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Kurt Beutler ist Interkultureller Berater bei MEOS Interkulturelle Dienste und verantwortlich für Arabischsprechende in Zürich. In dieser Funktion hat der mit einer Ägypterin verheiratete Theologe schon mehrere Bücher zum Thema "Islam und Christentum" veröffentlicht. Doch diesmal schrieb er ein Buch, das nur indirekt mit dem Islam zu tun hat. Jetzt beschäftigt ihn unsere eigene Identität: das Gesicht und die Seele der westlichen Welt – und der Schweiz im Speziellen. Denn die Schweiz ist auf viele Weisen so ganz anders. Wie stellt sich dieses Land heute dar? Wo hat es seine Wurzeln? Was ist sein Weg? Und was seine Mitte? Beutler sagt es in deutlichen Worten: "Der Einfluss des christlichen Glaubens in der Schweizer Geschichte ist riesig. Ich glaube, dass eine Rückbesinnung jetzt dran ist, weil es bei der gegenwärtigen Bedrohung nicht mehr angeht, dass wir unseren eigenen Glauben und die eigenen Wurzeln mit Füßen treten. Es geht darum, zu einer neuen Wertschätzung zu finden, um anderen Religionen und Immigranten mit Selbstbewusstsein begegnen zu können. Fest und stark in dem Wissen, was uns im Tiefsten zusammenhält."
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Seitenzahl: 215
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Kurt Beutler Die Schweiz und ihr Geheimnis
Dieses Buch ist meiner wunderbaren Mona gewidmet. Dank ihrer großen Fantasie hat sie die Schweiz ganz anders gesehen als ich. Damit hat sie mir neue Perspektiven eröffnet.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.
© 2017 by Fontis – Brunnen Basel
Umschlag: Spoon Design, Olaf Johannson, Langgöns Foto Umschlag: Miro Novak / shutterstock.com E-Book-Vorstufe: InnoSet AG, Justin Messmer, Basel E-Book-Herstellung: Textwerkstatt Jäger, Marburg
