Die Schwarzwaldbäuerin - Anna Hettich - E-Book

Die Schwarzwaldbäuerin E-Book

Anna Hettich

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Beschreibung

Anna kommt 1938 auf einem abgelegenen Bauernhof im Schwarzwald zur Welt. Die Eltern sterben früh, und schon als Sechzehnjährige führt sie den Hof, arbeitet hart, zieht ihre Geschwister groß, verwaltet das wenige Geld. Sie verzichtet auf vieles – und ist irgendwann am Ende ihrer Kräfte. Der Zusammenhalt der Geschwister und ihr tiefer Glaube lassen sie dennoch nicht verzweifeln. Sie entdeckt das Glück im Einfachen, in der Natur. Und begegnet schließlich ihrer großen Liebe: dem Mann, mit dem sie alt werden möchte. Anna ahnt nicht, dass ihnen nur wenige kostbare Jahre bleiben ...

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Anni Hettichmit Sabine Eichhorst

Die Schwarzwald-bäuerin

Erinnerungen anein Landleben

List

Zum Schutz der genannten Personen wurden alle Namen, außer denen der Familienmitglieder, anonymisiert.

Für weitere Informationen über den Sigmundenhof:www.sigmundenhof.de

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen,wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherungoder Übertragung können zivil- oder strafrechtlichverfolgt werden.

List ist ein Verlagder Ullstein Buchverlage GmbH

ISBN 978-3-8437-0007-8

© 2011 Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin© 2011 Anni Hettich und Sabine EichhorstAlle Rechte vorbehaltenAbbildungen im Innenteil: © privat, Foto Nr. 8 und 9:© Heinrich Schmieder, Foto Schmieder, SchonachSatz und E-Book: LVD GmbH, Berlin

Den Tag zu meistern

Januar 1945

Graues Licht kroch über die Kuppe der Berge, als der Rochus die sperrige Tür aufschob. Es war noch nicht spät, doch die aufziehende Dämmerung breitete sich wie ein Mantel über Haus und Bäume und Wiesen, bald würde sie das Tal in Schwärze und Stille hüllen. Es roch nach nassem Holz und die obere Angel vom Türflügel quietschte.

»Schnell.« Rochus’ Stimme kratzte. Die Rosmarie zögerte. Sie zitterte in ihrer verschlissenen Jacke, ihre Zähne schlugen aufeinander. Dann lief sie los. Lief durchs Wasserhaus und vorbei an Trögen, in denen Eis blitzte, auf ihren dünnen Beinen sprang sie durch den Schnee. Ringsum an den Hängen ragten Bäume in die Höhe und drunten, wo sich die Elz ins Tal hinabschlängelte, herrschte Schweigen, ein Bachbett aus Frost, erstarrt im Fluss des Winters. Der Himmel war schwer; es würde Schnee geben, auch heute Nacht.

Der Rochus stemmte sich gegen den Wind und stapfte hinter der Rosmarie her, überholte sie, lief voraus und zog mit seinen schweren Stiefeln eine Spur. Die Liesel folgte ihm, die Rosmarie wandte sich um und reichte dem Hans, der bei jedem Schritt bis zu den Knien im Schnee versank, die Hand. Ich hob den Erich, unseren Jüngsten, hoch, er schlang seine Arme um meinen Hals, halb schleppte, halb schleifte ich ihn, sein Atem dicht an meinem Ohr.

Im Stall käuten die Kühe, ihre Ketten klirrten, sobald sich eine von ihnen bewegte. Feuchter Dunst umhüllte uns und es roch scharf nach Mist. Das einzige Kalb blinzelte, dann hob es den Schwanz, ein Strahl ergoss sich in die Streu, es dampfte und Schwaden stiegen auf, schimmerten im matten Gegenlicht. In der Ecke unter einer Luke drängten sich ein paar Schafe und die Geißen, sie tippelten auf spitzen Klauen, nur der Bock stand abseits, den Kopf gesenkt, seine Hörner lang und gebogen; Geißenbauer nannten die Leut den Vater, weil sie bei uns so zahlreich waren, stets kamen neue Zicklein zur Welt.

»Gib acht«, zischte die Liesel und zog den Erich am Arm, beinahe wäre er in einen Kuhfladen getappt. Der Bub sah auf, blonde Locken quollen unter seiner Mütze hervor. Einen Moment schien er zu überlegen, ob er weinen sollte, dann griff er nach meiner Hand, seine Finger steif wie kleine Stöcke. Ich kniete nieder und rieb sie.

»Wo sind deine Handschuhe, mein Kleiner?«

Der Erich schüttelte den Kopf. Ein Senkel an seinem Stiefel hatte sich gelöst und ich schnürte ihn fest. Am anderen Schuh klaffte an der Seite ein Loch, eine Kruste aus schmutzigem Schnee klebte darin, festgebacken wie uraltes Brot; diese Schuhe hatten schon der Hans und ich getragen, die Rosmarie und der Rochus, vielleicht sogar die Liesel und der Toni. Ich richtete mich auf, gab dem Erich einen leisen Klaps und zog meine Jacke fester um die Schultern. Auch im Stall war die Luft rau, doch sie stach nicht in den Lungen, sie biss nicht auf der Haut.

»Los!« Wie ein berstender Eiszapfen klirrte das Wort in der Luft. Rochus’ Lippen waren blass, seine Wangen gerötet, seine hellen Haare leuchteten im Halbdunkel. »Mir nach, Brüder und Schwestern …« Er grinste und strich der Kuh, die zuvorderst in der Reihe stand, der alten Berta, einem braunen Vorderwälder-Vieh, über die Flanke, als er sich an ihr vorbeischob. Sie ließ es geschehen, ohne sich zu rühren; ein paar Fliegen, die dem Frost trotzten, krochen an den Rändern ihrer Augen entlang. Die Liesel vergrub beide Hände in Bertas Fell, rieb über ihren Bauch, an dem die Adern hervortraten, Adern dick wie die Wurzeln eines Buschs, sie schob ihre kalten Finger in die Fellfalten am Hals, hielt die Handflächen über die Nüstern, aus denen Atemwolken stoben. Die Berta käute, hob nicht einmal ihren gescheckten Schädel. Nacheinander folgten wir unserem Bruder an den Kühen vorbei, während ich als Letzte die Tür schloss, und wieder quietschte die Angel wie ein verschrecktes Huhn.

»Wer zuletzt die Hosen aushat, muss raus aufs Plumpsklo.« Die Liesel richtete sich auf, lachte, ihr breites Gesicht glänzte. Der Hans nestelte an seiner Hose.

»Mach dem Kleinen keine Angst«, sagte ich.

»War doch nur Spaß.«

Der Hans schaute aus schmalen Augen, ein prüfender Blick.

