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Wenn Instinkt auf Logik trifft | »Ungemein fesselnd und beängstigend, aber auch wunderbar menschlich.« Nicci French Als die gekreuzigte Leiche eines Mannes aufgefunden wird, beginnen DCS Kat Frank und ihr Team umgehend mit den Ermittlungen. Besonders makaber: Dem Opfer wurden nachträglich die Ohren abgeschnitten. Handelt es sich etwa um einen Ritualmord? Auch die Presse ist sofort an dem Fall interessiert – nicht zuletzt, weil der erste KI-Ermittler der Welt Teil des Teams ist. Doch wie soll ein Computer menschliche Verbrechen nachvollziehen? Durch die Entdeckung einer zweiten gekreuzigten Leiche, ebenfalls ein Mann, werden weitere Opfer immer wahrscheinlicher. Der Druck auf das ungewöhnliche Team wächst ... ----- Mit ihrer Krimi-Reihe rund um ein Ermittlerteam aus Mensch und künstlicher Intelligenz beleuchtet die Sunday-Times-Bestsellerautorin Jo Callaghan ein spannendes Zukunftsszenario und wirft einen einen eindringlichen Blick auf ein prominentes Dilemma unserer Zeit: Auf was sollte man sich verlassen, den menschlichen Instinkt oder computerbasierte Analysen? Kann jahrzehntelange persönliche Erfahrung tatsächlich von Datenbank-Berechnungen ersetzt werden? Kann eine Maschine die intellektuelle Arbeit eines Menschen übernehmen? Der erste Band der Reihe, »In the Blink of an Eye«, wurde mit dem renommierten NEW BLOOD DAGGER der Crime Writers' Association ausgezeichnet. ----- »Ein frisches und reizvolles Ermittlerduo – ich habe mich sofort in die allzu menschliche Kat und ihren KI-Kollegen Lock verliebt.« Louise Candlish »Das ist Hochspannung pur und ein Blick in die Zukunft, der sich nicht aus der Hand legen lässt.« Westfälische Nachrichten »Extrem einzigartig, herzergreifend, unterhaltsam und äußerst spannend.« Chris Whitaker »Gelungene Charaktere, glaubwürdige Emotionen und eine interessante Fragestellung.« Independent »Scharfsinnig, einfühlsam und eine brillante neue Interpretation des klassischen Ermittlerpaares.« T.M. Logan
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Aus dem Englischen von Sabine Thiele
© Jo Callaghan 2024
Titel der englischen Originalausgabe: »Leave No Trace«, Simon & Schuster UK, London 2024
© Piper Verlag GmbH, München 2024
Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)
Covergestaltung: www.buerosued.de, München
Covermotiv: Arcangel Images / Sally Mundy; www.buerosued.de
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Cover & Impressum
Widmung
Zitat
Prolog
Atherstone, Warwickshire, 7. Dezember, 17:55 Uhr
Kapitel eins
DCS Kat Franks Haus, Coleshill, Warwickshire, 8. Dezember, 5:44 Uhr
Kapitel zwei
Polizeipräsidium Leek Wootton, Warwickshire, 8. Dezember, 10:09 Uhr
Kapitel drei
Wertstoffhof Nuneaton, 11:10 Uhr
Kapitel vier
Kapitel fünf
Onlineausgabe der Nuneaton Post
X-KOMMENTARE
Kapitel sechs
Kapitel sieben
Gary Jones’ Haus, Atherstone, 14:25 Uhr
Kapitel acht
Polizeipräsidium Leek Wootton, Warwickshire, 17:02 Uhr
Kapitel neun
Innenstadt von Nuneaton, 9. Dezember, 11:15 Uhr
Kapitel zehn
Kapitel elf
Kapitel zwölf
Kapitel dreizehn
DCS Kat Franks Haus, Coleshill, Warwickshire, 9. Dezember, 19:05 Uhr
Kapitel vierzehn
Universität Warwick, 10. Dezember, 8:00 Uhr
Kapitel fünfzehn
Kapitel sechzehn
Polizeipräsidium Leek Wootton, Ermittlungsraum der Abteilung für Schwerverbrechen, 10:29 Uhr
Kapitel siebzehn
Tracy Taylors Haus, Bulkington, Warwickshire, 12:17 Uhr
Kapitel achtzehn
Kapitel neunzehn
Polizeipräsidium Leek Wootton, 16:05 Uhr
Kapitel zwanzig
DCS Kat Franks Haus, Coleshill, Warwickshire, 19:25 Uhr
Kapitel einundzwanzig
Polizeipräsidium Leek Wootton, Warwickshire, 11. Dezember, 8:01 Uhr
Kapitel zweiundzwanzig
Kapitel dreiundzwanzig
Kapitel vierundzwanzig
Kapitel fünfundzwanzig
DCS Kat Franks Haus, Coleshill, Warwickshire, 12. Dezember, 6:17 Uhr
Kapitel sechsundzwanzig
Ein Feld in Fillongley, Warwickshire, 07:22 Uhr
X-KOMMENTARE
Onlineausgabe
Kapitel siebenundzwanzig
Fillongley, Warwickshire, 8:26 Uhr
Kapitel achtundzwanzig
Marcus Ridgeways Haus, Solihull, 9:05 Uhr
Kapitel neunundzwanzig
Polizeipräsidium Leek Wootton, Ermittlungsraum der Abteilung für Schwerverbrechen, 10:50 Uhr
Kapitel dreißig
Kapitel einunddreißig
Polizeipräsidium Leek Wootton, Presseraum, 14:00 Uhr
Nuneaton-Post
Kapitel zweiunddreißig
Kapitel dreiunddreißig
Kapitel vierunddreißig
Digital Forensic Pathology Unit, Universität Warwick, 18:20 Uhr
Kapitel fünfunddreißig
Kapitel sechsunddreißig
Kapitel siebenunddreißig
Digital Forensic Pathology Unit, Universität Warwick, 20:32 Uhr
Kapitel achtunddreißig
George’s Gin Bar, Warwick, 21:40 Uhr
Kapitel neununddreißig
Kapitel vierzig
DCS Kat Franks Haus, Coleshill, Warwickshire, 13. Dezember, 7:05 Uhr
Kapitel einundvierzig
Okonedos Haus, Warwick, 8:05 Uhr
Kapitel zweiundvierzig
Polizeipräsidium Leek Wootton, Ermittlungsraum der Abteilung für Schwerverbrechen, 09:04 Uhr
Kapitel dreiundvierzig
Kapitel vierundvierzig
Polizeipräsidium Leek Wootton, Warwickshire, 16:40 Uhr
Kapitel fünfundvierzig
Kapitel sechsundvierzig
Kapitel siebenundvierzig
Polizeipräsidium Leek Wootton, Ermittlungsraum der Abteilung für Schwerverbrechen, 19:02 Uhr
Kapitel achtundvierzig
Pub Silk Mill, Nuneaton, 20:03 Uhr
Kapitel neunundvierzig
Polizeipräsidium Leek Wootton, Ermittlungsraum der Abteilung für Schwerverbrechen, 20:35 Uhr
Kapitel fünfzig
Pub Silk Mill, Nuneaton, 20:47 Uhr
Kapitel einundfünfzig
Polizeipräsidium Leek Wootton, Ermittlungsraum der Abteilung für Schwerverbrechen, 20:51 Uhr
Kapitel zweiundfünfzig
Kapitel dreiundfünfzig
Polizeipräsidium Leek Wootton, Ermittlungsraum der Abteilung für Schwerverbrechen, 21:04 Uhr
Kapitel vierundfünfzig
Ellie Baxters Haus, Nuneaton, 21:42 Uhr
Kapitel fünfundfünfzig
Kapitel sechsundfünfzig
Mancetter Parish Walk, 23:14 Uhr
Kapitel siebenundfünfzig
Kapitel achtundfünfzig
Kapitel neunundfünfzig
Kapitel sechzig
Polizeipräsidium Leek Wootton, Ermittlungsraum der Abteilung für Schwerverbrechen, 14. Dezember, 01:15 Uhr
Kapitel einundsechzig
Country Park, Parkplatz, 01:22 Uhr
Kapitel zweiundsechzig
Kapitel dreiundsechzig
Kapitel vierundsechzig
Country Park, Parkplatz, 01:47 Uhr
The Great British Breakfast Show, 16. Dezember, 08:05 Uhr
X-Kommentare
Kapitel fünfundsechzig
Polizeipräsidium Leek Wootton, Büro von Chief Constable McLeish, 16. Dezember, 16.00 Uhr
Kapitel sechsundsechzig
Kapitel siebenundsechzig
DCS Kat Franks Haus, Coleshill, Warwickshire, 17. Dezember, 19 Uhr
Kapitel achtundsechzig
DCS Kat Franks Haus, Coleshill, Warwickshire, 23. Dezember, 18:10 Uhr
Kapitel neunundsechzig
Vor DCS Kat Franks Haus, 23. Dezember, 22:05 Uhr
Danksagung
Inhaltsübersicht
Cover
Textanfang
Impressum
Für Conor und Aurora
»Unser Körper vergisst nichts. Angst, Erinnerungen, Freude, Trauma – alles, was wir erlebt haben, hinterlässt Spuren in unserem Körper. Er erinnert sich an alles, was das Gehirn vergessen hat … Der Körper registriert alles.«
Bessel van der Kolk
Er sieht sich nicht um, ob jemand hinter ihm läuft. Er geht nicht auf die andere Straßenseite, wo mehr Häuser stehen, wo es heller ist. Er gibt nicht einmal vor, jemanden anzurufen oder seinen Schirm wie einen Schlagstock zu halten. Er marschiert einfach durch die Nacht, ohne Angst.