ISBN (EPUB) 978-3-03848-462-2 ISBN (MOBI) 978-3-03848-463-9
www.fontis-verlag.com
Vorwort
Teil 1Vier Sterne am Schweizer Himmel
1. Spyris Heidi – die berühmteste Schweizerin
2. Henry Dunant – der barmherzigste Schweizer
3. Pestalozzi – großzügig bis zum Bankrott
4. Leonhard Euler – das Jahrhundert-Genie
Teil 2Hinter den Kulissen der Schweizer Geschichte
5. Das Geheimnis der Schweiz
6. Ein Schwur vor Gott
7. Mehr als nur ein Winkelried: Das Selbstopfer
8. Die berüchtigten Eidgenossen auf Abwegen
9. Wie die Schweiz neutral wurde
10. Die Verfassung und der Souverän der Schweiz
Teil 3Ein neuer Blick auf die Bibel
11. Zwingli, Zürich und die Reformation
12. Keine Kompromisse mehr: Die «Schweizer Brüder»
13. Schweizer Schützenhilfe für Johannes Calvin
Teil 4So vielseitig sind Schweizer Christen
14. Gotthelf und die Bosheit der Menschen
15. Das weiße und das Rote Kreuz
16. Carl Lutz – der vergessene Held
17. Jakob Künzler: Arzt und Waisenvater unter Armeniern
18. Als die Schweiz noch arm war: Die Schwabenkinder
19. Der Wegbegleiter vieler Seelsorger: Paul Tournier
20. Die Heilsarmee: Alles ganz anders
21. Flüchtlingspfarrer und Flüchtlingsmutter
22. Karl Barth, der «Kirchenvater des 20. Jahrhunderts»
23. Francis Schaeffer, der Apologet in L'Abri
24. Pfarrer Rochat und sein «Blaues Kreuz»
25. Frère Roger: Ein Schweizer Pfarrer gründet Taizé
26. Der «Evangelische Brüderverein»: Sekte oder Freikirche?
27. «Christian Solidarity»: Hunderttausend Sklaven freigekauft
Teil 5Die Fehler der Christenheit
28. Diese schreckliche Sehnsucht nach Macht
29. Gottesreich versus irdisches Reich
30. Die Verfolgung von Hexen und Juden
31. Angriff auf die Ketzer und Freikirchler
32. Sechs weitverbreitete Missverständnisse
Teil 6Der große Irrtum
33. Die Hochzeit mit der Renaissance
34. Wenn ein humanistischer Papst überzeugte Gläubige straft
35. Jesus – Gottes Sohn oder bloß ein Humanist?
36. Humanistisches Denken: Überwindung des Christentums?
37. Was war. Was ist. Was bleibt.
MEOS – ein Kompetenzzentrum für Immigration
Anmerkungen
Ein herzlicher Dank gebührt dem Historiker Philippe S., der das gesamte Manuskript auf seine geschichtliche Korrektheit geprüft
Ich habe das Vorrecht, Kurt Beutler seit vielen Jahren zu kennen. Bei seinem ersten Buch Zwischen Bomben und Paradies durfte ich als Ratgeber mitwirken. In der Zwischenzeit wurde der Autor einem großen Leserkreis als Spezialist für den Islam, Flüchtlinge und Integration bekannt. Er schreibt mit großem Sachverstand und mit Passion. Und er kennt die Nöte und Sehnsüchte der Muslime, Flüchtlinge und Immigranten. Seine bisherigen Buchveröffentlichungen zeugen davon.
In diesem Band liefert er nicht nur viele Informationen und viel Wissenswertes für einen breiten Leserkreis, sondern auch eine Unterstützung für diejenigen, die sich um Immigranten kümmern. Die Völkervermischung ist in unseren Breitengraden eine Realität. Viele Fragen werden über die Hintergründe, die Geschichte der Gastgeberkultur und die wirklichen Motive der Flüchtlinge gestellt. Die Antworten darauf greifen oft zu kurz. Staatliche, nichtstaatliche und private Anbieter sind oft überfordert.
Der Autor hat einige historische Persönlichkeiten porträtiert, die für unsere Kultur prägend sind. Sie gehören zu einem Personenkreis, der Großes geleistet hat und gleichzeitig die Ehre Gottes suchte. Es sind Männer und Frauen, die Profan- und Reich-Gottes-Geschichte geschrieben haben und damit viele inspirierten. Sie dienen uns heute noch als Vorbilder. Sie stellten sich selbst nicht in den Mittelpunkt, sondern dienten den Mitmenschen.
Alle Generationen haben das Recht auf ein solides geistiges und geistliches Erbe. Nur wer weiß, woher er kommt und wovon er geprägt wurde, kann überzeugend seine Zukunft gestalten. Darum wurde dieses Buch geschrieben. Unsere Kinder und Enkel dürfen aber ihre Augen nicht vor den negativen Entwicklungen verschließen. Tatsache ist, dass sie heute schon mit riesigen finanziellen Schuldenbergen, zweifelhaften Geschichtsauslegungen, humanistischem und christlichem Wertezerfall und vielen weiteren Problemen klarkommen müssen. Durch das wissenschaftlich Machbare kommen neue große Veränderungen hinzu.
Genügen ihre Grundlagen, um das zu bewältigen? Sie brauchen verlässliche Entscheidungshilfen. Die Frage nach den unverzichtbaren biblischen und weltanschaulichen Werten, die auch die Grundlage der Menschenrechte bilden, muss immer wieder neu betrachtet werden. Der Autor hilft, das Gute zu erkennen und zu behalten und sich vom Schlechten zu trennen, um neue Entscheidungen treffen zu können. In diesem Sinne hilft das Buch den Neuankömmlingen wie auch einer breiten interessierten Öffentlichkeit.
Dr. Marco Gmür
Die berühmteste Schweizerin ist Heidi. Dies jedenfalls erklärte mir jener syrische Asylsuchende, der ebendiesen Namen für seine Tochter ausgewählt hatte. Er erzählte, dass er die Geschichte von Heidi und dem Geißenpeter schon von klein auf geliebt habe und sich darum für seine Tochter keinen anderen Namen hätte vorstellen können. Durch ihn wurde mir bewusst, dass das Mädchen aus den helvetischen Alpen weltweit bekannt und beliebt ist.
Wer «Heidi» googelt, der trifft tatsächlich eine ganze Reihe von Superlativen an. Dieses Buch sei das mit Abstand bekannteste Werk der gesamten Schweizer Literatur, habe es doch eine Gesamtauflage von über fünfzig Millionen Exemplaren erreicht. Es gehöre zu den bekanntesten Kinderbüchern überhaupt und zu den am meisten übersetzten Büchern der Welt (über fünfzig Sprachen).