»War nur ein Spaß, Hänschen«, sagte die Liesel und schob mit dem Fuß einen Klumpen Streu beiseite. Hans’ Nase lief, eine träge Spur rann ihm zur Lippe hinab und meine Schwester wischte sie mit dem Handrücken fort. »War nur ein Spaß«, sagte sie, dann stellte sie sich breitbeinig über die Rinne, die hinter den Kühen am Rand vom Stall entlanglief, und begann die Knöpfe ihres Mantels zu öffnen. Die Rosmarie kicherte, blies in ihre Fäuste und trat von einem Bein aufs andere. Von der anderen Seite der Stallwand drang das Klappern von Töpfen herüber; bald gab es Nachtessen, bald kam der Vater heim aus dem Wald. Es waren nicht mehr viele Männer im Tal, die meisten waren in den Krieg gezogen, manche schon tot, nur unser Vater hatte bleiben dürfen, er hatte bereits im ersten Krieg gekämpft und war zurückgekehrt mit zwei steifen Fingern.

»Jetzt zier dich nicht«, sagte die Liesel.

Die Rosmarie biss sich auf die Lippe.

»Pressiert’s oder nicht?« Die Liesel warf ihr einen strengen Blick zu. »Du bist so eigen.«

Die Rosmarie öffnete den Mund – und schloss ihn wieder. Sie war fast so groß wie die Liesel, doch die war fünf Jahre älter und von kräftiger Statur, während die Rosmarie mager war wie eine von den Strohpuppen, die der Vater im Sommer aufs Feld stellte, damit die Krähen die Saat nicht fraßen. Der Stallgeruch kratzte in meiner Nase, ich schüttelte mich und nieste.

»Erkältet?«, fragte der Rochus. Im Winter, wenn die Kälte klirrte und einem der Atem gefror, wollte niemand auf das Plumpsklo, das an die hintere Seite vom Haus angrenzte und um das die Männer von der Forstverwaltung eine Wand aus Brettern gezogen hatten, damit wir nicht ganz im Freien hockten.

»Hilf …« Der Erich zupfte an meinem Ärmel. Er war kleiner als eine Geiß, noch keine drei Jahre alt, und ich bückte mich. Der Hans wehrte die Rosmarie ab und zerrte selbst an seinen Knöpfen, während er zum Rochus aufsah, der Rochus, bald schon ein Mann, der die meiste Zeit des Jahres fort war und als Hirte ging, zwei Tage vor Dreikönig hatte er seinen dreizehnten Geburtstag gefeiert, wir alle hatten ihm Glück gewünscht und die Mutter hatte ihn umarmt und ihm einen Kuss gegeben, mehr Geschenke konnten die Eltern sich nicht leisten.

Nebenan in der Küche rasselte ein Kessel und das neue Geschwisterchen schrie. Die Rosmarie kicherte wieder, lupfte nun aber ihren Rock, zog ihren Schlüpfer herunter und hockte sich ebenfalls über die Rinne. Die Luft war satt von Dampf und feuchter Wärme und ich tat es meiner Schwester gleich und rieb dabei meine Schienbeine, die juckten von der rauen Wolle der Strümpfe, unterdessen der Rochus sich mit steifen Schritten ans Ende der Reihe stellte, sein Haar fiel ihm in Strähnen in die Stirn, im fahlen Stalllicht sah es aus, als wären sie gefroren. Hastig zog er seine viel zu große Hose herab, im nächsten Moment schlüpfte ein Ahhh … über seine Lippen, fiel in die weiche Streu, und die Kühe käuten und schmatzten, ein Geräusch, so vertraut und wohlig, während wir Geschwister uns in Reih und Glied hinterm Vieh erleichterten.

1944

Vier Monate zuvor, als der Wind durchs Gras blies und die langen Halme bog und das Heu zum zweiten Mal geschnitten wurde, im September 1944, war ich eingeschult worden.

In der Früh kämmte die Mutter mein Haar. Ungeduldig hockte ich auf einem Schemel in der Küche, kaute an einem Stück Brot, das beim Frühstück in der Stube unter den Tisch gefallen war, kaute, bis es ein weicher Brei war und malmte ihn zwischen den Zähnen hin und her, wie die Kühe es mit dem Klee taten, und jedes Mal wenn sich der Kamm in einer verfilzten Strähne verfing, zuckte ich zusammen.

»Schhhht, still …«

Neben dem Kachelofen schlief der Hund. Ein paar Brummer kreisten um seine Schnauze, ließen sich nieder, krochen in seine Nasenlöcher. Der Hund nieste. Der Erich rutschte über den Boden und versuchte ihn beim Schwanz zu packen. Das Baby in seinem Korb begann zu greinen, die Wangen vom Fieber gefleckt, rot wie Herbstäpfel. Die ganze Nacht hatte es geweint und die Mutter hatte Wadenwickel machen wollen, doch die Resi war so klein, dass der Wickel ihr bis zum Bauch reichte, schließlich hatte die Mutter ihr ein mit lauem Wasser getränktes Hemdchen übergezogen.

»Au!«

»Schhht … Gleich ist’s fertig, Mädle.« Der Kamm kratzte über meinen Schädel, als die Mutter einen Scheitel zog. Zu beiden Seiten floss mein Haar herab, ein blonder Vorhang, und ich sah nur noch die Flecken auf dem Klinkerboden und die breiten Fugen, die hier und da an den Rändern ganz ausgefranst waren.

»Au!!«

»Willst vielleicht aussehen wie ein Lausmädle an deinem ersten Schultag?«

Mir wäre es gleich gewesen, doch ich schluckte und hielt still. Die Mutter begann einen Zopf zu flechten, so fest, dass es ziepte und die Kopfhaut spannte. Schließlich knotete sie ein Band um die Haarspitzen und wischte ein paar Krümel von meiner Schulter. Ich rutschte vom Schemel, griff nach meinem Tornister, den ich am Tag zuvor mit der Rosmarie gepackt hatte, warf einen letzten Blick hinein – die Schiefertafel, die Fibel, der Kasten mit dem Griffel – und schulterte ihn so stürmisch, dass das Schwämmchen und das Läppchen, die außen baumelten, gegen meinen Arm schlugen. »Ich bin grad fertig!«

Die Mutter strich über mein Schulkleid und glättete die Falten in der weißen Schürze, dann schob sie eine Strähne zurück, die sich aus ihrem Dutt gelöst hatte, wickelte die greinende Resi in eine Decke und nahm den Erich bei der Hand, während ich den Gang hinunterlief und die Haustür öffnete.

