Die Schattenbrücke – Durch Feuer und Fels - E. G. Wolff - E-Book

Die Schattenbrücke – Durch Feuer und Fels E-Book

E. G. Wolff

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Beschreibung

Die Invasion beginnt ... Das fesselnde Finale der Hochland-Saga!  »Ein starker Wille kann Berge versetzen.«  Trotz aller Bemühungen erreichen die ersten Bestien das Hochland! Die Bruderschaft und die Rebellen haben sich für den finalen Kampf gegen einen übermächtigen Gegner zusammengetan. Währenddessen suchen Kjer, Freya und Aiko fieberhaft nach den Bruchstücken des roten Kristalls. Ihre letzte Hoffnung ist es, damit die Schattenbrücke zu zerstören. Neue Freunde und alte Verbündete eilen zu Hilfe – doch ihr Gegner ist gerissen und hinterhältig und die Zukunft des Hochlandes steht auf dem Spiel ...  Der packende Abschluss der Fantasy-Reihe  Beste Freunde, uralte Geheimnisse und eine düstere Bedrohung  Eine fesselnde High-Fantasy-Saga um Freundschaft, Mut und Vertrauen – für Fans jeden Alters, die J. R. R. Tolkiens »Der kleine Hobbit« liebten.

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Seitenzahl: 330

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© Piper Verlag GmbH, München 2021

Sprachredaktion: Uwe Raum-Deinzer

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Covergestaltung: Emily Bähr, www.emilybaehr.de

Covermotiv: Freepik (standret/unaihuiziphotography/shutter2u/kat_ka); Pexels (Tobias Bjørkli); Shutterstock.com (Triff/Kozyreva Elena)

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

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Inhalt

Cover & Impressum

Widmung

Karte

Kapitel 1: Heimkehr

Kapitel 2: Die Flucht

Kapitel 3: Ein hellenischer Geist

Kapitel 4: Der Angriff beginnt

Kapitel 5: Der Geist des Gerdis Thoosten

Kapitel 6: Neue Verbündete

Für Arne

 

 

Kapitel 1: Heimkehr

Ein erstes blasses Rot am Horizont kündete den Sonnenaufgang an. Eldrid saß bereits seit Stunden in der Kammer. Sie war verzweifelt. Und unbeschreiblich wütend auf Wigold, auch wenn die Sorgen um ihn überwogen. Sie hatten alles gemeinsam durchgestanden, und dann hatte er sie hintergangen. Es war kein gutes Gefühl, im wahrsten Sinne des Wortes so in den Wind geschossen worden zu sein. Und vor allem: Wie sollte Wigold diesmal dem fürchterlichen Gegner entkommen? Sie würde nicht zu ihm zurückfinden.

Nicht weit unterhalb der Kammer erstreckte sich ein scheinbar unendliches Meer. Schaumkronen bildeten sich auf den Wellenkämmen. »Wo bin ich nur?«, fragte sie sich. Lag dieses endlose Wasser auf dem Schattenland, oder war sie wirklich schon wieder auf der Erde? Sie hatte keinen Übergang bemerkt. Noch immer rauschte sie mit hoher Geschwindigkeit durch die Luft.

Langsam, aber sicher gewann die Kammer an Höhe. Vielleicht war dies ein gutes Zeichen. Sie fühlte einen Druck in der Magengegend. Die Kammer bremste ab. Eldrid wurde nervös. Falls sie es tatsächlich auf die Erde geschafft hatte, dürfte sich bald zeigen, ob sie die Klippe wirklich überwinden könnte oder nur ein Loch im Felsen sowie ein kleines Markierungskreuz in Hakons Klippenkarte im Beobachtungsposten von ihr übrig bleiben würde.

Eldrid klemmte sich an den schmalen Sehschlitz. Nach wie vor war nur Wasser in der Tiefe zu erkennen. Plötzlich ertönte ein lautes ratschendes Geräusch, und die Kammer begann wild zu trudeln. »Nicht schon wieder«, dachte Eldrid und klammerte sich, so fest sie konnte, an die kalte Haltestange aus Metall. Sie stürzte ab!

Eldrid machte sich auf einen harten Aufschlag gefasst, aber das Trudeln wurde wieder schwächer und ebbte dann ganz ab. Die Kammer verlangsamte weiterhin ihre Geschwindigkeit und blieb wenig später mit einem leisen Surren aufrecht stehen.

Vorsichtig näherte sich Eldrid der Luke und öffnete sie. Ihr Herz begann vor Freude zu hüpfen. Unweit von ihr erhob sich die Ruine eines alten Turms, und es roch, wie nur ein Sommer auf dem Hochland riechen konnte. Sie war wieder zu Hause!

Aber wo genau war sie? Vorsichtig stieg sie aus und sah sich um. Die Luft flimmerte, und die Hügel waren gelb vom verdorrten Gras. So lang war ihr Landeanflug nicht gewesen, vermutlich dürfte sie irgendwo im ersten Bezirk unweit der Klippe gelandet sein.

Die Kammer hatte einen ordentlichen Kratzer, und zwei dünne Äste hatten sich an der Außenwand verhakt. Dies war der Grund für das Trudeln gewesen. Sie war so knapp über die Klippe geflogen, dass sie die Wipfel des Grünen Gürtels noch gestreift hatte.

Die Kammer war auf maximale Verweildauer eingestellt. Sicherheitshalber sammelte Eldrid dennoch die wertvollen Pergamente und Buchseiten zusammen, die sich auf dem Boden verteilt hatten, und legte sie neben der Kammer ab. Eilig lief sie zum Turm und kletterte in dem losen Mauerwerk das einstige Treppenhaus hinauf. Im dritten Stock gab es eine Luke, deren Klappe längst verwittert war. Etwas außer Atem hockte sie sich in den breiten Mauerdurchlass und spähte hinaus. In ein paar Meilen Entfernung konnte sie den Grünen Gürtel erkennen, und dahinter verschwand die Welt in einem blassen Grau.

Zeit zum Verschnaufen blieb ihr jedoch nicht. Ein einzelner Reiter hielt im Galopp fast direkt auf den Turm zu. Er musste ihre Ankunft beobachtet haben und würde die Kammer mit Sicherheit entdecken. Sie kletterte so hastig vom Turm hinab, dass sie beinahe abgestürzt wäre. Wo um alles in der Welt sollte sie die Kammer in der kurzen Zeit verbergen? Unweit der Landestelle wucherte ein verwachsenes Sanddorngebüsch. Eilig begann sie die Kammer an der Kette in diese Richtung zu ziehen. Je weiter sie jedoch kam, desto größer wurde der Widerstand, mit dem sich die Kammer dem Verschieben widersetzte, als wollte sie auf der Ausgangsposition verharren. Schließlich hing Eldrid mit aller Kraft an der Kette, doch zum Gestrüpp fehlten immer noch einige Schritte.

