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Maja Lunde

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Beschreibung

An einem gewöhnlichen Tag Anfang Juni kommt die Zeit zum Stehen. Niemand stirbt, niemand wird mehr geboren. Die neue Ewigkeit verändert das Lebensgefühl der Menschen: Die Rentnerin Margo will ausgelassen das Leben feiern und auf Reisen gehen – doch ihr pflanzenliebender Ehemann Otto möchte seine Balkonblumen nicht alleine lassen. Für die Fotografin Jenny gibt es nichts Schöneres, als die geschenkte Zeit mit ihrer Familie im Sommerhaus zu verbringen. Trotzdem plagt sie das Gefühl, etwas Wichtiges zu verpassen. Und die Krankenschwester Eva erlebt die Sorge der Schwangeren, die nicht wissen, wann ihre Babys zur Welt kommen. Überall im Land rätselt man, warum die Menschen aus dem Lauf der Zeit herausgefallen sind. Ist es ein Virus, ein alter Zauber oder eine Verschwörung böser Mächte? Und warum geht in der Natur der Kreislauf von Werden und Vergehen unvermindert weiter? Feinfühlig und mit viel Wärme schreibt Maja Lunde in ihrem neuen großen Roman über das Leben im Jetzt, die eigene Endlichkeit und über unsere Verbindung zur Natur.

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Seitenzahl: 300

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Zum Buch

An einem gewöhnlichen Tag Anfang Juni kommt die Zeit zum Stehen. Niemand stirbt, niemand wird mehr geboren. Die neue Ewigkeit verändert das Lebensgefühl der Menschen: Die Rentnerin Margo will ausgelassen das Leben feiern und auf Reisen gehen – doch ihr pflanzenliebender Ehemann Otto möchte seine Balkonblumen nicht allein lassen. Für die Fotografin Jenny gibt es nichts Schöneres, als die neue, geschenkte Zeit mit ihrer Familie im Sommerhaus zu verbringen. Trotzdem plagt sie das Gefühl, etwas Wichtiges zu verpassen. Und die Krankenschwester Eva erlebt die Sorge der Schwangeren, die nicht wissen, wann ihre Babys zur Welt kommen. Überall im Land rätselt man, warum die Menschen aus dem Lauf der Zeit herausgefallen sind. Ist es ein Virus, ein alter Zauber oder eine Verschwörung böser Mächte? Und warum geht in der Natur der Kreislauf von Werden und Vergehen unvermindert weiter? Feinfühlig und mit viel Wärme schreibt Maja Lunde in ihrem neuen großen Roman über das Leben im Jetzt, die eigene Endlichkeit und über unsere Verbindung zur Natur.

Zur Autorin

Maja Lunde, geboren 1975, ist die erfolgreichste norwegische Autorin ihrer Generation. Der Roman Die Geschichte der Bienen machte sie schlagartig berühmt: Der Bestseller wurde in 40 Länder verkauft, stand monatelang auf Platz 1 der SPIEGEL-Bestsellerliste und war der meistverkaufte Roman 2017. Er ist der erste Band des hochgelobten Klimaquartetts, das die Autorin 2023 mit dem Roman Der Traum von einemBaum abschloss. Außerdem veröffentlicht die Autorin zusammen mit der bekannten Illustratorin Lisas Aisato All-Age-Bücher wie Die Schneeschwester und zuletzt Die Windmacherin. Maja Lunde lebt mit ihrer Familie in Oslo.

Maja Lunde

Für immer

Roman

Aus dem Norwegischen von Ursel Allenstein

Die norwegische Originalausgabe erschien 2023 unter dem Titel Lukkertid im Verlag Aschehoug, Oslo.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Copyright © 2023 H. Aschehoug & Co. (W. Nygaard), AS

Published in agreement with Oslo Literary Agency

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2025 btb Verlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Covergestaltung: semper smile, München, nach einem Entwurf von Alette Bertelsen, Aletteb.dk

Covermotiv: Sunny / Getty Images

Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

Druck und Einband: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-641-31631-0V002

www.btb-verlag.de

www.facebook.com/penguinbuecher

Jenny

Ich sog die kühle Märzluft ein, sie duftete nach frischem Holz. Von unserer großen Kiefer war nur noch der Stumpf übrig. Ein knappes Dutzend Klötze vom Baumstamm lag über den Rasen verstreut, die Rinde war dunkel im Kontrast zu den gelben Sägespänen. Christian hatte den Holzfäller gebeten, die Klötze liegen zu lassen, weil er sie im Sommer zu Brennholz für die Feuerschale verarbeiten wollte. Ich verstand nicht, warum er seine Zeit damit verbringen wollte, aber Christian konnte nur schwer stillsitzen, und das Holzhacken beruhigte ihn, die eintönige Arbeit, der wachsende Berg, das anschließende Stapeln.

»Wie schön das geworden ist«, sagte er und drehte sich zu mir um. »Offener. Und wir haben nicht mehr ständig den ganzen Dreck auf dem Rasen.«

»Und die Schaukel?«, fragte Konrad.

Sie lag neben der Hauswand, die Seile waren um das morsche Holz der Sitzfläche gewickelt, jetzt rollte Konrad sie wieder ab und blieb mit den losen Enden in den Händen stehen.

Ich zeigte auf die Birke. »Wir hängen sie dort hinein. Siehst du den großen Ast?«

Doch Konrad sah gar nicht hin, stattdessen hielt er die Seilenden in den Himmel, in Richtung des Astes und des Baums, den es nun nicht mehr gab.