Als Johanna Spyri 1881 die Geschichte schrieb, soll sie damit sogar eine neuartige Literaturgattung geschaffen haben, kann man da erfahren. Zum ersten Mal in der Geschichte sei ein Buch aus der Perspektive eines Kindes geschrieben worden. Auch der Heimatfilm «Heidi» von 1952 war ein weltweiter Erfolg, die Fortsetzung «Heidi und Peter» von 1955, der erste Schweizer Farbfilm, ein noch größerer. Und das Interesse nimmt keineswegs ab. Die Geschichte soll mehr als ein Dutzend Mal neu verfilmt worden sein.
Während unzählige Kindergeschichten kommen und gehen, gibt es nur wenige Dauerbrenner. Wieso fasziniert gerade diese Geschichte seit Generationen die Welt? Darüber ist viel gerätselt worden. Berührt Heidi die Herzen, weil sie ein schutzloses Waisenkind ist? Oder weil das vermeintlich überflüssige Mädchen zur Hauptperson wird? Trotz ihrer Schwäche wird sie ja zur Heldin der Geschichte. Damit kann sich die Leserschaft offenbar identifizieren.
Das Buch beginnt schon im ersten Kapitel damit, dass Heidis Tante Dete das Kind los sein will. In ihrem Egoismus hört sie nicht auf die Warnungen der Dorfbewohner. Sie bringt es fertig, das Kind auf den lebensfeindlichen Berg ausgerechnet zum Alpöhi zu bringen, vor dem sich sogar die Erwachsenen fürchten. Sie bringt es auch fertig, eines Tages die Kleine völlig überraschend einfach wieder zu holen und in das ferne Frankfurt zur wohlhabenden Familie Sesemann zu verfrachten. Dort soll sie nicht nur lernen, artig zu sein, sondern auch zu lesen und zu schreiben.
Dies sind allerdings nur vorgeschobene Gründe. In Wirklichkeit ist sie geholt worden, um die Einsamkeit der gelähmten Klara erträglicher zu machen. Wenn die Tante auch behauptet, Heidis Wohl im Sinn zu haben, stellt sich doch unweigerlich heraus, dass es ihr wieder einmal nur um den eigenen Vorteil geht.
Heidi erscheint in der Geschichte zweimal als Opfer. Zunächst einmal bei ihrer erzwungenen Ablieferung beim menschenfeindlichen Alpöhi, der sie zuerst nicht haben will. Dies scheint sie aber gar nicht zu bemerken. Sie fühlt sich auf dem Berg sofort wie ein Fisch im Wasser. Umgekehrt wird ihr späterer Aufenthalt im Hause Sesemann in Frankfurt, der eigentlich als die große Chance ihrer Kindheit gesehen werden könnte, für sie zunehmend zum Albtraum.
Nicht nur die Handlungen der Erwachsenen überraschen den Leser, sondern auch Heidis Reaktionen darauf. Diese bleibt aber immer sich selbst treu. Gerade dadurch gewinnt sie die Herzen der Leser. Sie fürchtet sich nicht vor dem gewaltigen Alpenwind und kann mit dem verbitterten Großvater genauso umgehen wie mit dem genauso eigenbrötlerischen Geißenpeter. Dessen Großmutter liebt sie und möchte ihre Armut und ihr Leiden irgendwie lindern.
Mit kindlicher Unschuld sammelt sie in den ersten Tagen im reichen Frankfurter Haus Brötchen, die sie für die blinde Frau aufheben will. Sie sieht diese nämlich nicht nur als die Großmutter des Geißenpeters, sondern auch als ihre eigene. Für derartige Gefühlsduseleien hat aber die Erzieherin Fräulein Rottenmeier kein Verständnis. Damit beginnt eine endlose Serie von Problemen.
Während sie sich vorher an das Leben auf der Alp sofort anpassen konnte, bleibt sie in Frankfurt ein Fremdkörper. Physisch ist sie zwar in Deutschland, aber innerlich lebt sie immer noch in den Bergen. Schrittweise zieht sie sich in sich selbst zurück und wird seelisch krank. Sie isst und freut sich nicht mehr und erschreckt das ganze Haus dadurch, dass sie schlafwandelt.