Da donnerte der Reiter schon über den nächstgelegenen Hügel. Eldrid ließ die Kette los und griff nach ihrem Bogen. Mit einem einzelnen Reiter würde sie schon fertigwerden. Sie legte einen Pfeil ein und sammelte sich, dann jedoch erkannte sie den Reiter. »Hakon!«, rief sie erfreut aus.

»Eldrid?«, erwiderte dieser überaus verwundert. Bald sprang er neben ihr vom Pferd. »Ihr habt es tatsächlich geschafft«, sagte er. Er klang nicht sehr überrascht. Auch wenn er natürlich nicht damit gerechnet hatte, hier auf Eldrid zu stoßen, so hatte er dennoch nie an den beiden gezweifelt. »Wo um alles in der Welt seid ihr gewesen? Ich war gerade am Einsiedlerhof, als du über uns hinweggerauscht bist. Ist Wigold auch da?«

In eiligen Sätzen berichtete Eldrid, was alles geschehen war.

»Wir haben vielleicht fünf Minuten, dann wird die Bruderschaft hier sein«, unterbrach Hakon ihren Redefluss. »Die Zeit reicht niemals, um die Kammer zu verstecken, du musst hier weg …« Er drückte ihr die Zügel seines Pferdes in die Hand.

»Wo hält sich Gerdis Thoosten auf?«, fragte Eldrid. »Ich muss sofort zu ihm!«

»Wir wissen es nicht«, antwortete Hakon. Sein Gesicht drückte plötzlich große Sorge aus. »Angeblich erholt er sich von einer schweren Verletzung fernab der Hauptstadt, aber auch wenn Beeke nicht einmal uns erzählt hat, was sie erlebt hat, sie weiß etwas, und es gibt das Gerücht, dass er getötet wurde … Rodor Thoostedt wird wahrscheinlich bald die alleinige Macht an sich reißen. Und noch hartnäckiger hält sich das Gerücht, dass er der Kopf der Untergebenen ist …« Eldrid blickte ihn erschrocken an. »Hier hat sich einiges verändert in deiner Abwesenheit und nicht unbedingt zum Besseren … Freya, Kjer und Aiko sind verhaftet worden. Halte dich an Berno, du wirst ihn bald in seiner vielleicht wichtigsten Schauspielrolle erleben. Er ist noch nicht von Sonderermittler Rodor Thoostedt enttarnt worden. Beeke ist bei ihm in der Hauptstadt. Vielleicht wissen die beiden weiter. Du musst aufpassen, dass dich nicht die falschen Bruderschafter in die Hände bekommen.«

Eldrid zeigte auf die Kette der Kammer. »Binde sie fest! Sie darf auf keinen Fall zurückfliegen. Wir können mit ihr wieder ins Schattenland gelangen!«

»Ich werde mein Bestes geben, um die Bruderschafter zu überzeugen, dass sie die Kammer vorerst in Ruhe lassen. Wenn die Untergebenen allerdings davon erfahren, werden sie sie vielleicht zerstören wollen. Du musst unbedingt Hilfe holen und schnell zu den richtigen Bruderschaftern gelangen. Ein paar Münzen sind in der vordersten Satteltasche. Die Bevölkerung ist überwiegend schon informiert über das, was gerade geschieht, auch wenn es noch nicht alle glauben können. Falls dich irgendwelche Reiter abfangen, dann musst du erreichen, dass du zu Urda Thudor gebracht wirst. Auch sie sollte in der Hauptstadt sein. Findest du sie, dann findest du auch Berno! Wir stehen jetzt auf derselben Seite …«

»Mich erwischt niemand«, erwiderte Eldrid nur knapp, während sie die Buchseiten sauberer übereinanderlegte.

»Wahrscheinlich wird die Kunde von der Kammer vor dir in der Hauptstadt eintreffen, du kannst nicht die Bahn nehmen …« Hakon blickte nachdenklich drein. Es war einfach zu viel, was jetzt schiefgehen konnte, und strategische Planung war ohnehin nicht seine Stärke. »Wenn doch nur auch Wigold schon wieder zurück wäre …«

Eldrid blickte ihn verwundert und traurig an. Auf dem Rückflug hatte sie schon darüber nachgegrübelt, wie eine Rettungsmission zu ihm aussehen könnte, aber einfach würde es ganz sicher nicht werden, ihn da rauszuholen.

Hakon war ihr sorgenvoller Blick nicht entgangen: »Wenn du dir um den immer noch Sorgen machst, dann hast du etwas Grundlegendes bislang nicht verstanden …« Es war keine verzweifelte Hoffnung, sondern tiefe Zuversicht, mit der Hakon sie gerade anlächelte.

Eldrid war die Letzte, die ihm widersprechen wollte, aber sie wusste als Einzige, in was für einer aussichtslosen Falle sich Wigold bei ihrer Flucht befunden hatte.

Sie stopfte das Papierbündel in die Satteltasche und stieg auf. »Du musst es schaffen! Die Kammer muss hierbleiben!« Sollte die Kammer zurückfliegen, wäre Wigold endgültig auf sich allein gestellt.

Hakon blickte ihr hinterher, bis sie zwischen den Hügeln verschwunden war. Er versuchte gar nicht mehr, die Kammer zumindest notdürftig zu verstecken. Von der Klippenkante näherten sich bereits mehrere Reitertrupps.

Seelenruhig vertäute er die Flugkammer an dem Gebüsch. Mit den Verhörtechniken der Bruderschaft kannte er sich ja bereits aus. Er würde einfach behaupten, dass er die Kammer leer vorgefunden und gesichert hatte. Selbst wenn sie ihm nicht glauben sollten – so unruhig wie die Gesamtlage gerade auf dem Hochland war, würde er die Reiter schon davon überzeugen können, dass sie die Kammer vorerst bewachten. Und außerdem – die Reiter hier draußen am Ende der Welt, fern der Ränkespiele der Hauptstadt, waren alle dem Sonderermittler Gerdis Thoosten treu ergeben gewesen. So gefestigt war Rodor Thoostedts Macht noch nicht, und wer weiß, vielleicht würde Gerdis Thoosten ja schon bald wieder in Erscheinung treten …

 

Eldrid ritt nach Osten. Die große Politik wurde in der Hauptstadt gemacht. Folglich musste sie dorthin, um die Nachrichten und wertvollen Dokumente aus dem Schattenland den richtigen Personen zu überbringen. Sie hatte so großen Hunger. Sie würde schon irgendwo auf einen Bauernhof stoßen. Was musste sich in ihrer Abwesenheit alles verändert haben, wenn Berno gemeinsame Sache mit der Magistratin machte?

