Die Schattenbrücke – Am Ende der Welt - E. G. Wolff - E-Book
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Die Schattenbrücke – Am Ende der Welt E-Book

E. G. Wolff

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Beschreibung

Was verbirgt sich hinter der Schattenbrücke? Der Auftakt einer spannungsreichen Fantasy-Saga  »Niemand kann die Zukunft vorhersagen, wir bestimmen unser Schicksal selbst«  Kjer wollte nie ein Held sein, sondern nur mit seinen besten Freunden Freya und Aiko eine Reise machen. Doch seine heile Welt, das Hochland, steht kurz vor der Zerstörung und die alles kontrollierende Bruderschaft schreckt vor nichts zurück, um die aufziehende Gefahr verborgen zu halten. Dabei scheint die Bedrohung so gewaltig, dass selbst die Bruderschaft große Angst davor hat. Auf der Suche nach Antworten gehen Kjer und seine Freunde immer größere Risiken ein, bis es womöglich kein Zurück mehr für sie gibt …  Beste Freunde, uralte Geheimnisse und eine düstere Bedrohung  Eine fesselnde High-Fantasy-Saga um Freundschaft, Mut und Vertrauen – für Fans jeden Alters, die J. R. R. Tolkiens »Der kleine Hobbit« liebten.  Leserstimmen auf Amazon:  »Die Schattenbrücke kann ich – und das nicht nur jugendlichen – Lesern empfehlen, die spannende Fantasy jenseits von gängigen Klischees zu schätzen wissen.« »Die Schattenbrücke ist ein leuchtender Stern im grauen Dunst des Fantasy-Mainstreams.«

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© Piper Verlag GmbH, München 2020Korrektorat: Uwe Raum-DeinzerCovergestaltung: Emily Bähr, www.emilybaehr.deCovermotiv: Bilder unter Lizenzierung von Shutterstock und Freepik genutzt

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

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Inhalt

Cover & Impressum

Widmung

Karte

Kapitel 1: In der Hauptstadt

Kapitel 2: Der Regeneichenwald

Kapitel 3: Die Probe

Kapitel 4: Die andere Seite

Kapitel 5: Drei ist besser als zwei

Kapitel 6: Das Wappen der Sekte

Kapitel 7: Der alte Turm

Kapitel 8: Der Hinterhalt

Kapitel 9: Im Ersten Bezirk

Kapitel 10: Die Qual der Wahl

Kapitel 11: Fiskheym

Kapitel 12: Der alte Thorssen

Kapitel 13: Der Beobachtungsposten

Kapitel 14: Auf Verbrecherjagd

Kapitel 15: Doppelt schlechte Nachrichten

Kapitel 16: Der Plan

Kapitel 17: Im Angesicht des Feindes

Kapitel 18: Operation Eislöwe

Kapitel 19: Glück hat oftmals der Tüchtige

Kapitel 20: Jenseits

Namensregister

Für B.,

meine fleißigste Testleserin

Kapitel 1: In der Hauptstadt

Ein Späher kam im Galopp den Hügel hinabgeritten. Vor ihm im Tal wartete kampfbereit eine große Zahl an Reitern. Alle blickten ihm gebannt entgegen. »Sie kommen!«, rief der einzelne Reiter, sobald er sich auf Rufweite genähert hatte. »Und sie sind schnell! Der Feind ist höchstens noch eine Meile entfernt!« Angst und Entsetzen lagen in seiner Stimme. Er hatte gesehen, was sich jenseits der Hügel befand.

Kjertan ritt dem Späher ein kleines Stück den Hang hinauf entgegen und blickte auf sein Heer zurück. Allen war bewusst, was sie erwartete, aber nur die wenigsten hatten bislang eine der Bestien zu sehen bekommen.

»Wir wussten, dass dieser Tag kommt, und wir sind vorbereitet!«, rief Kjertan. »Vielleicht stimmen die Gerüchte, und wir können sie niemals endgültig besiegen. Möglicherweise werden sie immer wieder kommen, aber heute werden wir ihnen eine Niederlage zufügen! Ich habe diese Kreaturen schon zu Gesicht bekommen. So furchterregend sie sein mögen, wir können auch sie bezwingen! Jeder kennt seine Aufgabe. Ihr alle wisst, worum es heute geht. Heute werden wir ihnen zeigen, was es bedeutet, sich mit den Reitern der Bruderschaft anzulegen!«

Kjertan blickte gen Himmel. Von den Wachtürmen, die allerorten in den Himmel ragten, wurden unablässig mit Spiegeln Nachrichten weitergegeben. Die Hauptstadt wollte über das unterrichtet sein, was hier im Nordosten des Landes geschah. Kjertan ahnte, was diese Signale zu bedeuten hatten. Die Verteidigungslinien konnten dem Ansturm nicht standhalten.

Vor ihnen stieg Rauch zwischen den Hügeln auf. Sekunden dehnten sich zu Minuten. Aus Norden, Süden und Osten bahnte sich aus großer Ferne je ein einzelner schwarzer Punkt seinen Weg in den Himmel. Die Punkte, die immer näher kamen, zogen Rauchschwaden hinter sich her, aber offensichtlich zielten sie nicht auf die Reiter. Kurz bevor sie auf dem Boden auftrafen, verschwanden sie hinter der letzten Hügelkuppe.

Unauffällig und unbewaffnet hatte sich Savant zu Kjertan gesellt. Fragend blickte Kjertan seinen Gefährten an. »Eins zu neun«, sagte Savant leise, ohne Kjertan direkt anzuschauen. Savant trug den Beinamen »der Sonderliche«, weil ihm vieles unheimlich schwerfiel. Dinge, die jedes Kind beherrschte, stellten für ihn große Herausforderungen dar, und es fiel ihm oftmals auch merklich schwer zu sprechen. Dafür besaß er andere Fähigkeiten. Er erkannte Zusammenhänge und konnte Chancen und Möglichkeiten beurteilen wie kein Zweiter. »Eins zu neun«, presste Savant erneut mühsam hervor.

Auch Briga und Varg hatten zu Kjertan hangaufwärts aufgeschlossen. Varg gehörte zu den wenigen, die sich schon zweimal den Wesen entgegengestellt hatten und noch immer im Sattel saßen, auch wenn sich seit der ersten Begegnung eine tiefe Narbe durch seine rechte Gesichtshälfte zog. Die Verletzung endete genau an seinem Mundwinkel, sodass es aussah, als würde er die ganze Zeit grinsen. In Kombination mit seinem geschorenen Schädel und seinem kräftigen Vollbart wirkte er fast so unheimlich wie die Kreaturen selbst. Auch Kjertan war mittlerweile vom Kampf gezeichnet, denn er trug eine schwarze Augenklappe über dem linken Auge.

