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Bald ist Heiligabend. Für Julian ist das der schönste Tag des Jahres. Lebkuchen und Klementinen, das Knistern und Knacken im Kamin, das flackernde Licht der Kerzen. Außerdem wird Julian an Heiligabend zehn Jahre alt. Doch dieses Jahr ist alles anders. Juni, Julians große Schwester, ist tot. Ein tiefer Schatten liegt über der Familie. Und Julian hat eigentlich nur ein Gefühl: Weihnachten ist abgesagt.
Bis Julian eines Wintertages Hedvig begegnet. Hedvig hat grüne Augen, redet schneller als der Wind und liebt Weihnachten über alles. Ganz langsam glaubt Julian, dass es doch ein Weihnachten für ihn geben könnte. Doch Hedvig hat ein großes Geheimnis.
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Seitenzahl: 165
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Die Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel »Snøsøsteren« bei Kagge Forlag AS, Oslo.
Copyright © 2018, Text: Maja Lunde, Illustrationen: Lisa Aisato
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2018 by btb Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München
Published in agreement with Oslo Literary Agency
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
Umschlaggestaltung: Semper smile, München, nach einem Entwurf von Terese Moe Leiner
ISBN 978-3-641-24088-2 V003 www.btb-verlag.de
Heute möchte ich euch von Hedvig erzählen. Davon, wie sie meine beste Freundin wurde, und davon, wie ich sie verlor. Und von meiner Schwester Juni, die schon fort war, aber trotzdem weiter bei mir ist.
Als ich Hedvig zum ersten Mal sah, presste sie ihre Nase gegen das Fenster der Schwimmhalle. Die Nase war also das Erste, was ich von ihr sah. Und unglaublich viele Sommersprossen, von denen diese gesprenkelt war. Hedvig stand draußen, allein, und schaute herein. Es schneite auf sie herab, und der Schnee legte sich auf ihre Mütze und die roten Haare, die darunter hervorlugten, und auf den dicken Wollmantel, den sie trug, und der übrigens auch rot war, so leuchtend rot wie bei einem Weihnachtsmann.
Ich war schon eine ganze Weile geschwommen. Damals ging ich häufig schwimmen, fast täglich. Hin und her im Becken. Mehr unter als über Wasser, nur bei jedem zweiten Zug tauchte mein Kopf auf, um ein- und anschließend unter Wasser auszuatmen. Ich fand, dass so ein schöner Rhythmus entstand. Auftauchen, einatmen, neuer Schwimmzug, untertauchen, ausatmen, neuer Zug.
Beim Schwimmen musste ich an nichts anderes denken, nur an meine Atmung und die Schwimmzüge und das Wasser. Außerdem war ich im Laufe der Zeit recht schnell geworden. Denn wenn du täglich schwimmst, bleibt es nicht aus, dass du nach und nach immer besser wirst. Ein paar Zehntelsekunden pro Tag.
Mit dem Schwimmen angefangen hatte ich im Grunde nur, weil John schwimmen ging. Er war mein bester Freund, und keiner von uns spielte gern Fußball, also gingen wir schwimmen. Er war an jenem Nachmittag, an dem Hedvig auftauchte, übrigens auch da.
Er war eine ganze Weile nach mir gekommen. Ich weiß noch, dass er bibbernd am Beckenrand stand. Er schaute auf das Wasser, als würde es ihm davor grauen, hineinzuspringen.
Ich schwamm zu ihm hinüber, stemmte mich aus dem Becken und stellte mich neben ihn.
»Hallo«, grüßte John.
»Hallo«, erwiderte ich.
»Ist es kalt?«, fragte John.
»Ein bisschen«, antwortete ich. »So wie immer.«
»Okay«, sagte John.
»Draußen ist es kälter«, erklärte ich.
»Ja«, meinte John. »Es schneit.«
»Ja«, erwiderte ich nur.
»Aber gestern hat es mehr geschneit«, hob John wieder an.
»Ja«, stimmte ich ihm zu. »Möglicherweise.«
»Ja«, sagte John erneut.
»Ja«, erwiderte ich erneut.