Im Tal hing noch der Dunst des Morgens, die Weiden leuchteten feucht und satt. Die Liesel trieb grad die Kühe aus dem Stall; später würde sie mit der Rosmarie auf den Wiesen Steine lesen, denn der Vater mähte das Heu, und Steine machten die Klinge der Sense stumpf. Unser Vater war Holzhauer und das Metzig-Gut, eine kleine Domäne, die ihm das Forstamt verpachtet hatte, lag abseits auf halber Höhe in einem Talkessel, ein altes Schwarzwälder Haus mit Walmdach und Holzschindeln, umgeben von Grasland und Fichtenwäldern. Die wenigen Hektar, die zum Hof gehörten, bewirtschaftete er neben seiner täglichen Arbeit. Sieben Jahre zuvor, 1937, waren die Eltern mit vier Kindern und auf der Suche nach Arbeit, wie so viele in jener Zeit, in den Schwarzwald gekommen; bis dahin hatte der Vater im Unterland bei Karlsruhe als Chauffeur geschafft, in einer Mühle hatte er die Kutsche der Herrschaften gefahren, mit Rössern konnte er gut. Als er eines Tages ein Inserat vom Forstamt in Rohrhardsberg las, bewarb er sich, wurde genommen und zog mit seiner Familie Richtung Süden. Anfangs litt die Mutter, entwurzelt wie ein gefällter Baum, alle Tage war sie allein und der Hof so abseits, dass nie ein Mensch vorbeikam. Ihre Traurigkeit legte sich, sobald der Vater heimkam; doch erst im Jahr darauf, als ich geboren wurde, verschwand sie vollends.

Sie gab mir einen Kuss auf die Stirn. »Bist mein Schaffmädle …« Am Vortag hatte ich alte Handschuhe angezogen und zwei Körbe voll Brennnesseln gesammelt, außerdem Löwenzahn, sodass die Liesel Spinat mit Mehlschwitze und einen Löwenzahnsalat zubereiten konnte. Ich war nicht groß, aber kräftig und fleißig.

»Nächstes Mal such ich auch Schnittlauch, dann schmeckt’s noch besser, gell?«

Gemeinsam liefen wir den Pfad hinab, über Geröll und Schotter und feuchten Sand. Die Luft roch nach Gras und beginnendem Herbst, Amseln sangen und Spatzen tschilpten, zwischen den Ästen der Bäume glitzerten Spinnweben. Die Bergkuppen waren klar und ganz nah. Irgendwo bellte ein Hund und ein Huhn flatterte hoch und verschwand unter einen Busch. Ich lief immer schneller, fast stolperte ich.

»Langsam, Anna.«

Meine älteren Geschwister konnten alle lesen und schreiben. Der Toni war fast fünfzehn und weit fort, bei einem Bauern nahe Freiburg ging er in die Lehre, Gutsverwalter wollte er werden, und auch die Liesel war schon entlassen, doch der Rochus, der Hütebub war, besuchte in Schonach die Hirtenschule; dort begann der Unterricht, nachdem die Kinder das Vieh am Vormittag wegen der Hitze zurück in den Stall getrieben hatten, und er endete am Nachmittag, wenn die Sonne sank und sie ihre Herden wieder auf die Weiden brachten. Die Rosmarie ging in Rohrhardsberg in die dritte Klasse; sogar sie wusste Dinge, die ich endlich auch lernen wollte.

Nach einer Viertelstunde tauchte der Dilger-Hof hinter einer Senke auf. Die alte Frau Dilger kehrte das erste Laub zusammen, das der Wind von den Bäumen geblasen hatte, und als sie uns sah, richtete sie sich auf, eine Hand auf den Besen gestützt, die andere stützte ihren Rücken. »Komm später vorbei, Anna, dann kriegst ein Stückle Marmeladenbrot zu deinem großen Tag.«

Die Mutter dankte und wir winkten und liefen weiter. Das Baby schlief jetzt und der Erich stolperte auf nackten Füßen nebenher, immer wieder blieb er stehen, um einen Stein aufzuheben oder eine Blume zu pflücken. Zwischen den Weiden rauschte die Elz, das Wasser strömte über die Steine im Flussbett, Stromschnellen brachen sich, tanzten ins Tal hinab. Auf der Brücke begegneten wir einer Ordensschwester, einer stämmigen, kurzbeinigen Frau mit einem Glasauge, das starr geradeaus blickte, als sie uns zunickte, und die Mutter reichte ihr die Hand und sagte Gelobt sei Jesus Christus, danach gab ich ihr die Hand und sagte Gelobt sei Jesus Christus, so wie wir es immer taten, wenn wir dem Pfarrer oder einer Nonne vom Kloster in Hegne begegneten. »Wirst eingeschult?«

Ich nickte.

»Dann geh mit Gott, mein Kind.« Sie schlug ein Kreuz und ihr gläsernes Auge sah über meinen Kopf hinweg.

Der Weiler bestand aus vier Höfen und einem Haus, das auf einer Anhöhe lag und über die anderen zu wachen schien. Links führten Treppen, glänzend und schief getreten, zum Rathaus, in dem jede Woche für ein paar Stunden der Bürgermeister saß; neben dem Rathaus lag die Schule – ein einziges, nicht sehr großes Klassenzimmer, in dem an Wintertagen vormittags die oberen Klassen und nachmittags die unteren Klassen unterrichtet wurden, im Sommer war es grad andersherum, da kamen die Kleinen in der Früh, denn die Großen mussten auf den Höfen helfen.

Viele Kinder, die bereits auf dem Vorplatz in der Sonne warteten, kannte ich, sie wohnten auf den umliegenden Höfen, und wenn wir nicht daheim helfen oder auf den Feldern schaffen mussten, spielten wir miteinander. Die Klara und die Erika hatten mit einem Stock Linien in den festgetretenen Sand gezogen und spielten mit der Frieda und der Hilda Himmel und Hölle, grad griff die Klara mit beiden Händen ihren groben Leinenrock, hielt ihn fest und hüpfte los. Die Mutter beugte sich zum Erich hinab – er deutete auf eine Amsel, die vor einem Mauervorsprung im Staub saß, still und mit geblähtem Gefieder, ihr Schnabel ein kurzer gelber Strich. Mit plumpen Schritten, die Arme ausgestreckt, lief er auf sie zu – der Vogel erhob sich und breitete seine Flügel aus. Fassungslos starrte mein Bruder ihm nach.

»Dummer Bub«, neckte ich ihn.

»F-f-fogel …«, stotterte der Erich, seine Wangen rot vor Empörung. »F-fort!«

»Nicht ärgern, Kleiner.« Ich nahm seine Hand. »Vögel bekommen Angst, wenn du auf sie zuläufst. Dann fliegen sie davon.«

»B-böse …«

Die Mutter ging hinüber zur Frau vom Lehrer, die im Schatten einer Linde stand, das Haar sorgsam frisiert, die Bluse frisch gestärkt. Ein Stück abseits standen drei Buben, einer scharrte mit der Fußspitze im Sand, ein anderer zog die Schultern hoch. Ihre Mütter waren auf den Feldern. Ihre Väter an der Front.