»Oh, das ist das erste Mal, dass die Wahrscheinlichkeit gegen uns nur noch einstellig ist«, freute sich Briga mit einem merkwürdigen Gemisch aus Galgenhumor und Sarkasmus.

»Fast schon zu einfach«, lächelte Varg grimmig, »wo bleibt da die Herausforderung?«

Savant reagierte nicht. Er beobachtete die Türme. Er schien alle Spiegelsignale gleichzeitig zu entschlüsseln. »Neunzig«, presste er mühsam heraus. Kjertan verstand, was diese Zahl bedeutete. Neunzig Sekunden noch.

Kjertan zog sein Schwert. Sein Rappe bäumte sich auf, er spürte die Spannung, die in der Luft lag. »Wir sind viele, und wir sind stark! Sie konnten bislang unsere Stadtmauern aus der Ferne nicht brechen, und solange auch nur ein Reiter im Sattel sitzt, werden sie keine einzige Stadt erreichen! Haltet euch dieses Ziel immer vor Augen, und bewahrt die Ordnung, ganz egal, was uns auf der anderen Seite erwartet! Jeder Lanzentrupp bindet einen großen Brecher. Alle anderen, die durch die Reihen der Brecher hindurchgelangen können, reiten weiter! Wenn wir die drei kleinen Bändiger erwischen, welche die Bestien führen und lenken, dann verlieren die großen Kreaturen ihre Gefährlichkeit und wir werden sie allesamt ins Meer zurückstoßen!«

»Siebzig«, sagte Savant leise.

»Pass gut auf Savant auf«, rief Varg Briga im einsetzenden Donner der Pferdehufe zu und zog einen Wurfspeer aus seinem am Rücken hängenden Köcher. Einer dieser beiden musste sich immer um Savant kümmern und Gefahren von ihm fernhalten, denn dessen Verstand war die vielleicht wertvollste Geheimwaffe, über die Kjertan verfügte. Briga pfiff, und Askan, ihr kleiner treuer Hund, sprang so am Pferd hoch, dass sie ihn ergreifen und emporheben konnte. Die Reiter hatten sich in Bewegung gesetzt. Hangaufwärts. Nur Savant und Briga blieben zurück.

Tausende Pferde ließen den Boden erdröhnen. Von oben betrachtet war in der scheinbar chaotischen Masse an Pferdeleibern eine Ordnung zu erkennen. Immer dreißig Reiter bildeten einen Trupp, der zwei große Lanzen mit sich führte. Kjertan hatte blindes Vertrauen in Savants Berechnung. Er blickte nur einmal kurz auf und nahm die unzähligen Punkte wahr, die sich auf ähnlichen Flugbahnen wie die ersten drei Brandgeschosse in den Himmel erhoben.

»Wie konnte es nur so weit kommen?«, durchfuhr es Kjertan, kurz bevor er die Hügelkuppe erreichte. »Warum haben wir uns nur so von Therus täuschen lassen? Wieso konnten uns die geradezu übermenschlichen Errungenschaften, die er uns gebracht hat, derart blenden? Alles im Leben hat seinen Preis …«

Dann jedoch schüttelte Kjertan diese Gedanken ab. Fragen stellen konnte er sich immer noch, wenn die Schlacht geschlagen war.Sie standen mit dem Rücken zur Wand. Ein weiteres Mal würden sie ihren übermächtigen Gegner nicht in eine solche Falle locken können. Sie mussten ihn unbedingt zurückschlagen, um Zeit zu gewinnen. Zeit, um ihren letzten verzweifelten Plan in die Tat umsetzen zu können.

In dem Moment, in dem die ersten Reiter die Hügelkuppe erreichten, senkten sich die Brandgeschosse Richtung Boden und schlugen in der Senke direkt vor ihnen ein. Kaum hatte das letzte Geschoss seine zerstörerische Wirkung entfaltet, trafen die Reiter bereits auf ihre Gegner. Der beißende, stechende Rauch, die monströsen Brecher, die sich trotz der feurigen Begrüßung in zwei Reihen aufgestellt hatten, um die drei Bändiger zu schützen, die Pferde, die dicht gedrängt den Hang hinabpreschten – all dies würde sich in Sekunden zu einem einzigen wilden, todbringenden Knäuel vermengen.

Aber ganz ohne Wirkung waren die Brandwaffen nicht geblieben. Kjertan registrierte eine Lücke in den Reihen der Ungetüme vor sich und steuerte sofort auf diese Schwachstelle zu. Denn er hatte nur eines im Sinn: Therus!

Er war einer dieser drei kleinen, bösartigen Bändiger. Als Mensch hatte er unter ihnen gelebt. Sie hatten ihm vertraut. Kjertan hoffte nichts mehr, als ihn noch einmal zu erblicken. Er hatte eine große Rechnung mit ihm zu begleichen…

Savant blickte zu Briga auf. »Eins zu zehn«, sagte er plötzlich leise.

»War das gerade etwa ein Lob? Nur durch meine Abwesenheit sinkt die Chance?«, lächelte sie ihn an, während sie ihren geflügelten Helm abnahm, unter dem ihre kurzen blonden Haare zum Vorschein kamen. Savant blickte wieder auf den Boden. Vielleicht hatte er mit mehr Brandgeschossen gerechnet, vielleicht hatte er irgendein Spiegelsignal entziffert oder die Angst in den Gesichtern der Reiter gesehen. Sie würde nicht von ihm erfahren, was seine Berechnung wirklich verändert hatte. Aber es war auch gar nicht wichtig.

»Mach dir keine Sorgen! Solange Kjertan im Sattel sitzt, haben wir auch eine Chance«, sprach sie ihm und sich selbst Mut zu.

»Eins zu zehn«, wiederholte Savant leise, als wollte er sich vergewissern, dass Briga ihn verstanden hatte. Natürlich hatte er Kjertan schon in die Erfolgsaussichten, Therus zu erwischen, miteinbezogen.

»Ich hoffe nur, dass sich Varg unter Kontrolle hat, falls die beiden Therus entdecken …«

»Eins zu tausend«, murmelte Savant.

»Ich weiß«, entgegnete Briga kopfschüttelnd, »aber wenn einer für solch eine Auseinandersetzung geschaffen ist, dann er!« Plötzlich begann Askan zu knurren. Er schien etwas zu spüren. »Er ist dabei. Therus ist wirklich dabei …«, sagte Briga angespannt.

Therus führte einen roten Kristall mit sich, durch den er mit den anderen Kreaturen über weite Entfernungen zu kommunizieren vermochte. Jede neue Welle der Angreifer, die es abzuwehren galt, konnte sich daher den Abwehrmaßnahmen der Reiter und Wachen der Bruderschaft anpassen. Daher war Kjertan nicht nur hinter Therus her, sondern auch hinter diesem Kristall. Jener Stein aber hatte eine solch mächtige Wirkung auf Hunde, dass Askan es schon von Weitem spürte, wenn sie sich Therus näherten.