»Und es ist jetzt viel angenehmer, barfuß zu gehen«, sagte Christian. »Ohne die ganzen Zapfen.«

»Ich mag Zapfen«, sagte Victor und stellte sich neben seinen kleinen Bruder. »Und außerdem war der Baum immer hier.« Er sah sich um, betrachtete das kleine Ferienhaus, die reifbedeckten Blaubeersträucher und das weit unter ihnen liegende Meer. »Alles ist anders, jetzt, wo er weg ist.«

»Es war nur ein Baum«, erwiderte Christian, und ich hörte einen Anflug von Gereiztheit in seiner Stimme.

»Und wir sind uns alle einig, dass es ein schöner Baum war«, ergänzte ich schnell. »Aber er war viel zu groß, die Krone hatte sich geteilt. Der Holzfäller meinte, er hätte die Winterstürme vielleicht nicht überlebt.«

»Ich finde den Holzfäller doof«, sagte Konrad. »Mit dem Baum war alles in Ordnung.«

»Ja, vielleicht war der Holzfäller ein bisschen doof«, pflichtete ich ihm bei und war froh, einen Feind außerhalb der Familie gefunden zu haben.

Wir schleppten die Klötze ins Trockene unter das Vordach der Hütte, und während wir damit beschäftigt waren, versprachen wir den Jungs eine neue Schaukel für die Birke und ein großes Vogelhäuschen, um sie gnädiger zu stimmen. Dann setzten wir uns ins Auto und machten uns auf den Heimweg. Die Temperatur war knapp über den Gefrierpunkt geklettert, und der Himmel hatte sich zugezogen. Kurz darauf klatschte Schneeregen auf die Windschutzscheibe.

Das Auto gab einen Alarmton von sich, um vor Glätte zu warnen, Christian bremste ab.

»Das wird schon gutgehen«, sagte ich. »Wir haben neue Winterreifen.«

»Das denkst du immer«, erwiderte Christian.

Im selben Moment verloren die Reifen die Bodenhaftung, und wir schlitterten kurz über das Eis, ehe er das Auto wieder unter Kontrolle hatte. »Merkst du, wie glatt es ist?«

Wir fuhren weiter auf der Schotterstraße, die sich den Berg hinaufschlängelte, das Meer breitete sich unter uns aus, ehe der Weg wieder hinabführte und sich steil, schmal und kurvig an den Hang krallte, ohne eine schützende Leitplanke vor dem Abgrund.

Im Auto war es still geworden, Christian umklammerte das Lenkrad.

»Alles im Griff?«, fragte ich.

Er antwortete nicht.

In der scharfen Kurve auf halbem Weg bergab begann das Auto zu rutschen. Christian trat auf die Bremse und lenkte fieberhaft, doch Schnee und Eis hatten die Gewalt übernommen, und er konnte nichts tun.

Ich hörte meine eigene Stimme, die seinen Namen schrie, hörte, wie Christian Verdammt rief und die Kinder Papa, und dann wieder mich: Gegenlenken!

Doch das Auto gehorchte nicht, die Reifen rutschten weg, und statt der Kurve zu folgen, glitt das Auto über den Rand der Fahrbahn hinweg. Bergab.

Und Christian unternahm nichts.

Ich streckte den linken Arm aus und griff ins Lenkrad, versuchte, das Auto gemeinsam mit ihm zu steuern, scharf nach links, weg vom Abhang.

Jetzt landen wir da unten, gleich kommt der Knall des Airbags. Blut. Die Kinder bewusstlos auf der Rückbank.

Doch dann, endlich, bekamen die Reifen wieder Kontakt mit dem Schotter, die Bremsen griffen, und das Auto kam zum Stehen.

Christian atmete keuchend.

Ich drehte mich zu den Jungen um. »Alles in Ordnung bei euch?«

»Wir sind direkt auf den Abgrund zugesteuert«, sagte Victor. »Mama, wir hätten sterben können!«

»Ach Quatsch, nein«, entgegnete ich.

Ich wandte mich wieder zu Christian. Er war weiß im Gesicht und hielt das Lenkrad noch immer umklammert.

»Christian?«

Er antwortete nicht, starrte nur geradeaus, wie gelähmt.

»Vielleicht solltest du den Motor ausmachen?«

Er rührte sich nach wie vor nicht.

Erst jetzt fiel mir auf, wie weit das Auto auf meiner Seite über den Abhang ragte, es hing genau auf der Kippe.

»Stell den Motor aus«, sagte ich. »Wir müssen hier raus.«

Endlich reagierte Christian. Er nahm die Hand vom Lenkrad und schaltete die Zündung aus. Der Motor erstarb.

Ich war dem Abgrund am nächsten, aber wenn die Kinder ausstiegen, konnte sich das Auto wieder zur anderen Seite neigen. Ich drehte mich erneut nach hinten um.

»Victor und Konrad, ich möchte jetzt, dass ihr vorsichtig auf Victors Seite aussteigt. Ganz ruhig. Okay?«

Die Jungen nickten.

»Victor, hilf Konrad mit dem Anschnallgurt.«

Der große Bruder öffnete seinen eigenen Gurt und beugte sich zum kleinen Bruder, um ihm zu helfen. Er musste ein wenig daran herumfummeln.

»Du schaffst das«, sagte ich.

Ein Klick, dann war Konrad befreit.

»Und jetzt machst du die Tür auf«, sagte ich.

Die Tür quietschte beim Öffnen leise, die Kinder stiegen ganz still aus.

»Lasst sie einfach offen.«

Ich richtete mich wieder an Christian: »Du musst wohl vor mir aussteigen.«

Er nickte. Behutsam zog er am Türgriff.

»Aber was, wenn …«

»Das wird schon klappen.«

Er öffnete die Tür. Und während er vorsichtig ausstieg, krabbelte ich rüber auf seine Seite und folgte ihm und achtete dabei immerzu auf Schwankungen als Zeichen dafür, dass das Auto gleich kippte.