Der Arzt ist es schließlich, der sie rettet. Er setzt das Undenkbare durch, und Heidi wird wieder auf die Alp geschickt, wo schließlich die gesamte Frankfurter Familie sie besucht. Nun sind sie es, die als Fremdkörper wirken. So wie sie einst über Heidi geredet haben, kommen sie nun ins Gerede der Bergdorf-Bewohner. Doch auf wundersame Weise führt der Besuch der Familie auf der Alp zur Heilung der gelähmten Klara. Zudem versöhnt sich der Alpöhi nicht nur mit Gott und den Menschen, sondern zieht sogar um – zurück in sein Haus im Dorf, das er nun mit dem deutschen Arzt teilt, welcher Heidi sogar als seine Erbin einsetzt.
Johanna Spyri war offensichtlich begabt darin, unterschiedliche Persönlichkeiten zu schildern. Sie malt dem Leser nicht nur die fröhliche Heidi und den verbitterten Großvater Seite um Seite vor Augen, sondern auch den wortkargen, denkfaulen Geißenpeter und dessen mausarme Familie mit der gefühlvollen Großmutter. Die pedantische, von Ängsten geplagte Erzieherin Rottenmeier bringt jeden zum Schmunzeln. Sie wird im Hause Sesemann offensichtlich in Kontrast zur herzensguten Großmutter von Klara gesetzt. Heidis ungewollte Streiche bringen das noble Frankfurter Haus durcheinander, und man kann sich darüber ein ums andere Mal mit der gelähmten Tochter Klara mitfreuen.
Viele Deutungen der Heidi-Geschichte sind versucht worden. Auf den ersten Blick könnte man meinen, dass sich das Buch gegen die Verstädterung wenden wolle. Es sieht so aus, als wolle Johanna Spyri mit dieser Geschichte gegen die Entwicklung der modernen Welt und gegen die Industrialisierung protestieren. Zu einer Zeit, als man die Berge wegen ihres rauen Klimas gefürchtet habe, werde das Leben auf der Alp in Johanna Spyris Buch geradezu idealisiert. In der Geschichte werde deutlich gezeigt, dass nicht das Leben in der Großstadt, sondern dasjenige auf der Alp lustig und lohnenswert sei.1
Doch derartige Deutungsversuche sind viel zu weit gegriffen. Sie vergessen, dass es sich um ein Kinderbuch handelt. Darin wird ganz einfach erzählt, wie Heidi die Berge und im Gegensatz dazu die Großstadt empfindet. Nirgends wird behauptet, dass das Leben auf der Alp allen Menschen so leichtfällt und so lustig erscheint wie ihr. Ganz im Gegenteil. So wird in ebendiesem Buch etwa auch berichtet, wie schwer es der Großmutter des Geißenpeters fällt, die in der Nacht nicht schlafen kann, weil sie Angst hat, dass die starken Winde ihr altes Haus einstürzen lassen.
Heidi ist zwar nicht geschaffen für Frankfurt, aber es kommen durchaus Persönlichkeiten in der Geschichte vor, die dorthin besser passen als in die Alpen. Und auch wenn das Kind aus den Bergen in Deutschland nicht glücklich wird, so reift es doch dort. Es lernt nicht nur lesen und schneidern, sondern sammelt Lebenserfahrung, die es bei seiner Rückkehr gewinnbringend einsetzt.
Traurig ist Heidis Misserfolg in Frankfurt. Sie ist nicht anpassungsfähig. Könnten Kinder nicht mehr aus einem Buch lernen, das von Erfolg erzählt? Ist vielleicht die versteckte Aussage der Heidi-Geschichte, dass es zu Hause am schönsten sei, anstatt dass man sich verändern und Neues lernen müsse? Aber wer solches vermutet, hat das Buch missverstanden.
Nachdem die Tante das kleine Mädchen zum Alpöhi bringt, wo es eigentlich gar nicht zu Hause ist, passt es sich sogar unglaublich schnell und gut dem extrem schwierigen Öhi und seinem kargen Alpleben an, obwohl es eigentlich ja zu diesem Zeitpunkt dort noch gar nicht zu Hause ist. Wieso aber kann es sich später in Deutschland nicht zurechtfinden? Weil es einfach nur ein Kind mit seinen Grenzen ist. Es ist durchaus realistisch, dass nicht jeder sich überall zurechtfinden kann – und schon gar nicht ein herumgeschubstes Waisenkind.
