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DAS KOLLEKTIVE UNTERBEWUSSTSEIN DER NATIONEN OFFENLEGEN UND HEILEN Nationale Weltanschauungen und die mit ihnen verbundenen Strömungen haben in der Geschichte vieler Länder ihre Schatten geworfen. Angesichts dieses Leids und Unrechts gerät jedoch in Vergessenheit, dass Schatten sowohl auf dem individuellen als auch auf dem kollektiven Erkenntnisweg nichts anderes als verzerrte (Seelen-)Aspekte sind, die der Heilung bedürfen. Der Blick in den Abgrund, aber damit zugleich in die Tiefe der nationalen Seelen ruft auf zu einer Integration jener Qualitäten, aus denen heraus evolutionäres Potenzial freigesetzt werden kann. Erstarkende Nationalgefühle ohne seelische Integration dürfen nicht die Antwort auf die Bedrohlichkeit der heutigen Weltkrise sein. Nur eine Evolution nationaler Identität, die auf der Bewusstwerdung der seelischen Potenziale des Landes wie auf der Heilung seiner Schatten gründet, kann uns aus nationalistischen Widersprüchen führen und eine neue globale Vision entstehen lassen – so der Publizist Wolfgang J. Aurose. Während Deutschland sich in Vergangenheitsbewältigung übte und sich allmählich aus dem Trauma des 'Dritten Reichs' löst, zögern beispielsweise die USA weiterhin, sich zum indianischen Genozid zu bekennen. Ein gefährlicher Mechanismus, wie der ungebremste Machtanspruch des Landes beweist. Nur wenn eine seelische Aufarbeitung stattfindet, kann jenseits von Aggression und Wettstreit ein Bewusstsein entstehen, das eine nachhaltige Weltidentität und eine erstmals auf Frieden basierende, globale Ordnung real werden lässt.
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Seitenzahl: 223
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Seele? Nation? Eine Einleitung
KAPITEL 1 DIE EVOLUTION DER SEELE
Seele in Sein und Werden
Die Spiralen des Integralen
Deutsche Romantiker und Idealisten
Memes von Mythos und Moderne – Spiral Dynamics
Dekonstruktionen der ersten Ebene
Exkurs: Von echten und falschen Mythen
Die Prä-/Trans-Verwechslung
Seelische Evolutionszyklen
Nicht länger »Rassenmerkmal«
KAPITEL 2 POLITISCHE VERSUS KULTUR-NATION – DER SUBJEKTIVE FAKTOR
Die enigmatische Nation
Liberal und republikanisch – die politische Willensgemeinschaft
Kollektiv beseelt – das mythische Kultur-Volk
Der Untergang der Kulturnation deutscher Provenienz
Keine Frage von Territorium und Abstammung
Die seelische Nationenidentität
KAPITEL 3 DIE SEELE EINER NATION – VON BESTIMMUNG ZUR SELBSTBESTIMMUNG
Anthroposophische Wesenheiten
Ein integrales Nationenverständnis
Reifestadien zur Weltgemeinschaft
Vom Volksgeist zur Nationenseele
Einladung zum Länderspiel
KAPITEL 4 INTEGRALE FALLSTUDIE DEUTSCHLANDS – TEIL 1: DER AMBIVALENTE VORLAUF
Suche nach dem Besonderen
Die Doppelnatur der deutschen Seele
Zeit des Aufbruchs
Lebensreform und Nobelpreisflut
Weimarer Jahre
Weltranking deutscher Kreativität
Sinn- und Seelensuche in Film und Literatur
Die »Konservative Revolution«
Eine tragische Elite
Fazit: Erschreckende Fallhöhe
KAPITEL 5 INTEGRALE FALLSTUDIE DEUTSCHLANDS – TEIL 2: ABSTURZ UND LÄUTERUNG
Rosenbergs »Rassenseele«
Lernen aus der Katastrophe
Transformation zur Bescheidenheit
Unerkannte Läuterung
Fazit 1: Anerkennung wiedererlangter Integrität
Fazit 2: Innerdeutsche Integration
Fazit 3: Ein neues Selbst-Verständnis
KAPITEL 6 MODELLE ZUR SEELISCHEN INTEGRATION UND HEILUNG EINES LANDES
Von der Würde des Selbst
Heilungs- und Integrationsprozesse
Wahrheitskommissionen zur Vergangenheitsbewältigung
Integrationsakte nationaler Symbolik
