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Gibt es einen europäischen Islam? Ist der Islam die Religion der friedlichen Familie oder des Ehrenmordes? Der Barmherzigkeit oder des brutalsten Terrors? Um die Lösung dieses Rätsels bemühen sich immer mehr Politiker weltweit. Denn es geht nicht nur darum, viele Menschen vor Terror zu schützen. Es geht um die Zukunft unserer Kinder. Finden Sie heraus, warum es zur Reform des Islam mehr benötigt als eine neue Interpretation des Korans und was der Preis ist, den wir dafür bezahlen müssen. Kurt Beutler ist Theologe und Islamkenner. Er arbeitet als interkultureller Berater und hat zahlreiche Bücher und Artikel zu den Themen Islam und Koran veröffentlicht. Er lebt mit seiner Frau und seinen zwei Kindern in Zürich.
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Seitenzahl: 194
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SCM Hänssler ist ein Imprint der SCM Verlagsgruppe, die zur Stiftung Christliche Medien gehört, einer gemeinnützigen Stiftung, die sich für die Förderung und Verbreitung christlicher Bücher, Zeitschriften, Filme und Musik einsetzt.
ISBN 978-3-7751-7469-5 (E-Book)
ISBN 978-3-7751-5969-2 (lieferbare Buchausgabe)
Datenkonvertierung E-Book: CPI books GmbH, Leck
© 2019 SCM Hänssler in der SCM Verlagsgruppe GmbH
Max-Eyth-Straße 41 · 71088 Holzgerlingen
Internet: www.scm-haenssler.de; E-Mail: [email protected]
Soweit nicht anders angegeben, sind die Bibelverse folgender Ausgabe entnommen:
Elberfelder Bibel 2006, © 2006 by SCM R.Brockhaus in der SCM Verlagsgruppe GmbH Witten/Holzgerlingen.
Weiter wurde verwendet:
Lutherbibel, revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart. (LUT)
Umschlaggestaltung: Jens Vogelsang, Vogelsang Design | www.vogelsangdesign.de
Titelbild: fotolia.com
Autorenfoto: Vreni Kohli
Satz: typoscript GmbH, Walddorfhäslach
Vorwort
Das Rätsel
Teil 1 | Die Rätsel des Islam
Gottesbild
Die Türangel des Islam
Wenn Worte versagen
Rätsel rund um Allah
Das Rätsel der Vergötterungen
Heilige Bücher
Rätsel im Koran
Rätsel der Hadithe und der Sira
Die wichtigsten Propheten im Islam
Rätsel rund um Mohammed
Rätsel um Jesus
Moderne Gesellschaft
Islam und Demokratie
Rätsel um die Stellung der Frau
Fatalismus und Aktivismus
Leben als Muslim
Die rätselhaften Dschinn
Die Rätsel des rituellen Gebets
Respekt oder Tod
Verachtung und doppelte Moral
Fazit
Teil 2 | Die Lösung des Rätsels
Unbefriedigende Lösungsversuche
Das eine Auge verbinden?
Menschenrechte in Tranchen?
Nur-Koran-Bewegung
Ist der Koran ein Dialog?
Das Problem richtig erkennen
Die einzige mögliche Konsequenz
Die Quellen des Korans
Von Jerusalem nach Mekka
Biblische Einflüsse
Zum Verwechseln ähnlich?
Sucht Gott die NÄHE zum Menschen?
Ein Gott, der sich bindet
Fort- oder Rückschritt?