Heidi wird zwar als ein aufgewecktes Mädchen geschildert, aber eben gerade nicht als ein Wunderkind. Das macht es umso attraktiver und realitätsnaher. Es kehrt zwar in die Heimat zurück, aber nicht nur, um wieder so zu leben wie früher, sondern um seine Mitmenschen dank der neu gewonnenen Deutschland-Beziehungen und Auslands-Erkenntnisse zu beglücken.
Wer den Sinn des Buches verstehen will, muss im Leben der Autorin suchen. Im Stadthaus von Zürich soll Johanna Spyri 1879 den ersten Teil des Heidi-Romans innerhalb von vier Wochen geschrieben haben.2 Er kam direkt aus ihrem Herzen, weil das, was darin steht, ihre eigenen Gefühle und Erfahrungen ausdrückt.
Sie war zwar kein Waisenkind, aber sie war auch auf dem Land aufgewachsen und hatte zu einem Anwalt mitten in die Stadt Zürich geheiratet. Während ihr Vaterhaus immer voll von Menschen gewesen war, hatte ihr Ehemann keine Zeit für Gäste.
Es geht in der Heidi-Geschichte überhaupt nicht um versteckte Anspielungen auf politische und wirtschaftliche Entwicklungen, sondern um das Innenleben eines Menschen. Die Autorin hat ja ebenso wie das Heidi eine psychische Krankheit durchgemacht, und zwar eine längere.
Wie viel ihre unglückliche Ehe dazu beigetragen hat, können wir nicht sagen. Jedenfalls gebar sie nur einen einzigen Sohn und wurde während der Schwangerschaft von Depressionen übermannt. Früh schon zeigte sich, dass der Sohn kränklich war und nicht lange leben würde. Aus derart schwierigen Situationen wurde der Glaube geboren, von dem sie in der Heidi-Geschichte erzählt.
Was das Buch so ergreifend macht, ist tatsächlich nicht nur die Erzählung selbst, sondern es sind die feinfühligen Beschreibungen von zwischenmenschlichen Beziehungen und Gefühlen. Nicht nur Landschaftsbeschreibungen, sondern auch Gespräche und Handlungen von Personen werden oft dazu benutzt, um tiefe innerliche Regungen auszudrücken.
Die christliche Seite der Geschichte kommt bei Kritikern offensichtlich schlechter an als bei den Lesern. Von «schwärmerisch-pietistischer Frömmigkeit einer vergangenen Zeit» zeuge das Heidi-Buch, wird da etwa behauptet, und dass die religiöse Ausrichtung von Johanna Spyris Werk ihren Geschichten «etwas Unwirkliches» gebe.
Tatsächlich haben denn auch mehrere Verleger alles, was mit dem Glauben zu tun hat, einfach aus dem Text rausgestrichen. Die Geschichte des Waisenmädchens, das sich verblüffenderweise gerade in den rauen Bergen beim verbitterten Alpöhi zu Hause fühlt, dagegen in der fortgeschrittenen, wohlhabenden Großstadt seelisch krank wird, bleibt bei diesen Verlegern trotzdem erhalten. Aber das, was Johanna Spyri eigentlich mit dem Buch sagen wollte, geht dann verloren.
Darum verstricken sich manche Ausleger der Heidi-Geschichte in politischen Dimensionen und lesen Aussagen in das Buch hinein, die völlig erfunden sind, weil sie das, was offensichtlich dasteht, nicht wahrhaben wollen. Es ging Johanna Spyri offensichtlich in erster Linie darum, zu zeigen, wie der Glaube in den schwierigsten Lebenssituationen helfen kann.
Das Buch enthält keineswegs theoretische, weltfremde Religiosität, sondern zeigt einen Glauben, der erst durch Lebenserfahrung entsteht und ganz praktisch hilft, den Alltag zu bewältigen. Natürlich begegnet Heidi dem Gottvertrauen weder bei der egoistischen Dete noch beim verbitterten Alpöhi oder dem einfältigen Peter, wohl aber bei dessen blinder Großmutter.
