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In dem Land, in dem Tobias lebt, sind endlich wieder bessere Zeiten eingekehrt, und alle Kinder sollen zur Erholung die Sommerferien auf dem Land verbringen. Doch statt auf einem idyllischen Bauernhof landet der 11-jährige Tobias allein auf einer Insel weit draußen im Meer, wo er bei einer in sich gekehrten Frau namens Lothe unterkommt. Als Tobias dort einen verschlossenen Raum voller geheimnisvoller Kinderzeichnungen entdeckt, kommt er einem alten Rätsel um einen Leuchtturm und zwei unzertrennlichen Freundinnen auf die Spur. Plötzlich findet es Tobias in Lothes Umgebung spannend, und es beginnt das Abenteuer eines unvergesslichen Sommers. »Die Windmacherin« ist ein liebevoller Roman über eine Kinderfreundschaft, die Kraft der Fantasie und des Zusammenhalts.
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Seitenzahl: 173
Veröffentlichungsjahr: 2025
In dem Land, in dem Tobias lebt, sind endlich wieder bessere Zeiten eingekehrt, und alle Kinder sollen zur Erholung die Sommerferien auf dem Land verbringen. Doch statt auf einem idyllischen Bauernhof landet Tobias allein auf einer Insel weit draußen im Meer, wo er bei einer in sich gekehrten Frau namens Lothe unterkommt. Als Tobias dort einen verschlossenen Raum voller geheimnisvoller Kinderzeichnungen entdeckt, kommt er einem alten Rätsel um einen Leuchtturm und zwei unzertrennlichen Freundinnen auf die Spur. Plötzlich findet es Tobias in Lothes Umgebung spannend, und es beginnt das Abenteuer eines unvergesslichen Sommers. »Die Windmacherin« ist ein liebevoller Roman über eine Kinderfreundschaft, die Kraft der Fantasie und des Zusammenhalts.
Maja Lunde wurde 1975 in Oslo geboren, wo sie mit ihrer Familie auch lebt. Sie war bereits eine bekannte Kinder- und Jugendbuchautorin, als ihr erster Erwachsenenroman, »Die Geschichte der Bienen«, international für Furore sorgte. Das Buch stand monatelang auf Platz 1 der SPIEGEL-Bestsellerliste und war der meistverkaufte Roman 2017. »Die Schneeschwester«, der erste Teil eines großen, durchgehend vierfarbig illustrierten Jahreszeitenquartetts für die ganze Familie, das sie zusammen mit der Illustratorin Lisa Aisato entwickelt, war ebenfalls ein großer internationaler Erfolg. Es folgte bei btb die Frühlingsgeschichte »Die Sonnenwächterin«.
Eine Sommergeschichte
Mit Illustrationen von Lisa AisatoAus dem Norwegischen von Ina Kronenberger
Die norwegische Originalausgabe erschien 2023 unter dem Titel Vindmakeren im Kagge Verlag, Oslo
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Copyright der Originalausgabe 2023
© Text: Maja Lunde
© Illustrationen: Lisa Aisato
First published by Kagge Forlag AS 2023
Published in agreement with Oslo Literary Agency
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2025 btb Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 Mü[email protected](Vorstehende Angaben sind zugleich Pflichtinformation nach GPSR)
Umschlaggestaltung: semper smile, München, nach einem Entwurf von Teres Moe Leiner
Umschlagmotiv: © Lisa Aisato
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-32003-4V001
www.btb-verlag.de
… in dem ich einen Zettel an einer Schnur um den Hals trage
Von diesem Morgen am Bahnhof erinnere ich mich am allerbesten an die Geräusche. Ich stand zusammen mit Mama und Papa auf dem Bahnsteig neben dem Zug, der in Kürze abfahren sollte. Um uns herum wimmelte es von Menschen, und das Geräusch der vielen Unterhaltungen wurde von der hohen Decke über mir zurückgeworfen. Da gab es erwartungsvolle Stimmen von Kindern, die nun abreisen sollten. Mahnende Stimmen von Eltern, die ihnen einschärften, ja auch Gemüse zu essen und sich die Zähne zu putzen. Vor allem aber waren es traurige Stimmen. Von Eltern, die ihre Kinder einen ganzen Sommer lang wegschicken sollten, und von all den Kindern, denen davor graute, ohne Gutenachtkuss ins Bett gehen und alleine schlafen zu müssen, ja zum allerersten Mal ganz allein zu sein.