Der Geist Gottes
Ein Gott der Manipulation
Die Reformation des Islam
Nachwort
Anmerkungen
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Ich sehe sie noch deutlich vor meinem inneren Auge: Zuweilen verblichen und bis zur Unkenntlichkeit zerrissen, dann wieder sauber und frisch aufgeklebt; manchmal einzeln, oft zehn bis zwanzig nebeneinander; an Hauswänden, Brückenpfeilern, Bushaltestellen: Die Wahlplakate der Moslembruderschaft waren allgegenwärtig in den Straßen Kairos. Tausende, ja Zigtausende muss ich in den Jahren gesehen haben, in denen ich in dem Land gelebt habe, das auch Kurt Beutler tief geprägt hat. Und der auf diese Plakate aufgedruckte Slogan war und ist immer dieser eine einprägsame, kurze und einfache Satz: »Der Islam ist die Lösung.« Ich habe diesen Slogan immer als sehr umfassend verstanden: Es geht um das Versprechen, eine Lösung für alle Herausforderungen in Politik, Gesellschaft und Religion anbieten zu können.
Das vorliegende Buch setzt sich ebenfalls mit den tief greifenden Herausforderungen der islamischen Gesellschaften unserer Zeit auseinander. Sein Untertitel »Durch Widersprüche und Rätsel zur Lösung« kommuniziert jedoch eine grundlegend andere Botschaft als die Wahlplakate der Moslembruderschaft: Es bietet nicht von Beginn an eine Lösung an. Schon gar nicht eine einfache, schnelle Lösung. Am Anfang stehen vielmehr Rätsel. Kurt Beutler nimmt sich viel Zeit, die Rätsel, die innere Zerrissenheit und auch die negativen Kräfte des religiösen Systems des Islams und islamischer Gesellschaften zu verstehen und zu beschreiben. Dabei kommen einige Muslime aus Vergangenheit und Gegenwart zu Wort, die selbst mit Zweifeln und Ungereimtheiten zu kämpfen hatten.
Jedem Leser wird schnell klar, dass hier jemand schreibt, der nicht nur die Quellen und die Bücher verschiedenster islamischer Theologen sorgfältig gelesen hat. Sondern jemand, der darüber hinaus – und das ist vielleicht noch wichtiger – unzählige Stunden im direkten, persönlichen Gespräch mit Muslimen verbracht hat. Ein Autor, der nicht nur seine eigenen Beobachtungen beschreibt, sondern ebenso auch die Enttäuschung und die Zweifel, die in unserer Zeit eine schnell wachsende Zahl von Muslimen spüren und in nie gekannter Offenheit zum Ausdruck bringen.
Das Ergebnis ist ein Buch, das an vielen Stellen den Finger schonungslos auf die wunden Punkte in Theologie und Gesellschaft des Islams legt. Die Beobachtungen und Schlussfolgerungen sind stellenweise regelrecht schmerzhaft. Kurt Beutler scheut sich nicht, in aller Ehrlichkeit zuweilen deutlich kritische Worte zu gebrauchen. Auf der anderen Seite – und das ist entscheidend wichtig! – ist dies jedoch ein Buch, das niemals überheblich oder feindselig wirkt, und das sich hierin wohltuend von sehr vielen anderen Äußerungen unterscheidet.
Auf dem Hintergrund von Kurz Beutlers früherem Buch »Perlen im Koran« ist seine Kritik zutiefst glaubwürdig. Denn er hat sich viele Jahre lang die Zeit genommen, Muslime zu verstehen und zunächst das Positive im Koran und in islamischen Gesellschaften zu sehen.
Welcher innere Motor treibt dieses Buch an? Entdecken Sie es selbst. Nur so viel sei gesagt: Die treibende Kraft dieser Zeilen ist nicht der Wille, als Christ um jeden Preis recht zu haben. Selbst bei den kritischsten Aussagen hat man nie den Eindruck, als wolle Kurt Beutler Muslime lächerlich machen oder in einem Wettstreit der religiösen Systeme gewinnen. Diese Seiten sind in einem zutiefst wohlwollenden Geist geschrieben. An einigen Stellen spart er auch nicht an Selbstkritik, vor allem wenn er auf die sogenannten christlichen Gesellschaften des Westens blickt. Auf eine faszinierende Weise hat man durchgehend regelrecht den Eindruck, dass er als Christ auf der Seite von Muslimen steht.