Wie eine Welle schwappte das Reiterheer über die Hügelkuppe und ergoss sich in das Schlachtgetümmel.

Einige der feindlichen Wesen, die zu voller Größe aufgerichtet die Reiter winzig erscheinen ließen, hoben baumstammgleiche Keulen, andere drehten grobe, riesige Schwerter so schnell, dass die Spitzen fast nicht mehr zu erkennen waren, aber das Singen der Klingen war eine unmissverständliche Warnung, sich auf keinen Fall in das Wirkungsfeld dieser Schneiden zu begeben.

Plötzlich sprang ein Ungetüm unmittelbar vor Kjertan und Varg in ihren Weg. »Der Dicke gehört mir«, schrie Varg, um sich im Lärm Gehör zu verschaffen, und steuerte direkt auf die Bestie zu, während Kjertan dem Widersacher seitlich auswich. Das Wesen hob eine gewaltige Keule empor. Der Schatten der wuchtigen Waffe fiel auf Kjertan.

***

Langsam öffnete Kjer die Augen. Gerne hätte er weitergeträumt und einen genaueren Blick auf die düsteren Wesen geworfen, aber schon begannen die Bilder zu verschwimmen und sich aufzulösen. Auch diesmal war der Traum sehr real gewesen. So real, als wäre das Geträumte irgendwo anders – vielleicht vor langer Zeit – Wirklichkeit gewesen.

Kjer lag mit hinter dem Kopf verschränkten Händen in einer blühenden Wiese unweit der Hauptstadt. Seinen Hut mit der breiten Krempe hatte er sich als Schutz vor der sengenden Sonne tief ins Gesicht gezogen. Eine dicke Hummel interessierte sich für die Blüten der Wiesenglockenblumen direkt neben ihm. Mauersegler flogen auf der Jagd nach Insekten zwitschernd über seinen Kopf hinweg, und von Zeit zu Zeit wieherten und schnaubten Pferde in der Ferne, ansonsten aber war es still. Es roch nach Wiesenkerbel und in der Sonne trocknenden Grashalmen.

Es war einer dieser perfekten Momente. Das Leben war schön. Der Schulalltag hatte ihn in letzter Zeit sehr gelangweilt, doch jetzt lagen die Sommerferien vor ihm.

Noch konnte Kjer nicht ahnen, dass dieser Sommer sein Leben verändern würde, dass seine heile Welt nicht nur in seinen wirren Träumen kurz vor der Zerstörung stand.

»Geh mir aus der Sonne«, sagte Kjer grinsend. Ohne den Hut vom Gesicht zu ziehen, wusste er genau, dass es sein bester Freund Aiko war, der sich da vor ihm aufgebaut hatte. Da der Schatten, der in seiner Träumerei auf ihn gefallen war, aber blieb, schob Kjer seinen Hut nun doch zur Seite und blinzelte nach oben.

Er pflückte sich einen Grashalm, steckte ihn zwischen die Zähne und wartete, dass Aiko endlich anfangen würde zu sprechen.

»Also …«

»Was also?«, erwiderte Kjer.

»Ich denke, du solltest langsam aufstehen und anfangen zu packen. Wenn wir uns nicht bestens vorbereiten und ganz vernünftig verhalten, dürfen wir vielleicht doch nicht alleine los«, mahnte Aiko.

Die Aufforderung, vernünftig zu sein, wäre für gewöhnlich das Stichwort für Kjer gewesen, erst recht liegen zu bleiben. Aber dieses Mal nahm er seinen Hut komplett vom Gesicht, stützte sich auf seine Unterarme, streckte sich noch einmal und rappelte sich dann ganz auf, denn er wusste, dass Aiko wieder mal recht hatte.

Es war bereits früher Nachmittag. Übermorgen würden die beiden Jungs auf eigene Faust bis ans Ende der Welt reiten dürfen.

Seit drei Jahren hatte Kjer diesen Wunsch gehegt, hatte im letzten Jahr seine Eltern jeden Tag bearbeitet und sich zu seinem dreizehnten Geburtstag im letzten Monat nichts anderes gewünscht. Und schließlich hatten sie eingewilligt.

Ein schwacher Wind strich durch das hohe Gras der sanften Hügellandschaft und ließ die hervorstehenden Ähren wie silberne Wellen hin und her wiegen. Eine Drossel beschimpfte die beiden Jungen und wollte sie von ihrem Nest in einer kleinen Buschgruppe weglocken. Doch Kjer und Aiko beachteten sie nicht und hielten weiter auf die Stadt zu. Hinter den Büschen ragte bereits die Stadtmauer hoch empor. Es war eine gewaltige, bedrohlich wirkende Verteidigungsanlage, die jeden Ortsfremden ehrfürchtig staunen ließ, wenn er ihr inmitten der friedlichen Idylle des Hochlandes gegenüberstand.

»Drachen«, sagte Kjer entschieden, »ich bleibe dabei, die Mauer ist einst bestimmt gebaut worden, um Drachen von der Stadt fernzuhalten.«

Aiko blickte ihn mit gespielter Verzweiflung an: »Nein, das haben wir doch bereits ausgeschlossen. Erstens gibt es mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit überhaupt keine Drachen, und zweitens könnten Drachen doch fliegen, wenn es sie geben würde, und dann würde eine Mauer ja gar keinen Schutz vor ihnen bieten …«

Niemand wusste so recht, warum die Mauer einst erbaut worden war. Sie war höher als die höchsten Bäume in der Stadt und so dick, dass es in der Mitte der vielen Durchgänge richtig dunkel wurde. Etwa jede Meile war einer dieser Tunnels in die Mauer gestemmt worden, was ihr etwas von der Bedrohlichkeit nahm, genau wie die bunten Blumen, die an jedem Mauerdurchbruch in großen Hängekübeln wuchsen.

Eng an die Mauer geschmiegt lag ein Hund und schlief. Als er Aiko und Kjer vernahm, setzte er sich auf und knurrte die beiden drohend an. Das heißt, eigentlich knurrte er nur Kjer an. Kjer war an sich ein ausgesprochener Tierfreund. Selbst das unruhigste Pferd vertraute ihm, und so manches wilde Tier war bei ihm ganz handzahm geworden. Nur Hunde mochten ihn nicht.

Das war nicht immer so gewesen. Kjer erinnerte sich noch genau: An seinem sechsten Geburtstag hatte ihn plötzlich der Nachbarshund gebissen. Seit diesem Tag hatte er es nicht mehr geschafft, auch nur einen einzigen Hund davon zu überzeugen, dass er sein Freund sei, und irgendwann hatte er es aufgegeben.

Kjer und Aiko gingen auf den nächsten Mauerdurchbruch zu. Der Tunnel in der Mauer war kühl und feucht und führte zu einer gepflegten Rasenfläche auf der anderen Seite.