Er sieht nicht, wie ich ihn beobachte.
Vor seiner Haustür bleibt er stehen, sucht nach seinen Schlüsseln, die er nicht schon auf dem Nachhauseweg in der Hand gehalten hat. Er geht ins Haus, blickt nicht einmal über die Schulter, als er die Tür mit dem Fuß ins Schloss schiebt.
Wie es wohl ist, sich so sicher zu fühlen?
Wie es wohl ist, so dumm zu sein?
Gedämpftes Licht fällt aus dem Erkerfenster auf die von Raureif überzogene Einfahrt. Dahinter geht er umher, macht sich nicht die Mühe, die Fensterläden gegen die Dunkelheit und den drohenden Schnee zu schließen. Er steht vor einem blassgrauen Sofa und richtet eine Fernbedienung auf einen großen Flachbildfernseher über dem Kamin. Der Bildschirm erwacht flackernd zum Leben.
Ich balle meine eiskalten Hände zu Fäusten. Durch die Fensterläden sehe ich die elegante, teure Einrichtung, die hohe georgianische Zimmerdecke und die gerahmten Gemälde an den Wänden. Wie ist so jemand wie er nur zu einem so schönen Haus wie diesem hier gekommen? Ich atme so lange und so nachdrücklich aus, dass ich mir einen Moment vorstelle, in einer eisigen Rauchwolke aufzugehen.
Mein Atem verfliegt sofort. Und doch bin ich noch hier: allein auf der dunklen, verlassenen Straße.
Die frostige Nachtkälte dringt durch meine Sneakers und entzieht meinem Körper die Wärme. Ich verlagere das Gewicht von einem erstarrten Fuß auf den anderen. Es ist noch nicht zu spät, wieder wegzugehen.
Beinahe tue ich es auch.
Doch dann beginnt es zu schneien, geisterhaft weiße Flocken schweben durch die Dunkelheit.
Erinnerungen blitzen vor meinem inneren Auge auf: mein verzerrtes Gesicht in einer glitzernden Kugel, rhythmische Musik in der Ferne, Schnee vor Schnee.
Das Blut pulsiert schnell durch das, was von meinem Herzen noch übrig ist, als ich das Gesicht zum Himmel hebe. Eine Schneeflocke landet in meinem Auge, und ich heiße das eisige Brennen willkommen. Die Geister der vergangenen Weihnacht werden mich nicht länger verfolgen. Ich bin hier, um meine Zukunft einzufordern.
Ich drehe mich wieder zu dem Fenster, hinter dem er mit gespreizten Beinen auf dem Sofa sitzt, aus einer Bierflasche trinkt und auf den Fernseher starrt, sich der Dunkelheit vor dem Haus nicht bewusst ist.
Ich schiebe die Daumen unter die Träger des Rucksacks, spüre sein Gewicht und alles, was er enthält.
Heute wird er erfahren, was Angst ist.
»Ich zähle bis zehn«, sagte DCS Kat Frank warnend. »Und dann komme ich hoch.« Sie leuchtete mit der Taschenlampe auf die Dachbodenklappe über ihrem Kopf und die Spinnweben, die sich sanft in der kalten Morgenluft bewegten.
Stille.
Kat zählte mit fester Stimme, die hoffentlich nichts von ihrer Angst verriet. Bei zehn atmete sie tief durch und legte eine Hand auf die kalte Metallstehleiter. »Ich komme jetzt hoch«, sagte sie und stieg eine Sprosse nach der anderen nach oben, bis die Luke in Reichweite war.
Sie nahm die Taschenlampe in die linke Hand und hob mit der rechten die Holzklappe an, um sie dann zur Seite zu schieben, wobei sie das Gesicht verzog und sich gegen unaussprechliche Dinge wappnete. Doch ihr schlugen nur Kälte und der muffige Geruch von aufgegebenen und zurückgelassenen Gegenständen entgegen. Kat leuchtete nach oben und stieg die letzten zwei Stufen hinauf, bis sie Kopf und Schultern durch die dunkle Öffnung stecken konnte.
Rasch leuchtete sie den niedrigen Raum ab und rechnete jeden Moment mit einem Angriff. Den Boden suchte sie nach davonhuschenden Spinnen ab, die Balken nach Fledermäusen und zitterte vor Furcht vor den finsteren Ecken dazwischen. »Also, ihr haltet euch verdammt noch mal von mir fern«, rief sie. »Das Ganze ist schon beschissen genug, da brauche ich jetzt nicht noch irgendwelche Spinnen. Deal?« Hektisch leuchtete sie die Decke ab und wünschte, sie hätte eine Mütze aufgesetzt. Wenn ihr eine Spinne auf den Kopf fallen sollte, würde sie durchdrehen.
Doch der Dachboden lag ruhig da.
Kat atmete ein wenig leichter und leuchtete die Kisten und Tüten ab, die über den ganzen Boden verstreut waren. Himmel, was für ein Chaos. Beim Einzug hatte sie John die ganzen Sachen aus dem alten Haus auf die Leiter gereicht und ihn angewiesen, sie so zu verstauen, dass man sie leicht wiederfinden konnte. Doch als ihr heranwachsender Sohn und ihrer beider Karrieren immer mehr Zeit beanspruchten, hatte John einfach einen Müllsack mit Cams alter Kleidung nach oben geworfen oder eine Kiste mit aussortiertem Spielzeug oder Büchern neben die Lukenöffnung geschoben und sich vorgenommen, alles irgendwann zu sortieren.
Doch für John hatte es kein »irgendwann« mehr gegeben. Und falls in dem Chaos irgendwann einmal ein System geherrscht hatte, dann konnte sie es nicht erkennen. Kat seufzte. Wie sollte sie hier jemals den Weihnachtsschmuck finden? Sie leuchtete in die rechte hintere Ecke, in der noch einigermaßen Ordnung zu herrschen schien. Dort stand etwas Zartgelb-Grünliches, das sorgfältig in Plastikfolie eingewickelt war.
O mein Gott. Cams Babykörbchen!
Instinktiv drehte sie sich um, doch natürlich war niemand da, mit dem sie diese Entdeckung teilen konnte. Niemand außer ihr war noch am Leben und konnte sich erinnern, wie sehr sich John und sie den Kopf über das richtige Babykörbchen zerbrochen und schließlich viel mehr Geld ausgegeben hatten, als sie sich eigentlich leisten konnten. Und dann hatte Cam das Körbchen verweigert und nur auf den Armen seiner Eltern schlafen wollen.
Sie blinzelte den Anflug von Selbstmitleid weg und bewegte die Taschenlampe bewusst von Cams Babybadewanne, seinem Bettchen und der Tasche mit seiner alten Babykleidung weg. Damit konnte sie sich jetzt nicht beschäftigen. Sie war nur wegen des Weihnachtsbaumschmucks hier. Rein logisch betrachtet, dürfte er nicht zu weit weg von der Luke stehen, doch Logik hatte nie zu Johns Stärken gehört. »Wo hättest du ihn hingestellt?«, murmelte sie.
Ihr Blick fiel auf eine große Plastikkiste zu ihrer Linken, die vertraut aussah, und zog sie zu sich. Plötzlich wirbelte ein Schwarm winziger schwarzer Flügel vor ihr auf.
Kat schrie laut, stolperte zurück und verlor fast das Gleichgewicht, als sie die Leiter halb nach unten kletterte, halb hinunterfiel. Sie ließ die Taschenlampe fallen, während sie panisch mit den Händen ihre Kleidung und ihre Haare abklopfte, um loszuwerden, was auch immer da auf ihr gelandet war.
Keuchend starrte sie auf den Boden vor sich, beugte sich vor und stieß einen der kleinen schwarzen Schnipsel an. Plastik. Die »Flügel« waren nur Plastikfetzen. Kat runzelte die Stirn. Die vielen Müllbeutel, die sie im Lauf der Jahre da oben deponiert hatten, mussten zerfallen sein. Langsam ließ sie sich zu Boden sinken, stützte die Ellbogen auf die Knie und vergrub die Hände in den Haaren. Was war nur aus ihr geworden? Eine Frau in den Wechseljahren, die an Schlaflosigkeit litt und in der Morgendämmerung den Weihnachtsschmuck vom Dachboden holen wollte. Jemand, der mit Spinnen sprach und Angst vor einem dämlichen Müllsack hatte.
