Die Schattenbrücke – Jenseits der Klippe - E. G. Wolff - E-Book

Die Schattenbrücke – Jenseits der Klippe E-Book

E. G. Wolff

0,0
6,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Gestrandet in fremden Welten – Teil 3 der spannenden Fantasy-Reihe »Wer schweben will, muss schwere Lasten tragen« Kjer, Aiko und Freya verlassen das erste Mal in ihrem Leben das Hochland und treffen auf überraschende Verbündete und neue Feinde. Dabei kommen sie dem Geheimnis um die unheimliche Bedrohung immer näher.  Wigold und Eldrid sind währenddessen im Schattenland gestrandet und müssen in einer fremden und sehr gefährlichen Umgebung überleben. Und der einzige Weg zurück führt mitten in das Herz ihrer Feinde ... Band 3 der Fantasy-Serie über den Kampf um das Hochland Beste Freunde, uralte Geheimnisse und eine düstere Bedrohung Eine fesselnde High-Fantasy-Saga um Freundschaft, Mut und Vertrauen – für Fans jeden Alters, die J. R. R. Tolkiens »Der kleine Hobbit« liebten. Leserstimme auf Amazon: »Ich habe das Buch verschlungen. Es setzt nahtlos am zweiten Teil, spielt also im nächsten Sommer und beginnt für mich gleich mit einer Überraschung... Das Tempo wird immer schneller und es bleibt super spannend.«

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 344

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Mehr über unsere Autoren und Bücher:

www.piper.de

Wenn Ihnen dieser Roman gefallen hat, schreiben Sie uns unter Nennung des Titels »Die Schattenbrücke – Jenseits der Klippe« an [email protected], und wir empfehlen Ihnen gerne vergleichbare Bücher.

© Piper Verlag GmbH, München 2021

Sprachredaktion: Uwe Raum-Deinzer

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Covergestaltung: Emily Bähr, www.emilybaehr.de

Covermotiv: Shutterstock (PhilBalchin, Triff, Peratek); Freepik (standret, goinyk, southtownboy)

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich der Piper Verlag die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt.

Inhalt

Cover & Impressum

Widmung

Karte

Kapitel 1: In einer fremden Welt

Kapitel 2: Und wer schweben will …

Kapitel 3: Auf freier Fläche

Kapitel 4: Aigina

Kapitel 5: Wer nach Norden will, muss sich nach Süden trauen

Kapitel 6: Gestrandet

Kapitel 7: Das Ende der Nahrungskette

Kapitel 8: Die Insel der Bestien

Kapitel 9: In den Fängen der Hydra

Kapitel 10: Das Wespennest

Kapitel 11: Eine endlose Meile

Kapitel 12: Der rote Kristall

Kapitel 13: Gerechtigkeit

Kapitel 14: Schlimmer als gedacht

Kapitel 15: Antworten

Kapitel 16: Wer nach vorne will, muss nach hinten schauen

Kapitel 17: Späte Rettung

Kapitel 18: Land in Sicht

Kapitel 19: Halbe Heimkehr

Namensregister

Für Tanja, Max, Monika und Luise

Kapitel 1: In einer fremden Welt

»Festhalten, wir stürzen ab!«, rief Wigold.

Die Flugkammer sauste dem Erdboden entgegen. Knackend brachen die Äste der Baumkronen, als sie im Sturzflug schräg durch die Wipfel hindurchkrachte. Dann schoss die Kammer rauschend durch das Unterholz, überschlug sich mehrfach und blieb schließlich auf der Seite liegen.

Wigold schüttelte sich benommen. »Alles in Ordnung mit dir?«, fragte er Eldrid.

Eldrid brauchte einen Moment, um zu antworten. »Ich weiß nicht«, antwortete sie schließlich zögerlich. »Mein Arm tut weh. Ich fürchte, er ist gebrochen.«

»Das fehlte noch. Moment, ich bin gleich bei dir. Die Kammer hätte sanft landen sollen … Irgendetwas stimmt nicht. Lass uns schnell aussteigen.«

Wigold schnallte sich ab und kroch zur Öffnung. Die Luke war verbeult und verzogen, aber mit Gewalt schaffte er es, sie aufzudrücken. Er schaute hinaus. Es war nebelig.

Nicht weit entfernt schimmerten die Umrisse eines Waldes durch das graue Nass. Um die beiden herum schien alles voller Leben zu sein. Glucksende Ruflaute und Stimmen, die entfernt an Vogelgezwitscher erinnerten, drangen von allen Seiten durch den Nebel zu ihnen.

»Was siehst du?«, fragte Eldrid.

»Wir sind in einem Sumpf gelandet … Glück im Unglück. So war der Aufprall zumindest weich … Aber ich habe noch nie solche Tierstimmen gehört. Warte, ich helfe dir, wir sollten nicht zu lange an der Absturzstelle bleiben.«

Als er Eldrid zur Luke hochhalf, verzog sie vor Schmerzen ihr Gesicht, aber sie gab keinen Laut von sich. Wigold zeigte über den Sumpf hinweg: »Da vorne ist ein Wald, den müssen wir erreichen, und dann versorgen wir als Erstes deinen Arm. Das wird schon …«

Während Eldrid an der Öffnung hocken blieb, kroch Wigold schnell noch einmal durch die Kammer, um ihre wenigen Habseligkeiten und Lebensmittel zusammenzusammeln.

»Was ist das?«, fragte Eldrid leise. In ihrer Stimme lagen gleichermaßen Verwunderung und Entsetzen. Wigold kroch wieder zur Luke. Da sah und hörte er es auch. Klick klick klick!, klang es. Pause. Klick klick klick! Pause. Klick klick klick! Ein kleines insektenähnliches Wesen klackerte mit spitzen Beinen an der Kante der Luke entlang. In jeder Pause drehte es seinen Kopf in alle Richtungen.

»Es hat zehn Beine«, flüsterte Wigold.

»Und drei Paar Flügel«, antwortete Eldrid leise. Das Wesen war in etwa so lang wie ein kleiner Finger, wippte ein paarmal mit dem Kopf hin und her, dann hob es summend senkrecht nach oben ab und verschwand im Nebel. Der Morast unter der Kammer gluckerte.

»Die Kammer versinkt. Wir sollten schauen, dass wir den Wald erreichen …«, wiederholte Wigold nachdrücklich.