Nichts.

Ich stellte die Füße auf den Boden, richtete mich auf, war draußen.

Dann ging ich schnell zu meiner Familie, drückte die Kinder an mich, spürte Christians Wange an der meinen, ehe ich wieder zum Auto zurückblickte.

Und lächeln musste. Denn von hier aus sah ich, dass es nach wie vor sicher auf dem Boden stand, nur der rechte Vorderreifen schwebte in der Luft.

»Das war wohl gar nicht so dramatisch, wie wir dachten«, sagte ich zu Christian. »Vielleicht können wir es wieder zurücksetzen?«

»Jenny, vergiss es.«

»Wir könnten es doch versuchen?«

»Nein«, antwortete Christian und hatte endlich seine alte Stimme wieder. »Ich bleibe hier und warte auf den Abschleppwagen, und ihr geht in der Zwischenzeit zur Tankstelle und holt euch was zu essen.«

»Bist du sicher?«

Er nickte.

»Es war nicht deine Schuld«, sagte ich.

»Aber es macht mir nichts aus hierzubleiben.«

»Jedenfalls kannst du ganz unbesorgt im Auto warten«, sagte ich lachend. »Kein Grund zur Panik.«

Nachdem ich Christian noch einmal schnell umarmt hatte, nahm ich die Jungs an die Hand. Wir stapften los, während der feuchte Schnee auf uns herabrieselte und eine dünne Schicht auf Mützen und Schultern bildete.

Als ich mich umdrehte, sah ich Christian allein dort stehen. Er hielt das Telefon ans Ohr und starrte das Auto an, als überlegte er, ob er sich wirklich hineinsetzen sollte, ehe er merkte, dass ich ihn ansah, und mit der freien Hand winkte. Ich lächelte, ohne zurückzuwinken, ich wollte die Hände der Jungs nicht loslassen.

Anschließend sollte ich genau diesen Moment in Erinnerung behalten – nicht weil Christian so hilflos aussah, nicht weil die Jungen meine, ihre Hände besonders fest drückten, sondern weil sie, Jenny, damals zum ersten Mal den Schmerz spürte.

Ein kurzes Stechen im Unterleib, bei dem sie sich zusammenkrümmte.

»Ist alles in Ordnung, Mama?«, fragte Victor.

»Ja, wir haben nur schon lange nichts mehr gegessen. Ich habe ein bisschen Bauchzwicken.«

Denn das hatte ich, hatte sie, den Jungen beigebracht: dass man Bauchschmerzen bekam, wenn man zu lange nichts aß.

Und damit beruhigte sie sich selbst. Als sie den Schmerz zum ersten Mal spürte, und auch die vielen Male danach.

Bauchzwicken, Eisprung, Menstruationsschmerzen.

Sicher nichts Ernstes. So ist das eben, wenn man einen Körper hat.

Ein anderer Baum, eine Birke, ein paar Monate später, ihr Stamm warf scharfe Schatten auf das Krankenhausgebäude, die wehenden Blätter veranstalteten ein Lichtspiel auf dem Asphalt, und das Weiß des knorrigen Stammes strahlte. Jenny hätte gern die Stirn darangelehnt, die Hand auf die Rinde gelegt, die Stabilität des Baums gespürt, denn der Baum war hier, er war unerschütterlich und würde noch lange hier stehen, sehr lange.

Von der anderen Seite der Lärmschutzwand drangen die Geräusche der Autobahn herüber, das regelmäßige, durchdringende Rauschen der vier Spuren. Sie war schon oft hier vorbeigefahren, hatte die hoch aufragenden Gebäude gesehen, und manchmal hatte sie sich vorgestellt, wie es in diesen weißen Gängen wohl war: Kabel, Maschinen, Metallbetten, Patienten, die ihr Haar verloren hatten und sich langsam, nur mit einem Krankenhaushemd bekleidet, über die Korridore bewegten. Doch sie hätte nie gedacht, dass sie selbst einmal hier landen würde.

Früher war sie dem Tod häufig nahe gewesen, bevor die Kinder kamen, als Kriegsgebiete und ausgebombte Städte zu ihrem Alltag gehörten. Damals, mit der Kamera als Schutzschild gegen die Angst, hatte sie nüchtern erkannt, dass der Tod eine mögliche Konsequenz ihrer Berufswahl war. Aber der Tod, wie sie ihn sich vorgestellt hatte, kam schnell und ohne Qualen. Ganz anders als das schmerzvolle, langgezogene Sterben, das ihr nun bevorstand.

»Jenny?«

Sie drehte sich zu Christian um und erschrak bei seinem Anblick. Seine Augen waren geschwollen, die Lippen rot, als hätte er darauf herumgekaut. Er zog sie an sich, und sie ließ sich umarmen. Er roch strenger als sonst und gab nur Wortfetzen von sich, losgelöste Laute, auf die sie nichts antworten konnte. Jenny, meine Liebste … o Gott …

Ohne sie war er nichts, das hatte er oft gesagt, sie hatte ihm die Familie geschenkt, die er selbst nie gehabt hatte, und seinem Leben einen Rahmen gegeben.

Und sie wusste, was er dachte, was er sah, denn sie sah dasselbe: Victor und Konrad auf der Rückbank, Christian allein am Steuer, die Hände auf dem Lenkrad, ohne sie auf dem Beifahrersitz, ohne ihre Führung.

Sie verdrängte das Bild, öffnete die Autotür, drei Finger unter den Griff, leicht anheben, zu sich ziehen. Dann setzte sie sich hinein, hob die Füße hinterher, tastete nach dem Gurt, schnallte sich an. Diese einfachen Abläufe bewältigte sie. Aber zu leben, das schaffte sie nicht mehr.