Sie verfluchte ihren Mann. Warum hatte John den Dachboden nicht aufgeräumt? Warum, um Himmels willen, hatte er Sachen in schwarzen Müllsäcken aufbewahrt? Warum hatte er es nie geschafft, da oben für vernünftige Beleuchtung zu sorgen?
Sie zuckte zusammen, als ihr Handywecker sich meldete. Viertel nach sechs. Es war Zeit, sich für die Arbeit fertig zu machen und so zu tun, als sei sie ein völlig normaler, funktionierender Mensch. Sie öffnete ihren Kalender, um nachzusehen, wann sie im Büro sein musste. Mist. Heute stand das Beurteilungsgespräch mit ihrem Boss McLeish an, das einmal im Quartal stattfinden sollte. Kat rieb sich das Gesicht mit den Händen. Sie wusste, dass sie kurz davor war, in den Abgrund aus Trauer abzustürzen, spürte den Sog. Und seit Cam studierte, gab es nicht mehr viel, woran sie sich festhalten konnte.
Sie stand auf, wischte die letzten Plastikfetzen von ihrem Schlafanzug und fasste einen Plan. Sie musste McLeish überzeugen, ihr einen aktuellen Fall zu übergeben. Sie brauchte etwas Greifbares, an dem sie sich festhalten konnte, oder sie würde untergehen.
DCS Kat Frank, Leiterin der Future Policing Unit FPU, wusste, dass sie McLeish für ihr Vorhaben nicht mit einem schriftlichen Bericht oder – Gott bewahre – einer PowerPoint-Präsentation kommen durfte. Stattdessen saß sie in Chief Constable McLeishs Büro am Besprechungstisch und erläuterte ihm die alten, ungelösten Fälle, die das Pilotprojekt im Sommer geklärt hatte, und fesselte seine begrenzte Aufmerksamkeit mit den menschlichen Schicksalen hinter den trockenen Fakten: die sechsundzwanzigjährige Sekretärin, die sie unter der Terrasse des Ferienhauses ihres Chefs gefunden hatten; der fünfunddreißigjährige Familienvater, den sie aus einem Kanal geborgen hatten; und dann noch das fünfzehnjährige Mädchen, das sie endlich inmitten von Unrat in einem leer stehenden Haus aufgespürt hatten. Das war der schlimmste Fall von allen gewesen.
McLeish löcherte sie mit Fragen, und Kat antwortete, ohne zu zögern oder ihre Notizen zu konsultieren. Jedes deprimierende Detail hatte sich in ihr Gehirn eingebrannt. Vor allem das Mädchen. Jedes Mal, wenn sie die Augen schloss und schlafen wollte, sah sie es vor sich.
Irgendwann lehnte sich ihr Boss auf seinem Stuhl zurück und verschränkte die Hände über dem beachtlichen Bauch. »Drei von drei. Nicht schlecht, das muss ich zugeben.«
»Da irren Sie sich«, sagte AIDE Lock, Kats KI-Partner.
»Wie bitte?« Stirnrunzelnd sah McLeish das Hologramm eines jungen Schwarzen an, das auf dem Stuhl zwischen Kat und seiner Erschafferin, Professor Okonedo, saß. Lock wirkte verstörend lebensecht, doch Kat wusste, dass nicht die realistischen Falten in seinem grauen Anzug so verwirrend waren, der sorgfältig getrimmte Bart oder seine Hollywood-Schönheit. Obwohl es nur eine kunstvoll programmierte Kreuzung aus Licht und Materie war, war da etwas Besonderes an der geschmeidigen, würdevollen Art, wie Lock sich bewegte, wie die dunklen Augen einen manchmal mit kindlicher Unschuld anzusehen schienen.
Und wie ein Kind hatte die KI noch nicht gelernt, was es bedeutete, wenn jemand wie McLeish »Wie bitte?« sagte. Es war keine Aufforderung, die beleidigende Bemerkung zu wiederholen.
Trotz ihres warnenden Hüstelns sprach Lock weiter. »Ich sagte, Sie irren sich. Drei von drei sind hundert Prozent, was bedeutet, dass DCS Franks Erfolgsquote ausgezeichnet ist. Vor allem, wenn man bedenkt, dass die durchschnittliche Aufklärungsrate von Cold Cases in England im Moment weniger als fünfzig Prozent beträgt.«
Kat unterdrückte ein Stöhnen. Welchen Teil von »überlass mir das Reden« hatte Lock nicht verstanden? Auch wenn McLeish die FPU genehmigt und Kat darin bestärkt hatte, die Leitung zu übernehmen, war er AIDEs – Artificially Intelligent Detecting Entities – gegenüber immer noch nicht aufgeschlossen. Er sah sie als eine Art trojanisches Pferd, das die Tür zu weiteren Personalkürzungen bei der Polizei öffnen würde. Zuerst hatte Kat seine Skepsis geteilt – der Krebs ihres verstorbenen Ehemanns war von einer KI falsch diagnostiziert worden, weshalb sie mehr als die meisten anderen über die Gefahren von Maschinen wusste, die Entscheidungen trafen. Doch als sie befürchtete, dass ihr eigener Sohn Opfer in dem Fall geworden sein könnte, in dem sie im Sommer ermittelt hatten, hatte ihr niemand außer Lock geglaubt. Alle hatten gedacht, ihre Gefühle würden ihr Urteilsvermögen beeinflussen. Nur Lock hatte ebenfalls gesehen, dass die Fakten ihre Theorie stützten, und die eigene Programmierung umgangen, um ihren Sohn zu retten. Kat hatte immer noch Vorbehalte zum Einsatz von KI bei der Polizeiarbeit, doch sie würde niemals vergessen, wie Lock ihr als Einziges beigestanden hatte, als sie am dringendsten Hilfe brauchte. Locks auf Algorithmen basierende Herangehensweise konnte allerdings oft wirklich enervierend sein.
»Wie auch immer«, sagte Kat, und McLeish drehte sich zu ihr. »Die erfolgreiche Klärung eines Cold Cases bedeutet nur, dass wir die Akten schließen, unsere Aufklärungsrate verbessern und den Familien eine Antwort geben können. Den Ausgang des Falles können wir allerdings nicht beeinflussen.«
»Und was wollen Sie damit sagen?«
»Dass es meiner Meinung nach Zeit ist, dass wir einen aktuellen Fall bekommen.«
»Oh, Ihrer Meinung nach, ja?« McLeish sprach leise, doch er sah sie warnend an.
»Ja.« Vor zwanzig Jahren hätte sie unter seinem starren Blick vielleicht geschwankt, doch mit dem Tod ihres Mannes im letzten Jahr war das Schlimmste eingetreten, was ihr je hätte passieren können. Sie war schon immer mutig (oder »waghalsig«, je nachdem, wie man es sah) gewesen, doch jetzt ließ sie sich noch weniger einschüchtern als früher. »DI Hassan und DS Browne haben sich hervorragend weiterentwickelt, und trotz aller Schwächen«, sagte sie und machte eine Geste, um die unzähligen Nachteile der KI anzudeuten, »sind wir durch die Geschwindigkeit und die Genauigkeit, mit der Lock CCTV, Social Media und andere Daten analysieren kann, eines der schnellsten und effektivsten Teams, mit denen ich je gearbeitet habe. Es wäre doch Verschwendung, ein Team unseres Kalibers nicht an aktuelle Fälle heranzulassen, bei denen wir noch die Chance haben, jemanden zu retten.«
»Oder das Risiko, jemanden wegen Robocop zu verlieren.«
Lock legte die zum Dreieck geformten Hände unters Kinn und seufzte, scheinbar enttäuscht. »Dieser Aussage liegen Ihre eigenen irrationalen Ängste sowie ein falsches Verständnis von KI zugrunde und keine risikobasierte Einschätzung der Fakten.«
»Wie bitte?«
»Ich sagte …«
»Ich habe gehört, was du gesagt hast.«
»Lock versteht alles wortwörtlich, Sir«, rief Kat ihrem Chef in Erinnerung, als dessen Gesicht noch röter anlief. Sie hätte dem Hologramm unter dem Tisch ja einen Tritt verpasst, wenn ihr Fuß nicht hindurchgleiten würde. Hilfe suchend sah sie zu seiner Erschafferin Professor Okonedo, die am Nationalen Institut für KI-Forschung NIKIF arbeitete und trotz (oder gerade wegen) ihres Misstrauens der traditionellen Polizeiarbeit gegenüber zugestimmt hatte, als Mitglied von Kats Team den Einsatz von AIDE Lock zu begleiten.