Er knotete Eldrids Jacke zu einer Schlaufe, streifte sie über ihren Kopf und legte ihren Arm hinein. Im nächsten Augenblick schob sich Wigold langsam mit den Beinen voraus aus der Luke in den warmen, weichen Morast. Er versank sofort bis zur Hüfte im schwarzen Wasser. Perlenartig stiegen Blasen mit Faulgasen auf. Doch dann fanden seine Füße etwas Halt. Er blickte sich um, denn ihn beschlich das Gefühl, dass sie in akuter Gefahr waren, und zumeist täuschte ihn sein Bauchgefühl nicht. »Wir müssen vorsichtig sein. Hier an der Seite geht es, da scheint der Untergrund etwas fester zu sein. Und dann von Grasinsel zu Grasinsel.«

Er testete noch einmal den Boden, bevor er Eldrid aus der Luke half. Wigold hielt das Bündel aus seiner Jacke und den Lebensmitteln über seinen Kopf und machte ein paar Schritte nach vorne. Mit jeder Bewegung sank er tiefer ein. Schließlich wagte er einen großen, kraftvollen Schritt und warf sich mit Schwung nach vorne auf eine kleine Grasinsel, kaum so groß wie ein Schild. Das Wasser quoll unter seinem Gewicht durch die weiche Grasnarbe hindurch nach oben, aber er fand genug Halt, um seine Beine wieder aus der Tiefe ziehen zu können. Solange er hier war, würde er nicht versinken.

»Warte«, sagte er leise zu Eldrid, die mit der rechten Hand vorsichtig den verletzten, in der Schlaufe hängenden linken Unterarm über das Wasser hielt. Wigold wickelte seine Jacke aus dem Bündel, hielt sie an der einen Seite und warf die andere ausgerollt Eldrid entgegen. »Greif nach dem Ärmel!« Sie zögerte keinen Augenblick, ließ ihren Arm los und griff nach der Jacke. Wigold zog sie zu sich hin, wobei er die halbe Grasinsel in die Tiefe drückte, aber kurz darauf lag Eldrid neben ihm.

»Ab jetzt wird der Untergrund fester«, sagte er aufmunternd. Eldrid lächelte tapfer. Wigold blickte noch einmal zurück. Ihre Kammer war von außen völlig verbeult. Die Unterseite, in der ein großer Teil der Magnetmechanik verborgen lag, war aufgerissen.

»Die repariert keiner mehr«, murmelte er.

So nutzten sie nun jede kleine Grasinsel, um sich immer wieder rechtzeitig aus dem Sumpf zu ziehen, und näherten sich immer mehr dem Ufer. Große rote Regeneichen wölbten sich dort über den Rand des Sumpfes.

Plötzlich knackte es vor ihnen im Wald. Laut krachend kam etwas durch das Unterholz getrampelt und strebte dem Wasser entgegen.

Eldrid und Wigold duckten sich flach in den Morast, ihre Köpfe hinter einer kleinen Grasinsel verbergend. Nur zwanzig Schritte Sumpf trennten sie nun noch vom festen Ufer.

Sie lagen so tief im Schlamm, dass ihnen das Wasser fast in den Mund lief, als rechts von ihnen unvermittelt zwei große Lebewesen aus der Uferböschung hervorbrachen. Sie hatten sechs Beine, glattes graubraunes Fell und waren doppelt so groß wie ein Hochlandbär. Auf dem massigen, muskulösen Körper saß ein dicker Schädel mit einer breiten Hornplatte an der Stirn und zwei Hörnern, sodass die Tiere entfernt an wilde Rinder erinnerten, auch wenn sie bedeutend größer waren. Eines der Wesen senkte seinen Kopf, um zu trinken, während das zweite seinen Schädel hob, die Luft tief einsog und witterte. Dabei stieß es tiefe, gurrende, klackernde Geräusche aus und zeigte sein kräftiges gelblich weißes Gebiss. »Sieht aus wie ein Pflanzenfresser«, dachte sich Wigold, während er die Mahlzähne musterte.

Die Geräusche, die das Tier von sich gab, klangen wie eine Mischung aus dem Ruf eines Raben und dem Röhren eines Hirsches, nur eben der Größe des Wesens angepasst viel mächtiger.

Eldrid griff mit der Hand des unverletzten Armes nach Wigold, um sich näher an ihn heranzuziehen. Dann flüsterte sie ihm ins Ohr: »Die interessieren sich nicht für uns, aber ich glaube, sie haben vor irgendetwas Angst …« Nun hob das andere Wesen ebenfalls den Kopf und starrte auf die Oberfläche des Sumpfes, während das zweite Tier eilig den Kopf senkte und hastig und gierig trank. Sie schienen sich wirklich vor irgendetwas zu fürchten. Wigold drehte sich nach hinten um, aber in dem dichten Nebel, der sich über den gesamten Sumpf erstreckte, konnte er nicht weit blicken. Nur ein paar kleine Wellen rollten ringförmig irgendwo aus dem Dunst über das Oberflächenwasser hinweg und breiteten sich Richtung Ufer aus.

»Schnell raus hier«, zischte er und rappelte sich auf. Die beiden Wesen beachteten ihn überhaupt nicht. Sie starrten nur auf die Wasseroberfläche. Da rollte der äußerste Ring der Welle auch in das Blickfeld der zwei Tiere. Das Wache haltende Wesen gab ein tiefes, kullerndes Warnsignal von sich, und beide stoben mit überstürzten Sprüngen in den Wald. Fort vom Wasser. Wigold nahm keine Rücksicht mehr auf Eldrids verletzten Arm. Er griff beherzt an ihrer Schulter in die Wollweste und riss sie mit sich.

Hier am Rande des Sumpfes wurde der Untergrund zunehmend fester. Nur rechts neben ihnen lag noch ein tiefer dunkler Wassergraben. Durch diesen drangen die Wellen immer weiter vor. Irgendetwas bewegte sich unter der Wasseroberfläche auf sie zu. Nur wenige Schritte trennten sie noch vom Ufer. Der äußerste Ring der Wellen war mittlerweile bereits auf ihrer Höhe. Wigold machte einen weiteren großen Schritt nach vorne, versank aber in einem Wasserloch. Rasch rappelte er sich wieder auf und drehte sich dabei nach hinten um.

Keine fünfzehn Schritte hinter ihnen hatte sich eine Bugwelle aufgetürmt. Irgendetwas verdrängte eine große Menge Schlamm und Wasser vom Grund und steuerte im Graben neben ihnen auf sie zu. Gleich würde es da sein!

Wigold packte Eldrid fester. Ein letzter großer Sprung der beiden, und sie standen schwankend am Ufer. Hinter ihnen wölbte sich die Bugwelle nun mit zunehmender Geschwindigkeit immer höher empor. Während sie schon einen Schritt hoch war, riss Wigold wieder Eldrid mit sich, beide hasteten vom Ufer weg und hasteten in den Regeneichenwald hinein.

Hinter ihnen schwappte das Wasser in einer matschigen Welle über die Böschung, und ein langer, mit zwei großen Dornen versehener Fangarm wurde aus dem trüben Dunkel des morastigen Wassers katapultiert.