Hinten war Konrads Kindersitz, daneben lag Victors Kissen. Kekskrümel, Eisflecken, Fingerabdrücke auf den Fensterscheiben, kleine und etwas größere, teils mehrere Monate alt, vielleicht Fettfinger von den Pommes frites, die sie damals im März an der Raststätte gekauft hatten, beim Warten auf Christian. Sie hatten das Auto schon lange nicht mehr gewaschen, vielleicht waren die Jungen größer geworden, seit sie diese Abdrücke hinterlassen hatten.

Sollten sie die Kinder jetzt abholen? Konrad aus dem Kindergarten, er stürmte immer vorbehaltlos auf sie zu, und Victor aus der Schule, er blieb manchmal stehen und wippte mit dem Fuß, wenn sie auftauchte, und überlegte, ob er sie umarmen sollte oder ihr nur zunicken, ob er lächeln sollte oder die Achseln zucken und »langweilig« antworten, wenn sie fragte, wie sein Tag war. Sollten sie die Kinder abholen, gemeinsam essen, sie zum Training fahren? Sollten sie es ihnen erzählen? Was sollten sie sagen, und wie?

Christian startete den Motor.

Was sollte sie sagen?

»Warte!«

Sie löste ihren Anschnallgurt, stieß die Tür auf, sprang hinaus, öffnete die hintere Tür, zwängte sich zwischen den Kindersitz und das Kissen, lehnte die Stirn an die Nackenstütze auf Konrads Seite, nahm den Geruch des synthetischen Stoffs wahr und seinen Geruch.

Ihre Kinder, meine Kinder, die Kinder.

Was soll ich sagen, was wird aus ihnen werden?

Wer werden sie sein? Ohne mich.

Otto

»Darf ich die Kletterrose mitnehmen?«, fragte Otto.

An diesem Tag, dem 6. Juni, stand er in seinem eigenen sonnendurchfluteten Wohnzimmer, einem Zimmer voller Artefakte, im Laufe eines ganzen Lebens gesammelt: Bücher, die er nicht mehr las, Alben, in denen er seit vielen Jahren nicht mehr geblättert hatte, Schulaufnahmen von den beiden Söhnen, Bilder von der Hochzeit seines Älteren neben dem vergilbten Hochzeitsfoto von Margo und ihm. Und Staub, all der Staub, der sich hinter den Rahmen und auf den Büchern gebildet hatte. Otto war von seinen vertrauten Dingen und seinem Hausstaub umgeben und fühlte sich in diesem Zimmer trotzdem wie ein Fremder. Denn viele seiner Sachen befanden sich schon in Pappkartons, und bald war dies nicht mehr sein Zimmer.

»Darf ich die remontierende Kletterrose an der Südwand ausgraben und mitnehmen?«

Der Immobilienmakler blickte von seinem Handy auf.

»Sie meinen … Sie wollen eine Gartenpflanze mitnehmen?«

»Ich habe sie vor 15 Jahren gepflanzt, die Wurzeln reichen wahrscheinlich tief in den Boden, aber ich glaube, es wäre trotzdem möglich, sie auszugraben … selbstverständlich kann ich sie ersetzen, ich werde kein Loch hinterlassen … ich könnte etwas anderes pflanzen, etwas Pflegeleichteres vielleicht, wie wäre es mit einer Kletterhortensie, die ist nicht so anfällig für Läuse?«

»Aber mein Lieber.« Margo lächelte und legte ihm die Hand auf den Arm.

Otto drehte sich zu dem jungen Paar um, das in weniger als einer Woche in ihr Haus einziehen würde und nun schaute, ob es einen Teil von Ottos und Margos Möbeln übernehmen wollte, die diese in ihrer neuen, engen Wohnung nicht unterbringen konnten.

»Ich wollte nur fragen.«

Die junge Frau nickte und legte eine Hand auf ihren großen Bauch. »Ja?«

Und er wusste nicht, ob das Ja bedeutete, dass er gerne fragen dürfe, oder ob er die Rose tatsächlich mitnehmen konnte. Deshalb wandte er sich wieder zum Makler, der dazugekommen war, weil Margo meinte, es solle »sicherheitshalber bei allem, was mit der Abnahme zu tun hat«, dabei sein, und der gerade eindeutig mit Wichtigerem beschäftigt war, sicher eine laufende Auktion, neues Geld, das es zu verdienen gab.

»Ich wollte gar keine Schwierigkeiten machen«, fuhr Otto fort. »Aber vermutlich gibt es ja Regeln für so etwas, genau wie für Haushaltsgeräte und festes Inventar.«

Der Makler lächelte angestrengt, während er widerstrebend sein Handy wieder einsteckte. »Wenn das für Sie in Ordnung ist«, sagte er zu dem jungen Paar – Dan und Anne, wenn Otto sich recht erinnerte, oder doch Anna? –, »wenn die Pflanze ersetzt wird, hätte ich nichts dagegen.«

»Es ist eine sehr warme Wand. Wie gesagt, ich würde eine Kletterhortensie empfehlen«, sagte Otto.

»Ja …?«, sagte Dan, und Otto dachte, diese jungen Menschen sollten dringend mal ihren Wortschatz erweitern.

»Ehrlich gesagt bin ich kein Experte auf dem Gebiet«, erklärte der Makler, »aber Hortensien erfreuen sich derzeit großer Beliebtheit, diese ganzen Omapflanzen sind ja wieder stark im Kommen.«

»Ich spreche nicht von einer Gartenhortensie, sondern von einer Kletterhortensie«, versuchte Otto der jungen Frau gegenüber klarzustellen, weil er dachte, sie hätte in dieser Angelegenheit vielleicht das letzte Wort.