Kjer trug stets einen hellbraunen Brotbeutel aus schwerem Jutestoff an seinem Gürtel, in dem er das Nötigste mit sich führen konnte: ein Taschenmesser mit einem Griff aus Regeneichenholz, diverse Schnüre, gerne ein Butterbrot und alles, was man sonst noch so außerhalb der Stadtmauer brauchen konnte. Er kramte gerade in seinem Beutel, als er bemerkte, dass Aiko bereits ein gutes Stück vorweggeeilt war, denn vorne an der Straße fuhr gerade eine Gondel um die Kurve.

Schnell rannte er hinter Aiko her. »Dass sich diese Dinger auch immer so anschleichen müssen und so furchtbar pünktlich sind«, dachte er sich, während er wieder zu Aiko aufschloss. Im Grunde lohnte sich die Fahrt für die beiden jedoch kaum. Sie dauerte drei statt der knapp zehn Minuten, die sie zu Fuß für die Strecke benötigten.

Gerade noch rechtzeitig erreichten sie die Haltestelle und sprangen in die kleine Kabine, während diese sich schon rumpelnd in Bewegung setzte. Einen Fahrer benötigten diese Gondeln nicht, weil sie von in die Trasse eingelassenen Seilen gezogen wurden, die von einem komplexen System an Seilwinden mittels Ochsenkraft angetrieben wurden.

Nur ein einzelner Mann in feiner Kleidung saß in der Kabine. »Wahrscheinlich ist heute noch eine Stadtversammlung«, dachte Kjer sich, denn der Siegelring am Zeigefinger der rechten Hand wies den Mann als Richter der Bruderschaft des Hochlandes aus.

Trotz der vorhandenen freien Sitzplätze blieben Kjer und Aiko auf der hölzernen Schwelle stehen und hielten sich an der gusseisernen Mittelstange fest.

Nach zwei Minuten verließ die Gondel die gepflasterte Straße und fuhr ruckelnd auf einem leicht erhöhten Damm mit etwa doppelter Schrittgeschwindigkeit weiter. Auf beiden Seiten reihten sich Häuser aneinander, welche einzelnen Familien Platz boten, wie es für die äußeren Stadtviertel typisch war. Nur in der Innenstadt standen größere Wohnhäuser.

Am Ende des Dammes ließ sich bereits die nächste Haltestation erkennen.

»Auf drei?«, fragte Kjer plötzlich. Sogleich schaute Aiko konzentriert den Damm hinab. »Drei!«, riefen beide und sprangen aus der fahrenden Gondel.

Der Richter der Bruderschaft schimpfte den beiden hinterher, als Kjer und Aiko bereits in das Heu purzelten, das sie selbst dort vor einiger Zeit für ihre Abkürzung an der Rückwand einer Pferdestallung aufgeschichtet hatten. Vielleicht war der Mann einfach nur erschrocken. Wahrscheinlicher war aber, dass ihm das ordnungswidrige Verhalten der beiden Freunde missfallen hatte, denn die Bruderschaft verkörperte Recht, Gesetz, Sicherheit und öffentliche Ordnung.

»Ihr seid solche Dummköpfe!«, tönte es von der Stallung. Freya wohnte in der gleichen Straße und beobachtete mit hochgezogenen Augenbrauen, wie sich Kjer und Aiko wieder aus dem Heu aufrappelten.

»Wir sind keine Dummköpfe, wir nutzen nur unsere Zeit effizient«, korrigierte sie Aiko und machte eine Geste in Richtung der wegfahrenden Gondel, um zu untermalen, dass diese sich ja ab hier in die falsche Richtung bewege.

»So, so. Bis ihr das Heu aus euren Klamotten rausgeklaubt habt, wärt ihr schon längst die hundert Schritte von der nächsten Haltestelle hergelaufen«, rief Freya lachend und verschwand um die Ecke im Sanddornweg.

Während Aiko seine ordentlich gescheitelte Frisur wieder richtete, blickte Kjer ihr nach. Irgendwie fühlte er sich nicht mehr so unbezwingbar wie noch vor wenigen Sekunden. Freya ging in die gleiche Klasse wie Aiko und Kjer und hatte meistens einen noch besseren Spruch parat als er selbst, aber im Gegensatz zu vielen anderen, die gerne mal einen Witz über Aiko machten, meinte Freya dies nicht ernst. Mindestens genauso wie ihr oftmals loses Mundwerk ärgerte Kjer, dass sie nur ein halbes Jahr älter, aber dennoch ein klein wenig größer war als er. Trotzdem mochte er Freya eigentlich ganz gern. Spätestens wenn sich in ihrem Gesicht ihre Lachgrübchen bildeten und sie ihn mit ihren grünen Augen anlächelte, war jeglicher Ärger wieder verflogen. Diese Momente waren aber recht selten, zumeist wirkte Freya sehr erwachsen und unnahbar. Teilweise hielt Kjer dies für aufgesetzt, sicherlich hatte aber auch der frühe Tod ihrer Mutter dafür gesorgt, dass sie schon in ihrer Kindheit mehr Verantwortung hatte übernehmen müssen. Dass Aiko ebenfalls größer war als er, störte Kjer zwar auch ein wenig, aber dafür war Kjer sportlicher und stärker als sein schlaksiger Freund.

Die beiden Jungen schüttelten sich das Stroh aus ihrer robusten bäuerlichen Kleidung und sammelten ihre Leinenhüte wieder ein, die sie bei dem Sprung verloren hatten. Schnell setzte Aiko seinen wieder auf, denn er hatte nicht nur einen helleren Hauttyp als Kjer, was bei der kräftigen Hochlandsonne ohnehin schon ein Nachteil war, sondern seine Ohren standen auch neugierig vom Kopf ab und bildeten damit ein beliebtes Angriffsziel für die Sonnenstrahlen. Dafür war Aiko unheimlich belesen und glänzte in vielen Bereichen mit einem erstaunlichen Fachwissen, und so wie Kjer meist seinen Brotbeutel dabeihatte, führte sein Freund immer ein kleines Notizbuch mit sich und vermochte so von Zeit zu Zeit nützliche Informationen aus seinen umfangreichen Aufzeichnungen hervorzuzaubern.

Im Sanddornweg standen zehn Häuser. Es gab sicherlich prächtigere Straßen in der Stadt, aber der Sanddornweg gewann durch die Gemütlichkeit und Wärme, die seine Häuser ausstrahlten. Die Gebäude waren hier schon rechteckig und nicht mehr quadratisch und in einem dunklen Beige gestrichen. Die mit ihren Rundungen an Gemütlichkeit nicht zu übertreffenden, mit dunkelbraunen Schindeln gedeckten Dächer sorgten endgültig dafür, dass man sich schon zu Hause fühlte, wenn man nur in den Sanddornweg einbog.