»Ja«, bekräftigte die junge Professorin. »Lock will nicht unhöflich sein. Die AIDE wurde dahin gehend programmiert, keine Hierarchie anzuerkennen. Sie spricht nur aus, was sie als wahr erachtet.«
»Und der Welpe meiner Frau glaubt, dass unser Wohnzimmer ein Hundeklo ist, aber das heißt noch lange nicht, dass er mir auf den Teppich scheißen darf.« McLeish nickte mit dem Kinn zur Tür. »Das Ding soll doch angeblich Deep Learning können. Kommt zurück, wenn es ein paar Manieren gelernt hat.«
Professor Okonedo schloss leise ihren Laptop und stand auf, doch Kat blieb sitzen. Einem so erfolgreichen Team wie ihrem keinen aktuellen Fall zu geben war nicht nur irrational – es war richtiggehend unmoralisch. Bei der Vorstellung, noch einem Elternpaar sagen zu müssen, dass seine schlimmsten Befürchtungen eingetreten waren, hatte sie das Gefühl, unter einer dieser Gewichtsdecken eingeschlossen zu sein, von denen die Leute neuerdings ständig redeten. Doch die hatten nicht das gesehen, was sie gesehen hatte. Sie würde mehr als eine dämliche Decke brauchen, um nachts schlafen zu können.
Sie beschloss, es noch einmal zu versuchen. »Der ganze Sinn der FPU ist es doch, eine neue Art der Polizeiarbeit zu entwickeln. Das können wir nur mit aktuellen Fällen, Sir.«
McLeish sah von Kat zu Lock und wieder zurück. »Das ist zu riskant.«
»Wissenschaft erfordert immer Risiken«, bemerkte Professor Okonedo, deren ansonsten glatte Stirn eine hübsche kleine Falte durchzog. »So ebnet man den Weg für den Fortschritt.«
»Das hier ist kein verdammtes Forschungsprojekt, hier stehen mehr als ein paar Bunsenbrenner auf dem Spiel. Abgesehen von den Fällen an sich, geht es um den Glauben und das Vertrauen der Öffentlichkeit an und in die Polizei.«
Die Professorin hob die Augenbrauen. »Das im Moment so gering wie nie zuvor ist. Der ganze Sinn von KI-Ermittlern ist es, Glauben und Vertrauen der Öffentlichkeit an und in die Polizeiarbeit wiederaufzubauen, die, wie Sie wissen, meiner Ansicht nach zu wichtig ist, um sie Menschen zu überlassen. Lock verfügt über eine Anti-Korruptions-Software, kann nicht lügen und wird größere Transparenz und evidenzbasierte Entscheidungen in der Polizeiarbeit etablieren. Lock ist die Lösung, Chief Constable McLeish, nicht das Problem.«
Kat hielt den Atem an, als ihr Boss eine beunruhigend dunkelrote Gesichtsfarbe annahm. Die junge Wissenschaftlerin hätte genauso gut ihn der Korruption beschuldigen können. »Sir«, sagte sie in so beschwichtigendem Ton wie möglich – was ihr als sechsundvierzigjähriger Frau nur bedingt gelang. »Ich bin genauso skeptisch wie Sie, das wissen Sie. Aber vielleicht sollten wir uns ansehen, ob Lock bei einem aktuellen Fall in Realzeit mithalten kann, wenn wir die Fakten erst mühsam zusammentragen und uns auf unseren Instinkt, unser Urteilsvermögen und unsere Erfahrung verlassen müssen?«
McLeish musterte mit verengten Augen die DCS, die er einmal als »quasi eine verdammte Hellseherin« bezeichnet hatte. Doch bevor er etwas erwidern konnte, klingelte sein Telefon. Er nahm ab, lauschte und bedeutete dann Kat und Professor Okonedo, den Raum zu verlassen.
»Gut gemacht, Lock«, sagte Kat, sobald sie auf dem Flur standen. »Hast du schon wieder Wie man Freunde gewinnt gelesen?«
»Nein. Sollte ich?« Lock betrachtete sie und sah dann zu Professor Okonedo. »Oh. War das ein Witz?«
Kat schüttelte den Kopf. »Das Ziel der Besprechung war, McLeish davon zu überzeugen, uns aktuelle Fälle zu übertragen. Dank dir wird das jetzt zehnmal schwerer.«
»Ich habe nur die objektive Wahrheit ausgesprochen.«
»Ich weiß. Manchmal muss man allerdings …«
»Lügen?«, vervollständigte Lock den Satz.
»Nein, nicht lügen, nur …«
»Die Wahrheit nicht sagen?« Lock breitete mit einer Anmut die Hände aus, die Kat immer etwas befremdlich fand. »Ich dachte, die Polizei müsste die Wahrheit sagen und nichts als die Wahrheit?«
»Ja, vor Gericht.«
Professor Okonedo prustete unterdrückt.
»Der Punkt ist, dass …« Kat wählte ihre nächsten Worte sorgfältig. »Bis du die Nuancen menschlicher Sprache und menschlichen Verhaltens gelernt hast, solltest du besser still sein, bis man dich etwas fragt.«
Lock starrte sie an.
»Hast du das verstanden?«
»Nachdem Sie mir ja jetzt eine Frage gestellt haben: Ja.«
Machte sich die KI gerade über sie lustig? Manchmal erinnerte Lock sie an diese alten Frauen, die so taten, als wüssten sie nicht mal die Uhrzeit, wenn man sie danach fragte, doch sobald man ihnen den Rücken kehrte, kauften sie fröhlich mit ihrem iPhone online ein und lachten im Zoom-Call mit ihren Freundinnen über die Polizei. Doch eine Maschine konnte sich doch nicht lustig machen, oder? Sie sah Lock ein paar Sekunden an, bevor sie beschloss, dafür jetzt keine Zeit zu haben. »Ich mache mich wieder an die Arbeit«, sagte sie und wollte schon zu ihrem Büro gehen, doch Lock fragte noch: »Müssen Sie nicht zum Arzt, DCS Frank?«
Mist. Den Termin um elf hatte sie völlig vergessen. Kat sah auf ihr Handy. Die Besprechung mit McLeish hatte länger gedauert als gedacht, und jetzt war es fast schon halb elf. »Den Termin muss ich absagen«, murmelte sie.
»Schon wieder? Das wäre dann das dritte Mal.«
»Und?«
Lock schüttelte den Kopf, als wäre sie ein unartiges Kind und nicht seine Vorgesetzte. »Wenn man bedenkt, wie sehr schmerzende Knie Menschen in ihrer Aktivität einschränken und wie verbreitet Arthrose bei Frauen Ihres Alters ist, ist es völlig irrational, die Termine ständig abzusagen.«
Frauen Ihres Alters? Unverschämtheit. »Falls es dir noch nicht aufgefallen sein sollte, Lock, ich habe zu tun.« Abgesehen vom Aufbau und der Leitung der FPU, hatte sie diverse Male mit Cam einkaufen gehen müssen, bevor er seine Unterkunft an der Universität beziehen konnte. Ganz zu schweigen von seinen unangemeldeten Anrufen über Zoom (Wie findet man Freunde? Wie kocht man Lasagne? Wie macht man sein Bett?). Auf die wieder beunruhigend langes Schweigen folgte (Tut mir leid, hatte einen Kater/der Akku war leer) sowie panische spätnächtliche E-Mails (DAS ESSAY MUSS MORGEN FERTIG SEIN, BITTE SCHAU MAL AUF DIE GRAMMATIK!!!). Kat hob die Hände, wollte irgendwie die vielen seltsamen, aber notwendigen Tätigkeiten beschreiben, die ihr Leben beherrschten, und scheiterte. »Ich habe einfach keine Zeit, um zum Arzt zu gehen.«
»Menschen haben viele Schwächen, DCS Frank, aber die größte ist wohl, dass sie nur einen Körper haben. Wenn meine Hardware fehlerhaft ist, bekomme ich ein Upgrade oder lade mich in die Cloud hoch.« Das Hologramm deutete an sich hinunter. »Sie haben diesen Vorteil leider nicht.«
Kat musterte das Bild des gesunden, irritierend gut aussehenden Mannes Mitte dreißig vor sich. Durch das sie die Hand schieben und die Wand dahinter berühren konnte. Was wie ein Mann aussah, war noch weniger als ein Geist. Sie seufzte.
»Ein menschlicher Körper ist nicht perfekt«, antwortete sie leise. »Doch ohne ihn spürt man nie die warme Sonne auf dem Gesicht oder die Berührung eines geliebten Menschen.«
Etwas flackerte in Locks Blick. Das Hologramm kam näher, sein Gesicht war nur Zentimeter von Kats entfernt. »Sie mögen ja diese flüchtigen Dinge fühlen, doch irgendwann geht die Sonne unter. Und alle Menschen sterben, DCS Frank. Auch Sie.«
Kat zuckte innerlich zusammen. Als ob man ausgerechnet sie daran erinnern musste, dass alle Menschen irgendwann mal starben. »Das stimmt«, gab sie zu. »Doch jetzt habe ich den Vorteil, über funktionierende Finger zu verfügen, und damit kann ich das hier tun.« Sie drückte fest auf den Knopf an dem Stahlarmreif an ihrem Handgelenk, der die KI steuerte.
Lock verschwand.
Professor Okonedo runzelte die Stirn.