Oder tot.

Der Karl und der Andreas rannten die Anhöhe hinauf. Der Karl rutschte, stolperte, stürzte. Wie ein Blitz zuckte der Schmerz durch sein Gesicht. Mit beiden Händen hielt er sein Knie, unter den Fingern rann Blut hervor, seine Augen füllten sich mit Tränen. »Ein deutscher Junge weint nicht«, sagte scharf ein größerer Bub; es war der Sohn vom Förster.

Der Karl schluckte sein Weinen.

Rasselnd, wie das Muhen einer heiseren Kuh, ertönte im selben Moment die Klingel. Der Andreas half dem Karl auf, ich brachte den Erich zur Mutter, und die Klara und die Frieda strichen ihre Röcke zurecht. Wir liefen ins Klassenzimmer, während die Mütter sich wieder auf den Weg machten, daheim gab es viel zu tun.

Das Klassenzimmer war ein Raum mit drei großen Fenstern, die so hoch lagen, dass ich nur den Himmel sah, wenn ich hinausschaute. Es roch nach Kreide und Holz. Die Mädel drängten sich rechts vom Mittelgang, die Buben links, sie ließen sich in die Bänke fallen, stießen ihre Tornister in die Fächer unter den Pulten, ihre rauen Hände strichen über Holzplatten, betasteten Tintenfässer, sie bohrten Finger in kleine Astlöcher. Ich entdeckte die Rosmarie, die leicht vorgebeugt mit eingezogenen Schultern zwischen den Drittklässlern saß; sie war mindestens einen Kopf größer als ihre Kameradinnen. Ich winkte. Die Rosmarie kicherte. Jemand hatte die Tafel geputzt, sie glänzte schwarz, und in einem schmalen Fach lagen ein einzelnes Stück Kreide und ein ausgefranster Schwamm. Neben der Tafel hing ein Bild vom Führer. Sein Gesicht war ohne Regung, doch sein Blick fiel streng auf uns herab, nichts schien ihm zu entgehen, es war, als würde er über jeden Schüler selbst in diesem entlegenen Tal wachen, und wehe, einer von uns gehorchte nicht.

»Heil Hitler!« Ein Donnerschlag fuhr durch den Raum, ließ alle erzittern. Der Lehrer Böhler war ein Mann wie ein Berg, mit kahlem Schädel und einem Herz, das für den Führer brannte. Unvermittelt stand er hinter seinem Pult.

Alle sprangen auf, standen stramm, reckten den rechten Arm und antworteten wie aus einem Mund: »Heil Hitler!«

»Setzen!« Wieder ging ein Rascheln durch die Reihen, Schuhe und nackte Füße scharrten über den Holzboden, verhaltener diesmal.

Schwerfällig ließ der Lehrer Böhler sich auf seinen Stuhl fallen, und nun schien der Führer auch über ihn zu wachen. Er nahm ein Papier aus seiner Tasche, faltete es auseinander, breitete es vor sich aus, strich mit seinen mächtigen Händen darüber. Alle sahen mucksmäuschenstill zu. Nacheinander rief er die Namen der Erstklässler auf. Jedes Kind, dessen Namen er rief, musste aufspringen und »Hier!« rufen.

»Eberl, Anna?«

»Hier!« Ich schoss hoch.

In der Reihe hinter mir kicherte ein Bub, der schon in die zweite Klasse ging. »Ist die klein«, hörte ich ihn raunen. Ich schaute mich nicht um, sah starr geradeaus und spürte, wie mir warm wurde.

»Warum wirst rot, wenn ich dich nach deinem Namen frag?« Der Lehrer musterte mich wie eine kranke Kuh.

Ich zuckte mit den Schultern. Am liebsten hätte ich mich umgedreht, dem Buben eine Ohrfeige gegeben und ihm gesagt, dass ich klein war, aber daheim auf die höchsten Kirschbäume kletterte, sodass die Mutter aus dem Haus stürzte und den Vater anflehte, mich wieder herunterzuholen. Stattdessen hielt ich dem Blick vom Lehrer stand. Und dem vom Führer.

»Eberl. Die kleine Schwester vom Toni, von der Liesel und dem Rochus und der Rosmarie.«

Ich nickte.

»Eberl … Eber!«, zischte der Bub hinter mir.

Scham ballte sich in meinem Bauch, sie brannte, als hätte mich jemand in den Magen geboxt. Ich wünschte, der Lehrer Böhler hätte das Geflüster bemerkt und dem Bub ein paar Tatzen mit dem Rohrstock in die Hände gegeben oder gleich ein paar Hosenspannis auf den Hintern, das tat er gern, er war nicht zimperlich.

»Setzen!«

Ich setzte mich und sah stumm zu, wie er Buchstabe für Buchstabe mit seinem Finger, breit wie ein Spatel, übers Papier fuhr, bis die Namensliste bei Wöhrle, Willibald endete. Dann erhob er sich – und der Führer verschwand hinter seinen breiten Schultern. Er räusperte sich, fuhr sich über den kahlen Schädel, tat ein paar Schritte nach vorn und baute sich vor zwei Buben in der ersten Reihe auf, er stützte sich mit beiden Händen auf den Rand vom Pult und schwieg, bis die Buben, die vor ihm saßen, Angst bekamen, ich sah es in ihren bleichen Gesichtern. Dann holte er Luft und ließ seine Stimme durch den Raum dröhnen. Er hielt eine kurze Ansprache, sagte, dass wir von nun an jeden Morgen unsere Zähne putzen, ihm unsere Ohren und Fingernägel vorzeigen müssten, und dass wir uns im Unterricht Mühe zu geben hätten, und wenn wir schmutzig wären oder faul oder frech, gäbe es Hosenspannis.

»Oder Tatzen mit dem Rohrstock!« Er sah zu den Zweit-, Dritt- und Viertklässlern in den hinteren Reihen, die schon wussten, wie die Schläge in die Handflächen schmerzten.

»Und ihr Kleinen …« Als hätte der Ausbruch ihn erschöpft, ließ er sich zurück auf seinen Stuhl sinken. »Ihr Kleinen geht außerdem an zwei Tagen in der Woche zu den Bauern im Tal und sammelt Kartoffelkäfer von den Äckern. Das Reich braucht eine gute Kartoffelernte.« Er wischte sich über die Stirn, als schwitzte er. Dann gab er den älteren Schülern Rechenaufgaben und sie kramten ihre Rechenschieber aus den Tornistern.