Ich wünsche diesem Buch nicht nur viele christliche Leser, sondern auch viele muslimische Leser. Es kommt zu einer Zeit, in der eine wachsende Zahl führender Muslime in Politik, Medien und selbst in religiösen Institutionen öffentlich sehr ähnliche Fragen stellen wie dieses Buch. Es kommt zu einer Zeit, in der jedoch nur sehr wenige es schaffen, ohne Häme und Feindseligkeit auf ehrliche Weise über die inneren Rätsel und Brüche des Islams nachzudenken und miteinander zu sprechen. Es ist ein Buch zur rechten Zeit.
Egal, ob Sie Muslim oder Christ sind: Lesen Sie dieses Buch sorgfältig. Lassen Sie sich von dem respektvollen, ehrlichen, wahrhaftigen und liebe-vollen Geist anstecken, der aus diesen Seiten spricht.
Tobias SchultzLeiter OM DeutschlandMosbach, im Mai 2019
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Ist der Islam die Religion der friedlichen Familie oder des Ehrenmordes an den eigenen Töchtern, der großzügigen Gastfreundschaft oder der Feindbilder? Der Vergebung oder der Blutrache? Der Barmherzigkeit oder des brutalsten Terrors?
Viele meiner muslimischen Freunde sind frustriert über das Ausmaß der Probleme, die ihre Heimatländer erschüttern. Es wird immer deutlicher, dass der Islam weder Frieden noch Wohlstand garantiert. Millionen von Muslimen haben die islamische Welt dauerhaft verlassen, um Schutz und Zukunft für ihre Kinder ausgerechnet im verachteten Westen zu suchen.
Irgendwo ist irgendetwas gewaltig schiefgelaufen. Eigentlich wäre eine Moschee ein Gotteshaus, dessen Anblick jeden Menschen erfreuen müsste. Doch es gibt solche Moscheen und solche. In manchen werden die Besucher fanatisiert, in anderen zur Vernunft gerufen. Die eine Moschee ist ein Haus der Liebe, die andere ein Haus des Hasses. Die meisten Terroristen sind heutzutage tatsächlich religiös motiviert. Doch wieso müssen sogar Muslime befürchten, dass ihr Leben von anderen Muslimen zerstört wird, die auf ihnen unbegreifliche Art radikalisiert worden sind?
Ist es möglich, den Islam vom Islamismus zu trennen? Oder ist der Unterschied fließend, zumal sie beide aus der gleichen Quelle fließen, ihre Anhänger an die gleichen Gebete und Bücher glauben, sie nur unterschiedlich interpretieren? Islamisten sind kaum von anderen frommen Muslimen zu unterscheiden, und irgendwann geschieht irgendwo eine Katastrophe, die niemand erwartet hat. Irgendjemand hat sich aus scheinbar unerklärlichen Gründen radikalisiert. Niemand hat es gewusst, bis es zu spät war. So kann es nicht weitergehen. Es braucht eine Reformation.
Zwar gibt es im Islam viel Gutes, doch gleichzeitig offensichtlich auch viele Widersprüche, die nicht nur Nebensächlichkeiten betreffen. Der Glaube der Muslime basiert einerseits auf mehreren heiligen Büchern und doch gibt es unter ihnen außergewöhnlich viele Analphabeten. Muslime betrachten sich gegenseitig als Brüder und finden es dennoch schwierig, einander zu vertrauen. Die islamische Welt will die Menschheit moralisch reinigen, kann aber ihre eigenen Probleme nicht lösen. Der Koran lehrt einerseits Umkehr und Buße, doch andererseits sucht die islamische Mentalität selten die Schuld bei sich selbst. Muslime sind gutmütig und tolerant, bringen aber erschreckenderweise regelmäßig extreme und fanatische Bewegungen hervor. Der Islam ist bekannt für Fatalismus, zugleich führt er zu religiösem Aktivismus. Muslime pflegen eng verknüpfte Familiennetze, können aber auch ein Mitglied aus dem Clan ausstoßen und brutal vernichten. Die warme, herzliche Familienkultur kann urplötzlich in Gefühlskälte umschlagen. Väter und Brüder können ihre eigenen Töchter und Schwestern erstechen.