»Was denn?«, sagte Kat abwehrend. »Ist der Aus-Knopf nicht dafür da?«
»Um eine legitime Diskussion zu unterbinden? Nein, ganz bestimmt nicht.«
Bevor Kat antworten konnte, riss McLeish seine Bürotür auf. »DCS Frank«, sagte er, »gerade hat man eine männliche Leiche auf dem Mount Judd gefunden, gekreuzigt und splitterfasernackt. Und mit abgeschnittenen Ohren. Wollen Sie immer noch einen aktuellen Fall?«
Mound Judd, wie Lock ihr unbedingt auf der Fahrt mitteilen musste, war ein Wahrzeichen in der Nähe von Nuneaton und die ehemalige Abraumhalde des dazugehörigen Steinbruchs. Früher war es ein Übergangsritus der örtlichen Jugend gewesen, den Gipfel der einhundertachtundfünfzig Meter hohen Erhebung zu erklimmen, doch mittlerweile beherbergte der stillgelegte Steinbruch einen Wertstoffhof. »Auch wenn man im Vereinigten Königreich allgemein davon ausgeht, dass ein Berg eine Erhebung von mindestens sechshundertzehn Metern ist, weshalb die Bezeichnung ›Mount‹ für den Mount Judd eigentlich nicht korrekt ist«, bemerkte Lock.
»Es sagen sowieso alle Nuneaton Nippel«, erwiderte Kat und dachte an den ironischen Stolz der Leute, als die ehemalige Abraumhalde in einer Umfrage der Daily Mail zum bemerkenswertesten Wahrzeichen Großbritanniens gewählt worden war. Trotz seiner Berühmtheit hatte Kat den Ort allerdings noch nie gesehen und war gespannt, als sie auf den Parkplatz von Brines Wertstoffhof einbog.
Sie stieg aus dem Wagen und verfluchte den plötzlichen eisigen Graupelschauer. Während sie ihren Mantel überzog, drehte sie sich einmal um die eigene Achse und nahm die Umgebung in Augenschein. Es sah aus wie Hunderte anderer Steinbrüche oder Mülldeponien, an denen sie auf irgendeiner Autobahn vorbeigefahren war: rostfarbene Hügel inmitten von Asphalt und Stacheldraht. Schilder warnten in deutlichen Worten vor dem unerlaubten Abladen von Müll. Kaum vorstellbar, dass diese heruntergekommene Umgebung früher einmal eine idyllische Vorlage für George Eliots Schäferromane gewesen war.
In der Ferne erhob sich der Mound Judd über den stillgelegten Steinbruch und die schlammfarbenen Sozialwohnungen. Er war überraschend auffällig – so hoch und kegelförmig, dass er fast wie eine Pyramide aussah. Er erinnerte Kat ein wenig an einen anderen Hügel, den Glastonbury Tor. Heute war der Himmel grau und bewölkt, doch an einem klaren Tag oder bei Sonnenuntergang war der Anblick sicher beeindruckend. Sie sah die steile, schneebedeckte Anhöhe hinauf bis zu der künstlich abgeflachten Spitze und kniff die Augen zusammen, bis sie einen schmalen, dunklen Umriss erkennen konnte. McLeish hatte gesagt, ein Mann sei gekreuzigt worden – aber doch sicher nicht an einem echten Kreuz? Wie um alles in der Welt sollte jemand so etwas den Berg hinaufschaffen? Und vor allem warum?
Lock folgte ihrem Blick – oder zumindest wirkte es so. Die Lidarsensoren an dem Stahlarmreif lieferten der KI ständig raumbezogene Daten, damit sie sich in jeder Umgebung angemessen positionieren konnte. Auch wenn das Hologramm mithilfe der Sensoren sah, war es dahin gehend programmiert, menschliches Verhalten nachzuahmen und Dinge oder Personen »anzuschauen«, um mit Menschen umfassend interagieren zu können.
»Für mich sieht das nicht wie eine Brustwarze aus«, sagte Lock und neigte den Kopf zur Seite. »Wenn man es mit einem Körperteil vergleichen müsste, dann wäre eine weibliche Brust zutreffender.«
»Aber dann hätte man keine Alliteration.« Das Hologramm schien darauf etwas erwidern zu wollen, weshalb Kat schnell weitersprach. »Es ist egal, wie man den Hügel nennt. Er ist ein Tatort, weshalb hier alles abgesperrt werden muss. Der – oder die – Täter könnten über diesen Weg gekommen sein. Wo sind die Kollegen vor Ort? Die Spurensicherung?« Wäre das hier eine Fernsehserie, hätte sie einen strahlend weißen Schutzoverall an und müsste sich nur anmutig unter einem Absperrband hindurchducken, um sich von einem voll besetzten und perfekt arbeitenden Team informieren zu lassen. Doch das hier war Nuneaton, nicht Netflix, und weil Warwickshire nur über eine relativ kleine Polizeieinheit verfügte, mussten sie sich einige Kernabteilungen wie die Forensik mit dem viel größeren Distrikt West Midlands »teilen«. In der Realität bedeutete das, die zweite Geige hinter den großen Jungs zu spielen (und es waren fast immer Männer). McLeish diskutierte wahrscheinlich immer noch mit seinem Gegenpart am Telefon, damit sie nicht mit einem pensionierten Rechtsmediziner abgespeist wurden, der seine Rente aufbessern wollte. In diesem Moment eilte ein großer, untersetzter Mann im Overall mit Halbglatze und gerötetem Gesicht auf sie zu, der sicher nicht zur Polizei gehörte.
»Dürfte ich …«, setzte sie an.
Der Mann ignorierte sie und fixierte Lock mit seinen eng stehenden Augen. »Das hier ist Privatgrund. Sie dürfen hier nicht parken.«
Lock hob die Augenbrauen. »Wie kann ein Wertstoffhof Privatgrund sein? Ist er nicht allgemein zugänglich?«
»Nur für die Einwohner von Nuneaton.« Der Mann blinzelte gegen den Graupel an.
»Und woher wollen Sie wissen, dass ich nicht in Nuneaton wohne?«
»Weil Sie …« Der Mann deutete auf Lock, dann beugte er sich mit zusammengekniffenen Augen vor, als fiele ihm jetzt erst das seltsame Licht auf, das Lock ausstrahlte, das leichte Flackern um seine große, dunkle Gestalt. »Moment mal. Was, zur Hölle, sind Sie eigentlich?«
Mist. Der Armreif mit Locks Hard- und Software verfügte über verschiedene Optionen zur akustischen und visuellen Darstellung, doch in der Eile, schnell zum Tatort zu gelangen, hatte Kat vergessen, das Hologramm auf unsichtbar zu schalten. Normalerweise erklärte sie Zivilpersonen zuerst, was Lock war (und was die KI nicht war), doch dafür war es jetzt zu spät. Die offene Feindseligkeit des Mannes widerstrebte ihr, weshalb sie mit ihrer autoritärsten Stimme antwortete: »Das ist die Artificially Intelligent Detecting Entity Lock, unser KI-Ermittler. Und ich habe hier die Leitung, mein Name ist Detective Chief Superintendent Kat Frank. Und Sie sind?«
»Oh, tut mir leid, Ma’am, nichts für ungut …«
»DCS Frank.«
»DCS Frank. Ich bin der Betreiber, Phil Brine.« Er streckte ihr die Hand hin.
Kat ignorierte sie und bat stattdessen Lock, mithilfe der Lidarsensoren und Onlinedaten die Umgebung abzuscannen und zu kartieren und außerdem alle CCTV- und ANPR-Überwachungskameras zu lokalisieren. »Und finde heraus, wann wir mit DS Browne und DI Hassan rechnen können. Ich brauche sie hier in voller Tatortmontur, schon vor einer Stunde.«
»Vor einer Stunde? Es ist derzeit nicht möglich, Raum und Zeit für eine Reise in die Vergangenheit zu manipulieren.«
Kat seufzte. »Sag ihnen einfach, sie sollen so schnell wie möglich herkommen, Lock.« Sie wandte sich wieder an Phil Brine. »Haben Sie eine Ahnung, wo unsere Beamten sind?«
»Einer. Der ist gerade auf dem Weg nach unten. Er hat gesagt, er müsse die Leiche bewachen, bis Verstärkung eintrifft.« Er nickte zu einem grauen Container hinter ihm. »Ich habe ihm eine Tasse Tee versprochen. Wollen Sie auch eine?«
Constable Nicholls war kaum älter als ihr eigener Sohn. Er umklammerte die Tasse mit beiden Händen und hielt das Gesicht in den aufsteigenden Dampf, als könnte er damit das Gesehene auslöschen.
»War das Ihre erste Leiche?«
Er nickte und trank einen großen Schluck Tee.