Ein weiteres Mal riss Wigold, der kurz zurückgeblickt hatte, an Eldrid, doch durch den Ruck verloren beide das Gleichgewicht und stürzten zu Boden. Im gleichen Augenblick schlugen die Stacheln mit so viel Schwung unmittelbar hinter ihnen ein, dass sie sich tief in die Erde bohrten. Wäre Eldrid auch nur einen Schritt langsamer gewesen, so wäre Wigold alleine im Wald zurückgeblieben.

Denn über die Absichten dieser unbekannten Kreatur konnte kein Zweifel bestehen. Schon zog sie die Stacheln wieder aus der Erde und hob den Fangarm mit einem rasselnden Geräusch in die Höhe, aber Eldrid und Wigold waren bereits aufgesprungen und rannten davon, ohne zurückzublicken.

Im Laufen sah sich Wigold schließlich um. Das Wesen schien sie nicht länger zu verfolgen. Er blickte wieder nach vorne.

Hier lag kein Nebel mehr in der Luft. Der Wald ähnelte sehr dem Regeneichenwald bei ihnen auf dem Hochland. Die Kronen der Regeneichen ließen vielerorts so wenig Licht hindurch, dass der Boden über weite Strecken unbewachsen war, und dazwischen lagen immer wieder blickdichte, dornige Dickichte.

»Es verfolgt uns nicht mehr«, keuchte Eldrid.

»Ich habe keine Ahnung, was das war, aber ich hoffe, wir sind jetzt weit genug weg vom Sumpf«, befand Wigold und hielt an, nachdem sie etwa eine halbe Meile in den Wald gelaufen waren. »Nicht, dass wir gleich in die nächste Überraschung hineinrennen.«

Schnaufend hielten sie am Stamm einer alten Regeneiche an. Sie trieften von Wasser und Schlamm. So außergewöhnlich und fremdartig die Regeneichen auf dem Hochland wirkten, hier erschienen sie Eldrid und Wigold geradezu heimatlich. Denn alles andere um sie herum war ihnen völlig unbekannt – und erst die Tierwelt!

Die Geräuschkulisse in dieser Wildnis war fremd und unheimlich. Nichts klang so wie auf dem Hochland. Ein zehnbeiniges kleines schwarzes Insekt mit violett schillerndem Panzer krabbelte eilig um den Stamm herum, um aus dem Blickfeld der beiden zu gelangen.

Eldrid hatte Schmerzen, das konnte Wigold ihr ansehen. Wigold zog sein Messer hervor. »Als Erstes schienen wir deinen Arm, und dann brauchen wir ein Quartier für die Nacht … und Speere. Bei der Größenordnung der Viecher, die hier rumlaufen, werden unsere Messer uns nicht weiterhelfen. Ruh dich erst mal aus, ich besorge alles.«

Keine hundert Schritte von ihnen entfernt wuchs ein undurchdringliches Gestrüpp. Als Wigold sich diesem vorsichtig näherte, hörte er aus dem Inneren ein gurrend-klackerndes Geräusch. Dumpf und kräftig. Er zögerte. Diese Laute hatte er bereits einmal gehört. Es klang nach den Tieren, die am Wasser Reißaus genommen und ihnen dadurch das Leben gerettet hatten. Die Geräusche waren zwar unheimlich, aber sie hörten sich nicht aggressiv an, eher warnend.

Mit festen Schritten ging Wigold weiter. Er behielt aber das Innere des Gestrüpps im Auge, immer zur Flucht bereit, während er ein paar junge Hölzer zum Schienen von Eldrids Arm abschnitt. Die Tiere gaben weiter Laute von sich, Wigolds Anwesenheit störte sie in diesem Sicherheitsabstand jedoch offenbar nicht.

Der an Wigold haftende Schlamm begann zu trocknen und juckte, aber er hatte keine Zeit, um auf solche Nebensächlichkeiten zu achten. Sie waren in einer völlig fremdartigen Welt gestrandet. Selbst wenn sie die Flugkammer hätten reparieren können, sie würden nie wieder zu ihr gelangen. Ihr Trinkwasser reichte nur noch für einen Tag, und wenn sie ihre Lebensmittel einteilten, hatten sie eine Kleinigkeit zum Frühstück übrig. Doch danach würde der Überlebenskampf beginnen.

Sobald Eldrids Arm geschient war und stabil in einer Schlaufe ruhte, griff sie nach ihrem Messer. »Lass uns jetzt ein paar Speere schnitzen. Wenn mein Arm in Ordnung wäre, hätte ich zwar lieber einen Bogen, aber so …«

Der getrocknete Schlamm bröckelte in dicken Schuppen von ihnen ab, während sie konzentriert arbeiteten. Auf Haut und Kleidung blieb nur eine dünne graue Schicht zurück. Bald hatten sie sich stabile Speere aus dem Unterholz geschnitten.

»Ich glaube, es wird bald dunkel«, meinte Wigold. Im Schatten der Bäume war dies schwierig zu erkennen.

»Es wird sicherer sein, auf einem Baum zu schlafen«, meinte Eldrid.

Wigold nickte. »Wir sollten uns weiterhin in der Nähe dieser großen Tiere aufhalten. Sie haben uns schon einmal gewarnt.«

»Da vorne am Dickicht ist ein Baum, auf den man gut klettern kann, auch mit einem Arm«, sagte Eldrid und schritt voran. Wigold folgte ihr. Hoch oben in der Krone konnten sie sich zumindest halbwegs gemütlich anlehnen.

»Du kannst schlafen, ich passe zuerst auf, damit du nicht runterfällst«, bot Wigold an.

»Ist nicht nötig«, lehnte Eldrid ab, »ich habe schon öfters auf einem Baum übernachtet.« Während sie dies erwiderte, zog sie ihren Gürtel zur Hälfte aus den Schlaufen ihrer Hose, um ihn zusätzlich um einen dicken Ast legen zu können. Wigold suchte sich einen geeigneten Platz schräg unterhalb von ihr und folgte ihrem Beispiel.

Hier, weiter oben in den Baumkronen, merkten sie, dass der Himmel wirklich schon dunkler geworden war, aber die Sonne ging für ihr Empfinden sehr langsam unter. So bequem wie möglich saßen sie, ihre Jacken unter sich gelegt, auf dem Baum und belauschten diese ihnen unbekannte Welt. Es klang nichts, rein gar nichts vertraut. Unter ihnen rasselten die massigen Tiere in ihrem Versteck, und gelegentlich flogen unbekannte Wesen durch die Baumkronen. »Das sind komische Vögel, aber sie haben Federn«, stellte Wigold leise fest, um den Schwarm dieser bunt schillernden Tiere nicht zu vertreiben, die mit zwei Flügelpaaren libellengleich durch die Baumwipfel jagten.

»Die passen zu den Tieren am Boden«, flüsterte Eldrid.