Kapitel 2: Die Flucht

Wigold saß auf dem kalten Boden der Flugvorrichtung der Trolle. Von außen hämmerten die Trolle gegen die Türen, doch er hatte keine Angst, und natürlich hatte er nicht aufgegeben. Er wirkte ernst und konzentriert. Dann endlich erhellte ein Lächeln sein Gesicht.

Er hatte eine Abdeckung vom Steuerpult gerissen und untersuchte gerade das darunter Verborgene. Und endlich hatte er ertastet, was er gesucht hatte. Das Steuerpult war tatsächlich nahezu baugleich mit dem Steuerpult in der Flugvorrichtung im Regeneichenwald. Wahrscheinlich hatte Asradiel sich so einiges bei den Trollen abgeguckt, bevor er Kjertan damals beim Bau der Flughalle auf dem Hochland geholfen hatte.

Zielsicher griff Wigold hinein, riss zwei Zahnräder heraus und brach nach kurzem Zögern einen dünnen Metallstift ab, dann legte er, noch auf der Rückseite des Steuerpultes stehend, einen Schalter um. Schon begann sich eine Kammer in die Startposition in der Mitte zu bewegen.

Die erste Tür splitterte auf. Mehrere kräftige Trollarme griffen durch das Türblatt hindurch.

Wigold legte einen weiteren Hebel um und spurtete zur Kammer, die noch nicht ganz die Startposition erreicht hatte.

Die Brecher zerfetzten das geschwächte Holz, und das Tor gab endgültig nach. Krachend flogen Holzbretter umher, und ein paar große Trolle drängten hindurch. Wigold riss die Luke der Kammer auf, sprang auf die schweren Eisengewichte und umklammerte die Haltestange. Die Trolle kamen brüllend auf ihn zugestürmt.

Direkt hinter den ersten großen Brechern folgte ein kleiner Bändiger. Für einen kurzen Augenblick trafen sich die Blicke von Wigold und dem nunmehr einäugigen Troll, in dessen linkem Auge immer noch Eldrids Pfeil steckte. Nur Bruchteile einer Sekunde bevor die vordersten Brecher die Kammer erreichten, hatte diese den Startpunkt erreicht und schoss, ohne aufgeladen worden zu sein, in den Nachthimmel, während Wigold sich mit aller Kraft festhielt.

Er hatte den magnetischen Auflademechanismus unterbrochen. Er wusste weder, wie weit die Kammer fliegen würde, noch, in welche Richtung er unterwegs war. Im Grunde flog die Kammer auch nicht, sondern war wie ein Stein loskatapultiert worden.

Eines jedoch wusste Wigold: Die Landung dürfte nicht viel sanfter werden als ihre Bruchlandung im Sumpf. Im Gegenteil. Auf einen weichen, den Aufschlag dämpfenden Untergrund durfte er nicht hoffen. Und diesmal teilte er sich die Kammer mit zentnerschweren, nicht vertäuten Eisenbarren.

Sogleich hockte er sich hin und schob mit den Füßen den ersten Barren durch die geöffnete Luke hinaus. Gerade flog er über eine hell erleuchtete große Fertigungshalle hinweg. »Das dürfte ein ordentliches Loch ins Dach schlagen«, dachte er sich mit einem kurzen Anflug von Genugtuung, während bereits der nächste Barren im Dunkel der Nacht verschwand.

In dem Moment, in dem er den letzten Barren herausgeschoben hatte, sah er ein Licht näher kommen. Er hatte schon fast wieder den Boden erreicht! Mit aller Kraft und keine Sekunde zu früh klammerte er sich abermals fest, aber kaum war die Kammer auf dem Boden aufgeschlagen, konnte er sich nicht mehr halten und wurde, seinen Kopf mit den Händen schützend, in der Kammer umhergeschleudert. Der Aufschlag war viel härter als beim ersten Absturz! Er nahm noch wahr, wie die Außenluke abgerissen wurde, während er an die Außenwand gepresst wurde.

Dann riss die Kammer auf, und Wigold wurde in hohem Bogen herausgeschleudert und blieb mehr tot als lebendig auf dem Boden liegen. So schnell würde er nicht mehr aufstehen. Alles tat ihm weh, wahrscheinlich hatte er mehr gebrochene als ganze Knochen. Unweit von ihm rasselten ein paar Rogoks, die Trolle betrieben hier wohl so etwas wie Viehwirtschaft. In der Ferne nahm er wie im Traum noch die Lichter der Stadt wahr. Mit letzter Kraft ergriff er fest das Gras unter seinen Händen und blickte in den Himmel. Die Sterne über ihm schienen zu flimmern, dann fielen ihm die Augen zu.

Kapitel 3: Ein hellenischer Geist

Langsam näherte sich die Sonne dem Horizont. Auch das Meer schien zur Ruhe zu kommen. Ein paar Basstölpel flogen zu ihren Ruheplätzen in der Klippe. Die Abenddämmerung brach herein. Endlich. Denn während Freya, Kjer und Aiko sich entschieden hatten, die Hochlandklippe bei Tageslicht zu überwinden, plante Elektra, bis zum Einbruch der Nacht zu warten. Als Piratin rechnete sie ohnehin nie mit einem freundlichen Empfang, ganz egal, wo sie an Land ging. Die Nacht war daher ihre Verbündete, und von den gefährlichen Strömungsverhältnissen, die direkt an der Klippe vorherrschten, ahnten Elektra und ihr Vater Oréstis nicht das Geringste.

Die Pollux nahm Fahrt auf. Mit eingeholten Segeln, aber kräftigen Ruderschlägen näherten sie sich nun der Steilküste. Sie konnten ruhig beim letzten Licht an der Klippe ankommen, denn im gleichen Maße, wie sich von unten die Spitzen der Kräne in Luft aufzulösen schienen, würde auch ihr Schiff von oben im schwindenden Licht der blasser werdenden Sonnenstrahlen bald nicht mehr zu erkennen sein.