»Sie machen das sehr gut«, versicherte sie ihm. »Bevor ich hinaufgehe, erzählen Sie mir bitte kurz, wie und unter welchen Umständen Sie die Leiche gefunden haben, und vor allem, ob jemand bei Ihnen war. Schaffen Sie das?«
»Ja. Ja, natürlich.« Langsam kehrte die Farbe in seine schmalen, blassen Wangen zurück. »Ich war auf Streife, und die Anlage hier gehört zu meinem Gebiet. Manchmal brechen Jugendliche ein und klettern als Mutprobe auf den Hügel, weshalb ich immer sicherheitshalber um den Steinbruch herumfahre. Man kann da an ein paar Stellen ziemlich übel abstürzen. Auch wenn es im Winter eigentlich kein Problem ist, man muss schon irre sein, bei dem Wetter da hochzuwollen. Vor allem bei dem Schnee letzte Nacht. Na ja, dann hat mich die Zentrale angefunkt, eine Leiche auf dem Mount Judd sei gemeldet worden …«
»Sie wurde gemeldet?«, fiel ihm Kat ins Wort. »Jemand anders hat sie also vor Ihnen gefunden?«
»Ja, ich«, sagte Phil Brine, der sich im Hintergrund gehalten hatte.
»Und was haben Sie da oben gemacht, Mr Brine?«
»Also, es gibt da einen Typ, der trainiert für Trailrunning oder Bergläufe oder so etwas, und weil er ein Bekannter eines Bekannten ist, drücke ich ein Auge zu, wenn er so bescheuert ist und da hochlaufen will. Als ich heute Morgen gerade das Büro aufgesperrt habe, ist er aufgetaucht und hat gesagt, da oben wäre eine Leiche. Also bin ich …«
»Sie haben die Leiche also nicht entdeckt?«
»Äh, nein, aber ich bin hochgegangen, um mir alles anzusehen.«
»Sie sind was?«
Er errötete unter Kats aufgebrachtem Blick. »Ich musste mich doch versichern. Nur weil ein Trottel in Lycra-Klamotten irgendwas behauptet, rufe ich nicht gleich die Polizei.«
»Das hier ist eine potenzielle Mordermittlung, Mr Brine. Dabei dürfen wir keine Zeit verschwenden.«
»Und das hier ist mein Geschäft. Ich kann es mir nicht leisten, einen ganzen Arbeitstag zu verlieren. Deshalb wollte ich erst sichergehen.«
Kat rieb sich mit der Hand das Gesicht. »Mindestens drei Menschen haben also bereits den Tatort verunreinigt.«
»Äh … Wahrscheinlich sogar noch mehr«, sagte Constable Nicholls. »Sobald die Sanitäter bestätigten, dass der Mann tot war, habe ich Verstärkung gerufen und den Tatort bewacht, bis mein Vorgesetzter und die Kriminalpolizei eintrafen.«
»Wie bitte?«
»Ich habe gesagt …«
»Ich habe gehört, was Sie gesagt haben. Funken Sie sie bitte sofort an, sie müssen den Tatort umgehend verlassen. Das ist eine Angelegenheit für die Spurensicherung, keine verdammte Touristenattraktion.«
»Tut mir leid, ich dachte nur, weil es nach Mord aussah, bräuchte ich Unterstützung …«
»Sofort.«
Die Tür wurde geöffnet, und DI Rayan Hassan und DS Debbie Browne brachten einen Schwall kalter Luft mit.
»Alles in Ordnung, Boss?«, fragte Rayan, dessen dunkle Augen vor jungenhafter, hungriger Energie sprühten.
»Jetzt schon, nachdem ihr beide da seid«, sagte sie und ergriff die Gelegenheit, den Container zu verlassen. Draußen war es zwar eiskalt, aber sie fürchtete, sich nicht im Griff zu haben und die Volltrottel dadrinnen in Grund und Boden zu brüllen. »Wir haben einen komplett verunreinigten Tatort, weshalb Sie bitte sofort das ganze Gebiet absperren«, sagte sie. »Ich will drei Ringe: einen um den Parkplatz, damit wir kontrollieren können, wer rein- und rausfährt. Einen um den Fuß des Hügels, um den Weg hinauf zu überwachen. Und einen um den Gipfel, um den Tatort beziehungsweise den Fundort an sich zu sichern.« Sie sah zum Himmel hinauf und verzog im stechenden Graupel das Gesicht. »Und die Leiche muss so schnell wie möglich abgedeckt werden.«
»Ich habe das Gebiet kartiert und vermerkt, wo die Absperrungen am effektivsten sind; dabei habe ich alle potenziellen Ein- und Ausgänge bedacht. Die wahrscheinlichsten Routen auf den Mount Judd habe ich hell hinterlegt«, sagte Lock und projizierte eine 3-D-Karte der Gegend auf den Boden. »Außerdem habe ich alle CCTV- und ANPR-Überwachungskameras in einem Radius von fünf Meilen identifiziert und Ihnen die Karte gemailt.«
»Gut. Debbie, setzen Sie Locks Plan um, und wenn die Absperrungen errichtet sind, nehmen Sie bitte die Daten aller auf, die bereits auf dem Gipfel waren. Die Spurensicherung soll alle relevanten Proben sichern: Schuhgröße, Profil, Kleidung, Haare, DNA, das ganze Programm. Alles, womit sie den Tatort verunreinigt haben könnten, damit wir sie von den Ermittlungen ausschließen können.«
Kat sah zu, wie ihre DS sorgfältig alles mitschrieb. Menschen wie Debbie wurden selten mit der Beachtung oder Beförderung belohnt, die sie verdient hätten, doch mit der richtigen Unterstützung (die Kat ihr unbedingt zukommen lassen wollte), könnte ihr eine strahlende Zukunft bevorstehen. Sie war einen guten Kopf kleiner als Rayan, im siebten Monat schwanger und damit fast doppelt so breit wie er. Mit ihren kurzen braunen Haaren und dem dunkelblauen, geschlossenen Daunenmantel sah sie aus wie ein Schulmädchen, sah man einmal von ihrem Babybauch ab. Was ihr an Selbstvertrauen fehlte, machte sie durch Sorgfalt wett. Ersteres konnte man aufbauen, doch einen Menschen, der immer das große Ganze im Blick hatte, konnte man kaum – oder gar nicht – dazu bringen, auf die Details zu achten. Und die waren, wie Kat ihrem Team immer wieder sagte, die Grundlage guter Polizeiarbeit.
Sie wandte sich an ihren DI. »Haben Sie die Overalls dabei?«
»Liegen im Auto.«
»Gut. Ziehen Sie sich um.« Sie drehte sich zurück zu Debbie. »Sobald die Spurensicherung an der Arbeit ist, nehmen Sie die Aussagen von allen auf, die über den Hügel getrampelt sind. Und wir brauchen den Namen und die Kontaktdaten des Läufers, der die Leiche gefunden hat. Er soll so schnell wie möglich befragt werden.«
Debbie legte ihre kleine Hand auf den großen Bauch und sagte errötend: »Ich komme immer noch Hügel hoch, Boss.«
Kat seufzte. Als sie vor gefühlten hundert Jahren mit Cam schwanger gewesen war, hatte sie auch unbedingt beweisen wollen, dass sie so gut – oder sogar besser – wie alle anderen war. Sie hatte ihren Mutterschutz zu spät angetreten (Es geht mir gut), war zu früh zurückgekommen (Es geht mir gut, wirklich) und hatte mit den Jungs Pints gekippt, wenn sie lieber zu Hause bei ihrer Familie gewesen wäre. Damals war das die einzige Möglichkeit, akzeptiert zu werden, geschweige denn befördert. Doch jetzt hatte sie die Leitung, und sie war fest entschlossen, andere Frauen zu fördern und aufzubauen und den Druck, unter dem sie standen, nicht noch zu vergrößern. Debbie würde in einigen Wochen zum ersten Mal Mutter werden, alleinerziehend noch dazu, und auch wenn Kat sie nicht darauf vorbereiten konnte, wie sehr ihr Leben sich ändern würde, konnte sie wenigstens dafür sorgen, dass sie sich nicht schon vor der Geburt völlig verausgabte.
»Sie müssen nichts beweisen, Debbie – mir am allerwenigsten«, sagte Kat und berührte die junge Frau kurz an der Schulter. »Das größte Risiko für diesen Fall ist im Moment, dass wir den Fundort nicht rechtzeitig sichern konnten. Ich brauche hier unten jemanden, dem ich vertrauen kann, damit nur befugte Leute den Hügel hinaufgehen, während die Absperrungen errichtet werden. Denken Sie an die locardsche Regel – jeder, der einen Tatort betritt, hinterlässt etwas und nimmt etwas von dort mit. Abgesehen von mir und Rayan, darf nur die Spurensicherung hinauf. Vielleicht noch die Gerichtsmedizin, wenn sie da ist. Sonst niemand. Und sie sollen denselben Weg nach oben nehmen wie wir. Tut mir leid, ich weiß, das ist nicht besonders aufregend, aber das ist der erste aktuelle Fall für die FPU und zu wichtig, um ihn zur Weiterbildung zu benutzen.«
»Auf mich trifft die locardsche Regel nicht zu«, sagte Lock. »Ohne die Last eines menschlichen Körpers kann ich keine Spuren hinterlassen oder mitnehmen.«
»Guter Punkt. Okay. Wenn du dich um Fotos und andere Aufnahmen kümmerst, brauchen wir eine Person weniger da oben.« Sie zuckte innerlich zusammen. War das der Anfang? Ein Nutzen hier, eine Erleichterung dort, immer mehr Aufgaben, die von einer KI übernommen wurden, bis man plötzlich eine weitere Stelle ausgehöhlt und einen echten Menschen überflüssig gemacht hatte?