»Aber Otto, mein Lieber«, sagte Margo, diesmal lauter.

»Wir kennen uns mit dem Gärtnern eigentlich nicht so gut aus«, gestand Dan.

»Aber wir freuen uns darauf, mehr darüber zu lernen«, ergänzte Anna begeistert. »Und wenn Sie eine Kletterhortensie empfehlen, ist das bestimmt gut.«

»Eine Kletterhortensie, dann einigen wir uns doch darauf.« Der Makler zog erneut sein Handy hervor. »Und es ist nett, dass Sie gefragt haben. Es gibt keine dummen Fragen. Merken Sie sich das.«

»Wir werden es uns merken«, sagte Otto.

Siehst du, dachte er und blickte zu Margo, siehst du, man kann einfach fragen. Es gibt nicht für alles Regeln, das ist nicht wie mit den Haushaltsgeräten.

Margo erwiderte seinen Blick und murmelte: »Ich verstehe nur nicht, wo du diese riesige Rose hinstellen willst?«

»In einen Kübel auf die Terrasse.«

»Aber braucht die nicht sehr viel Erde?«, fragte Margo, und wieder hob sie die Stimme.

»Es muss ein großer Kübel sein. Vielleicht kann ich aber auch ein Hochbeet da draußen anlegen«, antwortete er und bemerkte, dass die anderen ihr Gespräch verfolgten.

»Und einen Sack Erde nach dem anderen die Treppen hochschleppen?«

Dan räusperte sich.

»Ich kann sie doch wohl mit dem Aufzug transportieren, den du dir schon so lange gewünscht hast«, entgegnete Otto.

»Eine gute Vorbereitung auf das Alter ist das Klügste, was man machen kann«, sagte der Makler. »Viele Leute warten zu lange. Der Aufzug wird eine Wohltat sein. Den haben Sie sich nach all den Jahren verdient.«

Einen Aufzug verdienen, dachte Otto, kann man sich einen Aufzug verdienen?

»Wir freuen uns so«, sagte Margo. »Diese ganzen Erleichterungen werden herrlich sein.«

»Das kann ich mir vorstellen«, sagte Anna.

»Ja, alles hat seine Zeit«, sagte Dan.

»Denk nur mal daran, wie viel Arbeit uns künftig erspart bleibt«, sagte Margo.

Otto sagte nichts.

Der Makler räusperte sich. »Ja … ich habe den Trockner und das Schlafsofa in dem einen Gästezimmer notiert. Und die Gartenmöbel. Dann wären wir wohl so weit?«

»Mir ist noch etwas eingefallen, das Sie wissen sollten«, antwortete Margo und ging zum Beistelltisch. »Hier ist eine Macke im Parkett. Deshalb haben wir den Teppich darübergelegt.«

Sie zog ihn beiseite, um es zu zeigen.

»Da hat unser Jüngster mal die Bratpfanne fallen lassen.«

Der Makler, Dan und Anna betrachteten die Macke.

»Solche Abnutzungserscheinungen sind einkalkuliert«, sagte der Makler.

»Wir werden sowieso einen neuen Boden verlegen, wenn wir hier renovieren.« Dan lächelte.

»Renovieren?« Margo war das Lächeln vergangen. »Aber das Parkett ist doch fast neu.«

»Es ist 13 Jahre alt«, sagte Otto.

»Natürlich, es ist wirklich schön. Überhaupt ist Ihr Objekt in einem überaus gepflegten Zustand.« Der Makler drehte sich zu dem jungen Paar um. »Sie haben Glück.«

»Ja, wir schätzen uns auch sehr glücklich«, sagte Anna.

»Wir auch.« Margos Stimme ließ Otto innerlich schaudern. »Ein Sommer ohne Rasenmähen, wie schön das wird!«

Otto schwieg. Denn nichts, was er gerne geantwortet hätte, war für andere Ohren bestimmt als für Margos. Ich finde, uns ging es gut in unserem Haus. Ich mochte unsere gemeinsamen Tage. Ich mochte es, draußen im Garten zu arbeiten und mit Erde unter den Fingernägeln hineinzugehen, um eine Tasse Kaffee mit dir zu trinken. Ich mochte auch die Zeit, die wir getrennt voneinander verbracht haben, die Unterbrechungen, weil ich dich anschließend wieder wie neu kennengelernt habe. Ich kann mir nicht vorstellen, wie wir die Zeit in unserer neuen Wohnung füllen sollen, welche Ablenkung wir haben oder was wir ohne das Haus machen sollen, ich kann mir nicht vorstellen, wer du und ich an einem neuen Ort sein werden.

All das hatte er Margo so oft zu sagen versucht, aber das Einzige, was sie gehört hatte, war, dass er seinen Garten liebte, nicht ohne den Garten leben konnte, dass der Garten das Wichtigste in seinem Leben war.

Der mit dem Garten, nannten die Nachbarn ihn. Du weißt schon, Otto, der mit der Blumenwiese und den Gemüsekisten und den schönsten Frühlingsblumen, Schneeglöckchen, gemischt mit hübschen Blausternen, die von den Narzissen abgelöst wurden, die wiederum so lange stehen durften, bis sie langsam welkten und in einer Pracht verschiedener Sorten knallroter holländischer Tulpen untergingen. Otto, der mit dem Rücken zur Welt stand, in grünen Gummistiefeln, den Unkrautstecher in der linken Hand, denn er war Linkshänder, Otto, Linkshänder von ganzem Herzen, das hatte ihm nicht einmal die Volksschule in den 1950er-Jahren austreiben können.

Otto mit dem Garten.