»Ruder halt! Volle Kraft zurück«, rief Oréstis plötzlich, »wir sind viel zu schnell!«

Obwohl die Ruderer sich sogleich mit aller Kraft in die Riemen legten, schien das Schiff gerade einmal auf der Stelle stehen zu bleiben. »Wir wechseln den Kurs. Wenn wir jetzt beidrehen, können wir uns noch aus der Strömung befreien!«, gab Oréstis seine Absicht kund.

Sofort stand Elektra neben ihrem Vater: »Das geht nicht. Wir lassen uns doch nicht bestehlen! Bring mich an eine dieser Ketten dran, und dann könnt ihr beidrehen!«

»Wir könnten dir nicht helfen, wenn dir irgendetwas oben zustößt!«, erwiderte Oréstis entschieden. »Wir werden eine Weile benötigen, bis wir wieder eine sichere Warteposition erreicht haben …«

»Mir passiert schon nichts! Wir sind doch nicht diesem Schiff bis hierhin gefolgt, um nun aufzugeben, Vater!«, widersprach Elektra wie so oft. »Deckt euch irgendwo mit frischem Proviant ein und wartet in Sichtweite der Klippe auf mich. Ein paar Wochen werde ich schon ohne euch auskommen! Ich werde euch ein Zeichen geben, sobald ich den Stein habe: Ein großes Feuer direkt an der Klippenkante, das ich dreimal verdecken werde. Dann sollt ihr mich am nächsten Abend abholen, und falls das nicht möglich ist, so finde ich einen anderen Weg nach Hause. Aber zuerst hole ich unseren Kristall zurück!«

Oréstis kannte seine Tochter. Er würde ihr sogar zutrauen, dass sie ins Wasser springen und sich zu der Klippe treiben lassen würde, wenn sie jetzt nicht ihren Willen bekam. »Ich hoffe, du weißt, was du tust«, erwiderte er zögerlich. »Wenn wir dich an der Klippe absetzen, werden wir einige Zeit benötigen, bis wir wieder hier sein können, wer weiß, wie lange es dauert, bis die Strömung nachlässt und wir hierher zurückkehren können …«

Er gab ein Handzeichen. Die Ruderer stellten ihre Tätigkeit ein, und die Pollux nahm erneut Kurs auf die Klippe. Nach einer kurzen Pause setzten die Ruderer jedoch abermals ein, um die Anlandung zumindest zu bremsen. Mit ihrer Ausrüstung und mit einem Enterhaken bewaffnet, stellte Elektra sich auf die Reling.

»Bis bald, Vater«, rief sie zum Abschied, die Pollux näherte sich der ersten Kette. Die Männer zogen die Ruder zu sich, Elektra hakte sich elegant in die Kette ein und entschwebte dem Deck. Oréstis fluchte. Die Strömung war stärker als erwartet. Etliche Ruderblätter brachen, als die Männer diese nun sogleich wieder ausfuhren und gegen die Klippe stemmten.

Während die Pollux wieder Abstand zum Fels gewann, blickte Oréstis seiner Tochter hinterher, die sich alsbald im Nachthimmel aufzulösen schien. Nun galt es, das Schiff sicher an der Klippe vorbeizusteuern und irgendwann wieder die Kontrolle über die wilde Fahrt zu gewinnen.

Elektra machte es sich derweil auf einem Schöpfeimer gemütlich und erreichte sicher die Klippenkante. Nur ein kurzer Augenblick blieb ihr, um das durch Straßenlaternen erhellte Fiskheym sowie die komplexe Mechanik und die unzähligen Zahnräder des Kranantriebes von oben zu bewundern, dann sprang sie geräuschlos in den Fangtrichter, wich behände einer Salzwasserdusche aus und kletterte auf den Salzplatz hinab. Sogleich verschwand sie zwischen den unzähligen Ochsen, die unweit des Krans den Seilzug antrieben, und löste sich ein zweites Mal scheinbar in Luft auf. Niemand hatte sie gesehen …

Kapitel 4: Der Angriff beginnt

Drei Tage waren vergangen. Hakons Zeit im Beobachtungsposten war vorbei. Schweren Herzens überließ er diese Aufgabe nun Solveigh und Frerich allein. Er durfte sich frei bewegen, aber die Bruderschaft ließ ihn nicht mehr aus den Augen. Zwar hielt man es für am wahrscheinlichsten, dass die Kammer leer gewesen und Hakon durch einen Zufall als Erster an der Landestelle angekommen war. Aber es war schon ein merkwürdiger Zufall. Sicher konnte er nicht in der Kammer gesessen haben, denn wie sollte er da hineingekommen sein, zumal er nachweislich am Vortag noch in Fiskheym gewesen war. Vielleicht war auch jemand anders oder etwas anderes in der Kammer gewesen, irgendwas schien er jedenfalls zu verbergen.

Selbstverständlich durfte er sich der Flugkammer nicht mehr nähern. Zwei Hundertschaften an Reitern bewachten sie, während ein schwer befestigtes Lager um diese herum errichtet wurde. Auch wenn die Reiter nicht wussten, wie sie diese Kammer zu ihrem Vorteil gegen die Trolle nutzen könnten, eines war sicher: Sie würde noch sehr wichtig werden.

»Wenn’s drauf ankommt, entwische ich euch schon«, dachte sich Hakon, als er den Einsiedlerhof am nächsten Morgen verließ, um zwei große Laib Käse zur Taverne zu transportieren. Da zischte es plötzlich in der Luft. Hakon blickte nach oben. Mehrere Kammern flogen über ihn hinweg. Sie waren noch zu schnell, als dass sie in unmittelbarer Nähe landen würden.

Sofort trieb er sein Pferd an und hetzte einem der nächstgelegenen Türme entgegen. Aus der Ferne erklang ein unheimliches Donnergrollen, als ob die Kammern zu Boden gegangen wären. Es hörte sich anders an als das massive Krachen in die Klippe.

Hakon kannte diesen Teil des Hochlandes wie seine Westentasche. Ehe die ihm folgenden zwei Reiter der Bruderschaft den Turm erreichten, hatte er bereits das Dach erklommen. Wenige Meilen entfernt stiegen schwarze Rauchsäulen in den Himmel. Es brannte. »Brandwaffen«, dachte Hakon, »wenn das alles ist, was ihr könnt …« So ausgetrocknet war der Boden in diesem Sommer noch nicht, und die Bruderschaft hatte das gesamte westliche Hochland mit Brandschneisen unterteilt. Außerdem landeten die Kammern im Nirgendwo. Nicht ein einziger Hof war durch die Brände gefährdet.