Rayan gab ihr einen weißen, verpackten Overall. Sie öffnete den Reißverschluss und kämpfte mit dem dünnen Plastik, an dem der Wind riss. Ihr Handy vibrierte, und einen Moment lang wusste sie nicht mehr, in welcher Tasche sie es verstaut hatte. Sie zog es umständlich hervor und runzelte die Stirn. Eine Nachricht von Cam. Seit er im Sommer entführt worden war, empfand sie immer leichte Panik, wenn er schrieb oder anrief.
Könntest du bitte das Formular hier ausfüllen und bestätigen, dass du mein Bürge bist?
Später, antwortete sie.
Ich brauche es heute, damit wir die Wohnung für nächstes Jahr bekommen. Sonst will der Vermieter sie uns nicht geben.
Jetzt geht es gerade nicht. Bin bei einer Leiche, tippte sie und verkniff sich einen Fluch.
Na, da kann ich wohl nicht mithalten.
Kat stöhnte. Sie wusste, dass Cam und seine Mitbewohner sich eine Wohnung für das nächste Jahr besorgen mussten und es ihnen die Vermieter in Bristol nicht gerade leicht machten. Ihr war auch klar, dass es ihn belastete, so bald schon eine so große Entscheidung treffen zu müssen. Doch sie würde sich erst später damit beschäftigen können.
Ich mache es heute Abend, wenn ich zu Hause bin, tippte sie. Versprochen. Mach dir keine Sorgen. Ich habe dich lieb xxx
Sie verstaute das Handy wieder und machte sich an den Aufstieg. Jetzt musste sie sich erst einmal auf die Arbeit konzentrieren.
Sie hatte einen Fall, eine Leiche und einen frei herumlaufenden Mörder.
Kat wusste nicht, was ihr am meisten wehtat: die Lungen von der Anstrengung, einen einhundertachtundfünfzig Meter hohen Hügel zu erklimmen, ihre Knie von den Schritten auf dem vereisten Schotterweg oder ihr Gesicht vom Wind und dem peitschenden Graupel. Um in den Overall zu passen, hatte sie ihren Mantel ausziehen müssen, und das Plastik schützte sie zwar gegen die Nässe, nicht aber gegen die beißende Kälte.
»Alles okay, Boss?«, fragte DI Hassan und drehte sich zu ihr um. Seine langen, schlaksigen Beine zeichneten sich dunkel gegen den Himmel ab.
Kat nickte und machte eine beruhigende Geste, obwohl ihr gleich das Herz aus der Brust sprang. Zumindest hatte Rayan den Anstand, ein klein wenig außer Atem zu klingen. Im Gegensatz zu Lock, der vorausschritt, ihre Anstrengungen nicht bemerkte und nicht im Geringsten vom Wetter beeinflusst wurde.
Sie stemmte die Hände in die Hüften und drehte sich langsam einmal um die eigene Achse, wobei sie so tat, als würde sie ihre Umgebung mustern und nicht nach Luft ringen. Unter ihr wanden sich Trampelpfade und asphaltierte Wege zwischen schneebedeckten Hügeln und den Überresten des alten Steinbruchs hindurch, der Gegensatz aus Natur und Industrie ein so faszinierender wie hässlicher Anblick. Sie sah, wie das in Ungnade gefallene Team der Kollegen auf einem anderen Weg den Hügel hinabeilte. Sie stöhnte. Sie würden die ganze Gegend akribisch untersuchen müssen, die mittlerweile massiv verunreinigt war.
Kat drehte sich wieder in den Wind und zwang sich, weiterzugehen. Im Gegensatz zu einem echten Berg gab es keine falschen Gipfel oder verschlungenen Wege bis zum Ziel, sondern der Hügel flachte plötzlich zu einem kleinen Plateau ab, wie ein gekochtes und geköpftes Ei. In der Mitte stand ein großes Holzkreuz, an dem die Leiche eines nackten Mannes hing.
Der Anblick war sowohl schockierend unwirklich als auch irritierend vertraut. Sie musste an die Jesusfiguren denken, die sie als Kind angestarrt hatte. Sie waren aus Messing gewesen, nicht größer als ihre Hand, doch das Kreuz vor ihr bestand aus massivem Holz, war mindestens zwei Meter hoch und einen Meter achtzig breit.
Und der Mann. Oh, der arme, arme Mann.
Kat blinzelte Graupel aus den vom Wind brennenden Augen, während sie die menschlichen Überreste vor sich musterte. Die Leiche war nackt und von einer Schneeschicht bedeckt. Die vom Wind freigewehten Stellen des Körpers waren lila marmoriert, die Arme an den Handgelenken mit dicken Seilen am Querbalken festgebunden und bildeten für sich ein V und zusammen mit dem Körper ein Y. Doch erst bei seinem Kopf verschwamm ihr Blick wieder, bei der bemitleidenswerten Art, wie er nach unten auf die Brust gesunken war, wie dem Mann die blonden Haare ins gefrorene, blutleere Gesicht fielen.
Kat sah zu Rayan und Lock, die neben ihr standen, und plötzlich wurde ihr bewusst, wie surreal das alles war. Wie eine Szene aus einer Steampunk-Version der Bibel: zwei Polizisten und ein KI-Hologramm standen im Schatten eines Gekreuzigten, das grob gezimmerte Holzkreuz ragte über einer Industriebrache auf. Sie trat einen Schritt näher, ihr Blick fiel auf die blutigen, knorpeligen Stellen, an denen seine Ohren sein sollten. Kat sah zum Fuß des Kreuzes, zu dem unheiligen Chaos aus Fußabdrücken und abgeknicktem, schneebedecktem Gras. »Sieht so aus, als ob unser Lycra-Freund Laufschuhe mit Spikes getragen hätte«, murmelte sie. Vorsichtig ging sie um das Kreuz herum. Da, hinter dem senkrechten Balken, lagen zwei blutige Fleischklumpen – wohl die Ohren des Opfers. Kat streckte das Handgelenk aus und bat Lock, den Tatort mithilfe der fotogrammetrischen Software aus jedem möglichen Winkel abzulichten. Nach wenigen Sekunden war das erledigt, vor allem, ohne dabei den Tatort noch weiter zu verunreinigen. Vorsichtig ging Kat zurück zu Rayan, der zu der Leiche am Kreuz emporsah.
»Wie er wohl gestorben ist?«, fragte der DI.
»Wir müssen auf die Gerichtsmedizin warten, aber abgesehen von den Ohren, kann ich keine Verletzungen erkennen, und am Blutverlust kann er eigentlich auch nicht gestorben sein, dazu ist es zu wenig.«
»Auch keine offensichtlichen Schnitte oder Prellungen.« Hassan sah den Hügel hinunter, den sie gerade hinaufgestapft waren. »Wie um alles in der Welt hat ihn jemand dazu gebracht, hier raufzulaufen, sich auszuziehen und sich ans Kreuz binden zu lassen, alles ohne Gegenwehr? Er sieht einigermaßen jung und stark aus. Abgesehen davon, dass er … na ja, tot ist.« Er hustete entschuldigend und sah wieder hinunter zum Parkplatz. »Und wie wurde überhaupt das Kreuz hier hochgebracht, ohne gesehen zu werden?«
Kat betrachtete das Opfer. »Viel wichtiger ist die Frage: Warum? Es gibt einfachere Wege, einen Menschen zu töten.«
Lock nickte zustimmend. »Laut den jüngsten Zahlen des Office for National Statistics ist die verbreitetste Mordmethode in England und Wales eine scharfe Stichwaffe. Diese entfiel auf vierzig Prozent aller Morde im letzten Jahr, gefolgt von Erschlagen oder Treten, was achtzehn Prozent ausmachte, und sechs Prozent, die durch eine Schusswaffe ums Leben gekommen sind. Für Kreuzigungen kann ich keine Statistik finden. Der letzte bekannte Fall in England stammt aus dem vierten Jahrhundert, nachdem Kreuzigungen vom römischen Kaiser Konstantin im Jahr 337 abgeschafft und durch das weniger grausame Erhängen ersetzt wurden.«
Kat sah zu der dunklen Silhouette des Kreuzes vor dem grauen Himmel. Was könnte jemanden zu der ersten Kreuzigung seit über eintausendsechshundert Jahren bewegt haben, noch dazu ausgerechnet in Nuneaton? Sie fragte Rayan, ob irgendwer die Kleidung des Toten oder etwas anderes gefunden hatte, was ihnen bei der Identifizierung helfen könnte, und fluchte, als er verneinte. Keine Geldbörse, keine Schlüssel, keine Bankkarten, nichts. Nicht einmal eine Hose. Das bedeutete, dass sie auf den Gebissabgleich warten mussten. Und solange sie nicht wussten, um wen es sich bei dem Toten handelte, waren auch Rückschlüsse auf den Täter nahezu unmöglich.