»Stimmt«, pflichtete ihr Wigold bei, »hier ist alles so anders. Ich hätte erwartet, dass die Tiere zumindest ähnlich gebaut sind wie bei uns zu Hause. Aber die haben alle sechs Gliedmaßen. Die Tiere am Boden sechs Beine und die Vögel entsprechend zwei Beine und vier Flügel. Zumindest so etwas Elementares sollte doch überall gleich sein. Und die Insekten sind ja völlig bizarr …«

»Wo sind wir hier nur gelandet?«, fragte Eldrid und nahm einen kleinen Schluck Wasser aus ihrer Flasche.

»Ich weiß es nicht«, antwortete Wigold leise. Dann wandte er sich einem drängenderen Thema zu: »Morgen müssen wir Nahrung finden.«

»An den Büschen unten wachsen Beeren …, keine Ahnung, ob man die essen kann.«

»Im Notfall müssen wir sie probieren. Aber so anders die Tiere und Pflanzen auch sind, so scheint dennoch alles irgendwie ähnlich zu funktionieren. Die Pflanzen nutzen das Sonnenlicht, es gibt kleine Krabbeltiere, fliegende Wesen, große Pflanzenfresser …«

»… und noch größere Fleischfresser«, warf Eldrid in Wigolds kurze Redepause ein.

»Ja. Die auch. Aber an unbekannten Beeren kann man sich auch auf dem Hochland leicht vergiften. Vielleicht finden wir ja ein paar Gräser oder Wurzeln für den Anfang …«

»Und wir müssen morgen ein Feuer machen. Wir sollten alles abkochen …«

»Vor allem müssen wir bald Wasser finden, nach Möglichkeit an einer anderen Stelle als vom Sumpf …«

»Sollten wir uns denn überhaupt von der Absturzstelle entfernen?«, fragte Eldrid unvermittelt. »Ich meine, vielleicht kommen die anderen uns morgen suchen …«

»Ich hoffe, sie sind so vernünftig und tun es nicht. Ich fürchte jedoch, dass sie es versuchen werden«, meinte Wigold. »Aber irgendwas stimmte ja bei unserem Flug nicht. Uns hat kurz nach dem Start ein Blitz getroffen, vielleicht hat er doch etwas beschädigt. Es wäre denkbar, dass wir einfach zu früh abgestürzt sind, in dem Fall würden die anderen vielleicht noch zig Meilen weiterfliegen, die Kammern sind schließlich alt. Dann finden die uns niemals.«

»Wahrscheinlich sollten wir uns das sogar wünschen«, antwortete Eldrid matt, »falls sie wirklich hier landen oder gar so wie wir im Sumpf abstürzen sollten, weiß ich nicht, ob ich in der Nähe sein möchte …«

»Das findet sich alles morgen. Ich glaube aber nicht, dass sie ebenfalls abstürzen würden …«

Eldrid erwiderte nichts. Vielleicht war es nicht wahrscheinlich, ganz sicher war sich Wigold diesbezüglich jedoch auch nicht. »Wenigstens herrscht hier Sommer, und es ist warm«, wechselte er das Thema zu etwas Erfreulicherem und fügte hinzu, um die Stimmung zu heben: »Im Sommer findet man im Wald immer etwas zu essen …« Nach einer Pause fuhr er fort: »Falls die anderen doch hier ankommen, werden wir sie schon heil aus dem Sumpf bekommen. Aber ich glaube es wirklich nicht. Irgendetwas anderes ist passiert. Wir sollten morgen außerdem versuchen, die Elowen zu finden …«

Langsam wurde es dunkler. Wigold biss von seinem letzten Brot ab. Er hatte Hunger. Einen kleinen Rest ließ er dennoch für den nächsten Morgen übrig.

»Erinnerst du dich noch daran, wie wir die Steilwand vor der Feste hochgeklettert sind und du gesagt hast, dass du keinen Ort wüsstest, an dem du gerade lieber wärst, als hier mit mir?«, fragte Eldrid.

»Ich erinnere mich genau«, sagte Wigold leise.

»Würdest du das jetzt ebenfalls sagen?«, hakte sie nach.

»Ach, wo ich jetzt gerade bin, ist es schon in Ordnung, ist doch ein spannender Wald. Aber ob mit dir? Du bist ja schon ziemlich schmutzig gerade und stinkst gewaltig nach Sumpf …« Er lachte.

»Ach, halt doch die Klappe! Schlaf gut, Wigold.«

Wigold lächelte. »Du auch, Eldrid.«

Kapitel 2: Und wer schweben will …

Kjer saß in seiner alten Grundschule. Er war in die erste Klasse zurückgestuft worden, weil er die heißgeliebte Moossammlung seines Lehrers gestohlen und an einen Hochlandbären verfüttert hatte. Da hockte er nun zwischen seinen Schwestern auf einem für ihn viel zu kleinen Stuhl und sollte ein Gedicht schreiben …

Was für ein Albtraum! Irgendwie war Kjer in seinem Unterbewusstsein jedoch klar, dass dies nicht real sein konnte. Diese Erkenntnis beruhigte ihn weit genug, um nicht laut schreiend aufzuwachen.

So saß er also neben seinen Schwestern und schaute auf sein leeres Heft. Und wie von selbst schrieb er ein Gedicht auf:

Als der Kristall geschaffen ward

Und Therus in Erscheinung trat,

Der Menschen Neugier schnell erkannte

Und diese gegen sie verwandte;

Ihr ganzes Tun zu nutzen wusste,

Es kam, wie es wohl kommen musste,

Atlantis mit dem Schattenland,

In unheilvoller Art verband

Es war ein merkwürdiges Gedicht, das er da verfasst hatte. Er spähte zu Freda hinüber und dann zu Neela.

»Nicht abschreiben«, hörte er die mahnenden Worte des Lehrers.

»Als ob ich bei meinen kleinen Schwestern abschreiben würde«, empörte er sich. Aber seine Schwestern hatten tatsächlich das gleiche Gedicht geschrieben. Kjer blätterte in seinem Heft zurück. Es war plötzlich unfassbar dick, mit schier unendlich vielen Seiten. Und auf jeder einzelnen Seite stand dieses Gedicht. Er schlug das Buch mit einem lauten Knall zu.

»Es wird Zeit aufzuwachen«, dachte er bei sich. »Das ist schon ein ziemlich fieser Albtraum …«

***

Jemand öffnete schwungvoll das Scheunentor. »Guten Morgen, ihr vier! Guten Morgen, Aiko!«, weckte eine Stimme Solveigh, Kjer, Freya und Aiko auf. Die so plötzlich Geweckten lagen verstreut in den Heubergen, die im hinteren Drittel der Scheune aufgetürmt waren. Schlagartig waren sie hellwach, blieben aber wie erstarrt liegen und sahen zu der nur schemenhaft erkennbaren Person, die im ersten Morgenlicht ihr Versteck betreten hatte. Aiko erkannte als Erstes, von wem sie geweckt worden waren, es war sein Vetter Leif.