Deren Glaube kann nun wirklich nicht als schwärmerisch bezeichnet werden, hat sie doch selber über viele Jahre sogar die Liedertexte vergessen, die sie so gerne singen möchte. In ihrer Blindheit, Armut und Krankheit hätte sie allen Grund, einen verbitterten, unausstehlichen Charakter zu entwickeln. Sie verlangt aber vom Leben nicht mehr, als ihr jemanden zu schicken, der aus dem Gesangbuch vorlesen könnte. Sie, die nicht nur ihren Sohn und ihr Augenlicht, sondern auch sonst so ziemlich alles verloren hat, was anderen Leuten Lebensfreude schenkt, ist keineswegs in Selbstmitleid und Anschuldigungen versunken. Kälte, Hunger, Schmerz, Verlust und Angst sind ihre täglichen Begleiter. Sie empfindet aber trotzdem die Güte Gottes und findet Grund, für die kleinsten Dinge dankbar zu sein. Man kann sie um diesen Glauben nur beneiden!
Auch in Frankfurt begegnet Heidi dem Glauben, und zwar bei Klaras Großmutter, der großen Pädagogin des Buches. Sie vollbringt ein wahres Wunder, indem sie Heidi davon überzeugt, dass sie lesen und schreiben lernen kann. Als Einzige erkennt sie die psychische Not des Kindes und akzeptiert auch, dass dieses sich niemandem mitteilen will. Ganz weise ermutigt sie das Schweizer Mädchen, seine Not stattdessen insgeheim mit Gott zu besprechen, was dieses auch mit Freuden tut. Das ist sicher realistisch, denn Kinder lieben es im Allgemeinen, zu beten.
Später zweifelt sie aber, weil Gott ihre Gebete nicht erhört. Die Großmutter erklärt ihr, dass dies nicht das Ende der Geschichte sein müsse. Gott höre sie sehr wohl, wisse aber besser, wann und wie er die Gebete erhören wolle.
Dieser Satz mag zunächst wie ein billiger Trost erscheinen. Er wird aber für Heidi kostbar. Als sie dann tatsächlich eines Tages völlig überraschend in die Schweiz zurückfahren darf, erkennt sie, dass dies der richtige Moment ist. Wären ihre Gebete früher erhört worden, so hätte sie Frankfurt wieder verlassen, ohne lesen zu lernen. Und gerade diese Fähigkeit wurde später mehrfach wertvoll.
Viele Seiten lang wird Gott im Heidi-Buch gar nicht erwähnt. Und doch wird er mit dem Fortgang der Handlung zunehmend wichtiger. Ohne ihn hätte die Geschichte trotz aller positiven Entwicklungen kein derart tiefgreifendes Happy End.
Überschäumende Freude erlebt Heidi bei ihrer Rückkehr nicht nur beim Anblick der wunderschönen Berge und der im Abendrot aufflammenden Felshörner mit dem Schneefeld, sondern vielmehr noch beim Danken dafür, dass ihre Rückkehr dem Handeln des lieben Gottes zuzuschreiben sei und dass dieser «alles noch viel, viel schöner gemacht habe, als sie es je gewusst» habe.
An zentralen Stellen wird der Glaube eingeflochten. Nachdem man dem Heidi lange Zeit vergeblich das Lesen beizubringen versuchte, verspricht ihm die Großmutter ein Bilderbuch als Geschenk und erzählt ihm die Geschichten, die darin stehen. Es handelt sich offenbar um eine Kinderbibel.
Aus den darin enthaltenen Kapiteln ist es die Erzählung vom verlorenen Sohn, welche Heidi am meisten liebt, denn es stellt sich vor, dass der Sohn den Alpöhi verlassen habe und danach in Frankfurt am Leiden sei. Es kann sich sehr gut mit ihm identifizieren.
Als es später in die Schweiz zurückkommt, liest es diese Geschichte dem Alpöhi vor, der zwar wenig darauf antwortet, aber zutiefst davon berührt wird. Auch er erkennt sich als verlorenen Sohn, hatte er doch in seiner Jugend beim Spiel sein ganzes Erbe verjubelt und seine eigenen Eltern mit Kummer ins Grab gebracht. An dieser Geschichte zerbricht seine jahrzehntelange Überzeugung, dass es für ihn keine Vergebung und kein Zurück geben könne. Tief berührend wird sein erster Gang zur Kirche und seine Versöhnung mit den Dorfbewohnern geschildert.
Johanna Spyri hat noch eine ganze Serie anderer Bücher geschrieben.3 Dabei stellt sie sich immer auf die Seite von Kindern und jungen Frauen, die sich in Extremsituationen befinden. Sie macht sich keine Illusionen über die Welt, sondern stellt die Bosheit der Menschen ohne Hemmungen dar. Oberflächliche Lösungen gibt es bei ihr nicht. Immer und immer wieder dringt ihre Überzeugung durch, dass nur ein tiefer Glaube dieser Welt einen Sinn abringen kann. Offensichtlich tischt sie dabei keine Theorien auf, sondern erzählt ihre eigene Lebenserfahrung.