»Ihr Neuen …«, er faltete sein Taschentuch und schob es in seine Hosentasche, »ihr lernt jetzt schreiben.«

Artig nahmen wir unsere Tafeln, öffneten unsere Griffelkästen, und den Rest der Stunde schrieb ich mit ungelenken Fingern meine ersten Buchstaben: A wie Anna – B wie Baum – C …

Um vier in der Früh war der Vater fortgegangen. Hatte im Schuppen die Sense gedengelt, das ausgehöhlte Kuhhorn mit dem Wetzstein darin an seinen Ledergürtel geschnallt und war hinab in Richtung Tal gestiegen, um die letzte von unseren Wiesen zu mähen.

»Du gehst heut wieder mit der Rosmarie, mein Schatz«, sagte die Mutter beim Frühstück in der Stube, die schlummernde Resi im Arm.

Ich nickte und gähnte. Mein Magen knurrte und ich brach ein Stück Brot vom Laib, teilte es und steckte die eine Hälfte dem Hans in den Mund, die andere mir. Auf dem Tisch stand eine Schale mit warmer Milch, schimmerte bläulich im frühen Licht, und mein Bruder tauchte einen Finger hinein, tippte gegen die Haut, die obenauf schwamm, und verzog das Gesicht. Irgendwo krähte ein Hahn und vorm Fenster ließ sich eine Spinne an einem glitzernden Faden hinab. Die Mutter hatte bereits gemolken und Milch in die Zentrifuge gegeben; aus dem Rahm machte sie Butter und Quark, die Butter trug sie zum Kolonialgeschäft, wo sie eine Bescheinigung bekam, so war es Vorschrift, seit alle Bauern Lebensmittel abgeben mussten.

»Trink«, sagte ich.

Mein Bruder schüttelte den Kopf.

»Trink, mein Bub«, sagte die Mutter.

Kopfschütteln.

Ich griff nach der Schale, nahm selbst einen Schluck. Und verzog das Gesicht.

»Geißenmilch ist auch Milch.« Die Mutter runzelte die Stirn; um die entrahmte Kuhmilch nahrhafter zu machen, versetzte sie sie mit Geißenmilch.

»Aber sie schmeckt so streng.«

»Trinkt, Kinder«, sagte die Mutter und ihr Blick maß erst den Hans, dann mich. Sie hatte ein gutes Herz, war nicht so streng wie der Vater, doch als ich nun in ihr Gesicht schaute, ihre Augen betrachtete, war mir, als wäre sie traurig.

Der Hans sperrte stumm den Mund auf. Ich gab ihm noch ein Stück Brot. Draußen im Gang ertönten Schritte, ein rhythmisches Gepolter, unterbrochen von Juchzern und vom Quietschen der Stiegenstufen, und im nächsten Moment flog die Tür auf und die Rosmarie stapfte herein. Ein Luftzug blies durch die Stube und etwas fiel zu Boden, klatschte auf die Dielen. Rasch bückte sich die Mutter. Sie hob einen Umschlag auf und schob ihn in die Tasche ihrer Kittelschürze, ein grauer Umschlag, auf dem Stempel prangten, aber keine Briefmarke klebte. Ich kannte diese Briefe. Sie kamen von Mutters Bruder, der in Russland an der Front war, und sie brauchten stets lang, Wochen und Monate wussten wir nicht, wie es ihm ging, ob er noch am Leben war.

Kam dann Feldpost, weinte die Mutter heimlich.

Ächzend ließ die Rosmarie den Erich von ihrem Rücken rutschen wie ein schweres Paket. Auf allen vieren krabbelte er über den blanken Boden unter den Tisch und schmiegte sich an meine Beine. »A-Anna … p-pielen!«

»Nein, Erich, jetzt nicht.« Ich schob die Schale mit der Milch beiseite, rückte und bedeutete meinem Bruder, sich neben mich auf die Eckbank zu setzen.

Die Mutter räusperte sich und wischte dem Baby, das aufgewacht war und gähnte, mit dem Schürzenzipfel über den Mund. »Die Rosmarie und die Anna helfen dem Vater heut wieder beim Heuen«, sagte sie und langte mit der freien Hand unterm Tisch nach meinem Bruder; der rutschte flink beiseite.

Die Rosmarie griff nach der Milchschale, trank einen Schluck. Und verzog das Gesicht. »Bahhh …«

»Sei nicht so eigen, Mädle.«

Das Baby blinzelte, brummte, gähnte wieder, die Mutter hob es hoch. »Erich, setz dich an den Tisch und trink deine Milch.«

Der Erich lachte und klatschte in die Hände.

»Erich …« Mutters Mund ein schmaler Strich. Etwas in ihrer Stimme ließ mich an eine lahmende Kuh denken, die ihren Stall suchte. »Setz dich und trink deine Milch.«

Der Erich quietschte und krächzte wie ein Brummkreisel.

»Bub …«, die Mutter strich mit ihrer rauen harten Hand über den Tisch, »wenn der Vater heimkommt, sag ich’s ihm.«

Mein Bruder hielt inne, legte den Kopf schief, als dächte er nach. Die Rosmarie nahm eine Schürze, die über der Ofenstange hing, und schlüpfte hinein. Ich bückte mich und zog den Erich am Arm. »N-n-nein … s-s-selbst!«

»Dann mach einmal.«

Er kroch unterm Tisch hervor, die Unterlippe vorgeschoben. Kletterte umständlich auf die Bank, rutschte umher, lehnte sich schließlich zurück und starrte auf seine schmutzigen Füße, die über den Rand der Bank ragten. Ich schob ihm die Schale mit der Milch hin. Die Rosmarie band ihr Haar zusammen, kniete im Herrgottswinkel vor der Muttergottes nieder und sprach ein Gebet, stand wieder auf und stupste mich. »Los, auf.«

Ich brach ein letztes Stück Brot ab und teilte es mit dem Hans, dann stand ich auf. Nur wenige Tage nach der Einschulung hatte der Lehrer Böhler uns eine Woche Ferien gegeben; es war Heuernte und auf den Wiesen wurden alle Hände gebraucht. Kauend lief ich in die Küche und holte die Strohtasche mit dem Vesperpaket – Ersatzkaffee, ein Kanten Brot –, das die Mutter vorbereitet hatte.

Vorm Haus warf die Morgensonne Schatten. Zwischen fichtendunklen Hängen glänzte das Tal vom Tau der Nacht, die Kuppen der Berge ragten schroff in den Himmel. Die Luft war kühl und eine Gänsehaut kroch über meine vom langen Sommer gebräunten Arme. An der Schindelwand lehnten zwei Heugabeln.

»Hier!« Die Rosmarie reichte mir eine und nahm die andere.