Danach schwiegen wir. Ich sah das Wasser von mir auf die blauen Bodenkacheln tropfen. Tropf, tropf, tropf. Ich muss etwas sagen, dachte ich. John fror offenbar ganz ordentlich, denn nun legte er die Arme um sich, als wollte er sich selbst umarmen. Ihm wurde schnell kalt, was nicht verwunderlich war, wo er doch nur so ein kleiner, dünner Strich in der Landschaft war. Abgesehen von mir war er der Kleinste in der Klasse. Das war auch etwas, was wir gemeinsam hatten.
Ihr denkt vielleicht, dass John und ich nur befreundet waren, weil wir klein und schlechte Fußballer waren, und dass wir ansonsten nicht wussten, worüber wir uns unterhalten sollten. Aber es gab immer eine Menge, worüber wir sprachen. Jedenfalls früher. Ehrlich gesagt redeten wir von dem Moment an, wenn wir uns morgens auf dem Weg zur Schule trafen, bis wir uns wieder trennen mussten, weil es Zeit wurde, ins Bett zu gehen. Wenn ich mit John zusammen war, musste ich nie darüber nachdenken, was ich sagen wollte. Es war irgendwie eher, als wäre er ein Knopf, der die Worte nur so aus mir heraussprudeln ließ. Lange Sätze, die niemals endeten und die ich zwischendurch nur unterbrach, damit er auch genügend Zeit dafür hatte, mindestens genauso viele Worte aus sich heraussprudeln zu lassen. Und Gelächter. Denn John und ich lachten unglaublich viel. Regelrechte Lachanfälle waren das, die uns schüttelten. Wir wälzten uns auf dem Fußboden und kringelten uns vor Lachen. Perlendes Lachen, nannte meine Mutter das. Sie sagte, das sei der schönste Klang der Welt und es höre sich an, als würden runde, weiße Perlen aus uns herausrieseln.
Aber so war es früher gewesen. Seit dem Sommer lachten wir nicht mehr miteinander. Und wenn ich John begegnete, musste ich mir jedes Mal den Kopf zerbrechen, um etwas zu finden, was ich zu ihm sagen konnte. Meistens kamen mir nur kurze Worte in den Sinn, in denen es häufig um das Wetter ging. Nie zuvor hatte ich so viel über das Wetter geredet wie im letzten halben Jahr. Dabei hatte ich eigentlich immer geglaubt, über das Wetter würden sich nur die Erwachsenen unterhalten. Von perlendem Lachen konnte jedenfalls keine Rede sein.
John fand offensichtlich, dass er nicht länger frierend herumstehen konnte. Ich selbst konnte wohl auch nicht länger dastehen und tropfen, und so sprangen wir beide ins Becken.
Ich kraulte weiter hin und her, hin und her. Neben mir sah ich John schwimmen, der allerdings nicht mit mir mithalten konnte. In den letzten Monaten war ich schneller geworden als er, ich schwamm ja viel öfter.
Auftauchen, einatmen, neuer Schwimmzug, untertauchen, ausatmen, neuer Zug. An nichts anderes denken.
Plötzlich ging meine Konzentration allerdings verloren. Ich entdeckte nämlich, dass die Bademeister ihre Kabine weihnachtlich geschmückt hatten. Rund um das Fenster zum Schwimmbecken hin hatten sie eine Lichterkette befestigt.
Ja genau, Weihnachten. Bald war Heiligabend. Der schönste Tag des Jahres …
Heiligabend ist ja für viele der schönste Tag des Jahres, aber ich habe dafür noch einen besonders guten Grund, denn an Heiligabend habe ich auch noch Geburtstag. Deshalb heiße ich übrigens auch Julian, denn Weihnachten heißt auf Norwegisch jul. Und dieses Jahr würde ich noch dazu zehn werden. Ein runder Geburtstag an Heiligabend, das war ja nun wirklich ein besonders guter Grund, sich zu freuen, aber ich freute mich nicht im Geringsten. Ich machte mir schlicht ziemliche Sorgen darum, wie das Weihnachtsfest werden würde.