Als sie einst aufgefordert wurde, ihre Biografie zu schreiben, soll sie geantwortet haben: «Wer denn richtig zu lesen versteht, wird mich in allen meinen Büchern finden.»
Früher sah ich im Roten Kreuz nichts Besonderes. Es ist halt einfach eine Hilfsorganisation, wie es Hunderte andere auch gibt, so dachte ich. Es waren Asylsuchende aus Aleppo, die mich eines Besseren belehrten. Als sie in der Schweiz ankamen, nahm sie einer unserer syrischen Freunde am Flughafen in Empfang und brachte sie zu uns. Dieser war ebenfalls Asylsuchender, leider aber von dem, was er bisher in der Schweiz erlebt hatte, sehr enttäuscht. Er erzählte dieser Familie an jenem Abend stundenlang nur von negativen Erlebnissen, Auseinandersetzungen und schwierigen Gesetzen, die es in der Schweiz gebe. Er schlug ihnen vor, stattdessen nach Deutschland zu gehen, wo «Mama Angela» damals gerade die Türen für Syrer weit aufgemacht hatte. Wir hatten keinen Zweifel daran, dass sie dies tun würden.
Doch am nächsten Morgen erlebten wir eine Überraschung. Sie erzählten uns, sie hätten zwar schlecht geschlafen und die Frau habe sogar geweint wegen dem, was sie gehört hätten. Trotzdem seien sie fest entschlossen, in der Schweiz zu bleiben, denn sie könnten das Land, welches das Rote Kreuz hervorgebracht habe, nicht wieder verlassen.
Das Rote Kreuz? Ich wusste schon, dass der Mann einige Jahre bei dieser Organisation gearbeitet hatte, aber trotzdem war mir nicht klar, was ihn daran derart faszinierte. Auf meine Frage hin erzählte er mir eine unangenehme Geschichte aus seinem Leben. Diese führte zurück in die Zeit, als er noch Schneider war.
Eines Morgens wurden die Bewohner des Stadtviertels von Haleb, das er bewohnte, von lautem Geschrei geweckt. Über Nacht hatte sich die syrische Armee zurückgezogen, und die «Gabhat an-Nusra» hatte das Viertel übernommen. Erschrocken beobachtete der Mann aus dem Fenster, wie alle seine Nachbarn von bewaffneten bärtigen Männern unter Schlägen aus den Häusern gezerrt wurden. Auch er musste natürlich mitgehen und sich vor einem Gericht verantworten, welches gemäß der islamischen Scharia urteilte.
Nach langem, qualvollem Warten wurde er hineingebracht. Dort antwortete er auf die Fragen wahrheitsgemäß, dass er Christ sei, eine Frau und ein Kind habe. Der Richter erklärte ihm, dass er entweder zum Islam übertreten und sich der islamischen Armee anschließen oder Christ bleiben und zur Unterstützung des Krieges die Dschizya-Steuer bezahlen müsse. Das wären dann für drei Personen eineinhalb Millionen Lira.4 Ein Riesenbetrag. Er besaß nur 200.000 Lira5 und sah sich außerstande, mehr Geld aufzubringen. In dem Fall werde er vom Scharia-Gesetz zum Tod verurteilt, erklärte der Bärtige.
Verzweifelt überlegte der Mann, was er tun könnte. Das ganze Haus mit der Schneiderwerkstatt gehöre ihm auch, erklärte er, das sollten sie doch auch nehmen, und er werde von seinem Vater noch Geld holen. Darauf ließ sich das Gericht ein. Die Familie durfte allerdings nicht einmal mehr in ihr Haus zurückkehren, um irgendetwas zu holen, denn es gehörte ihnen ja nicht mehr. Mit dem Argument, zum Vater zu gehen, um Geld zu beschaffen, konnten sie ihr nacktes Leben retten und unter großer Gefahr in einen anderen Stadtteil fliehen, von wo aus sie in eine Küstenstadt reisten und dann beim Roten Kreuz eine neue Arbeitsstelle fanden.