Wie aus dem Nichts tauchten weitere Kammern auf. Sie flogen sehr tief, wahrscheinlich waren etliche an der Klippe hängen geblieben. Sie steuerten das Brandgebiet an, und als sie auf dem Boden aufschlugen, stiegen hohe Feuersäulen empor. Als ob sie mit brennendem Teer gefüllt gewesen wären. Schwarzer Rauch quoll hervor.

Dann entdeckte Hakon etwas, das wesentlich gefährlicher wirkte: Aus den Rauchschwaden, die sich zu einer geschlossenen Decke vereinigt hatten, flogen zwei Kammern heraus, den Rauch hinter sich verwirbelnd, und schossen zurück – über die Klippenkante hinweg. Zwei Kammern waren nicht explodiert!

Als Wigold die Bruderschaft letztes Jahr in der Hauptstadt herausgefordert hatte, hatte er ein schönes Gleichnis verwendet, das Hakon nun wieder in den Sinn kam: Sie müssten für so viele Rauchschwaden sorgen, dass die Bruderschaft das wahre Feuer nicht entdecken könnte … Das Ganze war ganz bestimmt ein Ablenkungsmanöver! Die beiden Kammern waren sicherlich nicht leer gewesen …

Am liebsten wäre Hakon sofort zur Brandstelle geritten, er wollte unbedingt wissen, wer oder was sich in den zurückfliegenden Kammern befunden hatte. Aber seine Bewacher hatten bereits den Turm erreicht und ebenfalls das Dach erklommen.

»Du hast hier oben nichts verloren«, sagte einer der beiden Reiter streng.

»Der Feind ist da«, erwiderte Hakon, »es hat begonnen …«

Die beiden Reiter gingen nicht auf Hakons bedrohliche Aussage ein. »Darum kümmern sich andere, das ist nicht unsere Aufgabe – und schon gar nicht deine!«, erwiderte der zweite Reiter sehr bestimmt. »Unsere Aufgabe ist es allerdings, zu verhindern, dass irgendwelche ungeprüften Behauptungen für Panik sorgen. Nach Fiskheym darfst du jetzt nicht mehr, du wirst uns begleiten müssen!«

Kapitel 5: Der Geist des Gerdis Thoosten

Der Kjertansplatz war zwar so groß, dass sich riesige Menschenmassen auf ihm versammeln konnten, dennoch reichte er heute nicht für all die Hochländer aus, die dem Stadthaus entgegenstrebten. Auch die Seitenstraßen, die zu dem zentralen Platz führten, waren mit Menschen verstopft. Jeder wusste, dass heute etwas Entscheidendes passieren würde.

Leif stand unauffällig weit vorne in der Menge und blickte nach oben. Dort vor ihm betrat soeben der verhasste Sonderermittler Rodor Thoostedt einen Balkon, bereit für die größte Rede seines Lebens.

Arvid stand direkt neben Leif. »Zwinkere nur einmal mit den Augen, und ich schieße ihn von da oben runter«, knurrte er grimmig.

»Du hast doch nicht etwa eine Waffe dabei?«, erwiderte Leif mit gespieltem Tadel. Als ob Arvid je wie gefordert die Innenstadt ohne Waffen betreten hätte.

»Werte Hochländer Bürger«, begann Rodor Thoostedt seine Rede, »es ist Zeit für die Wahrheit! Es ist Zeit für eine neue Ehrlichkeit!«

»Du hast gezwinkert!«, flüsterte Arvid.

»Natürlich habe ich gezwinkert, die Sonne blendet mich. Halte dich zurück! Wenn wir jetzt angreifen, gibt es einen Bürgerkrieg … Die Falle ist gestellt. Wir werden hier unten nur aktiv, wenn es schiefgeht …«

»Als Erstes muss ich euch mitteilen, dass die Gerüchte bezüglich meines verehrten Kollegen Gerdis Thoosten leider wahr sind. Unser hochgeschätzter Sonderermittler wurde getötet. Die Umstände seines Verschwindens und seiner Ermordung sind unklar. Wem hat sein Tod genutzt? Wer hat seine Macht und seine Befugnisse übertragen bekommen?« Ein Murmeln ging durch die Menge. Rodor Thoostedt setzte ein gütiges Lächeln auf. »Aber natürlich gilt auf dem Hochland immer die Unschuldsvermutung. Ich verspreche, ich werde diesen Mord bis ins kleinste Detail aufklären!« Das Murmeln verstärkte sich. Die Menge wurde unruhig. »Jawohl, ich spreche von Mord!«, rief der Sonderermittler hinab. »Ich glaube nicht mehr, dass Gerdis Thoosten am Leben ist. – Und daher erkläre ich mich hiermit laut Rechtsverordnung der Bruderschaft zum alleinigen Sonderermittler und Befehlshaber über alle Reiter und Wachen!«

Urda Thudor, die eng von ihr ergebenen Reitern umringt mit dem Sonderermittler auf dem Balkon stand, hatte wie versteinert zugehört. Es war völlig klar, auf wen sich Rodor Thoostedts Anschuldigungen bezogen. Sollte sich der verräterische Sonderermittler mit seinem Plan heute durchsetzen, wäre sie in größter Gefahr.

Sie hatte genug. Sie trat einen Schritt vor, um von der Menschenmenge besser wahrgenommen zu werden. »Ich widerspreche Rodor Thoostedt ganz entschieden! Aber nicht in jedem Punkt. Ja, es ist Zeit für Ehrlichkeit und die schonungslose Wahrheit. Mein Sonderermittler Gerdis Thoosten lebt noch, er ist immer noch sehr schwach, aber er wird gleich zu euch allen sprechen! Und er wird euch mitteilen, wer für seine schweren Verletzungen verantwortlich ist. Er musste sich im Verborgenen halten, da sein Leben aus dem innersten Kern der Bruderschaft heraus bedroht wurde.«

Rodor Thoostedt wurde blass im Gesicht. Konnte dies stimmen? Da wurde nur wenige Balkone weiter eine Tür aufgerissen, und eine ernst dreinblickende ältere Person mit Pferdewappen am Kragen trat heraus. Ein Murmeln setzte auf dem Platz ein. Die Masse schien die Person zu erkennen: »Werte aufrechte Bürger«, begann Gerdis Thoosten seine Rede, »der Feind ist unter uns! Es stimmt, es hat ein Mordkomplott gegen mich gegeben, und es wurde vom Anführer der Untergebenen geplant.« Er stützte sich mit der linken Hand auf einen Stock. Mühsam hob er den rechten Arm und zeigte direkt auf Rodor Thoostedt: »Eines kann ich euch versichern. Er steht dort drüben auf dem Balkon! Wir haben gestern mehrere Untergebene fangen können. Die Verhöre laufen gerade. Noch heute werden wir erfahren, wer der Kopf der Untergebenen ist!«

Auf dem Platz begann sich Unruhe breitzumachen. Die Menschen wussten nicht, was sie glauben sollten. Unzählige jubelten, weil der im Volk beliebte Sonderermittler noch am Leben war.