Ich schaute auf den Zettel, der an einer Schnur um meinen Hals hing. Dort stand mein vollständiger Name, Tobias Whim, außerdem meine Adresse in der Stadt, jene armselige Wohnung, in der wir wohnten, seit es unser eigentliches Zuhause nicht mehr gab. Und dort stand auch, wo ich hinsollte.
»Wetterland«, sagte ich zu meinen Eltern. »Wo liegt das?«
»Keine Ahnung«, erwiderte Mama. »Aber es klingt, als hätten sie dort ganz viel Wetter.«
Das sollte vermutlich ein Scherz sein, sie gab dabei nämlich ein komisches Geräusch von sich, das wie ein missglücktes Lachen klang.
Dann schwiegen wir. Ich traute mich nicht, Papa anzuschauen, und Mama anzuschauen, traute ich mich erst recht nicht, weil ich mir sicher war, dass sie beide Tränen in den Augen hatten, und bei deren Anblick würde ich ebenfalls anfangen zu weinen. Ich wollte nicht wegfahren. Zwei ganze Monate weg sein von Mama und Papa, nein, darauf hatte ich überhaupt keine Lust.
Aber das konnte ich nicht sagen, ich wusste ja, dass ich wegfahren musste. Ich hatte mehrmals gehört, wie Mama und Papa abends über Geld sprachen, wenn sie dachten, ich würde schlafen. Ich hatte gesehen, wie sie beim Essen sparten und knapsten und mir das letzte Stück Brot gaben, das wir hatten, auch wenn ich hören konnte, wie ihr eigener Magen vor lauter Leere knurrte.
»Wetter«, sagte ich stattdessen zu dem Zettel. »Klingt gut.«
Denn auf dem Land hatten sie wohl trotz des Krieges etwas zu essen. Gemüse von den Äckern, Beeren aus dem Wald und Fisch aus dem Meer.
Mama strich mir über die Wange.
»Dann hoffen wir mal, du kommst mit richtigen Pausbäckchen zurück. Ich bin sicher, das wird der beste Sommer deines Lebens.«
Papa nickte. »Wie gern würde ich selbst nach Wetterland fahren und mich jeden Tag pappsatt essen, anstatt den ganzen Sommer in den Ruinen zu arbeiten.«
»Mhm«, machte ich.
»Aber vielleicht«, sagte Papa, »haben wir bei deiner Rückkehr schon die Grundmauern und das Erdgeschoss fertig.«
»Wenigstens die Grundmauern«, bemerkte Mama. »So etwas braucht Zeit.«
Eine Weile waren wir still.
»Alles in Ordnung, Tobias?«, fragte Papa schließlich.
»Na klar«, sagte ich.
»Denkst du noch oft an die Nacht und das, was damals passiert ist?«, fragte Mama.
»Welche Nacht?«, fragte ich zurück, obwohl ich sehr genau wusste, welche sie meinte.
Mama strich mir über die Wange und sagte nichts mehr. Ich spürte ein Kribbeln in den Beinen und konnte nicht verstehen, warum sie das jetzt ansprach, warum ich ständig über die Weiße Nacht reden sollte. Es half doch nichts, darüber zu reden. Man konnte sie bloß vergessen, das war das Einzige, was half.
Nicht daran denken, nicht darüber sprechen.
Mama fragte zum Glück nicht weiter, stattdessen griff sie in ihre Tasche.
»Beinahe hätte ich es vergessen«, sagte sie. »Die wollte ich dir ja noch mitgeben.«
Sie hielt mir vier dicke Bücher hin.
»Oh«, machte ich und warf einen Blick darauf. Auf den Covern waren Drachen und Elfen abgebildet, und alle Bücher hatten Titel, die Abenteuer versprachen.
»Dort auf dem Land hast du bestimmt Zeit zum Lesen«, lächelte Mama. »So wie früher.«
»Ja«, sagte ich. »Kann schon sein.«
Früher konnte ich ein Buch aufschlagen und den ganzen Tag darin abtauchen, in der Geschichte verschwinden, mich in andere Zeiten hineindenken und unglaubliche Abenteuer erleben. Aber das war vorbei, ich konnte es einfach nicht mehr. Ich konnte zwar immer noch lesen, schneller sogar als früher, das war es nicht, aber die Wörter in den Büchern waren nur Wörter, nur langweilige Sätze, nur Tinte auf Papier, sie wurden nicht zu Geschichten. Es gab jetzt nur noch eine einzige Geschichte, und in der drehte sich alles um den Krieg. Vor allem um die Weiße Nacht.