Es geht mir in diesem Buch keineswegs darum, jemanden anzugreifen oder zu beleidigen. Und doch gibt es gewisse Probleme, an denen wir alle leiden, denn die Welt ist ein Dorf geworden. Muslime leiden daran genauso wie Nichtmuslime. Es nützt nichts, die Augen zu verschließen und den Kopf in den Sand zu stecken! Wenn eine Reformation möglich ist, dann müssen wir sie anstreben. Es ist unsere Pflicht vor Allah!
Doch bevor wir im zweiten Teil prüfen, ob und wie es dazu kommen kann, ist es notwendig, die Rätsel im Islam näher zu betrachten. Diesen widmet sich der erste Teil dieses Buchs.
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Teil 1, Die Rätsel des Islam
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Die Reformation des Christentums geschah vor 500 Jahren. Sie kam nicht daher, dass die Mächtigen beschlossen, gewisse Dinge zu verändern. So eine Entscheidung hätte nur geringe Auswirkungen gehabt. Es ging auch nicht darum, ein paar Bibelverse anders auszulegen. Der riesige Erfolg war nur deshalb möglich, weil die Reformatoren sich darauf berufen konnten, dass sie das ursprüngliche Christentum wiederentdeckt hatten. Es waren Theologen, Priester, Mönche und Doktoren der katholischen Theologie, welche die Reformation auslösten. Auch die Reformation des Islams kann nicht von außen kommen. Sie muss aus der islamischen Theologie selbst geboren werden, wenn sie Faszination und Überzeugungskraft haben soll. Deshalb müssen wir mit der Frage beginnen, was das Herz des Islams ist. Nur wenn wir den Angelpunkt finden, um den sich alles dreht, ist eine Reformation möglich.
So wie in vielen anderen Religionen geht es im Islam letztlich um Gott. Er ist der zentrale Inhalt, um den sich alles dreht. Die entscheidende Frage ist daher, welche Kerneigenschaft den Gott des Islams prägt. Wer einen muslimischen Freund fragt, wird vielleicht die Antwort erhalten: »Gott ist nur einer.« Dies ist tatsächlich ein wichtiges Bekenntnis. Die absolute Einheit Gottes ist ohne Zweifel sowohl in der islamischen Theologie als auch im Volksglauben zentral. Allerdings fällt auf, dass dieser Satz im islamischen Gebetsrhythmus kein einziges Mal vorkommt. Was sich dagegen dort mehrfach findet, ist das Bekenntnis »Allahu akbar«, das bedeutet: »Gott ist größer«, auch wenn es oft fälschlich mit »Gott ist groß« übersetzt wird.
Ganze vierzigmal pro Tag wird »Gott ist größer« von den Minaretten über die Häuser und Dächer der muslimischen Länder ausgerufen. Während der 17 Gebetsgänge, die einem Sunniten vorgeschrieben sind, wiederholt er das Bekenntnis »Allahu akbar« mindestens 68-mal.