Willy Brandt – Seelengeste für Deutschland
Wider die Schwere – die Wende der deutschen Flagge
Das Hambacher Fest
Neigung zu deutscher Selbstkasteiung
Verhüllte Offenbarung – Reichstags-Impressionen
Die Macht der »Ersten Adressen«
Feiern und Gedenken – Zeiten der inneren Standortbestimmung
Licht und Schatten eines deutschen Novembertages
KAPITEL 7 WELTPOTENZIAL MIT SCHATTEN – PERSPEKTIVEN DER USA
Hollywoods Heldenreisen
Selbstverwirklichung über die Gattung hinaus
Der Schatten der Auserwähltheit
Älter als die Ayatollahs
Die Ersten Amerikaner
Kontinentale Liebe zur Natur
Gegenwärtiges Erbe
Visionssuche und Tiefenökologie
Die ausstehende Würdigung
KAPITEL 8 VOR-GLOBALES EXPERIMENT – DIE EUROPÄISCHE UNION
Neorealistische Kurzsicht
Evolutionäre Grundrechte
Antragstellung mit Schattenarbeit
Modellversuch zur Weltgemeinschaft
Ein kritisch-integraler Ausblick
KAPITEL 9 TRANSFORMATORISCHE PRAXIS – DIE BEDEUTUNG DES EINZELNEN
Die unabdingbare Arbeit
Die Ähnlichkeit der Schattengestalt
Workshop zur Begegnung mit Seele und Schatten der eigenen Nation
Systemische Aufstellungen zum Nationenerbe
Seelische Langzeitfolgen kollektiver Traumata
Gruppenmeditationen als Heilungsfelder
Kreativ aus eigener Seele
Postnationale Visionen
Der rationale Traum
Integrale Antwort:
Die multinationale Weltgemeinschaft
Evolutionäre Einladung
Jenseits aller Erzählungen – Fazit und Beginn
Danksagung
Literaturverzeichnis
Anmerkungen
Es kann wohl nur einem Deutschen einfallen, das konzeptionelle Minenfeld nationaler Identität heute erneut aus visionärem Antrieb heraus durchqueren zu wollen. Diesmal jedoch weder um neue Minen zu legen, noch um vorhandene zu deaktivieren, sondern um zu erfahren, was jenseits des Feldes zu entdecken sein könnte. Die Deutschen hatten schließlich in ihrer heute nahezu vergessenen geistigen Hoch-Zeit des Idealismus und der Romantik eine genuin beseelte Philosophie zum Sein und Werden von Nationen entwickelt – und trotzdem später mit dem »Dritten Reich« eine furchtbare und seelenlose Realität ihres Landes geschaffen.
Ein Buch und eine Betrachtung von Seele ist deshalb immer auch eine Studie über Verführbarkeit. Seele markiert beim Einzelnen wie beim Land dessen stärkste und individuellste Instanz. Doch ihr Schatten ist zugleich unsere größte Schwäche. Wenn uns jemand positiv auf unsere »Besonderheit« anspricht, können wir meist nicht anders, als positiv zu reagieren. Was wir besser tun sollten, ist zu lernen, zu unterscheiden.
Die schattenhafte Vision der Nazi-Ideologie konnte deshalb ihre ungeheure Wucht entfalten, weil sie in verzerrter Form und perfekter Perfidie einer tiefen und legitimen Sehnsucht der Deutschen entsprach. Die Nazis vermochten es, den Deutschen scheinbar aus der Seele zu sprechen. Eine Interpretation dieser Art offenbart das »Dritte Reich« als völlig entgleistes, kollektiv seelisches Selbstverwirklichungsprojekt der Deutschen. Trotz der großen Seelen-Philosophien der deutschen Geistesgeschichte war die Masse der »Volksgenossen« für eine authentische Unterscheidung zwischen Seele und Schatten nicht vorbereitet. Sie jubelten ihrem Führerhelden angesichts dessen scheinbar heroischen Entschlossenheit zur Verwirklichung des Schicksals ihres Landes und ihres Deutschseins begeistert zu. Diese Mobilisierung tiefer seelischer Kräfte und Bestrebungen der Deutschen hilft zu erklären, warum es den Nazis darüber hinaus gelang, zumindest anfänglich auch einen Teil der geistigen Elite des deutschen Volkes – Künstler, Wissenschaftler, Denker – auf ihre Seite zu ziehen.