Ich verstaute die Bücher ganz unten in dem Reisesack, der neben mir stand, hob ihn kurz an und merkte, dass er noch schwerer geworden war.
»Der Mann in der Bibliothek meinte, sie seien für einen elfjährigen Jungen perfekt«, erklärte Mama.
»Schön«, sagte ich. »Danke.«
Ich schaute hoch zu der großen Uhr an der Wand, bis zur Abfahrt des Zuges waren es nur noch zwei Minuten. Um mich herum war es stiller geworden, denn jetzt waren alle damit beschäftigt, sich in den Arm zu nehmen, zu küssen und zu drücken und sich dabei möglichst nicht anmerken zu lassen, dass sie weinten.
»Ich habe auch noch was für dich«, sagte Papa.
Und zog ebenfalls ein Buch aus seiner Tasche.
»Hier kannst du alles reinschreiben, was du erlebst«, erklärte er und blätterte durch die Seiten, die allesamt leer waren. »Und vielleicht kannst du auch noch andere Dinge aufschreiben, du mit deiner großen Fantasie.«
»Ja«, sagte ich. »Toll.«
Ich nahm das Buch, steckte es zu den anderen vier in den Reisesack und dachte, dort unten werden die fünf Bücher bestimmt den ganzen Sommer über bleiben.
Im selben Moment ertönte ein Pfiff.
Mama und Papa stürzten sich gleichzeitig auf mich und drückten mich fest an sich. Ich schloss die Augen und sog den Duft von Mamas Haaren und Papas Jacke ein, und ihre Kleider rochen nach etwas, für das ich kein anderes Wort kannte als Zuhause.
»Tschüss, mein Kleiner«, sagte Mama. »Pass auf dich auf.«
»Tschüss«, flüsterte ich.
Ohne Mama und Papa noch einmal anzuschauen, nahm ich den viel zu schweren Reisesack und beeilte mich, in den Zug zu kommen.
… in dem Oscar und Ella eine Show abziehen
Ich suchte mir einen Fensterplatz am anderen Ende des Wagens, stellte mein Gepäck auf den Sitz neben mir und hoffte, dass mich niemand bitten würde, es wegzunehmen. Bald füllte sich der Wagen mit plappernden Kindern, aber ich sah keins davon an, starrte nur nach draußen.
Der Zug setzte sich in Bewegung, und für einen kurzen Moment konnte ich auf dem Bahnsteig meine Eltern sehen, sie winkten mit dem ganzen Körper, alle beide. Dann waren sie weg. Meine Füße zuckten, am liebsten wäre ich aufgestanden und zur Notbremse gerannt, hätte den Griff an der Wand mit aller Kraft nach unten gezogen und dem Schaffner zugerufen, er solle mich wieder absetzen, das Ganze sei nur ein Scherz gewesen, nur ein Scherz, dass ich Mama und Papa zurücklassen und erst Ende August wiedersehen würde!
Aber ich blieb sitzen. Es hätte nämlich nichts genutzt, die Notbremse zu ziehen. Wir sollten aufs Land, alle miteinander, das hatten die Erwachsenen beschlossen, und damit basta. Mama glaubte sogar, dass ich den besten Sommer meines Lebens vor mir hätte. Sie war erwachsen und wusste bestimmt, wovon sie sprach, ich musste ihr vertrauen.
Ich schaute weiter aus dem Fenster. Draußen raste die Stadt vorbei. Häuser über Häuser, Straßen, Plätze und Parks.
Das hier ist meine Stadt, dachte ich. Aber der Gedanke war nicht angenehm. Denn die Stadt bot nicht das Bild, das sie sollte, sah nicht so aus wie sonst.