Drei Tage waren die vier Geister nur des Nachts geritten, um von der Bruderschaft nicht bemerkt zu werden. Und nun, in ihrem gemütlichen Heulager in einem einsamen Pferdegestüt hinter einer Hügelgruppe, wenige Meilen westlich des Regeneichenwaldkanals, hatte man sie doch eingeholt. Die Bruderschaft war da!

»Jemand muss uns gefolgt sein«, dachte sich Kjer. Aber diese Erkenntnis war nun bedeutungslos. Außerhalb der Scheune konnte er etliche Reiter hören.

Leif ließ den Ertappten nur eine Sekunde, um im Hier und Jetzt anzukommen, dann fuhr er fort: »Eigentlich hatte ich vor, euch erst mal weiter zu beobachten, aber ihr habt euch auf der Strecke ja wirklich Zeit gelassen, vor allem, wenn man bedenkt, dass ihr eigentlich zur Schule müsstet. Heute Morgen habe ich in einer der Herden hier auf dem Gestüt einen einzelnen Schimmel entdeckt. Schönes Tier! Diesen Schimmel habe ich schon einmal gesehen. Er gehört Wigold Thareet.«

Leif ließ seine Worte wirken und wandte sich derweil gut gelaunt an Solveigh: »Wir kennen uns noch nicht. Mit wem habe ich die Ehre?«

Die Angesprochene antwortete nicht. Sie sah sich um. Etwas weiter oberhalb in der Scheunenwand war eine Luke, durch die sie vielleicht entwischen könnte. »Das würde ich gar nicht erst versuchen«, warnte Leif mit drohender Stimme, der ihren forschenden Blick richtig gedeutet hatte. Solveigh blieb liegen. Sie konnte mit Sicherheit davon ausgehen, dass die Scheune ohnehin umstellt war.

»Bitte, können wir gleich zum Wesentlichen kommen?«, fragte Leif freundlich, aber bestimmt und blickte dabei vornehmlich zu seinem Vetter Aiko. Dieser holte tief Luft, als ob er etwas erwidern wollte.

»Erzähl ihm nichts«, zischte Solveigh.

»Wir hatten einfach keine Lust auf Schule, das ist alles«, unternahm Kjer einen letzten hoffnungslosen Versuch, damit sie noch mal den Hals aus der Schlinge ziehen könnten.

»Kjertan Thavalt, die Beweise sind doch erdrückend. Von eurem Besuch im Eisland mal ganz zu schweigen. Ich möchte, dass ihr mich zu Wigold führt, nachdem ihr ihn schon einmal befreit habt.« Kjer erschrak. Woher wusste Leif das? Aber da setzte dieser schon zur Erklärung an: »Ich habe das Seil untersucht, das im Innenhof des Stadtgebäudes am Tage von Wigolds unverständlicher Entlassung hing. Es hat ein wenig gedauert, um den Hersteller davon ausfindig zu machen. Es stammt von einem Seilmacher in Fiskheym, der den Käufer gut beschreiben konnte …« Er blickte Kjer eindringlich an, während dieser endgültig erstarrte. »Und die Blutspuren am Seil ließen darauf schließen, dass sich der Täter beim Abstieg die Hände ordentlich aufgerissen hatte …« Kjer merkte, dass er unbewusst seine Hand mit der Narbe unter der Decke versteckt hatte.

Aiko holte tief Luft. Es half ja nichts. Irgendetwas musste er seinem großen Vetter sagen, dieser wusste ja ohnehin schon alles Wesentliche. »Du wirst Wigold nicht mehr finden, und er wird dem Sonderermittler auch keine Probleme mehr bereiten, weil er das Hochland bereits verlassen hat.«

Jetzt blickte Leif doch einigermaßen verwundert. »Ihr habt doch nicht etwa …?«, begann er, brach dann aber seinen Satz ab, denn er wollte seinerseits nicht zu viele Informationen bekannt geben.

»Ja, haben wir, also hat er«, beantwortete Aiko die unvollständige Frage seines großen Vetters. »Er ist mit einer Kammer losgeflogen und nicht zurückgekommen. Zu den Koordinaten, die in dem Buch standen. Und wir wollen ihn suchen gehen!«

Leif war beeindruckt. Er glaubte seinem Vetter, und er hatte es Wigold tatsächlich zugetraut, dass er die verborgene Feste finden würde, auch wenn er nicht erwartet hätte, dass dieser es schaffen würde, die jahrhundertealte Flugmechanik wieder in Gang zu setzen.

»Es tut mir leid, aber eure Suche muss ein Ende haben …«, sagte er schließlich. »Ich werde euch in die Hauptstadt bringen. Ihr habt hier nichts verloren. Das Ganze ist ein paar Nummern zu groß für euch – und zu gefährlich. Außerdem wird die Bruderschaft bereits in wenigen Wochen die Feste wieder selbst in Betrieb nehmen.«

Solveigh, Freya und Kjer wussten nicht, was sie sagen sollten, sie wollten doch unbedingt nach Wigold suchen. Nur Aiko hatte es nicht die Sprache verschlagen. »Wofür wollt ihr die Klippenfeste wieder vorbereiten? Welche Verwendung solltet ihr denn plötzlich für die Flughalle haben? Die Bruderschaft hat doch kein Interesse an Kontakten außerhalb des Hochlandes, sonst hätte sie die Flüge gar nicht erst eingestellt. Und jetzt, wo die Bedrohung immer stärker wird …«

Leif schaute wieder überrascht. Die vier wussten wirklich so einiges.

Aiko brachte seinen Gedanken zu Ende: »Das ergibt doch nur Sinn, wenn ihr das Hochland für immer verlassen wollt! Wenn ihr fliehen wollt!«

Leif schwieg. Sein Vetter war schon immer ein schlaues Kerlchen gewesen.

»Ich werde nicht abhauen«, erwiderte Leif schließlich. Er sah betrübt aus.

Leif würde die Trolle auch lieber die gesamte Kraft und Wut des Hochlandes spüren lassen und sich den Feinden mit allen Mitteln in den Weg stellen, selbst wenn der Kampf aussichtslos sein mochte. So wie es auch Rodor Thoostedt anstrebte.

Aber Leif verstand sehr wohl, dass dies nicht möglich war, weil die Trolle auf dem Hochland nicht haltmachen würden, wenn sie es erst einmal erobert hätten. Die Hochländer durften ihren Stolz nicht über die Zukunft der ganzen Welt stellen. Natürlich lehnte Leif den wahnsinnigen Plan der Untergebenen ab, sich den Invasoren auf Gedeih und Verderb zu unterwerfen und die Eroberer zu unterstützen, um selbst verschont zu werden. Aber auch der Weg seines Sonderermittlers, die Menschen des Hochlandes zu evakuieren und ihre Heimat kontrolliert zu zerstören, damit die Trolle hier auf keinen Fall die Macht erlangen könnten, widerstrebte ihm im Innersten seines Herzens zutiefst.