Der Garten und er waren eins. Es gab immer etwas zu tun, das ihn ins Freie lockte, so war das eben, der Garten nahm sich nie frei, machte keinen Feierabend. Selbst im Winter nicht, wenn er völlig schneebedeckt war und Margo beileibe nicht verstehen konnte, warum es Otto ständig nach draußen zog. Die Vogelhäuser mussten jeden Tag mit Futter gefüllt werden, was Margo nicht bedachte, und manchmal wehten nachts die Hafergarben herunter, auffällig oft, sagte sie und behauptete, er habe sie zu schlecht festgebunden. Auch das Schneeschippen zählte zu seinen Aufgaben, sobald ein paar Zentimeter fielen, mussten die Einfahrt und die Vortreppe geräumt werden, und alle Wege dort draußen, zum Vogelhaus, zur Pergola, zum Geräteschuppen. Und im Frühling bekam er dann richtig viel zu tun. Zuerst musste der Schnee schmelzen, und manchmal brauchte Otto mehrere Tage, um ihn von den Beeten auf die Straße zu schaufeln, damit er schneller verschwand. Dann kamen April und Mai, und er rechte das alte Laub zusammen und zog zur Belüftung des Rasens mit einer Harke Rillen in die Oberfläche, zerhäckselte die welken Stauden und bedeckte damit die Beete, bis die Stückchen langsam zerfielen. Anschließend folgte die Wachstumsphase, wie jetzt, wenn das Unkraut aus dem Boden schoss und die Sisyphusarbeit begann.

Otto liebte es, Sisyphus zu sein, so wie er die langen hellen Tage draußen liebte, an denen er mit einer Tasse Kaffee unter der Pergola saß, aber nie lange, denn das Geißblatt musste hochgebunden, die unreifen Pflaumen ausgedünnt werden. Und dann kam die allerbeste Zeit, die nun bevorstand. Hochsommer, was für ein Wort, was für eine Zeit!

Aber nicht dieses Jahr. Es war vorbei. In fünf Tagen würden sie ausziehen. Margo hatte entschieden, dass es so schnell gehen sollte, dass sie sofort einzogen, wenn die Wohnung fertig war, bevor der Sommer wirklich da war und der Rasen noch einmal gemäht werden musste. Als hätte sie jemals den Rasen gemäht. Nichts konnte sie vom Gegenteil überzeugen, alle seine Argumente wurden mit einem gewichtigeren Gegenargument entkräftet, meistens ging es um Geld, um Zeit, darum, welche Verantwortung sie übernehmen müsste, falls er eines Tages plötzlich ausfiele. Wer konnte dagegen schon etwas sagen.

Unsere Zeit in diesem Haus ist vorbei, hatte Margo festgehalten, so ist es einfach.

Nachdem der Makler und das junge Paar verschwunden waren, ging Otto geradewegs in den Garten und holte den Spitzspaten und die Hacke. Auf Handschuhe verzichtete er, nur Amateure trugen Handschuhe. Erst grub er einen Kreis um die Rose, packte sie und rüttelte vorsichtig daran. Doch die Wurzel rührte sich kein bisschen, deshalb grub er weiter, behutsam, um sie nicht zu verletzen. Ringsherum türmte sich die Erde zu kleinen Häufchen.

Bald hatte er fast die ganze Wurzel freigelegt, konnte sie aber immer noch nicht bewegen. Es musste noch mehr Wurzeln geben, die er nicht sah, die tiefer in den Boden hineinreichten. Mit den Fingern entfernte er weiter die Erde, streckte sein Gesicht ganz nah heran, in der Hoffnung, etwas zu erkennen, was die Pflanze immer noch mit dem Untergrund verband. Er rüttelte erneut an ihr. Schließlich spürte er eine schwache Bewegung und grub ermutigt weiter.

Endlich fand er, was die Rose festhielt. Ein einziger dicker langer Pfahl, der vertikal in den Boden ragte, mitten unter der Pflanze. Die Pflanze war im wahrsten Sinne des Wortes geerdet.

Er könnte sie auch stehenlassen. Denn gehörte sie nicht hierher? War sie nicht hier gewachsen und aus einem kleinen struppigen Trieb, den er vor 15 Jahren aus dem Gartenbaumarkt mitgenommen hatte, zu diesem Juwel geworden, das die ganze Saison über in voller Blüte stand?

Nein. Wenn er umzog, musste die Rose mitkommen.

Hastig stand er auf, eilte zum Geräteschuppen, stieß mit der linken Hand die Tür auf, die gegen die Holzwand dahinter schlug, und fand mit der rechten, wonach er suchte. Die Baumschere. Nicht die, die er am häufigsten verwendete und die sich für dünne Äste eignete, sondern seine allergrößte, 61 Zentimeter lang, schwer und stark.

In einem schrägen Winkel bohrte er sie in die Erde, es war ein harter Einsatz, er musste die Schere anschließend ölen, denn die Erde konnte ihr schaden, aber das musste das Werkzeug jetzt aushalten.

Dann schnitt er.

Jakob

In der 25. Schwangerschaftswoche ist das Kind etwa 33 Zentimeter lang und wiegt um die 800 Gramm. In dieser Woche wachsen die Wimpern, und bald wird es seine Augen öffnen und schließen können. Jetzt ist es normal, die Bewegungen und Tritte des Kindes täglich zu spüren.

Jakob starrte auf das Bild. Dann schloss er die Augen und prägte sich alle Details ein: das abgewandte Kind, die geschlossenen Augen, die fünf winzigen Zehen, die man an dem einen Fuß sehen konnte. Eigentlich kannte er das Foto längst auswendig, genau wie den Text. Kinder, die jetzt geboren werden, haben so große Überlebenschancen, dass alles dafür getan wird, um sie zu retten.