Schweigend liefen wir den Pfad hinab. Das Metzig-Gut lag allein, ohne Nachbarn, die wenigen anderen Höfe im Tal verbargen sich hinter Wäldern und Kurven, lagen tiefer oder ganz unten in der Senke, dort, wo die Landschaft für kurze Zeit beinahe eben wurde und eine Straße entlangführte, dort, wo auch die Schule war und wo die Klara, die Erika, die Frieda und die Hilda wohnten. Auf vielen der Wiesen am Wegrand stand das Gras kniehoch, und es war durchsetzt von Scharfem Hahnenfuß, Klee und Storchschnabel. Dort, wo es bereits gemäht war, schmeckte die Luft würzig. Der Wind rauschte in den Bäumen und irgendwo zeterte schrill und scharf eine Schwarzdrossel.

Schon von Weitem sah ich den Vater, seine kleine, kräftige Gestalt. Er trug Waldarbeiterhosen und ein enzianblaues Hemd, die Ärmel hatte er hochgekrempelt. Mit rhythmischen Bewegungen, den Oberkörper vorgebeugt, zog er die Sense durchs Gras, ganz mühelos sah es aus. Er war der geschickteste Mähder im Tal, bei allen Witfrauen und auch bei denen, deren Männer an der Front waren, mähte er, es gab keinen Hof am Rohrhardsberg, auf dem er nicht mit seiner Sense erschien, um zu helfen.

»Ah, da kommen meine Mädle …« Er hielt inne, richtete sich auf und schob seine Mütze zurück. Buschige Brauen über blaugrauen Augen, die Haut von Sonne und Wind gegerbt. Über seinem Schnauzer glänzten Schweißperlen.

»Die Mutter hat uns ein Frühstück mitgegeben.« Ich reichte ihm die Strohtasche.

Der Vater strich mir übers Haar. »Ihr habt gut geschafft gestern, auf den oberen Wiesen.«

Die Rosmarie sah mich an. Ich wand mich ab, zog ein Tuch aus der Tasche und schnäuzte mich. Der Vater verscheuchte eine Fliege und biss in den Kanten Brot, auf den die Mutter dünn Butter gestrichen hatte. An ihrem Westrand grenzte die Wiese an einen Buchenwald, dort war das Gras geschnitten und lag in langen ebenmäßigen Bahnen in der Sonne, das grad gemähte noch grün, das übrige schon angetrocknet. Der Rest der Wiese, die sich bis zu einer Reihe Krüppelkiefern den Berg hinabzog, war noch nicht gemäht. Ein Waldlaufkäfer krabbelte über meine nackten Füße, seine Beine kitzelten auf der Haut. Auf dem Nagel vom großen Zeh blieb er sitzen. Sein länglicher Panzer schillerte blau. Ich schüttelte ihn ab.

Es würde Stunden dauern, all das Gras zu wenden.

Mein Magen knurrte. Der Vater, der grad einen Schluck Ersatzkaffee trank, sah auf. Stumm reichte er mir seinen Rest Butterbrot. Ich zögerte. Er nickte. Die Rosmarie schulterte ihre Heugabel und stapfte davon; sie war fleißig, erledigte jede Aufgabe, die die Eltern ihr gaben, zügig und trieb uns Kleinere stets an. Schlürfend trank der Vater den Kaffee aus, wischte sich mit dem Handrücken über den Schnurrbart, dann schloss er den Henkelmann und reichte ihn mir. Er bückte sich und seine Knie knackten, als er nach seiner Sense griff. Er zog den Wetzstein aus dem Kuhhorn an seinem Gürtel und fuhr mit schnellen Strichen über das Sensenblatt, ein lautes Kreischen, Krähen flogen auf.

Ich folgte meiner Schwester den Hang hinauf, umfasste die Heugabel, ihren glatt geriebenen Holzstiel, und fuhr in die frisch geschnittene Mahd. Ich lockerte und schüttelte das Gras, ließ die Halme über die Zinken rieseln, leicht, wie Federn fast, fielen sie zu Boden, ein weicher Teppich, der in der Sonne trocknete, denn um Heu einzufahren, musste es dürr sein, sonst konnte es sich auf dem Heuboden entzünden. Doch es war eintönige Arbeit, bei der alle Kinder, die groß genug waren, eine Heugabel zu halten, helfen mussten, nur die ganz Kleinen durften spielen.

Bahn um Bahn arbeitete ich mich vor. Sah nur ab und zu auf und warf meiner Schwester einen Blick zu. Auf langen Beinen stakte sie durch die Wiese, schüttelte und rüttelte die Mahd, Meter um Meter, stur, beinahe unerbittlich.

Noch immer hatte sie kein Wort gesagt.

Meine Nase kitzelte und ich nieste. Das Gras war durchsetzt mit verblühtem Löwenzahn, jedes Mal wenn ich mit der Gabel in ein Bündel stach, stoben Samen auf und wirbelten durch die Luft. Die Sonne stand jetzt über den Kuppen der Berge, die sich scharf vor einem blauen Himmel abhoben, und nur am äußersten Rand fiel ein Rest Schatten auf einen Streifen Wiese. Droben lag der Hof im gleißenden Licht, ich sah den Hans, der eine leere Milchkanne hinter sich herzog. Ein Schweißtropfen rann über meine Stirn, rann die Nasenwurzel hinab, rollte vor bis zur Nasenspitze und blieb dort hängen. Ich blinzelte, schielte und versuchte, ihn anzugucken. Ich stellte mir vor, wie sich immer mehr Schweißtropfen an meinem Haaransatz sammelten, wie sie die Stirn hinabrannen, manche versickerten in den Augenhöhlen, andere liefen über meine Wangen, meine Nase, meine Lippen, sie veranstalteten ein Wettrennen, so wie wir Kinder manchmal um die Wette rannten, und nur die schnellsten und mutigsten von ihnen kämen ans Ziel und erreichten die Kinnspitze, von wo sie zu Boden stürzten.

»Nicht einschlafen.«

Ich wandte den Kopf. Die Rosmarie war stehen geblieben, maß mich mit grauen Augen. Hastig stieß ich meine Heugabel ins Gras, wirbelte ein Büschel auf.

»Mach’s ordentlich, dass es recht trocknet.«

»Jetzt schimpf nicht so.«

Die Rosmarie blinzelte und strich sich eine Strähne aus dem Gesicht, beugte sich vor und schaffte weiter. Ab und zu warf sie einen Blick über die Schulter – wag es nicht, sagte er, wag es nicht, dich wieder davonzumachen, um mit den anderen Kindern zu spielen.