»Erschreckend, der sieht wirklich genau so aus wie unser Sonderermittler«, flüsterte Arvid. Leif war sehr angespannt. Sie hatten alles auf eine Karte gesetzt und pokerten gerade extrem hoch. Dann wurde es wieder still, denn Berno, der sich gerade als Sonderermittler ausgab, sprach weiter:

»Es ist Zeit für neue Ehrlichkeit! Fast alles, was an den Nachrichtenaushängen in den letzten Wochen geschrieben stand, ist wahr! Die Untergebenen bereiten die Rückkehr der Trolle vor! Aber sie werden ihr Ziel nicht erreichen!« Nun brach endgültig Unruhe aus. Es war ein eigenartiges Gemisch aus Angst und Beifallsbekundungen.

»Aber wir können die Trolle diesmal schlagen! Wir haben Kundschafter zu ihnen geschickt. Wir wissen, was sie planen! Die Trolle wollen einen roten Kristall haben. Wir verwahren diesen sicher im Keller des Stadtgebäudes! Wir Hochländer werden niemals gemeinsame Sache mit diesen Kreaturen machen. Gleich nach meiner Rede werde ich den Kristall zu Staub zerschlagen! Niemals werden wir uns beugen!«

Vier muskelbepackte, hünenhafte Bergler bahnten sich einen Weg durch die Menge. Und Beeke. Sie führten den schwarz gekleideten Attentäter mit sich, den Beeke im Wald abgefangen und mit Purzels Hilfe zum Reden gebracht hatte. Er war gefesselt und geknebelt. Sie hielten genau unter dem großen Balkon von Rodor Thoostedt an.

»Wir haben hier den ersten Zeugen!«, rief ein Bergler mit lauter Stimme. »Wir können nun beweisen, wer hinter dem Attentat auf Gerdis Thoosten steckt!«

»Bringt ihn hoch auf den Balkon«, forderte der vermeintliche Gerdis Thoosten, »dies interessiert bestimmt alle!«

Die Stimmung auf dem Platz stabilisierte sich. Alle starrten gebannt empor. All dies war so schnell geschehen, dass der verräterische Sonderermittler Rodor Thoostedt es nicht hatte verhindern können. Bald schon würde der von ihm entsendete Attentäter oben am Balkon ankommen.

Von der Menge unbemerkt, verschwand Rodor Thoostedt von der Bildfläche. Leif und Arvid hatten sein Verschwinden jedoch genau registriert, und sie wussten, wo er hinwollte.

Der Sonderermittler musste glauben, dass Gerdis Thoosten irgendwie überlebt hatte. Dieser war Rodor Thoostedt an Macht und Einfluss mindestens ebenbürtig gewesen. Es war durchaus möglich, dass er im Verborgenen Nachforschungen angestellt hatte und von den versprengten, verbliebenen Untergebenen, die beim Kampf um die Ruine übrig geblieben waren, welche hatte ergreifen können. Und nun war da unten auf dem Platz gerade gefesselt und geknebelt Rodor Thoostedts einstmalige rechte Hand wieder aufgetaucht, die seit dem Attentat auf Gerdis Thoosten verschollen gewesen war.

War es auszuschließen, dass ihn dieser Scherge verraten hatte? Wer konnte wissen, wie die Bergler ihn gefoltert hatten.

Für Rodor Thoostedt war es plötzlich sehr eng geworden. Leif wusste, dass der Sonderermittler für sich jetzt nur noch eine Rettung sehen konnte: Er würde versuchen, die Stadt zu verlassen, aber er würde auch nichts unversucht lassen, um den roten Kristall den Trollen auszuhändigen.

In einem Raum im Stadthaus warteten etliche bewaffnete Reiter. »Es geht los«, sagte Leif und fing sein Schwert auf, das ihm ein Reiter wortlos zugeworfen hatte.

Die bewaffneten Männer eilten einen langen Gang entlang, vorbei an einem Innenhof mit Goldfischbecken, und eine Treppe hinab in den Keller. Unter dieser Treppe hatten sich im vorletzten Sommer Freya, Kjer und Aiko verborgen. Und die Kellertür, die ihnen damals den Weg versperrt hatte, war ein fast unbekannter Zugang zu den Bereichen der Bruderschaft. Streng gesichert wurde der Kristall hinter diesen Türen aufbewahrt, und dort würde Leif den verräterischen Sonderermittler abfangen, der bald von einer anderen Seite aus diesen Bereich erreichen würde.

Unerwarteterweise stand vor diesem Zugang jedoch Rambod Thorman mit etlichen Wachen und versperrte Leif und Arvid den Weg.

»Auf Befehl des einzigen Sonderermittlers, ihr kommt hier nicht durch!«, schrie er ihnen entgegen, »Zwingt mich nicht, hier im Stadtgebäude die Waffe zu ziehen!«

»Rambod, du hast keine Ahnung, was da draußen gerade vor sich gegangen ist! Dein Sonderermittler will den Stein stehlen!«, rief Leif zunehmend verzweifelt.

»So ein Blödsinn, er hätte doch immer Zugang zu dem Stein – im Gegensatz zu euch …« Er musterte Leif und Arvid abschätzig. »Er hat mir aufgetragen, niemanden hier passieren zu lassen, während er sich zum einzigen Sonderermittler ernennt!«

»Er ist bereits beim Stein, er will ihn mitnehmen! Du wirst es mir jetzt noch nicht glauben, aber dein Sonderermittler Rodor Thoostedt ist der Kopf der Untergebenen, wir haben ihn überführt, er befindet sich im Grunde genommen bereits auf der Flucht!«

Arvid legte die Hand an seinen Schwertknauf. »Wir haben jetzt keine Zeit für Diskussionen«, knurrte er.