Das Bekenntnis »Allahu akbar« während des islamischen Gebets wird »Takbir« genannt. Die vier bis heute anerkannten sunnitischen Rechtsschulen Schafiten, Hanafiten, Malekiten und Hanbaliten geben zwischen 10 und 19 Bedingungen dafür an, dass ein Takbir vor Gott gültig ist. Dazu gehört, dass es auf Arabisch gesprochen werden muss, dass der Sprechende sich dabei in Richtung Mekka (Qibla) wendet und korrekt steht, dass er keine zusätzlichen Worte und keine längere Sprechpause zwischen »Allah« und »akbar« einfügt, dass er das erste A von »Allah« nicht dehnt1 und beide Worte korrekt ausspricht, dass der Betende die Worte laut genug sagt und sie im Laufe des rituellen Gebetes an der richtigen Stelle gesagt werden und dass das Takbir nicht gleichzeitig mit dem Imam (Vorbeter) ausgesprochen wird, sondern zeitlich etwas verschoben.2
Die Aussage, dass Gott größer als alles andere ist, beinhaltet automatisch, dass er nur einer sein kann. Wenn er größer als alle anderen ist, kann es weder einen Gleichwertigen noch einen ihm Überlegenen geben. Jeder andere kann also per Definition nicht auf derselben Stufe sein. Dies beinhaltet auch, dass er vor allen war, abgesondert und ohne Anfang. Wenn er größer ist als die anderen, dann muss er automatisch der Erste sein. Er ist aber auch der Letzte, denn wenn alle Menschen gestorben sind, ist er immer noch da. Der Gott, der größer ist als alle anderen, ist sowohl der Innerste als auch der Äußerste. Wenn nämlich irgendein Wesen weiter innen oder außen sein könnte als er, so wäre er nicht mehr der Größte. Der berühmte islamische Gelehrte Al-Ghazali erklärt: »Nichts ist wie er und er ist wie nichts anderes. Maß umschreibt ihn nicht und Grenzen können ihn nicht fassen.« Er sitzt zwar gemäß Aussagen des Korans auf dem Thron, aber: »Der Thron trägt ihn nicht … Nein, er ist vielfach erhaben über den Thron und die Himmel, wie er auch vielfach über die Erde und ihre Feuchtigkeit hinausgehoben ist.« – »Er existiert in keinem Ding, so wie auch kein Ding in ihm existiert.« »In seiner Wesenheit gibt es nichts, was ihm gleicht.« »Er ist weit entfernt von Wechsel des Zustands und des Ortes. Ereignisse haben nicht Raum in ihm und Unstimmigkeiten befallen ihn nicht.«3
»Allahu akbar« bedeutet gemäß einer Überlieferung von Abu Darr al-Gifaryy bei At-Tirmidhi auch, dass die Menschen Gott weder schaden noch nützen können, dass sein Reich weder durch die Frömmigkeit der Gläubigen größer noch durch die Sünden aller Lebewesen geschmälert wird und dass alle Gaben, die Gott verschenkt, nicht dazu führen, dass ihm etwas fehlt.4
Allah ist also schöner als jeder irdische Anblick, weiser als die größten Philosophen und brillantesten Wissenschaftler und mächtiger als Atombomben. Er spricht leiser, als Menschen denken, und doch lauter, als jede irdische Stimme es vermag. Er versteht, was für die Menschen ewig ein Rätsel bleiben muss, und tut daher notwendigerweise Dinge, die wir nicht verstehen können. Dies schließt gemäß Al-Ghazali auch die schweren Seiten des Lebens ein: »Er ist in der Lage, seinen Geschöpfen verschiedene Strafen aufzuerlegen und sie mit verschiedenen Arten von Krankheit und Schmerz zu prüfen. Wenn er dies tut, ist es Gerechtigkeit von seiner Seite, nicht eine schlechte Tat und ein Unrecht von ihm«. Seine Gedanken sind größer als das Denken der Menschen, die in ihren Leiden Ungerechtigkeit zu finden meinen. Der Gedanke, Gott anzuklagen oder seine Motive zu bezweifeln, ist für einen Muslim nicht zulässig, denn damit würde Allah auf die menschliche Ebene herabgezogen. Er gehört jedoch nicht in eine Kategorie, über die gerichtet wird.
»Preis sei Allah! (Er ist hocherhaben) über alles, was sie (über ihn) aussagen« (Sure 37:159). Dieser Koranvers zeigt einen weiteren Aspekt dessen, was »Allahu akbar« bedeutet. Wenn Gott größer als alles ist, was es gibt, dann muss er notwendigerweise auch größer als alle menschlichen Worte sein. Damit wird es unmöglich, ihn zu beschreiben. Die Menschen sind zwar gezwungen, über Gott zu sprechen, und dazu benutzen sie notwendigerweise die ihnen bekannten Wörter, welche von menschlichen Eigenschaften ausgehen. Aber diese sind zu gering, als dass sie aussagen könnten, wie Allah wirklich ist. Kein Theologe, kein Gottesmann kann ihn letztlich in Worte fassen. Und doch ist es genau dies, was die Zusammenstellung der »99 schönsten Namen Allahs« versucht. Zwar sind diese dem Koran entnommen, der nicht als Menschen-, sondern als unerschaffenes Gotteswort gilt, aber auch der Koran bedient sich einer irdischen Sprache. Einerseits hat er nach der islamischen Lehre schon seit Ewigkeit im Himmel existiert, andererseits liegt er in Arabisch vor, und zwar in dem Dialekt, der vor 1400 Jahren in Mekka gesprochen wurde und viele persische, aramäische sowie koptische Lehnwörter enthält.