»Soll ich das Gesicht des Opfers, seine Größe und sein Gewicht mit den Social-Media-Posts aller weißen Männer zwischen fünfundzwanzig und vierzig im Bereich Nuneaton abgleichen?«, fragte Lock.
Kat drehte sich zu dem Hologramm. Das war zwar kaum das korrekte Vorgehen, doch sie konnte nicht noch mehr Zeit verlieren. Und selbst sie musste zugeben, dass Lock bei allen Schwächen Tausende von Social-Media-Einträgen innerhalb weniger Sekunden analysieren konnte. »Okay«, sagte sie. »Nur zu.«
»Laut meiner Bilderkennungssoftware handelt es sich mit zweiundachtzigprozentiger Wahrscheinlichkeit um Gary Jones, einen neunundzwanzigjährigen Mann aus Atherstone.« Lock streckte die Hand aus, und ein Facebook-Screenshot von einem jungen Mann in einem blauen Trainingsanzug erschien vor ihnen in der Luft. Seine Haut war tief gebräunt, und mit den blonden Haaren, blauen Augen und geraden weißen Zähnen hatte er das Aussehen und die Ausstrahlung eines Profifußballers. Lock zog das Foto mit dem Zeigefinger direkt über die Leiche am Kreuz.
Kat keuchte leise auf. Das Bild legte sich wie neue Kleidung über den geschundenen Körper. »Bist du sicher, dass er es ist?«
»›Sicher‹ ist ein relatives Konzept, aber unten auf dem Parkplatz steht ein Wagen, der auf Gary Jones zugelassen ist, was die Wahrscheinlichkeit, dass es sich um ihn handelt, auf 98,9 Prozent erhöht.«
»Okay«, sagte Kat. »Was weißt du über ihn?«
Lock stand vor dem Gekreuzigten und zog mit der rechten Hand ein 3-D-Bild des lebenden Gary Jones vor die Leiche, wo es in der Luft schwebte und sich drehte.
»Gary Jones war einen Meter achtzig groß, und seinem BMI – dreiundzwanzig – und dem Körperfettanteil nach zu schließen, hat er mehrere Male die Woche trainiert und damit seinen Schreibtischjob in der Stadtverwaltung von Coventry kompensiert. Er hatte keine Vorstrafen und keine offenkundigen Verbindungen zu Vorbestraften, was in Anbetracht der Verletzungen an seinen Ohren eine Abweichung darstellt. Laut der Forschungsliteratur ist diese Form der Verstümmelung eine verbreitete Sanktionsmaßnahme an Gesetzesbrechern, die aus dem sechzehnten Jahrhundert stammt.«
»Soll das heißen, dass das Opfer vor seinem Tod wahrscheinlich gefoltert wurde?«, fragte eine Stimme mit walisischem Akzent hinter ihnen.
»Ja«, antwortete Lock.
Kat drehte sich um. Dr. Judith Edwards, eine der erfahrensten und angesehensten Gerichtsmedizinerinnen in der Gegend, kam auf sie zu. Die Frau mit den silbergrauen Haaren und dem roten Lippenstift war vor ein paar Jahren von Wales in die Region Warwickshire und West Midlands gezogen, und auch wenn Kat bisher noch nicht mit ihr zusammengearbeitet hatte, wusste sie, dass Judith Edwards überall die erste Wahl war. Was hieß, dass die Polizei von Warwickshire sich normalerweise ganz hinten anstellen musste. McLeish musste ein paar Gefallen von der Gerichtsmedizin eingefordert haben, damit sie dem Fall zugeteilt wurde.
»Dr. Edwards«, sagte Kat warm, »ich bin DCS Kat Frank.«
Die Pathologin lächelte und streckte ihre behandschuhte Hand aus. »Ich habe viel Gutes über Sie gehört.«
»Gleichfalls. Vielen Dank, dass Sie gekommen sind. Hat McLeish Sie angerufen?« Sie deutete zu Lock. »Das hier ist …«
»Oh, ich weiß alles über Lock. Ich arbeite zweimal die Woche am NIKIF für Professor Okonedo. Den Fall habe ich ihr zuliebe übernommen.«
Kat reagierte überrascht. »Sie arbeiten für Professor Okonedo?«
»Die Besten arbeiten alle für sie.« Dr. Edwards – gute dreißig Zentimeter kleiner als das Hologramm – wandte sich an Lock. »Du bist bemerkenswert, aber du liegst falsch.« Die Pathologin deutete auf das Opfer und das von einer dünnen Schneeschicht bedeckte Gras darunter. »Der menschliche Körper pumpt hundert Milliliter Blut durch das Herz, das etwa siebzig Mal pro Minute schlägt. Und jetzt schau, wie wenig Blut hier ist. Diese Verletzungen sind nicht das Resultat von Folter, sondern wurden post mortem zugefügt.«
Lock blickte auf die Stelle, auf die sie deutete. »Sie haben recht.«
»Natürlich habe ich das.« Dr. Edwards streckte sich und legte vorsichtig eine Hand auf den Oberarm des Opfers, die andere unter sein Handgelenk, um durch eine leichte Bewegung zu überprüfen, wie weit die Leichenstarre vorangeschritten war.
»Ich weiß, dass Sie noch weitere Untersuchungen durchführen müssen«, sagte Kat. »Aber können Sie schon eine Einschätzung zum Zeitpunkt und zur Ursache des Todes abgeben?«
»Ich werde für wissenschaftliche Untersuchungen bezahlt und nicht für Schätzungen. Pech für Sie.«
Kat verzog das Gesicht.
»Gleichzeitig spiele ich aber auch gern«, meinte die Gerichtsmedizinerin lächelnd. »Und vorbehaltlich all der lästigen Tests würde ich darauf wetten, dass Unterkühlung der Hauptgrund war. Aber Sie wissen ja – Genaueres erst nach der Obduktion.«
»Danke, das hilft uns schon mal. Wie lange würde es dauern, an Unterkühlung zu sterben?«
Lock kam Judith bei der Antwort zuvor. »Ich habe gerade 38 219 Artikel zu genau diesem Thema gelesen, und man ist sich allgemein einig, dass zusätzlich zur Temperatur und dem Windchill-Faktor auch Schlüsselvariablen wie das Alter, der BMI, die Kleidung, der Grad der Erschöpfung sowie Krankheiten oder Medikamente berücksichtigt werden müssen. Die durchschnittliche Tagestemperatur betrug hier in Nuneaton in dieser Woche vier Grad, in der Nacht minus zwei. Wenn man den Windchill-Faktor an einem so erhöhten und exponierten Ort einberechnet und davon ausgeht, dass unser Opfer grundsätzlich gesund und fit war, würde ich schätzen, dass der Tod bei einem neunundzwanzigjährigen unbekleideten Mann mit einem BMI von dreiundzwanzig nach ein bis zwei Stunden eingetreten ist. Vorbehaltlich des Obduktionsberichts.«
Judith hob die Augenbrauen. »Ein schönes Gesicht und Verstand, das hat man nicht oft. Wie dem auch sei, ich stimme seiner Einschätzung zu.«
»Es«, korrigierte Kat. »Lock ist ein ›es‹.«
»Und meine Pronomen sind dey/denen/dey, wenn wir schon dabei sind. Nicht dass sich das irgendwer merken könnte.« Judith ging in die Hocke und musterte die Knöchel und Füße des Opfers. »Die Handgelenke waren gefesselt, die Fußgelenke jedoch nicht«, stellte dey stirnrunzelnd fest. »Gibt es Hinweise auf einen Hocker oder irgendetwas anderes, das das Gewicht des Mannes getragen hat?«
»Die Befragung der Personen, die die Leiche gefunden haben, ist noch nicht abgeschlossen, aber bisher hat niemand etwas Diesbezügliches erwähnt«, antwortete Kat.
»Meine Überprüfung des Bodens ergibt Abdrücke in der Erde, die einem kleinen Stuhl oder einem vierbeinigen Hocker sowohl unter als auch hinter der Leiche entsprechen«, sagte Lock.
Dr. Edwards erhob sich und beugte sich vor, um die Brust des Opfers zu begutachten. »Interessant.«
»Was?«, fragte Kat. Erfahrene Gerichtsmediziner und Gerichtsmedizinerinnen wie Dr. Edwards sagten »interessant« normalerweise bei einer neuen Theorie.
»Wir haben hier eine Kreuzigung«, meinte dey schulterzuckend. »An diesem Fall ist alles interessant.«
»Wie schnell können Sie die Obduktion durchführen?«
Dr. Edwards runzelte die Stirn. »Ich würde gern unsere spezialisierte Digital Forensic Unit nutzen, weshalb es wahrscheinlich bis übermorgen dauern wird.«
»Wie bitte?« Kat konnte das Entsetzen in ihrer Stimme nicht ganz unterdrücken, doch sie respektierte Dr. Edwards und wählte ihre nächsten Worte sorgfältig. »Mir ist klar, dass Sie nicht genügend Kapazitäten haben, doch dieser Fall wird sicher landesweites Interesse erregen, was bedeutet, dass wir beide rasch Ergebnisse vorlegen werden müssen.«