Ich bin mir sicher, dass ihr ganz genaue Vorstellungen davon habt, wie Weihnachten zu sein hat. Davon, wo ihr sein wollt, und was am Weihnachtsbaum hängen soll, und wie es duften soll, und mit wem ihr zusammen sein wollt. Außerdem möchtet ihr bestimmt, dass das Fest jedes Jahr ungefähr gleich abläuft. Mir ging es genauso. Und so wurde bei uns zu Hause Weihnachten gefeiert:
Meine Mutter und mein Vater schmückten den Weihnachtsbaum immer am Tag vor Heiligabend, nachdem meine Schwestern und ich ins Bett gegangen waren. Und wenn ich dann am Weihnachtsmorgen erwachte, machte ich mir jedes Jahr Sorgen, dass sie vielleicht doch nicht fertig geworden waren.
So leise, wie ich nur konnte, öffnete ich daraufhin meine Zimmertür und schlich über die Bodendielen im oberen Flur bis zu der Treppe, die ins Erdgeschoss hinunterführte. Dort blieb ich immer stehen, um zu lauschen, ob ich etwas hören konnte. Ich horchte auf Weihnachtsgeräusche: das Engelspiel mit seinen Glöckchen, das auf dem Kaminsims klingelte, ein Knabenchor, der Stille Nacht oder Schönster Herr Jesus sang. Die Knaben sangen so schön, dass ich immer ein wenig zitterte, wenn ich ihnen lauschte.
Wenn ich mir sicher war, dass alle Weihnachtsgeräusche vorhanden waren, schlich ich die Treppe hinunter. Anschließend ging ich zur Wohnzimmertür, vor der ich erneut stehen bleiben musste. Diesmal um zu schnuppern. Es sollte nämlich auch nach Weihnachten riechen. Bei uns daheim duftet Weihnachten nach einer Mischung aus Tannennadeln vom Weihnachtsbaum und weihnachtlichem Räucherwerk in einer Schale und Pfefferkuchen und Clementinen und Zimt, und nach Kakao, der übrigens besser schmeckt als alles andere. Wenn ich mich also vergewissert hatte, dass es richtig nach Weihnachten roch, wagte ich es endlich, die Tür zum Wohnzimmer zu öffnen.
Im ersten Moment musste ich anschließend nur ganz still dastehen und blinzeln, denn vor lauter Weihnachtsschmuck war von unserem Wohnzimmer kaum noch etwas zu sehen, und alles in ihm war so hübsch und warm und schön und golden, dass es mir den Atem verschlug. Aber dann kamen Mutter und Vater, und beide umarmten mich und sagten, Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, lieber Weihnachtsjunge, und Komm, jetzt frühstücken wir erst einmal zusammen und trinken Kakao. Und an dem gedeckten Frühstückstisch, der voller Essen stand, saßen meine Schwestern und lächelten mich an. Wir wünschten uns alle drei ein frohes Fest: die kleine Augusta, die im August auf die Welt kam, ich Julian, der Mittlere von uns, geboren an Heiligabend, und Juni, die Älteste, nicht schwer zu erraten, wann sie geboren wurde.
Ja, Juni, meine Schwester.
Bei jedem Weihnachtsfest war sie Heiligabend dabei gewesen, aber in diesem Jahr würde ihr Platz am Tisch leer bleiben. Denn Juni war tot. Ganz und gar und vollkommen tot. Tot und auf dem Friedhof begraben. Und deshalb war es vielleicht nicht so seltsam, dass ich mich an jenem Nachmittag, als ich in der Schwimmhalle hin und her kraulte, fragte, wie Weihnachten wohl werden würde.
Ich versuchte, mich wieder auf das Schwimmen zu konzentrieren. Auftauchen, einatmen, neuer Schwimmzug, untertauchen, ausatmen, neuer Zug. Doch dann atmete ich auf einmal nicht mehr richtig und schluckte Wasser. Es brannte in Nase und Hals. Ich schwamm ins Flache, stellte mich auf und hustete. Und als ich so hustend im Wasser stand, entdeckte ich Hedvig.