Der Computerbildschirm war die einzige Lichtquelle im Raum. Er hatte nicht bemerkt, dass es dunkler geworden war, jetzt im Juni fiel die Nacht erst spät herein und war eher Dämmerung als Dunkelheit. Wie gewöhnlich war er gemeinsam mit Lisa früh ins Bett gegangen, sie war immer müde, kein Wunder, es war anstrengend, einen neuen Menschen zu machen. Jakob wollte ihr so gern zeigen, dass er sie unterstützte, deshalb legte er sich jeden Abend neben sie und lag dort, bis er ihr Schlafatmen hörte. Ohne selbst einzuschlafen. Er war schon immer schwer eingeschlafen, zu viele Gedanken im Kopf, zu viel Unruhe im Körper. Normalerweise hatte es ihm geholfen, beim Arbeiten, Trinken und Autofahren alle Grenzen zu überschreiten, schneller zu laufen, tiefer zu tauchen, höher zu klettern. Jetzt arbeitete er nur noch zu viel – er hatte zwei Jobs, seit der letzten Zinserhöhung beim Kredit waren sie aber trotzdem immer noch konstant im Minus –, alles andere, was zu riskant war, hatte er aufgegeben. In erster Linie, um Lisa zu zeigen, dass er an ihrer Seite war, dass er sie bei allem unterstützte, was sie gerade durchmachte, und dass es gutgehen würde, obwohl sie wenig Geld hatten, obwohl sie jung waren und das Kind nicht geplant. Und so jung waren sie auch wieder nicht. Sie seien schließlich nicht die ersten, die mit 24 ein Kind bekämen, sagte er mitunter zu ihr. Es hat viele Vorteile, wir bringen die Windelzeit und das Kleinkindalter hinter uns, während wir noch topfit sind und die schlaflosen Nächte problemlos überstehen. Doch ganz egal, was Jakob sich und Lisa erzählte, irgendetwas war mit ihm passiert, als sie ihm die beiden Striche auf dem Schwangerschaftstest gezeigt hatte. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte er sich gefürchtet.

Ein Kind zu bekommen, war größer und beängstigender als alles, was er je erlebt hatte. Er, der noch nie Angst gehabt hatte. Je mehr er über die Schwangerschaft las und je mehr er lernte, desto mehr Gefahren offenbarten sich ihm. Alles, was passierte, erschien ihm so unkontrollierbar. So unbegreiflich. Und alles, was half, war, noch mehr zu lesen, zu jeder Zeit genau zu verstehen, was mit dem Kind in Lisas Bauch passierte. Deshalb saß er oft vor dem Computer, vor allem nachts.

Und in der Nacht zum Dienstag veränderte sich alles, in jeder Nacht von Montag auf Dienstag. Denn dann begann eine neue Woche im Leben des Kindes, laut dem Termin, den sie beim Ultraschall bekommen hatten.

23:47 zeigte die Uhr in der unteren Ecke des Bildschirms. Nur noch wenige Minuten. Er klickte sich rückwärts durch die Schwangerschaft. Woche 2, der Fötus macht Atemübungen, der Fötus, schrieben sie, während er dachte: das Kind. Woche 10, die Häute zwischen den Fingern und Zehen verschwinden, Woche 19, die Hoden und Eierstöcke entwickeln sich. All das war vorbei, sie hatten schon über die Hälfte geschafft, und die zweite Hälfte verging immer schneller als die erste, das war jedenfalls seine Erfahrung, und genau in diesem Moment war es gut. Bald würde er wohl an diese Wochen denken, diese 25 vergangenen Wochen, nein, diese 18, denn er wusste ja erst seit 18 Wochen, dass sein Kind existierte, bald würde er an diese Wochen nur noch wie an eine winzige Lücke zurückdenken, einen Stillstand, bevor sich sein Leben für immer geändert hatte. Eigentlich waren es viele Stillstand-Momente, die Zeit war wie zerhackt, denn er hatte nur diese Bilder, diese Bilder waren sein Kind, eins und noch eins und noch eins.

Für Lisa war es kein Stillstand, sie war die eigentliche Veränderung. Bei ihr vollzog sich der Wandel schrittweise und natürlich, sie hatte nicht das Bedürfnis, die Zeit aufzuteilen, manchmal betrachtete sie die Fotos im Internet und in den Büchern, die er gekauft hatte, allerdings ohne jeden Enthusiasmus. Wenn Jakob diskutieren wollte, wie das Kind heißen sollte, meinte sie, das sei noch viel zu früh, aber er versuchte trotzdem ständig, Namen vorzuschlagen, um zu ergründen, ob sie sich im selben Bereich bewegten – kurz oder lang, Einzel- oder Doppelname, ein alter Name aus der Familie oder ein moderner, es gab doch unendlich viele Möglichkeiten. Aber Lisa war nicht interessiert. Sie wollte auch nicht zu viel kaufen. Wir können uns das nicht leisten, sagte sie jedes Mal, wenn er vorschlug, einen Kinderwagen oder eine Babytrage zu kaufen. Und sie hatte recht, etwas Neues konnten sie sich nicht leisten, deshalb war es umso wichtiger, früh anzufangen, denn es dauerte länger, etwas Gebrauchtes zu finden. Und das versuchte er ihr mitzuteilen, aber dann fand sie, er würde zu sehr drängen, sie unter Druck setzen, und er wolle sie doch wohl nicht stressen?

Nein, das wollte er nicht, deshalb versuchte er, seine Angst, so gut es ging, zu verdrängen und sie sich nicht anmerken zu lassen.