Der Krieg, der in meinem Land gewütet hatte, war vorbei, aber er hatte überall riesige Narben hinterlassen. Meine Stadt war voller Löcher und Krater. Die Brunnen in der Stadt führten kein Wasser, in den Blumenbeeten wuchsen nur Brennnesseln. Wir fuhren durch eine Landschaft aus zerstörten Gebäuden und Ziegelsteinhaufen. An manchen Stellen konnte ich halbe Wohnungen sehen, einen Stuhl bedrohlich dicht an der Abbruchkante von etwas, das einmal ein Zimmer gewesen war, eine Küche, die man in der Mitte durchgeschnitten hatte, eine zurückgelassene Tasse auf einem Tisch, verbrannte Vorhänge, eine Treppe, die ins Nichts führte. Und über allem lag Staub, der schreckliche Staub, wie eine dicke, schwere Decke über Häusern und Bäumen, Straßen und Menschen. Und manchmal, wenn er aufgewirbelt wurde, weil ein Auto vorbeifuhr oder der Wind durch die Straßen fegte, erinnerte der Staub an beißenden Pulverdampf.
Doch, Mama hatte recht. Der Sommer könnte wirklich gut werden. Ich müsste nicht mehr jeden Abend mit knurrendem Magen ins Bett, der laut nach Essen schrie, und ich wäre weg aus dieser Stadt, weg von all dem Kaputten, Schrecklichen, das mich ständig an den Krieg erinnerte. Denn obwohl im ganzen Land Krieg geherrscht hatte, war die Stadt am stärksten betroffen, das hatte Papa gesagt. Das war im Krieg wohl oft der Fall. Angegriffen und zerbombt wurden die Städte.
Ja, dort auf dem Land würde ich nicht an den Krieg denken müssen, und schon gar nicht an die Weiße Nacht.
Ich nahm noch einmal den Zettel hoch, las das Wort, das jetzt auf dem Kopf stand: Wetterland.
Ganz viel Wetter, dachte ich, das sollte ich wohl aushalten.
Im selben Moment ging hinter mir die Tür auf, und herein kamen zwei Kinder, ein Mädchen und ein Junge. Der Junge wirkte genauso alt wie ich, das Mädchen etwas jünger. Beide hatten die gleichen dunklen Locken und die gleichen funkelnden Augen.
»Ritter Ella!«, rief der Junge dem Mädchen zu und fuchtelte mit einem zusammengefalteten Schirm in der Luft herum, wobei er nur knapp die Köpfe mehrere Kinder verfehlte. »Seht Euch um. Kein Platz zu sehen, nicht ein einziger Sitz, auf dem ein müder Ritterpopo Ruhe finden könnte!«
»Wir können doch stehen, Knappe Oscar«, sagte das Mädchen, das offensichtlich Ella hieß. »Wir können so lange stehen, bis wir hungers sterben!«
Sie streckte die Zunge heraus und grunzte, dann fiel sie im Mittelgang tot um.
»Aber nein, werter Ritter, steht auf! Hier habt Ihr Wasser. Nein, Ella, du darfst nicht sterben, nicht jetzt! Wo wir so kurz davor waren, die Schlacht um einen Sitzplatz in diesem Zug zu gewinnen, bitte, bester Freund, sterbt nicht, lasst mich nicht allein zurück!«
Er fiel neben seiner Schwester auf die Knie und schüttelte sie, bevor er eine halbe Flasche Wasser in und neben ihren Mund goss.
»He! Was machst du da?«
Ella setzte sich auf die Knie und hustete, um das Wasser aus dem Mund zu kriegen, dann trocknete sie sich energisch mit dem Ärmel ab.
Der Junge, der offensichtlich Oscar hieß, lachte laut. »Siehst du! Jetzt bist du wieder wach!«
Das Mädchen kam auf die Füße, dann packte es die Wasserflasche des Bruders und goss ihm den Rest über den Kopf.
Es spritzte bis zu mir herüber, und meine Hose wurde nass. Das kriegten aber weder der Junge noch das Mädchen mit, sie lachten nur.
»Hallo, alle miteinander«, sagte der Junge und breitete die Arme aus. »Hat hier noch jemand einen Sitzplatz übrig?«
Niemand antwortete. Denn der Wagen war voll, und niemand hatte einen Sitzplatz übrig. Außer mir.
Ich warf einen kurzen Blick auf mein Gepäck, aber der Sack war so groß und schwer, dass ich überhaupt keine Lust hatte, ihn wegzunehmen.
»Wir nehmen den hier«, sagte der Junge zu seiner Schwester und zeigte auf den Sitz neben mir. »Und wechseln uns ab, wer im Mittelgang sitzt.«
»Und was ist mit meinem Gepäck?«, fragte ich.
Oscar packte den schweren Sack und stellte ihn in den Mittelgang.