Mein Magen knurrte. Meine Arme schmerzten, meine Beine waren von Mücken zerstochen und die Muskeln zwischen meinen Schultern waren ganz hart. Drunten zog der Vater die Sense durchs Gras, gleichmäßig wie ein Uhrwerk, die Büschel sanken neben seinen Stiefeln zu Boden wie die Entendaunen, die die Mutter vor wenigen Jahren noch rupfte, als der Krieg nicht so wütend und die Not nicht so groß gewesen waren.

In der Ferne ertönte leises Grollen.

Der Vater richtete sich auf. Wandte sich um, legte den Kopf in den Nacken, er schien den Himmel abzusuchen. Plötzlich warf er die Sense fort, rannte los, den Hang hinauf und auf uns zu, er winkte und wedelte mit den Armen. Wie angewurzelt stand ich da.

»Runter!«, schrie der Vater. »Runter!«

Das Grollen wurde lauter. Es füllte das Tal, wuchs zu einem Dröhnen, ein Dröhnen gefangen zwischen hohen Bergen, ein Dröhnen, das die Luft erzittern ließ, meinen Körper, meine Beine, meinen Bauch, sogar die Erde ließ es erbeben, sie bebte, als würde sie im nächsten Moment aufreißen und alles in sich verschlingen.

»Runter!« Vaters Stimme dicht an meinem Ohr. Etwas riss mich zu Boden, Rosmaries Bein schlug gegen meinen Arm, ihr hartes Knie, mein Mund war voller Gras, ich spuckte, rollte mich auf die Seite, roch Vaters Atem, sog für einen kurzen Moment den Duft von Kaffee ein und dann den Geruch von Schweiß.

Und den von Angst.

Ich hörte Zähne aufeinanderschlagen, wusste nicht, ob es Rosmaries waren oder meine. Etwas presste mich zu Boden, drückte meinen Kopf ins Gras, meine Brust, ich bekam kaum Luft. Etwas brannte auf meiner Haut, ich hörte Vaters Keuchen und mein Herz schlug, als würde es gleich platzen, ich wollte beten, doch die Worte fanden nicht aus meinem Mund, blieben mir im Hals stecken wie Widerhaken. Ein scharfer Sog erfasste mich und das Dröhnen wurde übermächtig, es brach alle Grenzen, drang in meinen Körper, füllte ihn aus, und das Zittern meines Leibes verschmolz mit dem Zittern der Erde.

Ich wollte nicht sterben!

Vater! Rosmarie!

Mutter, das Baby, meine Geschwister!

Unser Haus!

Warum hatte ich die Mutter in der Früh nicht getröstet?

Warum war ich am Vortag fortgelaufen, um zu spielen und hatte die Rosmarie allein schaffen lassen?

»Hab keine Angst«, flüsterte Vaters Stimme dicht an meinem Ohr.

Das Beben ließ nach.

»Habt keine Angst, meine Mädle.«

Das Dröhnen wurde leiser.

Der Boden gab meinen Körper wieder her und die Hand, die meinen Kopf zu Boden gepresst hatte, lockerte ihren Griff. Ich schnappte nach Luft.

Der Vater rollte zur Seite. »Es … ist nichts passiert.« Eine Stimme wie Sandpapier.

Reglos lag ich im Gras. Sah die Rosmarie dicht neben mir, ihre Augen weit, ihr Mund ein dunkles Loch, ein erstickter Schrei.

Der Vater hustete und spuckte Gras aus. Sein Gesicht war grau wie Fels, rote Flecken an seinem Hals. »Es ist nichts passiert.« Er wischte Halme von meinen Lippen, Erde von meinen Wangen, raue Fingerkuppen auf meiner Haut, der salzige Geschmack von Tränen. Und ein Geräusch wie das Wimmern eines Katzenjungen – der Vater beugte sich vor und umfasste Rosmaries Schultern, zog sie an sich und streichelte ihr Haar. Sie zitterte; ein dürrer Zweig, dem der Wind das letzte Laub entrissen hatte.

Ich richtete mich auf. Langsam wandte ich den Kopf und sah den Hang hinauf zu unserem Haus – weiße Laken flatterten auf der Leine, die die Mutter zwischen den Kirschbäumen gespannt hatte. Ich schlug ein Kreuz und dankte Gott.

Am anderen Ende vom Tal verschwanden, wie übergroße Hornissen, drei Tiefflieger im Mittagsblau.

Die Mutter stellte eine irdene Schüssel mit Kartoffeln auf den Tisch, sie dampften, doch der Rochus griff mit bloßen Händen zu.

»Langsam, Bub.«

Er schüttelte den Kopf, brach einen Erdapfel in zwei Hälften, stopfte die eine in den Mund, tunkte die andere in den Bibeleskäs, unter den die Liesel einen Zwiebelrest gerührt hatte. Er kaute hastig, mit offenem Mund, und es war, als quelle Dampf aus seinem Hals, und der Hans schaute zu, die Augen weit vor Staunen. Mein großer Bruder schlang und schluckte, er verschluckte sich und nahm einen großen Schluck Geißenmilch, er griff nach einer weiteren Kartoffel, auf die er mit bloßen Fingern Quark lud, und schob sie in den Mund, als könne sie ihm jemand fortnehmen, ich sah zu und dachte an ein gehetztes Tier. Sein Haar stand in dicken Strähnen vom Kopf, seine Jacke hatte einen L-förmigen Riss an der Schulter, seine Hose war zerschlissen, an seinem Hemd fehlten Knöpfe. Die Sohlen seiner Füße waren durchfurcht von Rissen wie eine ausgedörrte Landschaft, um seine Nägel zogen sich dunkle Ränder.

»Wann stehst auf in der Früh?« Die Mutter riss ein Streichholz an und entzündete ein Hindenburglicht; seit es kaum noch Glühbirnen zu kaufen gab, aßen wir abends im Schein der Notbeleuchtung.

Der Rochus leckte Bibeleskäs von seinem Zeigefinger, schluckte und nahm noch eine Kartoffel, eine kleinere diesmal, die er nicht teilte, sondern sich ganz in den Mund schob, ein Speichelfaden rann aus seinem Mundwinkel, dabei stieß er einen Laut hervor, ein halb zerkautes Ümpf.

»Ümpf …«, echote der Hans.

»So früh?«

Der Rochus nickte. Der Hans streckte seine Hand aus, doch er reichte nicht an die irdene Schüssel, und der Rochus nahm eine Knolle, biss ein Stück ab und steckte es ihm in den Mund. Ich war auch hungrig; doch es beschämte mich zu sehen, wie ausgehungert mein Bruder war. Mit dem Fingernagel fuhr ich die Kerben im Holz der Tischplatte nach. Der Talg der Hindenburgkerze knisterte.