»Leif, welchen Schaden können wir denn anrichten, wenn wir das Hochland verlassen?«, hakte Aiko eindringlich nach. Ihm war der betrübte Gesichtsausdruck seines Vetters nicht entgangen. »Was für einen gewaltigen Nutzen brächte es dagegen, wenn wir wirklich Verbündete fänden? In fünfhundert Jahren kann viel passiert sein …«

»Lasst uns gehen«, bat nun auch Freya zögerlich.

War da ein kurzes Stirnrunzeln bei Leif zu erkennen? Dachte er wirklich darüber nach, sie laufen zu lassen? Tatsächlich zögerte er. Er holte einmal tief Luft. Er schien mit sich zu ringen. Alle schauten ihn gespannt an.

»Was ich mache, ist Verrat«, sagte er schließlich leise, »aber wenn man dabei ist, in einem Sumpf zu versinken, greift man nach jedem Strohhalm, der einem gereicht wird. Ich helfe euch. Aber dann sollten wir sofort zu der Feste im Regeneichenwald aufbrechen, ich werde euch durch die Sperrlinien bringen. Es bleibt nicht mehr viel Zeit!«

Die vier Überführten blickten sich ungläubig an.

»Dafür müsst ihr mir das Versprechen geben, dass ihr euch mit allen Mitteln dafür einsetzt, dass Wigold nichts mehr unternimmt, was meinem Sonderermittler schaden könnte«, fügte Leif noch an.

»Wir versprechen es«, antworteten Freya und Aiko schnell für die gesamte Gruppe.

In gewisser Weise kam Leif die unerwartete Entwicklung ganz gelegen. Wigold würde er wohl doch nicht so bald aufspüren. Aber wenn die vier dafür sorgen sollten, dass dieser ihm nicht mehr in die Quere kam, so konnte er sich voll und ganz seinem Hauptziel widmen: der Befreiung von Keke Thirvelt.

Erst gestern hatte ein Bote endlich die Nachricht gebracht, dass ein Späher möglicherweise Doctorus Thirvelt tief im unbewohnten zweiten Bezirk gesehen hatte. Er wurde von einem Dutzend Reitern ohne Abzeichen bewacht. Demnach dürften diese ihr Versteck irgendwo im zweiten Bezirk bei den Turmruinen haben. Es war zwar immer noch nicht klar, wer ihn in seiner Gewalt hatte, aber Leif hatte von Urda Thudor den Auftrag erhalten, ihn um jeden Preis zurückzuholen. Hätte es noch eines Beweises für die Dringlichkeit dieser Aufgabe bedurft, so hätte die Ergänzung um jeden Preis eindeutig klargemacht, dass dies wichtiger war, als irgendwelche jugendlichen Rebellen durch die Einöden des Hochlandes zu verfolgen.

»Bleibt in der Scheune, ich bespreche das weitere Vorgehen mit meinen Truppführern, nicht jeder Reiter muss mitbekommen, was wir hier machen.« Mit diesen Worten verließ Leif die Scheune.

Solveigh schwankte zwischen Freude und Misstrauen. »Ist das eine Falle, weil er mehr herausfinden will, oder können wir ihm vertrauen?«

»Wir können ihm absolut vertrauen. Wir können seinem Wort uneingeschränkt Glauben schenken«, zeigte sich Aiko überzeugt. Diese Einschätzung seines Freundes reichte Kjer vollkommen. »Dann lasst uns schon einmal alles zusammenpacken …«

Den Wartenden kam es wie eine Ewigkeit vor, aber vermutlich war kaum eine halbe Stunde vergangen, als Leif, begleitet von einem Truppführer und zwei Reitern, die Scheune betrat. »Der Rest ist weitergeritten.« Leif trug einen Stapel Klamotten. »Zieht diese Kleidungsstücke an«, forderte er die vier Geister auf, »sie sind vielleicht etwas groß, aber es wird schon gehen …«

So ganz glauben konnte Kjer das, was gerade geschehen war, aber erst, als sie unweit des Pferdehofes den Kanal auf einer kleinen Brücke überquert hatten, auf kürzestem Weg in den Regeneichenwald geritten waren und dabei zwei Reitertrupps passiert hatten, ohne aufgehalten zu werden.

Leif war in diesen Momenten stets etwas vorgeritten, und man hätte schon sehr genau hinschauen müssen, um zu bemerken, dass mit vier Reitern, die zu Leifs Gefolgschaft gehörten, irgendetwas nicht stimmte.

Dabei war er immer entschlossen und selbstsicher geblieben. Kjer beobachtete Leif genau – und nun schien ihn irgendetwas anderes zu beunruhigen. Immer wieder blickte Leif hinauf in die dicken, stattlichen Kronen der Regeneichen oder sah sich um. Die Geister konnten jedoch rein gar nichts erkennen. Nur einmal meinte Kjer, ein sonderbares Rauschen zu hören.

Plötzlich hielt Leif sein Pferd an und legte seine Hand auf den Schwertknauf. »Irgendetwas stimmt hier nicht«, sagte er entschieden. Wieder war dieses merkwürdige Rauschen zu hören.

»Es ist alles in bester Ordnung«, widersprach Solveigh. »Das sind nur die Elowen.«

Kjer genoss es, dass sie mit ihrem Wissen Leif mindestens so oft überraschen konnten wie er sie. »Die Elowen«, antwortete Leif fast ehrfürchtig, »wir wissen, dass sie hier in den Wäldern wohnen, aber niemand in der Bruderschaft hat sie seit Jahrhunderten zu Gesicht bekommen …«

»Und das aus einem guten Grund. Immer macht ihr alles falsch!«, hörten sie Florindel unvermittelt schimpfen.

»Und immer stellt ihr so viele Fragen«, ergänzte Asradiel, der plötzlich vor ihnen auf Höhe der Pferdeköpfe schwebte.

Die Pferde wussten auch nicht so recht, was sie von diesem eigenartigen Ding halten sollten, hielten die Elowe aber für keine Bedrohung.

»Doch die Zeiten ändern sich …«, fügte Asradiel nachdenklich hinzu. Wie aus dem Nichts waren nun auch Galandel und Florindel neben Asradiel aufgetaucht.