Gemäß Sure 7:180 verlangt Allah, dass die Gläubigen ihn in seinen »schönsten Namen« (Al-Asma’u-l-husna) anrufen. Dass es gerade 99 sind, ist kein Zufall. In den Hadithen steht: »Allah hat 99 Namen, einen weniger als hundert. Wer sie aufzählt, geht ins Paradies.«5 Der hundertste Name soll gemäß einer unter Muslimen verbreiteten Auffassung unaussprechbar und den Menschen unbekannt sein. Damit wird auf andere Art das Gleiche wie in Sure 37:159 ausgedrückt: Dass man letztlich mit irdischen Worten Allah nicht ganz beschreiben kann. Auch wenn der Koran weit über hundert Namen enthält: Die Liste darf nur 99 aufzählen. Einer muss fehlen, damit niemand meinen könnte, Gott ganz erkannt zu haben.
Man kann die Liste auf verschiedene Arten lesen. Eine Möglichkeit ist, sich völlig auf das Auswendiglernen zu konzentrieren und die Namen unendlich viele Male zu wiederholen, indem man zugleich die 33 Kugeln der traditionellen Gebetskette durch die Finger gleiten lässt. Besser wäre es allerdings, bei jedem einzelnen Namen respektvoll zu verweilen und sich Gedanken darüber zu machen, was es bedeutet, einen Gott zu haben, der diese Eigenschaften besitzt. Noch weiter gehen die sogenannten Sufis, die islamischen Mystiker. Ihr Ziel ist es, sich diese Eigenschaften Allahs selbst anzueignen. Zu diesem Zweck haben verschiedene Orden unterschiedliche Techniken entwickelt.
Es ist möglich, einfach jeden Namen gesondert zu betrachten, ohne sie miteinander zu vergleichen. Wer sich jedoch tiefere Gedanken über die Bedeutungen macht, der trifft auf eine Schwierigkeit: Die verschiedenen Namen umfassen teilweise widersprüchliche Eigenschaften. So ist Allah gemäß dieser Liste nicht nur »der Nützliche«, sondern auch »der Schädliche«, nicht nur »der Vergeber«, sondern auch »der Rächer«, nicht nur »der Förderer« oder »Vorwärtsbringende«, sondern auch der »Hinderer« oder »Verzögerer«, nicht nur »der Gnädige«, sondern auch »der Richter«, nicht nur »der Zusammenziehende«, sondern auch »der Ausbreitende« nicht nur »der Versorger«, sondern auch »der Hinderer der Versorgung« (Al Qabid).
Prinzipiell sind widersprüchliche Eigenschaften kein Problem, wenn es nur darum geht, gewisse Taten zu beschreiben. Man könnte sagen, dass Allah auf unterschiedliche Situationen verschieden reagiert. Beispielsweise mag er jemanden zu dessen Ermutigung fördern, ein anderes Mal dagegen am Vorwärtskommen hindern, damit er nicht etwa stolz werde. Allerdings erscheint es unmöglich, dass jemand in derselben Situation hindert und zugleich fördert.