Sie stand draußen im Schnee und schaute herein. Sie presste ihre sommersprossige Nase so fest gegen das Fenster, dass sie ganz weiß wurde. Offenbar fiel ihr plötzlich auf, dass ich sie anstarrte, denn sie schreckte ein wenig vom Fenster zurück und sah mich überrascht an. Ich blickte mich um, kein anderer hatte sie bemerkt. John schwamm auf und ab, ohne etwas anderes zu sehen als Wasser. Ich aber sah das Mädchen, und sie sah mich. Und nun hob sie die Hand und winkte mir zu.
Da hob ich auch meine Hand und winkte ihr zu. Und daraufhin schenkte sie mir ein so breites Lächeln, wie ich es schon sehr, sehr lange nicht mehr gesehen hatte.
Als ich später aus der Schwimmhalle hinaustrat, stand das Mädchen noch immer im Schnee. Nicht am Fenster, sondern vor dem Eingang. Ihr roter Mantel leuchtete im Licht der Straßenlaterne, und auf ihrer Mütze glitzerte Schnee. Sie hüpfte ein wenig vom einen Bein auf das andere, wahrscheinlich, um sich warm zu halten. Dann entdeckte sie mich und lächelte daraufhin erneut so breit, nahm Anlauf und schlidderte im Schnee auf mich zu.
»Da bist du ja endlich!«, rief sie.
»Äh, ja«, sagte ich verwirrt.
Sie blieb stehen und sah mich nur an. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Offenbar hatte sie auf mich gewartet. Aber warum? Waren wir uns schon einmal begegnet? Müsste ich sie kennen? War sie früher in meine Schule gegangen? Oder war sie eine Cousine oder entfernte Verwandte, der ich einmal bei einem Familienfest begegnet war? Ich zermarterte mir das Hirn, aber ich konnte mich einfach nicht daran erinnern, sie schon einmal gesehen zu haben. Und ich denke, an dieses Gesicht hätte ich mich erinnert. Sommersprossig und klein, mit grünen Augen, die irgendwie Licht in die Winterdunkelheit versprühten, einem lächelnden Mund und Schneidezähnen mit einer großen Lücke dazwischen.
»Ich heiße Hedvig«, sagte das Mädchen. »Nein, warte, ich muss mich richtig vorstellen, mit meinem ganzen und vollständigen Namen. Er lautet Hedvig … und jetzt würde ich mir wünschen, ich könnte sagen, Hedvig Victoria Johanna Rosendal Ekelund oder etwas in der Art … aber das wäre gelogen. Und lügen soll man ja bekanntlich nicht, erst recht nicht, wenn man jemandem zum ersten Mal begegnet.«
Sie legte eine Pause ein, um zu atmen, was sicher klug war, denn sie redete so schnell, dass die Worte nur so aus ihr heraussprudelten, und wenn sie jetzt nicht geatmet hätte, wäre sie vermutlich in Ohnmacht gefallen. Dann streckte sie die Hand aus und sagte:
»Ich heiße Hedvig Hansen – leider. Hedvig Hansen. Du denkst vielleicht, dass das doch schlicht und nett ist, jedenfalls behaupten das manche, wie praktisch, Hansen zu heißen, sagen sie. Aber das liegt mit Sicherheit nur daran, dass sie selbst einen viel spannenderen Namen haben und sich im Grunde keine Gedanken darüber machen, wie langweilig und öde es ist, einfach nur Hansen zu heißen. Nicht einmal einen zweiten Vornamen habe ich bekommen, kein kleines, feines Anna oder Ylva, nicht einmal etwas so Langweiliges wie Gerda haben sie zwischen Hedvig und Hansen eingefügt. Weißt du, ich werde es meinen Eltern immer verübeln, dass sie nicht in der Lage waren, ein bisschen fantasievoller zu sein, als sie mir einen Namen gaben.«
»Oh«, stammelte ich. »Nun … ja.«
Mehr brachte ich nicht heraus. Nie zuvor hatte ich jemanden getroffen, der so viel und so schnell redete, und es war beim besten Willen nicht ganz einfach herauszufinden, was man auf all das entgegnen sollte. Dann sah ich jedoch auf einmal ihre Hand, die sie mir immer noch hinhielt, und ich beeilte mich, sie zu schütteln.