Leif sah Rambod ernst an: »Rambod, dies ist wirklich kein Trick! Wenn das, was ich sage, nicht stimmt, wenn wir Rodor Thoostedt nicht jenseits dieser Tür antreffen, dann gehört dir mein Rappe Ve. Ich gebe dir mein Ehrenwort!«

Rambod blickte ihn verunsichert an. »Ve gehört mir, wenn wir hinter den Türen nicht auf den Sonderermittler stoßen?«

»Ja, es sei denn, der Sonderermittler war bereits da, und der Stein ist verschwunden!«

Rambod nickte. Natürlich hatte er großes Interesse an Ve, aber es beunruhigte ihn, dass Leif sein unbezahlbares Pferd verwettete. »Öffne die Türen«, befahl er einer der Wachen, die sofort mit einem schweren Schlüsselbund die äußerste Tür aufmachte. Gleich dahinter kam eine weitere Tür mit einem Sicherheitsschloss zum Vorschein, vor der zwei weitere Wachen saßen. Leif erkannte sofort, was geschehen war, als die Wache nach umständlicher Schlüsselsuche auch diese Tür geöffnet hatte.

Zwei Wachen standen verwirrt im Raum umher, und von einer Tür, die zu einem kleinen Kellerraum führte, erklangen laute Klopfgeräusche. Verzweifelt trommelte jemand gegen das Holz. Und der Tisch, auf dem der Kristall für gewöhnlich lagerte, war leer.

»Wo ist der Stein?«, schrie Rambod zornig.

»Sonderermittler Rodor Thoostedt hat ihn soeben mitgenommen« – wieder hörten sie lautes Klopfen und Rufen aus der Kammer – »und uns befohlen, Doctorus Thirvelt in die Kammer zu sperren«, stotterte die eine Wache.

»Sofort aufmachen!«, befahl Rambod barsch, ihm fiel es schwer, eine logische Erklärung jenseits von Leifs Anschuldigung zu finden.

»Wir müssen ihn aufhalten«, keuchte Keke Thirvelt, sobald er wieder befreit war, »er wird den Stein den Trollen übergeben!«

»Zu den Pferden!«, rief Rambod. Sie waren zu spät gekommen, er höchstpersönlich hatte die Reiter entscheidend aufgehalten. War es möglich, dass sein Sonderermittler solch ein Verräter war, dass er selber, Rambod Thorman, unwissentlich dem größten Feind des Hochlandes zugearbeitet hatte? Aber noch hatte der Kristall die Stadt nicht verlassen …

Kapitel 6: Neue Verbündete

Wigold fühlte sich nicht in der Lage, sich zu bewegen oder auch nur die Augen zu öffnen. Ein pulsierender Schmerz durchzog seinen Körper. Mühsam spuckte er Blut aus. Solche Schmerzen hatte er noch nie gespürt. Aber irgendetwas stupste ihn fortwährend an und versuchte ihn zu wecken. Konnte es sein, dass ein Rogok ihn gerade abschleckte?

Hinter ihm schlugen mehrere Objekte dumpf auf dem Erdboden ein. Brecher brüllten. Es war ein sonderbares Gemisch aus Wut- und Schmerzgeschrei.

Wigold wusste, was es bedeutete. Die Trolle waren ihm ohne Rücksicht auf Verluste mit ein paar Katapultstarts gefolgt, aber durch das höhere Gewicht nicht ganz so weit geflogen und etwas früher abgestürzt. Sicherlich würden sie auch Blessuren davongetragen haben, aber sie waren wesentlich robuster gebaut, und die Haltestangen in den Kammern waren auf ihre Größe ausgelegt.

Außerdem würde ein einziger halbwegs unverletzter Brecher ausreichen, um Wigold den Rest zu geben oder, noch schlimmer, ihn lebend gefangen zu nehmen. Das Wesen, das ihn gerade bearbeitete, schnaubte aufgeregt. Wigold kannte dieses Geräusch. Nein, es war kein Rogok.

Mühsam öffnete er die Augen und blickte in die großen dunklen Augen eines Pegasus. Ein weiteres Mal stupste das Wesen ihn vielleicht ein wenig zu fest an und legte sich dann flach neben ihn. Wigold nahm all seine Kraft zusammen und hob seinen Kopf. Etliche Brecher kamen brüllend auf ihn zugelaufen. Sie waren vielleicht noch eine halbe Meile entfernt.

Wigold wollte der Aufforderung des Pegasus Folge leisten, konnte aber seine Beine nicht bewegen und sackte zurück. Es fühlte sich so an, als ob er mit einem mit Steinen gefüllten Rucksack vom Meer bis zum Hochland die Klippe emporklettern müsste. Aber er musste es schaffen!

Er konzentrierte sich, schlang seinen linken Arm um den Hals des Wesens. Ein Schrei entfuhr ihm, als er sich unter größter Kraftanstrengung auf den Rücken des Pegasus hinaufzog. Mit beiden Armen umklammerte er dessen Nacken. Das weiße Fell färbte sich an mehreren Stellen rot. Ganz vorsichtig erhob sich der Pegasus, schien noch einmal seine Ladung behutsam zurechtruckeln zu wollen, dann setzte er sich erst ganz sanft in Bewegung, um dann sogleich in gestreckten Galopp überzugehen, denn die Trolle waren bis auf wenige Schritte herangekommen.

In genau dem Moment, in dem Wigold spürte, dass er den nächsten Galoppschlag nicht mehr würde aushalten können, und sein Haltegriff sich löste, breitete das Wesen seine Flügel aus und erhob sich in die Lüfte. Mit kräftigen Flügelschlägen gewann es schnell an Höhe. Wigold kämpfte darum, bei Bewusstsein zu bleiben. Einmal noch wäre er fast hinabgestürzt, als der Pegasus einem Speer auswich, dann flogen sie hoch genug, und der Pegasus ging in einen gleichmäßigeren Flug über. Das sich schnell entfernende Wutgeheul der Brecher war unbeschreiblich.

»Bring mich zu Azariel«, flüsterte Wigold matt. Er wusste nicht, ob der Pegasus ihn verstehen konnte, dann verließen ihn die Kräfte endgültig, und er verlor abermals das Bewusstsein.