Über die Frage, wie die 99 Namen zu verstehen sind, erhob sich in der islamischen Theologie schon vor mehr als tausend Jahren ein großer Streit. Die Partei der sogenannten Mutaziliten6 befürchtete, dass Allah für das Böse verantwortlich gemacht werde. Sie wollten nicht akzeptieren, dass negativ klingende Wörter wie »der Stolze«, »der Unterdrücker«, der »Tötende« Gottes Eigenschaften beschreiben sollten. Außerdem bekämpften sie die Lehre der Vorherbestimmung. Sie konnten sich nicht vorstellen, dass Allah das Böse ebenso planen könnte wie das Gute. Weiter lehrten sie, dass der Koran zwar das Buch Gottes sei, aber nicht seit Ewigkeit existiere. Er sei eines Tages erschaffen worden, denn sonst müsste er ja ein zweiter Gott neben Allah sein.
Unter drei Kalifen7 wurde die freiheitliche Lehre der Mutaziliten sogar zur Staatsreligion erhoben. Die Anhänger der Gegenpartei wurden in Ketten gelegt und gefoltert. Der Berühmteste unter diesen war Ahmed ibn Hanbal.8 Er wurde nur deshalb nicht getötet, weil die Kalifen einen Volksaufstand befürchteten, denn die Lehre der Mutaziliten war hauptsächlich bei einigen Gelehrten verbreitet, während das Volk in ihr einen Verrat am Islam sah.
Schließlich sah sich der Kalif Mutawakkil gezwungen, wieder die konservativen Lehren anzuerkennen. Es gewann die Partei, welche in allen göttlichen Namen ewige Eigenschaften eines unveränderlichen Gottes sah, sogar in denjenigen, die ihm das Böse zu unterstellen scheinen. Das überrascht nicht, denn wer den Koran genau liest, erhält tatsächlich den Eindruck, dass mit der wiederholten Erwähnung der göttlichen Namen nicht sein Handeln in bestimmten Situationen, sondern sein unwandelbarer Charakter betont werden soll. Allah muss also jederzeit zugleich sowohl »Förderer« als auch »Verzögerer« sein, sowohl »der Erschaffer des Lebens« als auch »der Tötende«.
Wenn man lediglich mit der Vernunft argumentiert, sind die Ideen der Mutaziliten naheliegend. Sie lehrten auch, dass die Theologen des Islams und der Koran hinterfragbar sein müssten. Dem hielt die Mehrheit der Muslime die Unabänderlichkeit des heiligen Buches entgegen: »Er ist ein herrlicher Koran, auf wohlverwahrter Tafel« (Sure 85:22). Man könnte argumentieren, dass dieser Vers nichts Klares darüber aussagt, ob der Koran seit Ewigkeit existiert, und auch andere Verse, die für die Unerschaffenheit des Korans angeführt werden, sind alles andere als deutlich.9 Trotzdem hatten die Mutaziliten mit ihrer freiheitlichen Lehre über die Erschaffenheit des Korans auf die Dauer keine Chance. Sie wurden als Irrlehrer betrachtet, weil sie die Vernunft über den Koran stellten und heikle Verse anzweifelten. Ihnen erschien dies als der einzige Weg, die Widersprüche des Korans aufzulösen.
Eine ähnliche Position vertritt heutzutage beispielsweise der ägyptische Professor Nasr Hamid Abu Zaid, der (in bescheidenem Maß) historisch-kritische Betrachtungsweisen in die Auslegung des Korans einfließen lässt. Er wurde deshalb als Apostat angeklagt und seine Frau wurde von ihm zwangsgeschieden, da gemäß dem islamischen Gesetz keine muslimische Frau mit einem »Abgefallenen« verheiratet sein darf.
Dies ist nur ein kleines Beispiel für die vielen Verfolgungen, welche freiheitlich denkende Muslime über die Jahrhunderte erleiden mussten. Sie erlangten selten wieder einen wirklich größeren Einfluss. Zwar hätten sie die einzelnen Punkte ihrer Lehre sehr wohl verteidigen können, zum Beispiel lassen sich für den freien Willen des Menschen genauso viele Koranverse anführen wie für die Vorherbestimmung durch Allah, aber es geht um ein viel tieferes Grundproblem. Sie wurden als Menschen wahrgenommen, welche die Vernunft über den Koran setzen und damit Götzendienst betreiben. Dass Allah größer ist, auch als die Vernunft, ist das Herz des Islams. Dagegen hatten sie auf die Dauer keine Chance.