Zudem waren die zu den Häusern gehörenden Gärten gerade so groß, dass die Gebäude noch zusammengehörig wirkten, aber auch nicht so klein, dass der alte Baumbestand der Straße den hellen, freundlichen Eindruck hätte verschatten können.

Freya wohnte mit ihrem Vater im Haus Nummer Eins. Haus Nummer Vier gehörte Kjers Familie, und direkt gegenüber, mit der Nummer Sieben, lag das Haus von Aiko Thruster und dessen Familie.

***

Doch nicht überall auf dem Hochland ging es so beschaulich und geordnet zu wie in der Hauptstadt. Beeke, Birger und Halvor liefen, jede Deckung nutzend, über die Bergaheymer Pferdekoppeln. Jeder der drei Jugendlichen führte ein fremdes Pferd mit sich.

»Sechzehn in einer Nacht ist doch ’ne ganz ordentliche Ausbeute«, scherzte Birger, sobald sie bei ihren eigenen Pferden angekommen waren. Die gestohlenen Tiere hinter sich herführend, ritten die drei Pferdediebe eine Meile nach Süden. Im Mondlicht konnten sie einen Hügel erkennen und daneben eine Senke mit einem kleinen Wald.

Zielsicher lenkten sie ihre Pferde auf das Gehölz zu. Dort wartete eine große Gruppe Bergler. »Wunderbar, Beeke. Es lohnt sich immer, euch mitzunehmen«, sprach ein Mann, als sie in den Wald ritten. Die Jugendlichen mochten fünfzehn oder sechzehn Jahre alt sein, dagegen waren die restlichen Bergler ausnahmslos kräftige, wilde Männer.

»Wir brechen gleich auf«, entschied einer von ihnen. Die anderen, die bis eben noch auf dem Boden geruht hatten, erhoben sich nun nach und nach.

»Birger und ich kommen nicht mit«, erklärte Beeke bestimmt, während sie den Führstrick ihres zweiten Pferdes an Halvor übergab. »Wir haben noch etwas in der Hauptstadt zu erledigen.«

Kurz danach war der Wald verlassen. Die Bergler waren mit den neuen Pferden auf dem Weg ins Wettergebirge, und Beeke und Birger ritten auf ihren Pferden an Feldern vorbei, der Hauptstadt entgegen.

»Hoffentlich ist Wigold bereits am Treffpunkt …«, murmelte Beeke, als der Morgen dämmerte und sie sich ein Versteck für den Tag suchten.

Kapitel 2: Der Regeneichenwald

Sich den Hut über die windzerzausten blonden Haare ziehend, ging Kjer neben Aiko an den Boxen der Pferde vorbei. Auf einem Mauervorsprung am Ende der Stallung saß Freyas sechs Jahre älterer Bruder Wigold, der sich gerade einen Apfel aufschnitt. Wigold hatte sich immer Zeit für die beiden Jungen genommen, obwohl er deutlich älter war. Kjer und Aiko bewunderten ihn.

Wigold war eine auffällige Persönlichkeit. Vielleicht lag dies auch an seiner Gabe, sich sehr unangepasst zu kleiden. Vor allem aber strahlte er eine innere Ruhe und Sicherheit aus und vermochte jeden in seinen Bann zu ziehen. Sein Blick konnte fast unangenehm sein, und manchmal schien es, als ob er in einen hineinschauen könnte; als ob er nur mit seinen wachen blauen Augen erkennen könnte, ob jemand die Wahrheit sprach oder log und welche Absichten sein Gegenüber verfolgte.

Als Kjer zu ihm hinübersah, fiel sein Blick sofort auf Wigolds Taschenmesser. Wie angewurzelt blieb er stehen. Offensichtlich war Aiko das Messer ebenfalls aufgefallen, denn auch er hielt abrupt an. Wigold blickte auf und nickte ihnen freundlich zu. Aiko fand seine Sprache als Erster wieder. »Wahnsinn, wo hast du denn das Messer her? Ist das Holz echt? Sei ehrlich, das hast du bloß angemalt.«

»Nee, das sieht echt aus«, meinte Kjer, der seinen Blick nicht von dem Messer abwenden konnte. »Darf ich es einmal in die Hand nehmen?«

»Klar«, sagte Wigold, teilte mit einem letzten Schnitt eine Apfelhälfte in zwei Stücke und überreichte Kjer das Messer, der es fachmännisch begutachtete. Dabei interessierte er sich nur für den hölzernen Griff.

»Das Holz ist wirklich rot, ich war schon stolz, dass mein Messer grünlich ist. Woher hast du es? Das kann doch unmöglich aus der Stadt kommen – und wie das gewachsen ist, die gleichmäßige Maserung, unglaublich! Sag schon, wo hast du es her?«

Auch Kjers Taschenmesser hatte einen Griff, der aus einem Ast der Regeneiche hergestellt worden war, und bis zum heutigen Tag hatte er gedacht, dass er ein besonders schönes und auch besonders altes Stück Holz besaß. Das Messer war ein Familienerbstück, das Kjer zum sechsten Geburtstag geschenkt bekommen hatte. Die Bäume wuchsen in der Stadt schlecht, trugen niemals Früchte und wurden nicht besonders alt. Neben den kümmerlichen städtischen Exemplaren gab es noch im Westen des Hochlandes vereinzelt wachsende Regeneichen, richtig zahlreich wuchsen sie aber nur nördlich des Hauptstadtbezirks, im Regeneichenwald. Diesen zu betreten war jedoch strengstens untersagt. Die von der Bruderschaft erlassenen Gesetze und Regeln des Hochlandes waren alles in allem gut durchdacht, und Strafen fielen eher milde aus. Strenge Strafen standen jedoch auf das Betreten des Regeneichenwaldes, und die Bruderschaft schirmte ihn mit einer Vielzahl von Wachen und Reitern gegen versehentliche oder beabsichtigte Besuche ab. Selbst Aikos Onkel Herulf, ein Mitglied der Bruderschaft des Hochlandes, der eine sehr verantwortungsvolle Position einnahm, wusste nicht, – oder gab zumindest vor, es nicht zu wissen –, warum der Wald nicht betreten werden durfte.

»Also, wo hast du das Messer her?«, bohrte Kjer nach.

»Den Griff habe ich mir selbst geschnitzt, und das Holz dazu habe ich mir aus dem Wald geholt«, antwortete Wigold, als wäre es das Normalste auf der Welt, eben mal in den Regeneichenwald zu spazieren und sich einen Ast abzubrechen.

»Aus dem Regeneichenwald?«, schnauften Kjer und Aiko gleichzeitig.

»Klar. Warum auch nicht? Die Baumeisterische Lehranstalt hat doch im Sommer geschlossen, und was soll man auf diesem Flecken Erde denn sonst Spannendes machen?«, erwiderte Wigold lässig.