Asradiel schwebte direkt auf Kjer zu und verharrte unmittelbar vor seinem Gesicht: »Du bist nicht Kjertan, aber du trägst Kjertans Messer.«

»Ich bin nicht der Kjertan«, erwiderte Kjer verdutzt, »aber ich heiße ebenfalls Kjertan.«

»Das passt, du bist ihm nicht unähnlich«, schloss Asradiel und schwebte zu Solveigh: »Habt ihr was von Wigold gehört?«, nuschelte Asradiel leise und schaute Solveigh eindringlich an. Ein paar Sorgenfalten hatten sich auf seiner Stirn gebildet.

»Nein, leider nicht. Deswegen gehen wir ihn suchen«, antwortete sie Asradiel.

Schlagartig sah dieser sehr zufrieden aus. »Ihr geht ihn suchen. Das finde ich gut. Es ist nicht optimal, dass er weg ist.« Vielleicht fühlte sich Asradiel doch ein wenig mitschuldig an seinem Verschwinden.

»Nicht optimal?«, fragte Freya und schaute irritiert.

»Ja, wir finden das nicht optimal«, antwortete Florindel und schaute noch viel irritierter als Freya. »Findest du das etwa optimal?«, fragte sie nach.

Zum Glück sah und verstand Freya den warnenden Blick, den Solveigh ihr zuwarf. »Nein«, antwortete sie daher nur und knirschte mit den Zähnen. Aber diese Antwort konnte Florindel natürlich erst recht nicht auf sich beruhen lassen. »Aber wenn du es nicht optimal findest und wir gesagt haben, dass wir es nicht optimal finden, warum fragst du dann, ob es nicht optimal ist?«, hakte Florindel mit einem noch viel irritierteren Blick nach.

Zum Glück hatte Galandel eine logische Antwort parat: »Du weißt doch, dass die immer so viel unnützes Zeug reden, vor allem die mit den hohen Stimmen …«, flüsterte er Florindel zu, was aber trotz des Flüsterns für alle gut zu hören war. Als wäre dies nicht bereits verständlich genug gewesen, zeigte Galandel dabei auf Freya und Solveigh. Freya knirschte nun so laut mit den Zähnen, dass sich Aiko und Kjer, die bereits von einem Ohr zum anderen grinsten, zu ihr hindrehen mussten.

Das Gespräch ging wieder einmal in die falsche Richtung, und vielleicht war es ganz gut, wenn die Elowen sich einmal nicht als Erstes aus der Unterhaltung zurückzogen. »Wir müssen weiter«, sagte Solveigh daher freundlich.

»Ganz genau«, pflichtete Asradiel ihr bei, »ihr wolltet nämlich nach Wigold suchen!« Offensichtlich hatte er die Sorge, dass die Menschen bereits wieder vergessen haben könnten, weswegen sie überhaupt in den Regeneichenwald gekommen waren.

»Die sind doch entzückend«, zeigte sich Kjer begeistert, als sie sich wenig später wieder unbeobachtet wähnten. Leif schüttelte ob der ungewöhnlichen und irgendwie auch drolligen Begegnung nur den Kopf.

»Warum wurde die geheime Anlage überhaupt aufgegeben?«, fragte Aiko schließlich seinen Vetter.

Leif sah keinen Grund mehr für Geheimniskrämerei. Dass sich die Elowen nach all den Jahrhunderten plötzlich wieder blicken ließen, bedeutete, dass dem Hochland große Veränderungen bevorstanden. »Die Bruderschaft fand es damals wichtig, dass alles, was hier geschehen ist, in Vergessenheit gerät«, erklärte er, »damit niemand auf die Idee kommt, weiter mit diesen gefährlichen Kräften zu experimentieren, die die Trolle zu uns gelockt haben. Man bräuchte aber mindestens hundert bis zweihundert Menschen, um diese Anlage zu betreiben, und dann wäre es unmöglich, alles geheim zu halten. Bis vor Kurzem wusste überhaupt nur eine Handvoll Personen von der Existenz der Feste. Auch ich bin noch nicht lange eingeweiht …«

Schnell gelangten sie in die Nähe des inneren Kontrollrings unmittelbar vor ihrem Einstieg in das Felsengelände. Leif hielt sein Pferd an. »Ab hier müsst ihr alleine weiter. Wachen werden euch nicht mehr begegnen, und anscheinend habt ihr ja einen Weg zur Feste durch das Trümmerfeld gefunden … Viel Glück! Denkt daran, was wir vereinbart haben. Wenn Wigold Thareet oder einer von euch dem Sonderermittler Gerdis Thoosten noch einmal in die Quere kommt, verhafte ich euch allesamt höchstpersönlich!«

Solveigh, Freya, Kjer und Aiko stiegen von ihren Pferden ab. Leif und die drei anderen Männer, die sie begleitet hatten, übernahmen je eines der Tiere. »Wir werden sie auf dem Gestüt für euch unterstellen. Seid vorsichtig! Ich wünsche euch viel Glück«, wiederholte Leif noch einmal zum Abschied, »denn das werdet ihr bestimmt brauchen …«

»Danke«, antwortete Kjer.

»Dir auch viel Glück«, sagte Aiko. Er ahnte, dass auch vor seinem Vetter große Herausforderungen lagen. Dann trennten sich ihre Wege.

Ohne weitere Begegnungen mit den Elowen gelangten die vier Geister auf dem kürzesten Weg durch das Felsengelände auf die breite Allee, die zur Feste führte. Auf der Allee angekommen, setzte Solveigh ihren Rucksack ab und drückte ihn Freya in die Hand. Kjer tat es ihr gleich und übergab seinen Rucksack an Aiko.

Solveigh wies den beiden Packeseln den Weg nach links: »Ihr könnt auch zweimal gehen, es ist nicht mehr weit.« Sie selbst dagegen bog, begleitet von Kjer, nach rechts ab.

Als die Geister vor ein paar Wochen die Klippenfeste verlassen hatten, hatten sie an einer weit vom Eingang entfernten und mit Gestrüpp bewachsenen Stelle ein Seil vom Plateau in die Schlucht herabhängen lassen, um bei Bedarf schnell empor- und von oben dann wieder über die Falltürrutsche in die Feste gelangen zu können. Diesen Weg nahmen Kjer und Solveigh jetzt.

Das Klettern an einer steilen Felswand gehörte sicher nicht zu Kjers Lieblingsbeschäftigungen, vielleicht hatte er auch noch die Erlebnisse des letzten Winters vor Augen, aber er ließ sich nichts anmerken. »Mach mir einfach alles nach«, sagte Solveigh, als sie das Hauptplateau erreicht hatten. Dann trat sie zielsicher in eine Falltür und war Sekunden später im Fels verschwunden. Kjer wartete einen kurzen Moment, dann trat er ebenfalls stoisch vor. »Warum sollte ich auch nicht freiwillig in eine Fallgrube fallen«, dachte er sich noch, als er kurz darauf in der Vertiefung lag und das Rattern der Zahnräder hörte. Die Platte stellte sich schräg, und in einer wilden Rutschpartie sauste er nach unten.