 

Durch einen stechenden Schmerz wachte Wigold irgendwann wieder auf. Der Stich kam aber nicht aus seinem Inneren, sondern war rein äußerlich. Er öffnete die Augen und fand sich am Rande einer kleinen Lichtung im schattigen Gras liegend wieder. Hell und friedlich schien die Sonne vom wolkenlosen Himmel herab, und ein paar kleine harmlose geflügelte Wesen, die man am ehesten als Marienkäfer mit Schmetterlingsflügeln beschreiben konnte, wuchteten ihre etwas zu schweren Körper in ruckeligen Flugbewegungen durch die Lüfte.

»Immer macht ihr alles falsch«, hörte Wigold Azariels vorwurfsvolles Stimmchen. Diese Elowe war es auch, die ihn mit einem Stock aus Regeneiche pikste.

»Immer brecht ihr euch alle Knochen«, ergänzte Evidel.

»Nicht alle«, lachte Eldariel, »aber es wäre leichter, die heilen Knochen zu zählen …«

»Es wird Zeit, euer Heilmittel zu trinken. Ihr habt die Trolle geärgert, und wir mögen es, wenn die Trolle geärgert werden. Außerdem habt ihr nicht nur Weißwind, sondern auch noch Weißfell befreit, und wir mögen es, wenn diese nicht gefangen sind.«

Im Hintergrund, am Rande der Lichtung, sah Wigold zwei Pegasi stehen. Das weiße Fell strahlte im Sonnenlicht. Sie blickten in den Himmel, als ob sie nach Greifen Ausschau hielten, schienen aber keine Angst zu haben.

Wigold hatte keine Kraft, um sich über Greifen Gedanken zu machen, selbst eine einzelne Zinsel wäre gerade ein überlegener Gegner gewesen. Evidel hielt ihm einen übergroßen Becher aus Regeneichenholz mit einem stinkenden Sud entgegen. Das Gebräu ähnelte stark dem Sud, den Eldrid nach ihrer Verletzung hatte trinken müssen, abermals schwammen klein gehackte Blätter darin, nur diesmal war er deutlich dickflüssiger. Unter größter Anstrengung schaffte er es, den Sud zu trinken, den ihm Evidel nun kurzerhand an die Lippen hielt, dann schloss er erneut die Augen.

Kapitel 7: Wer mit dem Feuer spielt

Auch Leif spürte einen Schmerz in seiner Schulter, aber er achtete nicht darauf. Fast hätte er den verräterischen Sonderermittler noch erwischt, aber dieser hatte hinter sich zusätzlich eine hölzerne Zwischentür verriegelt, und bis diese auch unter Einsatz von Leifs Schulter aufgebrochen war, hatte sich der Vorsprung von Rodor Thoostedt von wenigen Augenblicken auf ein paar Minuten vergrößert.

»Ich glaube es immer noch nicht, aber irgendetwas stinkt tatsächlich gewaltig!«, rief Rambod, als er auf sein Pferd sprang. Man sah ihm an, dass er mittlerweile die düstere Ahnung hatte, dass absolut alles, was Leif gesagt hatte, stimmte.

»Schnell! In welche Richtung ist der Sonderermittler geritten?«, fragte Leif den Stallburschen. Dieser zeigte nach Osten. »Er wird die Stadt verlassen wollen, bevor wir die Tore abriegeln können«, rief er, trieb Ve an und setzte sich alsbald von den anderen Verfolgern ab. Kurz darauf konnte er den Sonderermittler auf geraden Wegstücken bereits vor sich erkennen. Leif hatte so lange auf diesen Augenblick gewartet, Rodor Thoostedt durfte ihm einfach nicht entwischen!

Doch er wunderte sich. Warum ritt der Verräter hier entlang? Das östliche Tor war nicht der kürzeste Weg aus der Stadt.

Das Stadttor kam in Sicht. Die Wachen erkannten den Sonderermittler und gaben den Weg frei, dieser hielt jedoch einmal kurz an, um dann im Galopp durch das Tor zu preschen. Leif hatte ihn fast! Er wollte ihm hinterhersetzen, aber die Torwachen begannen unmittelbar hinter dem Sonderermittler die schweren Fallgitter herabzusenken. Leif verlangsamte nicht, aber mehrere auf ihn gerichtete Hellebarden zwangen ihn letztendlich doch, sein Pferd zu zügeln.

»Halt, im Namen des Sonderermittlers!«, rief der Wachhabende, »Niemand darf vor Sonnenuntergang die Stadt verlassen!«

»Was soll der Blödsinn?«, rief Leif wütend, »öffnet unverzüglich das Tor!« Aber das Wort des Sonderermittlers hatte mehr Gewicht.

Da kamen auch schon Rambod und die weiteren Verfolger angeritten. »Tretet zur Seite ihr Schwachköpfe und macht sofort das Tor auf!«, brüllte Rambod. Ihn kannten die Wachen wenigstens, aber sie hatten den direkten Befehl eines Sonderermittlers erhalten! Unsicher blickten sie sich an, machten aber keine Anstalten, den neuen Befehlen Folge zu leisten.

Leif dachte nach. Es würde zu lange dauern, den Wachen alles glaubhaft zu erklären, wenn dies überhaupt möglich sein sollte. »Ihr habt doch sicherlich von der Krankheit gehört, die damals ein paar Studenten in der Stadt befallen hatte, weswegen sie wahnsinnig geworden sind und großen Schaden angerichtet haben?«, fragte Leif.

»Natürlich«, nickte der Wachhabende, »dieses Tor hatten sie auch verschandelt.«

»Der Sonderermittler hat sich bei einem Verhör leider angesteckt! Wir müssen ihn unbedingt schnell zurückholen, bevor etwas Schlimmes passiert. Wenn er nicht behandelt wird, könnte er sterben, und dafür wärt ihr dann verantwortlich!«

»Ganz genau!«, stimmte ihm Rambod zu, »Glaubt ihr, ich würde sonst gemeinsame Sache mit diesem Reiter machen?«

Das war ein gutes Argument. Der Vorfall zwischen Rambod und Leif in Fiskheym hatte sich natürlich herumgesprochen. Außerdem gefiel dem Wachhabenden der Gedanke nicht, dass er vielleicht für den Tod eines Sonderermittlers zur Verantwortung gezogen werden könnte. »Öffnet das Tor!«, befahl er nun kurz entschlossen seinen Männern.

Endlich konnten sie die Verfolgung fortsetzen, aber der Vorsprung des Sonderermittlers war so beträchtlich angewachsen, dass er nicht mehr zu sehen war.

»Er ist weg«, stellte Rambod ernüchtert fest.

Ende der Leseprobe