Der Regeneichenwald. Dorthin wollte Kjer schon, seit er vor Jahren eine Kindergeschichte über ihn vorgelesen bekommen hatte. In seinen Tagträumen hatte er sich schon so oft ausgemalt, wie er dahin gelangen könnte. »Wie bist du dort hingekommen?«

»Du tust gerade so, als wäre ich zum Mond geflogen, Kjer. Natürlich mit meinem Pferd und meinen Füßen. Beinahe wäre ich erwischt worden, aber das war es mir wert. Ich lasse die Bruderschaft nicht mein Leben bestimmen.«

»Ehrlich, da will ich auch unbedingt hin, ganz egal, ob ich erwischt werde!«

»Glaub mir Kjer, das ist nicht egal. Du willst ganz sicher nicht erwischt werden. Wenn du in der Stadt gegen eine Regel verstößt, ist die Bruderschaft vielleicht pingelig und nervig, draußen weht aber ein ganz anderer Wind.« Wigolds Augen funkelten. Aiko versuchte den Blick zu deuten. Er war sich nicht sicher, ob es Wut oder Trauer war.

So freundlich und positiv Wigolds Wesen war, wenn jemand seinen Lieblingsfeind, die Bruderschaft, verteidigte, konnte er ein arrogantes, mitleidiges Lächeln aufsetzen, wie es kein zweites in der Stadt gab. Wigold lehnte alles an der Bruderschaft ab: ihre Macht, ihre Regeln und ihren Hang, wie er meinte, Probleme stets mit Waffengewalt lösen zu wollen. Auch seine kleine Narbe über der linken Augenbraue hatte er sich in Kjers Alter von einem Reiter der Bruderschaft eingefangen – wenn auch vielleicht nicht ganz unverdient –, als er in den Schweif von dessen Pferd Freyas kleine rosa Haarschleifen geknotet hatte, während der Reiter im Sattel saß.

»Wenn ihr in den Regeneichenwald wollt, werdet ihr einen Weg finden. Ihr reitet nach Fiskheym, richtig?«, fuhr Wigold fort.

»Genau«, antwortete Kjer.

»Meine Eltern meinen, dass es die einfachste Route ist, mehr war nicht drin«, sagte Aiko fast entschuldigend. Neben jemandem zu stehen, der es in den Regeneichenwald und zurück geschafft hatte, ließ ihre Reiterfahrt plötzlich gar nicht mehr so wagemutig wirken.

Wigold schien zu bemerken, was in den Jungen vorging. »Eure Reise wird ein echtes Abenteuer. Die meisten Menschen haben gar kein Interesse daran, zu reisen und das Ende der Welt zu sehen. Sie sind glücklich, wenn die Blumen im Vorgarten blühen und sie in ihrer Freizeit dreimal die Woche ihren Rasen stutzen können. Aber natürlich nicht in der Mittagspause.« Aiko und Kjer mussten lachen und waren wirklich wieder ein wenig stolz auf ihr Vorhaben, aber Aikos Wissensdurst war noch nicht gestillt.

»Sag mal, wenn du jetzt im Sommer im Wald gewesen bist, hast du doch erlebt, wie es geregnet hat? Das muss unvergesslich sein …«

Wenn Regeneichen nass werden, quillt ihr Holz außergewöhnlich stark auf. Allerdings wächst die Rinde der Bäume nicht so schnell mit. Wenn es im Sommer regnet, zeigt sich daher ein zauberhaftes Schauspiel. Schon bei den paar krüppeligen Bäumen in der Stadt lässt es sich beobachten: Erst knacken und knarzen einzelne Äste, dann der ganze Baum, bis letztlich die Rinde in vielen langen Rissen aufplatzt und Harz herausläuft. Junge Bäume haben farbloses, ältere Bäume grünes Harz. Bei sehr alten Bäumen soll sich gelbes Harz zeigen. Aber ein roter Griff wie bei Wigolds Messer? Nur besonders große und stattliche Bäume sollen rotes Harz haben. Das hatte Aiko in einem alten Buch über die Flora des Hochlandes gelesen, aber er wusste nicht, ob er es glauben sollte.

»Erzähl schon«, bat nun auch Kjer mit vor Aufregung zitternder Stimme, »warst du bei Regen im Wald?«

»Ich habe extra drei Tage gewartet, um dieses Schauspiel zu erleben«, fing Wigold an zu berichten. »Bevor der Regen fiel, verstummte der ganze Wald, und sobald die ersten Tropfen die Bäume erreichten, fing es überall an zu knacken, und das Harz quoll aus den Rissen der Rinde. Als die Bäume richtig nass wurden, dröhnten mir die Ohren, so laut war es.«

Wigold blickte auf. Die Gartenpforte klapperte, und auf den gepflasterten Platz trat Kjers Vater Herko.

»Kjertan«, rief er seinen Sohn, »hast du schon fertig gepackt?«

»Im Prinzip ja. Also das heißt, Aiko hat fertig gepackt, und ich nehme einfach das Gleiche mit«, erwiderte Kjer mit einem entwaffnenden Lächeln.

Da fiel Herkos Blick auf das Messer, das Wigold mittlerweile zusammengeklappt hatte, aber noch in seiner Hand hielt. Offensichtlich erkannte Herko sofort, worum es sich dabei handelte. »Wigold, bist du wahnsinnig! Pack sofort dieses Messer weg! Hörst du? Jetzt sofort. Ich will gar nicht wissen, woher du es hast. Wenn du es unbedingt behalten musst, versteck es zumindest so, dass es nicht aus Versehen der Falsche zu sehen bekommt. Und bitte, lass die Jungs mit solchen Geschichten in Ruhe.«

»Er hat uns keine Geschichten erzählt«, sagte Kjer, der sich plötzlich verpflichtet fühlte, Wigold zu verteidigen.

»Kjertan, ich bin nicht dumm. Auch wenn ich verstehe, was in Wigold vorgeht …« Damit wandte Herko sich in freundlicherem Tonfall wieder Wigold zu: »Das ist unverantwortlich. Wirklich. Hast du eine Ahnung, was passieren kann, wenn du so ein Holz in die Stadt bringst? Pack es jetzt weg!«

Kjers Vater sprach freundlich, aber sehr bestimmt. Er mochte die Bruderschaft nicht oder zumindest nicht die Art und Weise, wie sie den Hochländern erklärte, was sie zu denken hatten, und den öffentlichen Diskurs lenkte. Jeder Hochländer wusste, dass in ihrer kleinen, perfekten Welt etwas nicht stimmte, so als ob man in einer wunderschön schillernden Seifenblase gefangen wäre. Herko war ein breitschultriger und zupackender Handwerker und als solcher viel im Hochland unterwegs, und so hatte er selbst erfahren, wie gut es tat, auf Reisen eine neue Sicht auf die Dinge zu bekommen und im wahrsten Sinne des Wortes seinen Horizont zu erweitern. Aus diesem Grund hatte er Kjer auch die Reise zum Ende der Welt erlaubt. Er verstand Wigold nur zu gut. Sieben Tagesritte in jede Richtung, größer war die ihnen bekannte Welt nicht. Auch wenn dieser Flecken Erde sicherlich der schönste auf der Welt war, das konnte nicht alles sein. Hier war einfach alles bis ins Kleinste geregelt und geordnet, und wenn er selbst schon so empfand, wie musste dann erst Wigold fühlen? Aber es gab Grenzen. Wigold steckte das Messer in seine Hosentasche und ging wortlos nach Hause.