Rabenschwarze Finsternis empfing ihn. »Hier unten geht’s weiter«, hörte er Solveigh sagen, »folge einfach meiner Stimme!« Kjer sah absolut nichts. »Einfach Füße voraus hier durchkriechen«, forderte Solveigh ihn auf. Kjer konnte ein schabendes Geräusch hören, als sich Solveigh durch den Tunnel schob. Gehorsam kroch er, die Füße voraus, ebenfalls in den engen Schacht. Kaum hatte er das Ende des Schachts erreicht, spürte er Solveighs Hand auf seinem Fuß. »Einfach weiter«, sagte sie aufmunternd.

Kurz danach fasste sie Kjer am Unterarm und ging zielstrebig mit ihm durch den dunklen Flur. Kjer hatte sich schon unzählige Male beschreiben lassen, wie es in der Feste aussah, dennoch staunte er nicht schlecht, als sie die große vordere Halle erreicht hatten. Gemeinsam hoben sie die Riegel am Haupttor an und kletterten ins Laufrad, um das Tor zu öffnen. Er schauderte. Mit was für einem mächtigen Feind hatten sie es nur zu tun! All ihre Mauern, all ihre Türme und all diese geheime Technik hatten die Trolle nicht aufhalten können.

Bald standen die vier Geister gemeinsam in der alten, gemütlichen Küche. »Es ist komisch, wieder hier zu sein«, murmelte Solveigh und strich über den Esstisch, der im letzten Winter der Mittelpunkt des Lebens in der Feste gewesen war. Sie hatten eine aufregende, abenteuerliche und freie Zeit gehabt, aber letzten Endes hatten sie Eldrid und Wigold verloren, und deswegen überwog das negative Empfinden.

»Ihr solltet gleich in der Nacht starten«, meinte Solveigh schließlich und verdrängte die düsteren Erinnerungen. »Wir haben sicher nicht genug Zeit, um auf ein Gewitter zu warten. Dein Vetter hat gesagt, dass die Bruderschaft bald hierherkommt … Allerdings besteht dann die Gefahr, dass man euch hört«, fügte sie hinzu.

»Wenigstens weht der Wind von Süden, vielleicht haben wir Glück …«, ergänzte Kjer, »wir sind jetzt schon so weit gekommen …«

»Aber wir schicken eine Kammer vor, um zu prüfen, ob dort wirklich Land ist«, sagte Solveigh entschieden, »so viel Zeit muss sein. Ob ein Knall in der Nacht oder zwei, das macht dann auch keinen Unterschied mehr.«

Die Entscheidung, nicht mehr auf ein Gewitter zu warten, kam Kjer sehr gelegen, er wollte schnellstens los. So traten sie umgehend vor das innere Tor. »Legt alles ab, was aus Metall ist«, verlangte Solveigh und erläuterte: »Sonst knallt ihr gleich gegen einen unbeschreiblich starken Magneten.«

Kjer leerte seinen Brotbeutel – jede Menge Kleinkram kam zum Vorschein, darunter auch sein Messer. Zielsicher entriegelte Solveigh nun das Tor, für dessen Entschlüsselung sie im letzten Winter so viel Zeit gebraucht hatten. Während die drei Neulinge aus dem Staunen nicht herauskamen, ging Solveigh zurück und sammelte alle abgelegten Gegenstände wieder ein. Kjers Sachen stopfte sie in seinen Brotbeutel zurück. Dabei rutschte sein Messer von diesem herab und blieb unbemerkt auf dem Boden liegen.

Freya, Kjer und Aiko erreichten das Steuerpult. Ehrfürchtig betrachteten sie die vielen Schalter und Hebel. Da fiel ihr Blick auf das Gedicht, das dort in Stein gemeißelt stand:

Wer nach Norden will, muss sich nach Süden trauen,

Wer nach vorne will, muss nach hinten schauen,

»Ich kenne das Gedicht«, sagte Kjer erstaunt und schloss die Augen: »Wer nach unten will, muss sich nach oben wagen/Und wer schweben will, muss schwere Lasten tragen«, beendete er den Reim mit fester Stimme, ohne auch nur einmal zu stocken.

»Woher kennst du diese Verse?«, fragte Freya interessiert, »ich habe das noch nie gehört.«

»Das Gedicht hast du doch selbst aufgesagt, als du mich unter der Treppe im Stadthaus gefunden hast!«, antwortete Kjer und blickte in Freyas erstauntes Gesicht. »Also … ich dachte, dass du das gesagt hast, auf alle Fälle habe ich es dort gehört …«, stammelte Kjer. So schnell ihm in Erinnerung gekommen war, wo er es gehört hatte, so schnell dämmerte ihm gerade, dass er die Verse wohl nicht von Freya gehört hatte, sondern in einem Traum.

»Merkwürdig«, erwiderte Freya nur.

»Wahrscheinlich hast du es irgendwo anders schon einmal gelesen, und dein Unterbewusstsein hat sie damals …«, brachte sich Aiko ein, dem eine logische Erklärung wichtig war.

Kjer schüttelte entschieden den Kopf. »Nein, diesmal irrst du dich. Das ist anders. Das habe ich noch nie zuvor irgendwo gelesen. Ich habe es geträumt. Ich konnte mich nur nicht mehr daran erinnern! Aber nun ist es mir wieder eingefallen. Vielleicht müssen wir einfach akzeptieren, dass es Dinge gibt, die man mit unserer Wissenschaft nicht erklären kann. Oder hättest du vor Kurzem die Existenz von Elfen oder Trollen für möglich gehalten?«

»Dass es solche Wesen gibt, ist wissenschaftlich unwahrscheinlich, aber nicht unmöglich, aber solche Visionen …«, murmelte Aiko verstört. Dann zuckte er mit den Schultern. »Wie soll man denn in diesen Tagen wissen, was es nicht noch alles gibt …«, fügte er nachdenklich an.

Kjer starrte gedankenversunken auf den Reim. »Und wer schweben will, muss schwere Lasten tragen«, grübelte er. Er spürte eine schwere Last auf seinen Schultern. Er blickte zu Freya, ihr dürfte es nicht anders gehen. Zumindest die letzte Zeile passte schon einmal hervorragend.

Solveigh sah Aiko an: »Wenn dir wichtig ist, dass du alles verstehst, dann glaub ich, gibt es hier noch etwas, das dich verwirren wird! – Wollt ihr etwas Abgedrehtes sehen?«, und ohne eine Antwort abzuwarten, rief sie: »Dann kommt mal mit!«

Gespannt folgten sie Solveigh in den dritten Stock und dort in einen Flur, der nur noch ganz schwach beleuchtet war. Solveigh hatte den riesigen Schlüsselbund an sich genommen. Vor einer besonders stabilen Tür hielt sie an.

Ende der Leseprobe