»Julian heiße ich«, sagte ich. »Julian Wilhelmsen.«
»Guten Tag, Julian«, sagte Hedvig. »Du ahnst ja gar nicht, wie ungeheuer, herzzerreißend froh ich bin, dich getroffen zu haben.«
»Äh, nein«, sagte ich.
»Wollen wir gehen?«, fragte Hedvig.
»Ja«, antwortete ich.
Denn ich wollte nach Hause, und wenn Hedvig Lust hatte, mich zu begleiten, konnte ich ja schlecht nein sagen. Sie hüpfte neben mir los und wirkte tatsächlich »ungeheuer, herzzerreißend« froh. Ich konnte mich nicht erinnern, jemals irgendwen so froh gesehen zu haben.
»Du bist so toll geschwommen«, sagte sie und lächelte. »Hin und her, hin und her. Noch dazu rasend schnell. Wie hast du das gelernt? Wie lange kannst du das schon? Übst du oft?«
»Ja«, sagte ich.
»Das kann ich mir vorstellen. Es sieht wunderschön aus, so hin und her zu schwimmen, durch das Wasser zu schießen wie ein Fisch, oder ein Hai, denkst du nicht oft, du wärst ein Hai, der in rasendem Tempo einer Beute hinterherjagt, ein großer, gefährlicher Hai, oder vielleicht auch ein wahnsinnig fröhlicher Delfin, ich liebe Delfine, du nicht, es ist, als würden sie pausenlos lächeln, ist dir das schon einmal aufgefallen, dass Delfine lächeln, ich glaube, es liegt daran, dass sie so unendlich froh sind, schwimmen zu können, meinst du nicht auch, dass sie einfach ununterbrochen lächeln müssen, weil sie so glücklich darüber sind, sich so schnell durchs Wasser bewegen zu können.«
»… ja«, meinte ich nur.
»Du redest nicht viel«, sagte Hedvig. »Aber ich mag dich trotzdem, und dann kannst du ja auch so gut schwimmen, ist dir eigentlich klar, was für ein Glück es ist, dass du so fantastisch schwimmen kannst?«
»Darüber habe ich bis heute niemals nachgedacht«, antwortete ich.
»Darüber solltest du aber einmal gründlich und lange nachdenken«, erklärte Hedvig.
Zum ersten Mal wurde sie für einen kurzen Moment still. Ich schaute zu ihr hinüber. Jetzt lächelte sie nicht mehr, sondern sah mich fast schon streng an, damit ich auch wirklich begriff, wie glücklich ich mich schätzen durfte, weil ich so gut schwimmen konnte. Und da begriff ich es auf einmal.
»Und du … du kannst nicht schwimmen?«, fragte ich.
Hedvig antwortete nicht, stattdessen stiegen ihr jäh Tränen in die Augen.
»Nein.«
Sie atmete tief durch, um die Tränen zurückzudrängen.
»Das ist mein allerallergrößter Wunsch im ganzen Universum«, sagte sie leise. »Ich glaube, ich wäre ein vollständigerer Mensch, wenn ich schwimmen könnte.«
»Ich finde, du siehst auch so ziemlich vollständig aus«, erwiderte ich. »Ich meine, falls dich das tröstet.«
Doch darauf entgegnete Hedvig nichts. Wir gingen eine Weile durch den Schnee und erreichten die Storgata. Sie war so geschmückt wie jedes Jahr um diese Zeit. Mit Fichtenzweigen, die zwischen den Häusern hingen, schimmernden Lichtern und roten Schleifen.
Nach dem vielen Reden war es auf einmal sehr still geworden. Ich warf einen Blick zu Hedvig hinüber. Sie drehte den Kopf und sah zu den Lichtern hinauf, die über uns leuchteten.
»Zum Glück gibt es ja eine Menge andere fantastische Dinge, über die man sich freuen kann«, sagte sie.
»Ja, kann sein«, erwiderte ich.
»Nicht zuletzt Weihnachten«, fuhr Hedvig fort. »Ist Weihnachten nicht so schön, dass es sich anfühlt, als wollte einem das Herz platzen und das Gehirn explodieren?«
»Sicher, Weihnachten ist ganz nett«, sagte ich.