»Hier steht’s doch gut, oder?«
Ich nickte, weil ich allem Anschein nach keine Wahl hatte. »Ja, sicher.«
Dann plumpste der Junge, ohne mich zu fragen, neben mir auf den Sitz, und daneben wiederum, auf meinem Reisesack, nahm seine Schwester Platz.
Anschließend holten sie eine laut raschelnde Papiertüte mit Karotten heraus und begannen auf ihnen herumzukauen.
»Willst du auch eine … Tobias?«, fragte der Junge nach einem Blick auf mein Namensschild.
»Nein, danke«, sagte ich, obwohl es gut roch.
Ich drehte das Gesicht wieder zum Fenster. Hielt Nacken und Kopf ganz steif und starrte nach draußen, als könnte mich nichts auf der Welt erschüttern.
Dort, hinter der Scheibe, veränderte sich allmählich die Landschaft. Mehrstöckige Wohnblocks wurden durch Villen und Reihenhäuser mit Gärten ersetzt, gepflasterte Straßen wurden zu schmalen Schotterwegen, und mit jedem Meter, den wir zurücklegten, wurden die Farben klarer. Als hätte sie jemand angeknipst. Hier waren die Bäume grün, die Beete voller kraftstrotzender Pflanzen und die meisten Häuser heil. An manchen Stellen sah ich zerbombte Gebäude, aber längst war nicht mehr alles von dem schrecklichen grauen Staub bedeckt.
Ich sprang abrupt auf und zog das Fenster herunter. Die frische Luft von draußen blies mir ins Gesicht. Dann lehnte ich mich auf meinem Sitz zurück, holte tief Luft und merkte, wie leicht es sich atmen ließ.
»Danke«, sagte Oscar. »Mir war auch ziemlich warm.«
Ich drehte mich um, für einen Moment hatte ich ihn und seine nervige Schwester vergessen. Ella saß immer noch auf meinem Gepäck im Mittelgang und blies Luft in die leere Karottentüte.
Sie hielt die Tüte in der einen Hand und schlug mit der anderen Hand dagegen.
PENG!
Das Geräusch ließ mich zusammenfahren, mein Herz pochte wie wild, und im Nacken spürte ich ein ekliges Kribbeln.
Und ich war nicht der Einzige, der sich erschreckte.
Ein kleiner Junge begann sogar zu weinen.
»Ella«, mahnte Oscar. »Reiß dich zusammen. Du jagst den Leuten Angst ein!«
»Oh«, sagte sie und wirkte tatsächlich beschämt. »Entschuldigung.«
Sie stand auf und lief rasch durch den Mittelgang auf den kleinen Jungen zu. »Entschuldigung, Entschuldigung, Entschuldigung. Das war nur die Tüte hier, siehst du, nichts Gefährliches.«
Dann ging sie in die Hocke, um dem Jungen die Tüte zu zeigen.
Oscar drehte sich zu mir um und verzog entschuldigend das Gesicht. »Ella denkt nicht immer nach, bevor sie etwas tut.«
Ich zuckte mit den Schultern – ob Ella nachdachte oder nicht, interessierte mich nicht die Bohne. Dann rollte ich meine Jacke zu einer Kugel zusammen, bettete den Kopf darauf, kniff die Augen zu und versuchte, so gut es ging, zu schlafen.
Als ich wieder wach wurde, stand die Sonne hoch am Himmel. Der Zug rauschte an Feldern vorbei, bevor er in einen Wald hineinfuhr, der so dicht war, dass die Zweige die Fenster streiften. Zwischen den Bäumen konnte ich einen See erkennen, verlockend blau in der Hitze, und weiter hinten sprang ein Tier durch den Wald. Ein Reh vielleicht?
Der Wald öffnete sich, der Zug fuhr auf eine Lichtung mit wenigen Häusern, dann bremste er ziemlich abrupt ab. Hier hatte er seinen ersten Halt.
Am Bahnhof wartete eine kleine Gruppe Erwachsener. Sie blickten gespannt auf den Zug und die aussteigenden Kinder, und alle sahen richtig nett aus. Ja, hier zu wohnen musste angenehm sein.
Aber das hier war nicht Wetterland, für uns andere ging es weiter.
Der Schaffner blies in seine Pfeife, bevor er auf den schon anfahrenden Zug aufsprang.