»Kjertan, Aiko, ich weiß, dass ihr euch auf eurer Reise niemals in die Nähe des Waldes begeben würdet, deswegen spare ich mir weitere Ausführungen. Wenn ich irgendwelche Zweifel daran hätte, hätte ich der Reise nie zugestimmt, und wenn euch etwas an Wigold liegt, erzählt ihr niemandem von seinem Messer. Habt ihr das verstanden?« Die Freunde nickten beklommen. »Gut. Also nun zu eurer Ausrüstung: Was habt ihr oder, besser, was hast du, Aiko, gepackt?«

Herko kontrollierte zwar die Ausrüstung, doch er wusste, dass er sich keine Sorgen machen musste, solange Aiko dabei war. Aiko war nämlich nicht nur sehr klug, sondern für gewöhnlich auch äußerst besonnen. Offensichtlich war Kjers Vater mit der Ausrüstung einverstanden, denn er nickte nur kurz und verschwand wieder in seinem Garten.

Spät am Abend löschte Kjer sein Licht und legte sich ins Bett. Er grübelte über das Erlebte nach. Warum nur wollte die Bruderschaft unbedingt verhindern, dass jemand den Regeneichenwald betrat? Ohne eine Antwort auf diese Frage finden zu können, schlief er schließlich ein.

Kapitel 3: Die Probe

Varg sprang von seinem Pferd und blickte sich um. Vor ihm lag einer der Brecher auf dem Boden und regte sich nicht mehr. Varg zog einen Wurfspeer aus dem leblosen, massigen Körper. »Das war der Letzte!« Auf dem Schlachtfeld lag eine fast geschlossene Schicht an Reitern und Pferden, aus denen sich vereinzelt die Leiber der Ungetüme erhoben.

Um diese Berge herum herrschte emsiges Getümmel. Schwer verletzte Pferde wurden von ihrem Leiden erlöst und verletzte und gefallene Reiter geborgen.

»Zwei Bändiger haben wir erledigt, aber ihn kann ich nicht finden«, ärgerte sich Kjertan. »Therus ist uns entwischt.«

»Aber er ist verletzt. Mein Speer hat ihn getroffen«, antwortete Varg.

Kjertan wollte keine Zeit verlieren: »Wir setzen ihm nach. Jetzt gleich. Hol Savant und Briga. Wir treffen uns auf der westlichen Anhöhe.« Varg nickte, saß auf, trieb sein Pferd an und galoppierte den östlichen Hügel hinauf. Kjertan blickte sich um. Die Wachen der Bruderschaft, die die Stellungen in dieser Senke gehalten hatten, bis die Bestien von den Reitern aufgerieben worden waren, hatten die Lage nun im Griff. Er konnte das Schlachtfeld daher guten Gewissens verlassen und zögerte keinen Augenblick länger.

»Ibo, Brander, Orve«, rief er drei ausgewählte Truppführer zu sich. »Stellt drei Lanzentrupps zusammen. In zehn Minuten oben auf den Hügeln! Nehmt den Pferden die Decken ab, sie werden alles geben müssen! Wer sonst noch reiten kann, begibt sich zur Hauptstadt. Die nächste Welle wird sie treffen.«

Die drei Truppführer beeilten sich, ihre Reihen wieder aufzufüllen. Drei Trupps mussten reichen. Der Rest der Reiter sollte besser zurückkehren. Sie hatten ihrem Feind eine Niederlage zugefügt, und seine wuterfüllte Antwort würde nicht lange auf sich warten lassen.

Briga blickte angespannt zu Varg, als dieser im Galopp auf sie zuhielt. Sie hatten sich auf eine weiter hinten gelegene Hügelkuppe zurückgezogen, sodass sie im Notfall einen ausreichenden Vorsprung gehabt hätten.

»Für eins zu neun waren wir gar nicht so schlecht«, rief Varg den beiden entgegen.

»Eins zu zehn«, murmelte Savant vor sich hin.

Briga ging auf Vargs bitteren Scherz nicht ein. »Wie schlimm war es?«, fragte sie beunruhigt.

Nun wurde auch Varg wieder ernst: »Wir haben hohe Verluste erlitten. Ein Drittel der Reiter und über die Hälfte der Pferde sind tot, und die Hälfte der überlebenden Reiter und Pferde ist verletzt. Wir haben aber mächtig aufgeräumt und Dutzende Brecher erlegt. Drei kleine Bändiger haben den Feind gelenkt, zwei haben wir erwischt, aber ein paar Brecher und Therus sind uns leider entkommen. Wir setzen ihnen nach.«

»Eins zu zehn«, murmelte Savant erneut.

Bald hatten sich sämtliche Verfolger auf dem östlichen Hügel versammelt. »Mittlerweile haben wir die Bestätigung. Therus ist mit sechs großen Kreaturen in Richtung Regeneichenwald unterwegs«, berichtete Kjertan. »Sie sind von einem Turm aus beobachtet worden.«

Sie ritten los. »Sechs Brecher und ein Bändiger! Das ist doch mal eine Herausforderung«, rief Varg mit glühenden Augen.

»Eins zu sechsundsiebzig«, flüsterte Savant, ohne aufzublicken.

»Du unterschätzt uns Reiter«, erwiderte Varg. »Für mich steht es hundert zu sechs, und wenn du Therus mitzählst, dann eben hundert zu sieben.«

»Vierundneunzig«, korrigierte ihn Savant ohne aufzublicken. Vierundneunzig war die exakte Zahl an Reitern, die die Verfolgung aufgenommen hatten.

»Dann eben vierundneunzig zu sieben«, lachte Varg.

»Eins zu sechsundsiebzig«, wiederholte Savant mit energischem Kopfschütteln. »Eins zu sechsundsiebzig …«

»Lass ihn, Varg«, mahnte Briga, »reg Savant nicht grundlos auf!«

»Savant, wir werden sie nicht angreifen«, sagte Kjertan, darauf bedacht, seinen treuen Freund nicht zu beunruhigen. »Wir folgen ihnen vorerst nur …«

Savant reagierte nicht. Plötzlich lenkte er sein Pferd abrupt nach links. Er schien hoch konzentriert zu sein. »Er hat ihre Spur entdeckt«, freute sich Kjertan. Im Galopp ritten sie in Senken zwischen Hügeln entlang, immer weiter Richtung Westen.