Draußen im Gang hallten Schritte. Das stumpfe Geräusch von zwei Gehstöcken. In der Früh hatte der Vater sich kaum rühren können, das Rheuma wütete in seinen Gelenken, und die Mutter redete auf ihn ein, bat ihn zu bleiben, doch er machte sich auf den Weg in den Wald zu seiner Rotte. »Wir brauchen das Geld«, sagte er, biss die Zähne zusammen und humpelte, auf die Stöcke gestützt, den Pfad hinunter.

Ich stand auf und öffnete die Stubentür.

Im Halbdunkel sah ich den Schmerz in seinen Zügen, die zusammengepressten Lippen. Schnell schob ich einen Schemel beiseite, eine Jacke, die der Hans achtlos hingeworfen hatte, und rückte den Stuhl am Kopfende vom Tisch zurecht. Der Vater setzte sich und ein wunder Laut entfuhr ihm; ein Laut, der auch mich schmerzte. Am Nachmittag zuvor, die Dämmerung kroch bereits ins Tal, war die Rosmarie zur Apotheke nach Triberg hinaufgelaufen, um Medizin zu holen, weil die Arnikatinktur, die die Mutter angesetzt hatte, nicht mehr half, zwei Stunden hin, zwei Stunden zurück, und die ganze Zeit hatten wir gebangt und die Mutter hatte gebetet, der Herr möge ihre Tochter vor Tieffliegern und Soldaten in den Wäldern am Wegrand beschützen, und als die Rosmarie wohlbehalten wieder daheim war, hatte sie ein Kreuz geschlagen und Gott sei’s gedankt! gerufen.

Die Liesel brachte ein Glas Wasser aus der Küche und reichte es dem Vater. Die Mutter schob die Schüssel mit den Kartoffeln über den Tisch, doch der Vater schüttelte den Kopf.

»Wie geht’s auf dem Tal-Hof?«, fragte er seinen zweitältesten Sohn. Das Baby im Weidenkorb neben der Ofenbank begann zu weinen; ein einsames Weinen, als sei es aus einem schlechten Traum erwacht.

Der Rochus, kauend, nickte nur.

»Er besitzt nicht einmal ein Paar Schuhe, seit ihm die, die er mitgenommen hat, zu klein geworden sind.« Mutters Stimme war hart vor Empörung. Sie erhob sich und nahm die weinende Resi auf. Die Rosemarie hockte auf der Ofenbank und rieb ihre kalten Hände. Sobald im April der erste Kuckuck rief, liefen wir Kinder barfuß, wir schonten unsere Schuhe, trugen sie nur zur Heiligen Messe; doch spätestens Ende Oktober bestand die Mutter darauf, dass wir Schuhe und Strümpfe anzogen. Inzwischen war es November.

»Der Bub steht um fünf Uhr auf und mistet. Es ist noch finster, wenn er allein eine Herde Rinder losbindet und austreibt, die Hänge hinauf. Er hütet das Jungvieh, läuft frierend auf der Weide umher, bei Schnee und Sturm und Hagel und Gewitter. Und …« Die Mutter blickte in die irdene Schale, die fast leer war. »Er bekommt kaum etwas zu essen.«

Der Vater musterte den Rochus. Trank einen Schluck Wasser und schwieg. Die Luft in der Stube war stickig; vor den Fenstern hingen alte Teppiche wegen der Verdunklungsvorschriften.

»Ist’s so?«, fragte er nach einer Weile.

Der Rochus nickte. Er war keiner, der klagte. Die Eltern hatten ihn früh zu fremden Leuten geschickt, zuerst zum Schwarz-Bauern in der Nachbarschaft, und nachdem dort die Magd den Hof angesteckt hatte, aus schierer Wut über die schlechte Behandlung, wie man sich erzählte, gaben sie ihn nach Prechtal, ein Dorf knapp zwanzig Kilometer entfernt, hinterm Passeck, hinter Hohestein und Geißübel, am Steinberg entlang, seither kam er selten heim. Als Hütebub bekam er keinen Lohn, doch saß daheim ein Esser weniger am Tisch; deshalb war auch der Toni eine Weile als Hirte gegangen, und die Liesel half hier und da auf größeren Höfen im Haushalt.

»Was geben sie dir zu essen?«, fragte der Vater.

Der Rochus zerbrach die letzte Kartoffel, steckte eine Hälfte in den Mund, er kaute jetzt langsam, bedächtig, als zögerte er den letzten Bissen so lange wie möglich hinaus. Mich fröstelte. Ich nahm ein Holzscheit, warf es ins Feuer. Die Liesel saß am Spinnrad, im Schoß ein flaumiges Bündel geschorener Schafswolle, mit der Linken zupfte sie ein Stück aus der Mitte, mit der Rechten führte sie den Hilfsfaden zu, während ihr Fuß gleichmäßig das Schwungrad antrieb. Sie summte eine Melodie, Froh zu sein bedarf es wenig; sie sang gern, ihre Stimme war warm und weich wie Honig. Der Rochus lehnte sich zurück, fuhr sich mit den Fingern durchs Haar, stieß auf. »Brotsuppe und Milch.«

»Jeden Tag?«

»Manchmal bereitet die Bäuerin eine Suppe aus übriggebliebenen Kartoffeln.«

Der Vater stieß ein wenig Luft zwischen den Lippen hervor, aus Wut oder weil das Rheuma in seinen Gelenken biss, ich hätte es nicht sagen können. Der Hans starrte auf den Kartoffelrest in Rochus’ Fingern.

»Hast Zeit für deine Schulaufgaben?« Vaters Stimme wie Eisen.

Der Rochus schüttelte den Kopf. »Wenn ich am Abend vom Hüten komme und die Herde im Stall ist, trägt der Bauer mir noch Arbeiten auf. Danach bin ich zu müde.« Im trüben Licht wirkte er klein, fast schmal, und ich stellte mir vor, wie er allein in einer zugigen Kammer überm Stall schlief oder in einer Hütte auf einer fernen Weide, auf Strohsäcken, unter rauen Decken. Daheim hatte er sich mit einem von uns ein Bett geteilt. Pfiff der Wind durch die Ritzen, schmiegten wir uns aneinander, kratzte der Frost an den Fenstern, gab uns die Mutter einen warmen Backstein, den sie zuvor ins Ofenrohr geschoben hatte.

Der Rochus scharrte mit den Füßen über die Dielen, ein Schaben und Schrammen wie davonlaufende Ratten. Plötzlich zog ein Grinsen über sein schmutziges Gesicht. »Wenn’s zu arg ist, wart ich, bis eine Kuh den Schwanz hebt. Grad heute in der Früh bin ich in einen Kuhfladen reingestanden – das war mollig warm.«

Hans’ Augen leuchteten. Die Rosmarie kicherte.

»Warum kicherst du?« Ich drückte meinen Daumen in eine Mulde in der Tischkante und sah auf. »Hast du doch auch schon gemacht.«