Nach einer kurzen Ausbildung wurde der Mann als Projektleiter eingesetzt. Er war verantwortlich für die Organisation von ganzen Hilfsprojekten. Wenn ein Dorf angegriffen wurde und die Bewohner flohen, so mussten sie oft wochenlang in den Feldern oder Wüsten übernachten. Dort fehlte es ihnen aber an allem. Die Mitarbeiter des Roten Kreuzes fuhren dann mit großen Lastwagen hin. Sie brachten Zelte, Decken, Kleider und Nahrung. Man half allen Bedürftigen, egal welcher Religion und welcher Volksgruppe sie angehörten.
Sogar feindlich gesinnten Menschen zu helfen war inmitten jenes Krieges natürlich alles andere als selbstverständlich. Jene Familie wurde von der Philosophie des Roten Kreuzes nicht nur sehr beeindruckt, sondern auch zutiefst überzeugt, und sie fragten sich, wie Henry Dunant, der diese Organisation gegründet hatte, auf derart geniale Ideen gekommen war.
Leider entzündete sich der syrische Bürgerkrieg ja eben gerade dadurch immer wieder von neuem, dass die Fähigkeit, neutral zu denken und andersartige Menschen – oder gar Feinde – zu lieben, gänzlich fehlte. Sie erzählten mir, dass große Teile der Bevölkerung derartige Vorurteile gegen das Symbol des Kreuzes hätten, dass die Organisation dort sogar unter einem anderen Namen arbeiten müsse. Sie heißt dort «Roter Halbmond». Ein Fahrer in einem Wagen mit einem roten Kreuz darauf würde wohl nicht lange überleben.
Eines Tages wurde die kleine Tochter dieser Familie von einer Granate verletzt. Bald darauf bekam der Vater Probleme mit der syrischen Regierung, weil diese von ihm forderte, Informationen weiterzuleiten. Er sollte also Menschen denunzieren. Gerade dies widersprach allerdings dem Prinzip, das er beim Roten Kreuz gelernt hatte, demzufolge man neutral bleiben und allen helfen sollte. Als er sich weigerte, das Verlangte zu tun, wurde er als Helfer der Staatsfeinde eingestuft und von der Polizei gesucht. Er konnte sich eine Weile in einem Kloster verstecken.
Aber das war keine Dauerlösung. Es war klar, dass sie Syrien verlassen mussten. Durch die Vermittlung des Roten Kreuzes erhielten sie innerhalb von drei Tagen ein humanitäres Visum, mit dem sie legal in die Schweiz einreisen konnten, um einen Asylantrag zu stellen.
Nun konnte ich ihren hohen Respekt vor dem Roten Kreuz und vor dem liebevollen, toleranten Denken Henry Dunants besser verstehen. Mein Interesse war mehr als geweckt. Tatsächlich stellte ich fest, dass Dunant nicht nur irgendeine Organisation wie hundert andere gegründet hatte. Dieser Mann trug unglaubliche Visionen in sich und gebar ein ganz neuartiges Denken in die Welt hinein. Er gilt als der historische Ausgangspunkt des humanitären Völkerrechts.
Die erste Genfer Konvention, die 1864 beschlossen und von zwölf Staaten unterzeichnet wurde, stellt den allerersten völkerrechtlichen Vertrag der Menschheitsgeschichte dar, der Regeln zur Kriegsführung festlegt.6 Bis heute ist das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) die einzige Organisation, die im humanitären Völkerrecht erfasst und als dessen Kontrollorgan genannt ist.
In praktisch jedem Land der Welt gibt es voneinander unabhängige nationale Organisationen des Roten Kreuzes. Ihre vielfältigen Tätigkeiten beschränken sich längst nicht mehr nur auf die Behandlung von Kriegsverletzten, sondern beinhalten auch Rettungsdienste, Altenfürsorge und Blutspendeaktionen. Auch Asylhilfe und jede andere denkbare Tätigkeit zum Schutz des Lebens, der Gesundheit und der Würde sowie zur Verminderung des Leids von Menschen in Not – ohne Ansehen von Nationalität und Abstammung oder religiösen, weltanschaulichen und politischen Ansichten der Betroffenen und Hilfeleistenden – sind eingeschlossen.
Das IKRK ist die älteste der wenigen ursprünglichen nichtstaatlichen Völkerrechtsorganisationen. Der Umfang und die Aktivitäten des Roten Kreuzes sind derart vielfältig, dass ihre Auswirkungen schlicht unmessbar geworden sind.