Das nächste Mal hielt der Zug an einer Ansammlung von Häusern neben einem Feld. Hier stiegen mehrere Kinder aus und wurden mit offenen Armen und warmherzigem Lächeln empfangen.
Der Wagen begann sich zu leeren. Ella und Oscar hatten sich zum Glück woanders hingesetzt. Und sie waren jetzt auch leiser geworden, genau wie die anderen Kinder. Es war, als würden alle dasitzen und dasselbe denken wie ich: Wann kommt mein Bahnhof, wann muss ich aussteigen, und von was für Menschen werde ich erwartet?
Der Zug erklomm einen Berg, und von dort oben konnten wir alles überblicken. Ich reckte den Hals und sah weit vor uns etwas in der Sonne glitzern, unendlich blau und unendlich groß: das Meer.
… in dem wir einen Postboten und einen Bürgermeister treffen
Als der Zug an der Endstation hielt, waren nur noch wenige Kinder übrig. Wir kletterten aus den verschiedenen Waggons auf den Bahnsteig, blinzelten in die Sonne und sogen die Luft ein. Selbst Oscar und Ella waren still. Die Luft duftete nach Salz, Tang und Sand. Wenn etwas blau riechen konnte, dann war es das hier.
»Entschuldigung, aber das ist doch gar nicht Wetterland«, sagte Oscar laut.
Und er hatte recht. Grauweiler stand auf einem Schild.
»Und wo sind die Erwachsenen?«, fragte Ella. »Bei denen wir wohnen sollen?«
Genau in diesem Moment näherte sich ein Mann vom anderen Ende des Bahnsteigs. Er war sehr groß und dünn und wankte über den Bahnsteig, als würde der Wind permanent an ihm zerren. Er trug Hosenträger und ein Hemd mit Flicken an den Ellbogen, und er hatte ein Lächeln, das ich auf Anhieb mochte.
»Willkommen, ich heiße Peter«, sagte er und redete schnell weiter. »Ich bin Bürgermeister auf Wetterland und Postbote, und in diesem Sommer bin ich außerdem dafür verantwortlich, dass ihr eine Unterkunft habt und es euch gutgeht.«
Postbote und Bürgermeister in einem, dachte ich, was für eine merkwürdige Kombination. Und es klang nach viel Arbeit, kein Wunder, dass er so schnell redete.
»Könnten sich bitte alle hier bei mir versammeln«, sagte Peter, es war aber keine echte Frage.
»So. Sehr schön.« Er schaute in ein kleines Büchlein. »Neunundzwanzig stehen auf meiner Liste. Neunundzwanzig sollt ihr sein.«
Er sah uns an und zählte. »… siebenundzwanzig, achtundzwanzig, neunundzwanzig. Sehr gut! Jetzt müsst ihr bloß noch darauf achten, dass ihr alle eure Sachen mitnehmt«, er wedelte mit der Hand in Richtung der Koffer und Taschen, die wir dabeihatten. »Und dann geht’s runter zum Meer.«
»Zum Meer?«, fragte ich.
»Jawohl«, sagte Peter und zeigte auf das Schild am Bahnhof. »Ihr braucht den Sommer nicht in Grauweiler zu verbringen.«
Wenig später standen wir mitsamt unserem Gepäck an Deck eines alten rostigen Bootes. Peter steckte den Schlüssel ins Zündschloss und gab Gas, aber der Motor hustete nur kurz, bevor er mit einem Gurgeln erstarb.
»Ich muss ihr erst gut zureden!«, rief er uns zu.
Er beugte sich über den Motor, und wir hörten ihn leise flüstern.
»Komm schon, Turid. Sei nicht so bockig, nicht heute, wo ich die Verantwortung für all diese Kinder habe. Bitte, Turid.«
»Turid?«, flüsterte Ella.
»So heißt das Boot«, antwortete Oscar. »Boote haben oft Frauennamen. Frag mich nicht, warum.«
Erneut nahm Peter das kleine Büchlein in die Hand.
»Hm, schauen wir mal, dort habe ich es mir aufgeschrieben«, sagte er. »Eine Liste von Dingen, die Turid glücklich machen.«
Er liebte ganz offensichtlich jegliche Form von Listen.
»Ich versuch’s jetzt noch mal«, sagte Peter und drehte den Zündschlüssel um.
»Das hören wir«, bemerkte Oscar, als der Motor noch lauter hustete.