Normalerweise liebte ich es, wenn endlich die Weihnachtsdekoration aufgehängt wurde, aber in diesem Jahr hatte ich es nicht einmal bemerkt, dass man sie angebracht hatte, obwohl es nur noch eine Woche bis Weihnachten war. Ich nahm es erst jetzt wahr.
»Ganz nett?!«, sagte Hedvig. »Ist das alles, was du zu Weihnachten zu sagen hast, der herrlichsten, wunderbarsten, wärmsten und schönsten Zeit von allen?«
Und plötzlich sah sie mich beinahe wütend an.
»Weißt du, was ich glaube?«
»Äh, nein.«
»Ich glaube wahrhaftig, dass du zu viel schwimmst.«
Ich sagte nichts und merkte, dass ich mich ärgerte. Wer war dieses Mädchen eigentlich? Die da so plötzlich einfach vor mir stand und mich begleiten wollte und mir ein Loch in den Bauch quasselte? Und zu allem Überfluss so tat, als würde sie mich richtig gut kennen?!
»Ich schwimme so viel, wie ich schwimmen will«, sagte ich.
»Das tust du wohl«, entgegnete Hedvig.
»Und übrigens, warum lernst du nicht einfach schwimmen, wenn du so eine Wahnsinnslust dazu hast?«, sagte ich.
»Das geht dich überhaupt nichts an!«, antwortete Hedvig.
Sie starrte mich an. Und wieder sprühte Licht aus ihren Augen, aber nun ähnelte es eher wütenden Blitzen.
»Danke für die Begleitung, und guten Appetit beim Mittagessen«, sagte ich.
»Danke gleichfalls, und guten Appetit beim Abendessen«, erwiderte Hedvig.
»Also ich esse erst zu Mittag, bevor ich zu Abend esse«, sagte ich.
»Als ob mich das interessieren würde«, sagte Hedvig.
»Außerdem finde ich, dass du zu viel redest«, sagte ich.
»Und du bist so stumm wie eine schlecht gelaunte Schildkröte«, entgegnete Hedvig.
»Tschüss«, sagte ich.
»Adieu und lebe wohl«, sagte Hedvig.
»Ich gehe jetzt«, sagte ich.
»Schön«, sagte Hedvig.
»Ja, sehr schön!«, sagte ich.
Und dann ging ich, so schnell ich konnte, durch den Schnee davon. Was für ein dummes Mädchen, dachte ich. Dumm und wirklich unglaublich geschwätzig. Außerdem benutzte sie so viele seltsame Worte! Jedenfalls würde ich sie nie mehr wiedersehen. Nie mehr, nicht für eine einzige, kurze Sekunde.
Aber dann hörte ich hinter mir noch einmal ihre Stimme.
»Julian?«
Ich ging weiter. Es kam überhaupt nicht in Frage, dass ich mich jetzt umdrehte.
»Warte!«, rief sie. »Julian, warte. Entschuldige!«
Ich ging noch ein paar Meter weiter, aber Hedvig rief mir wieder etwas hinterher. »Ich habe es nicht so gemeint!«
Und dann hörte ich hinter mir laufende Schritte, woraufhin ich stehen blieb und mich umdrehte. Sie rannte so schnell, dass sie fast flog, und war völlig außer Atem, als sie bei mir ankam.
»Entschuldige, entschuldige, entschuldige«, sagte sie.
Ich wusste nicht, was ich darauf erwidern sollte. Vielleicht hätte ich mich auch entschuldigen müssen, aber ich begriff nicht, was das bringen sollte, da ich ja ohnehin nicht vorhatte, mich noch weiter mit ihr zu beschäftigen.
»Ich muss nach Hause«, sagte ich.
»Musst du wirklich?«, fragte Hedvig.
»Ich muss Hausaufgaben machen«, antwortete ich.
»Es ist doch Freitag«, wandte Hedvig ein.
»Zusatzaufgaben«, sagte ich. »Eine Menge … äh … Wochenendhausaufgaben. Das hat sich unser Lehrer neu einfallen lassen.«
»Aber ich hatte gedacht, wir könnten Freunde werden«, erwiderte Hedvig.
»Freunde?«