Der Mensch kann sich vernunftgemäß vorstellen, dass Gott zugleich der Erste und der Letzte ist, weil er vor allen Menschen da war und noch sein wird, wenn sie alle gestorben sind. Dass er aber beispielsweise zugleich ein Wohltäter sein soll und jemand, der Menschen schadet, fällt uns schon viel schwerer. Automatisch beginnen wir dann, uns eine zeitliche Abfolge vorzustellen. Wir denken an Situationen, in denen er jemandem genützt, und andere, in denen er jemandem geschadet hat. Doch gemäß der Überzeugung einer Mehrheit der Muslime ist gerade dies nicht gemeint. Damit hätten wir die göttlichen Eigenschaften herabgewürdigt. Der wohl prägendste islamische Theologe Al-Ghazali hat viel über dieses Thema nachgedacht. Auch er kam zu dem Schluss, dass mit den 99 Namen gleichzeitige und bleibende göttliche Charaktereigenschaften gemeint seien. Gemäß Al-Ghazali bedeuten die 99 Namen »alles und nichts«. Der eine Name hebe den anderen wieder auf und eine Eigenschaft überdecke die andere. Die offensichtlichen Widersprüche, die in den 99 schönsten Namen zu finden sind, können und sollen aber seiner Meinung nach nicht wegdiskutiert werden. Denn gerade diese würden ja zeigen, dass Gott größer als alles Irdische sei. Er sei nicht gezwungen, so zu handeln, dass es in menschliche Vernunftvorstellungen passt. Gott stehe auch über jedem Widerspruch. Was aus menschlicher Perspektive widersprüchlich erscheint, müsse es für ihn nicht sein.
Nur das Kamel soll den hundertsten Namen Allahs kennen. Darum sei es so stolz und erhebe seinen Kopf überlegen und geheimnisvoll lächelnd hoch über alle Menschen – so lautet eine verbreitete Volksweisheit, die die Grundannahme über Gott im Islam treffend beschreibt: Ihn umgibt ein Geheimnis, das niemand ergründen kann. Der Charakter Gottes ist für den Menschen unergründlich, darin sind sich die meisten muslimischen Theologen einig. Das Einzige, was Muslime wirklich über Gott aussagen können, ist, dass er größer ist. Größer als alle Götzen, größer als Leben, Träume und Gefühle der Menschen und größer als alles, was diese über ihn sagen. Dass man letztlich nicht mehr als »Allahu akbar« über ihn sagen kann, klingt einerseits enttäuschend. Andererseits ist dies jedoch nicht wenig. Denn daraus leiten sich alle Lehren des Islams ab, einer Weltreligion, der unzählbar viele Menschen angehören.
Diese Aussage ist das Herzstück des Islams. Darum kann es keinen Gott außer ihm geben, darum muss gemäß dem Koran auch sein Volk allen anderen überlegen sein und deshalb überflügelt sein Prophet alle vorherigen. Es ist nicht zuletzt die Andersartigkeit Allahs, dieses unlösbare Rätsel rund um den Charakter Gottes, welche die Gläubigen fasziniert. Als Al-Ghazali sagte, dass die 99 Namen »alles und nichts« bedeuten und sich gegenseitig überdecken, muss er sich bewusst gewesen sein, dass diese aus dem Koran, dem heiligsten Buch des Islams, kommen. Natürlich wollte der große Theologe damit nicht behaupten, dass der Koran Widersprüche enthalte. Er sah in den darin enthaltenen gegensätzlichen Namen Gottes vielmehr einen Hinweis auf die unendlich überlegene Persönlichkeit Allahs. Für Menschen mag es unvorstellbar sein, dass der Heilige Koran seit Ewigkeit unerschaffen im Himmel vorhanden gewesen sein soll, während viele seiner Verse nur