»Wie macht er das?«, fragte Orve verwundert. »Was kann er denn da am Boden sehen?«

»Savant sieht die ganze Welt mit anderen Augen«, erläuterte Briga, nicht ohne Stolz auf ihren Gefährten. »Ich glaube, er sieht nicht wirklich Spuren, sondern erkennt kleinste Unterschiede auf dem Boden, die sich dann in seinem Kopf irgendwie zu einer Fährte zusammensetzen …«

»Vor dem Regeneichenwald patrouillieren etliche Hundertschaften, versucht nur, euch dort zu verkriechen …«, frohlockte Brander. Sie ritten schnell über die hügelige Landschaft.

»Wittert Askan schon etwas?«, fragte Kjertan. Briga schüttelte den Kopf. »Er ist ganz ruhig. Wir sind wohl noch zu weit weg.«

Nach zwei Meilen bog ein Reiter ab und hielt auf einen Beobachtungsturm der Bruderschaft zu, um neue Informationen zu erhalten. Die Türme bildeten ein dichtes Netzwerk und ragten allerorts in den Himmel. Bald hatte der Reiter zu den Verfolgern wieder aufgeschlossen: »Therus und die sechs Bestien wurden zwei weitere Male gesehen. Ganz eindeutig: Sechs Brecher und ein Bändiger, der getragen wird, wurden von gleich zwei Türmen gemeldet!«

»Das ist zu einfach«, warnte Briga, »fast hundert große Kreaturen haben es geschafft, ungesehen drei Bezirke zu durchqueren, und sechs Brecher schaffen es nicht, sich unseren Blicken zu entziehen …«

Kjertan nickte. »Entweder sie wollen, dass wir ihnen folgen, oder aber die Brecher sind nicht unter der Kontrolle eines Bändigers und daher zu dämlich, um sich aus dem Blickfeld der Türme zu halten.« Er drehte sich zu Varg. »Ist Therus vielleicht auf der Flucht gestorben?«

Varg schüttelte den Kopf. »Die Wurfdistanz war zu groß. Auch wenn ich ihn getroffen habe – er wird nicht schwer verletzt sein …«

Kjertan hob die Hand, und sofort hielten alle Reiter an. »Therus ist nicht bei ihnen. Diesen sechs Bestien nähern sich von allen Seiten Reiter. Kein Gebiet wird so eng überwacht wie der Regeneichenwald. Nein, Therus opfert die Brecher, um ungesehen entkommen zu können. Wahrscheinlich haben sie eine menschliche Leiche bei sich und den Auftrag bekommen, mit ihr in den Regeneichenwald zu laufen …«

»Aber Therus könnte überall sein«, rief ein Reiter missmutig.

Kjertan wendete sein Pferd. »Noch ist er uns nicht vollends entwischt. Wo immer er sich auch aufhält, er kann nicht weit weg sein. Wir reiten auf der Stelle zurück zum Turm. Wir brauchen mehr Informationen!«

Als sich die Reiter dem massiv gemauerten Turm näherten, öffnete sich im dritten Stock eine Luke. Die Wache war sichtlich nervös, eine so wichtige Persönlichkeit wie Kjertan zu treffen. »Seid gegrüßt, Herr! Habt Ihr die Verfolgung abgebrochen?«, fragte der Wachmann zögerlich.

Kjertan schüttelte den Kopf. »Gebt die Nachricht weiter, dass Therus Richtung Nordosten unterwegs ist. Er ist nicht bei den sechs Brechern. Wir setzen die Verfolgung in dieser Richtung fort. Die Türme sollen alle Auffälligkeiten zusammentragen, die sich im Nordosten des Zweiten Bezirkes zugetragen haben!« Die Wache nickte eifrig, dann ritten die Reiter auch schon weiter. Kjertan blickte noch einmal zurück. Die Turmbesatzung hatte sogleich begonnen, mit Spiegeln Signale an die nächsten Türme weiterzuleiten.

Es war bereits Nachmittag, aber sie würden noch einige Stunden Licht haben. Nach ein paar Meilen steuerten sie den nächsten Turm an. Wieder öffnete sich eine kleine Luke hoch oben im schweren Mauerwerk. Die Besatzung des Turms war bereits bestens im Bilde. »Herr, leider gibt es überhaupt keine Sichtungen. Nordöstlich von uns wurden alle Türme zerstört. Es sind Reiterpatrouillen unterwegs. Zwei Späher aus nördlicher Richtung sind allerdings überfällig …«

Varg schaute Kjertan an. Sie ahnten, was dies bedeuten könnte. »Herr, wir erwarten Verstärkung aus den Bergen …«, setzte die Wache hoch oben im Turm erneut an. Dem Mann gefiel der Gedanke nicht, dass sich Kjertan mit nicht mal hundert Reitern in dieses verlorene Niemandsland begeben wollte.

»Wir können nicht warten«, knurrte Varg.

Kjertan nickte. Aber sie wussten nicht, mit wie vielen Gegnern sie es zu tun hatten. »Es können nicht viele sein …«, dachte er laut nach. Sollte er sich jedoch irren und sie nun ihrerseits in eine Falle laufen, so würde der Wächter dieses Turmes der Letzte sein, der sie lebend gesehen hatte.

Kjertan musterte Briga und ihren Hund, der mit wachen Augen vor ihr auf dem Sattel lag. »Askan wird uns schon rechtzeitig warnen«, entschied er dann und hob erneut die Hand. »Wir reiten weiter!« Er blickte nach oben zu der Wache: »Wenn die Bergler hier eintreffen, sollen sie umgehend den Norden durchkämmen. So eine Chance kriegen wir vielleicht nie wieder!«

Keine drei Meilen waren sie geritten, da wies Varg Richtung Nordosten gen Himmel. »Dort kreisen Raben … ich fürchte, wir haben die fehlende Patrouille gefunden.« Wortlos lenkte Kjertan den Tross in diese Richtung. Zwei Pferde oder, besser gesagt, das, was von ihnen noch übrig war, lagen am Wegesrand.

»Brecher«, sagte Savant leise.

Kjertan blickte zu Askan, aber dieser verhielt sich weiterhin völlig ruhig. »Therus wird hier als letzte Absicherung ein paar große Bestien zurückgelassen haben. Er wird versuchen, sich so lange zu verstecken, bis die nächste Welle eintrifft.«Auf dem weichen Boden waren die Fußabdrücke mehrerer Ungetüme zu erkennen, die von den Pferdekadavern weiter nach Norden wegführten.

»Es sind vier gewesen«, sagte Varg voller Überzeugung.

Ende der Leseprobe