23:58 Uhr. Nur noch zwei Minuten. Er konnte auch jetzt auf den Link klicken. Zwei Minuten mehr oder weniger spielten ja keine Rolle.

Nein, das wäre geschummelt. Als würde er sich Woche 33 oder 39 ansehen und so tun, als wäre es jetzt.

Er stand auf, ging ein paar Schritte auf und ab, zählte die Sekunden.

Und da. Endlich zeigte die Uhr 00:00 Uhr.

Hastig klickte er auf Woche 26.

Das Kind auf dem Bild war ein wenig größer als zuletzt, es hatte ihm den Rücken zugewandt, die Hände vor dem Gesicht, als würde es sich verstecken, nein, nicht verstecken, sondern schützen, als würde es sich auf einen Kampf vorbereiten. In der 26. Schwangerschaftswoche ist der Fötus etwa 33,5 Zentimeter lang und wiegt um die 950 Gramm. Alle Sinne des Babys entwickeln sich weiter. Es nimmt laute Geräusche oder grelles Licht von außen wahr. Es spürt auch, wenn jemand den Bauch der Mutter streichelt. Wussten Sie, dass der Fötus Musik und Gesang liebt?

Singen, er sollte dem Baby im Bauch etwas vorsingen, das Kind könnte ihn jetzt hören. Jakob beeilte sich, den Computer auszuschalten, das weiße Rauschen wurde von einer stillen Leere abgelöst.

Der Junge konnte ihn hören, in seiner Fruchtblase hatte er Ohren bekommen, die funktionierten, ein Gehör. Gehör, was für ein fantastisches Wort, Jakob war vorher nie aufgefallen, was für ein fantastisches Wort das war. Er ging um Lisa herum zur anderen Seite des Betts, kroch vorsichtig zu ihr, versuchte sich so schmal wie möglich zu machen, um an der äußeren Bettkante Platz zu finden, mit dem Gesicht auf Höhe ihres Bauchs.

Was sollte er singen? Bruder Jakob, Bruder Jakob, schläfst du noch, schläfst du noch, hörst du nicht die Glocken, hörst du nicht die Glocken … ding, dang, dong? Was war das eigentlich für ein Schlaflied? Ein Lied über jemanden, der geweckt wurde?

Vielleicht sollte er lieber ein Lied singen, das ihm selbst etwas bedeutete? »London Calling«?

Sollte er hier mitten in der Nacht liegen und einem Fötus einen Song von The Clash vorsingen?

Nein, aber er konnte reden, einfach nur reden, das Kind seine Stimme hören lassen. Hallo, ich bin’s, dein Vater. Das könnte er sagen. Ich freue mich so, dass du kommen wirst, ich freue mich so darauf, dich kennenzulernen, wir werden viel Spaß miteinander haben, wir beide, radeln, klettern, PlayStation spielen.

Er öffnete den Mund, doch die Wörter kamen ihm nicht über die Lippen.

Der Bauch wölbte sich ihm entgegen, Lisas Bauch, ihr Körper, das Unbegreifliche dort drinnen.

Was würde Lisa denken, wenn sie jetzt aufwachte? Wie peinlich.

Reiß dich zusammen, Jakob. Da drinnen ist dein Sohn, und er kann dich hören.

Er brachte einen heiseren, kläglichen Laut hervor.

War das alles, was er seinem Sohn zu bieten hatte?

Lisa wälzte sich, zurzeit hatte sie einen leichten Schlaf, sie drehte sich auf den Rücken, schnarchte kurz. Jetzt war der Bauch weiter weg, ihr Bauch, aber er konnte sie riechen, ihren Schlafschweiß, ihren Körper.

Er presste die Lippen zusammen, setzte sich auf. Er schaffte es nicht, etwas für Lisas Körper zu singen, nein, er schaffte es nicht.

Sie wälzte sich erneut. Schniefte leicht. Und schlug die Augen auf.

»Jakob? Warum hast du dich noch nicht hingelegt?«

»Ich bin noch sitzen geblieben und habe mir das Kind angesehen. Seine Entwicklung.«

Sie seufzte. »Das ist doch nur eine Internetseite.«

»Jaja. Aber es zeigt unser Kind. Genau so, wie es jetzt ist.«

Dann hatte Jakob eine Idee, er ging ins Wohnzimmer und holte den Laptop.

»Guck doch mal, hier«, sagte er und zeigte es ihr. »Hier hast du unseren Sohn so, wie er jetzt ist. 33,5 Zentimeter lang und 950 Gramm schwer.«

»Jakob, bitte, kannst du das nicht einfach auf dich zukommen lassen?«

Nein, wollte er antworten, denn während du das Kind die ganze Zeit erlebst und einen Körper hast, der genau spürt, wie sich unser Leben verändert, habe ich nichts. Alles, was ich habe, ist dieses Bild, und das macht das Kind für mich wirklich.

Doch er sagte nichts, er wollte sich nicht streiten, er wollte jemand sein, der mit seiner Frau solidarisch war.

Leise klappte er den Laptop zu. Das Bild von seinem Kind verschwand zwischen zwei Kunststoffdeckeln. Und dann kroch er ins Bett, legte die Arme um Lisa und um ihren Bauch.

Jenny

»Putz, putz, putz, runter mit dem Schmutz«, sang Christian.

»Putz, putz, putz, runter mit dem Schmutz«, wiederholte Konrad.

»Die Zähne müssen sauber sein.«

»Die Zähne müssen sauber sein, dann kommen keine Löcher rein«, quäkte ihr Sohn lachend mit der Zahnbürste im Mund.

Ihre Stimmen drangen aus dem Bad bis zu Jenny. Christian sang nicht besonders rein, aber sanft, er zögerte ein wenig vor jeder neuen Zeile ihres improvisierten Duetts.