwortete Wigold nachdenklich.

Reihum hielten sie zu zweit Nachtwache und losten Zusammensetzung und Uhrzeiten aus. Solveigh blickte verärgert drein, nachdem Eldrid und Wigold zusammen ausgelost worden waren.

Als Wigold und Eldrid von Lowik und Frerich geweckt wurden, um die Nachtwache zu übernehmen, hatte Wigold von Anfang an das Gefühl, beobachtet zu werden. Einmal schritt er ganz nah an das Gebüsch heran. Wie die knochigen Finger einer alten Hexe deuteten ein paar trockene Äste im Mondlicht aus dem Dickicht heraus.

»Was ist?«, flüsterte Eldrid leise, ihren Bogen in der Hand haltend.

»Ich weiß es nicht, irgendetwas ist da …«, sagte Wigold leise. Er hockte sich an das Dickicht und lauschte, aber es war mehr ein Gefühl, als dass er irgendetwas wirklich gehört oder gar gesehen hätte.

Auch Eldrid lauschte in die Nacht. »Irgendetwas ist da«, pflichtete sie ihm bei, »aber ich höre und sehe nichts …« Sie spürte, dass etwas da drinnen auf sie lauerte und sie auf Schritt und Tritt beobachtete.

Ob es an der Nachtwache lag oder an der Windstille, konnte niemand sagen, auf alle Fälle blieb die Nacht ruhig und ohne besondere Ereignisse. Irgendwann ging die Sonne auf und vertrieb das Gefühl, nicht alleine auf der Lichtung zu sein.

Am nächsten Morgen krochen die Geister in ihren klammen Klamotten einer nach dem anderen aus den Zelten. Die Netze der Radspinnen, die in den Gebüschen ringsum lebten, bogen sich unter der Last des frühmorgendlichen Taus. Wie Perlen glitzerten die Tropfen in der Morgensonne, ehe sie sich in der Sonne auflösten und die Netze wieder unsichtbar werden ließen.

Alle zogen sich ihre ledernen Gamaschen an, denn schon wenige Schritte in der Wiese hätten ausgereicht, um nasse Beine zu bekommen. Lowik war ob der Möglichkeit, abends eine warme Mahlzeit zubereiten zu können, wieder frohen Mutes und hatte bereits vor dem Frühstück eine Vielzahl von Kräutern gesammelt.

»Im Grunde wissen wir ja, was wir suchen«, meinte Wigold nachdenklich.

»Ach wirklich, was denn?«, fragten Eldrid und Gunder gleichzeitig und blickten ihn überrascht an.

»Wir wissen, dass einst eine alte Handelsstraße in den Regeneichenwald führte, und nicht nur das, es ist sogar ein Kanal angelegt worden. Folglich muss etwas Großes hierher transportiert und errichtet worden sein.«

»Aber wir wissen doch nicht, was es war«, warf Solveigh ein.

»Nein, das nicht«, erwiderte Wigold, »aber es muss noch immer da sein, und es muss eine Bedeutung haben, denn andernfalls würde die Bruderschaft dieses Gebiet nicht so hermetisch abriegeln. Wir müssen daher nach menschlichen Spuren suchen, die fünfhundert Jahre alt sind.«

Lowik war in Gedanken offensichtlich woanders, denn er schaute auf seine Schuhe, obwohl ja klar war, dass Wigold keine Fußspuren damit meinte.

»Als Erstes gehen wir jetzt so weit in das Felsengebiet hinein, bis wir nicht mehr in Hörweite des Waldes sind, dort suchen wir uns einen Lagerplatz, und dann sehen wir weiter.«

Nach dem Frühstück bauten sie ihre Zelte ab, packten ihre Sachen zusammen, und die Jungen wuchteten sich wieder die großen Rucksäcke mit den Lebensmitteln auf den Rücken. Den bereits vergrabenen Lebensmittelvorrat in der Mitte der Lichtung ließen sie unberührt. Sie hatten ja genügend für mehrere Wochen bei sich. Wie am Vortag gingen sie über das Schotterfeld, aber schon nach hundert Schritten standen sie vor einem fünf Schritt hohen Felsen, der ihnen den Weg versperrte.

Lowik atmete bereits schwer, auch wenn Frerich ihm seinen schweren Rucksack im Tausch gegen seinen kleineren abgenommen hatte. Solveigh hatte sich den Unterarm an einer scharfen Kante blutig gehauen, und die ledernen Wanderstiefel der Geister hatten bereits allesamt einige tiefe Kratzer vom Geröll davongetragen. Es war wirklich beschwerlich, hier von der Stelle zu kommen. Mal mussten sie von Felsbrocken zu Felsbrocken springen, mal emporklettern und wieder hinabsteigen, mitunter waren die Steine fest, oder aber ein Stein gab unerwartet unter der Belastung des Schrittes nach und rutschte weg.