Der Nationalsozialismus tat dies im Gewand eines zur damaligen Zeit weltweit erwachenden, aber die deutsche Seele im besonderen Ausmaß ansprechenden neuen Zeitgeists. Dessen evolutionäres Ziel war und ist die Transformation dafür bereiter Individuen und Kollektive in ein neues, Mystik und Ratio integrierendes und zugleich transzendierendes Bewusstsein. Adolf Hitler und die mit ihm verbundenen Kräfte machten sich diesen Zeitgeist zunutze, um im Schatten jener Zukunftsvision den Rückfall und den Sturz Deutschlands in dunkle Atavismen des Menschlichen herbeizuführen.
Deutschland hat seitdem einiges im Spiegel seiner blinden Reaktion auf diese Reichs-Verführung gelernt und Einsicht gelobt. Doch noch immer herrscht Befangenheit angesichts der Frage, inwieweit und warum gerade Deutschlands Vision einer seelischen Evolution des Nationalen beim Versuch ihrer Umsetzung zum Zerrbild mutierte. Es ist die Frage nach dem Entwicklungsstand der deutschen Seele.
Meine Nachkriegsgeneration sah ihr Erbe an nationaler Identität jedenfalls auf das Pflichtteil reduziert. Eine eher schmale Lebensbasis, denn Deutsche sind, oder zumindest waren sie es in ihrer romantischen und idealistischen Vergangenheit, als »Seelensucher« bekannt. Seelensuche gehört sozusagen zu den konstituierenden Bestandteilen deutscher Natur.
Doch fast gleichermaßen bekannt sind die Deutschen für ihre Neigung, ihre Schatten, ihre dunklen Anteile zu beklagen. Dichtern wie Hoffmann von Fallersleben fiel schon vor fast 200 Jahren diese notorische deutsche Selbstverurteilung ins Auge. »Liebend alle Welt umfassen, sich verachten, sich nur hassen, kann’s der Deutsche niemals lassen?«1 Tatsächlich muss beides im Gleichgewicht stehen: die Integration der eigenen Seele sowie die Aufmerksamkeit für die sie begleitende Schattengestalt. Das gilt für die nationale Gesellschaft als Ganzes wie auch für jeden Einzelnen von uns, die wir alle von Licht und Schatten unseres jeweiligen Landes geprägt sind. Nach seelischer Wahrheit und Aufgabe hinter nationaler Identität zu fragen ist für mich selbstverständliche Folgerung aus deutscher Geschichte. Im Unterschied zu Idealismus und Romantik haben wir heute allerdings die Einsicht und auch das Rüstzeug, um zugleich einen kritischen Blick auf die Beschaffenheit und das Integrationspotenzial des Schattens dieser nationalen Essenz zu werfen.
Beide Perspektiven zusammen ergeben das ganze Bild. Es ist eine integrale Gesamtschau aus zugleich transpersonaler wie aufgeklärter Selbsterkenntnis. Sie bedeutet keine Rückkehr zum unhinterfragten Mythos des Nationalen, aber auch nicht das Verharren in dessen unabschließbar scheinender Dekonstruktion.
Diese zunächst vom Einzelnen bei sich selbst erlebte Integrations- und Heilungs-Erfahrung ist es, die eine entsprechende Weiterentwicklung der nationalen Gesellschaft ermöglicht und initiiert. Jeder Mensch teilt – im unterschiedlichen Maß – Seelenqualitäten wie Schattenaspekte mit seinem Land (oder mit mehreren Ländern). Schatten, so beschreibt es der Schweizer Tiefenpsychologe Carl Gustav Jung, sind abgespaltene, unzeitgemäße, übersteigerte und unintegrierte Teile unseres wirkli chen Selbst. In integraler Folgerung weisen Nationen gleich Individuen eine entwicklungsmäßige Spannung zwischen Seelenqualitäten und Schattenaspekten auf. Nationale Gesellschaften müssen und werden deshalb bei ausreichender individueller Initiative den gleichen Integrations- und Klärungsprozess vollziehen. Der Einzelne und dann die Gemeinschaft müssen die seelischen Qualitäten der Nation zu unterscheiden gelernt haben, um sich nicht von deren egoischem Schatten festhalten zu lassen. Deutschland ist ein Fallbeispiel für diese letztlich Reifung bringende, doch in ihrer Unaufgelöstheit oft als bitter und leidvoll erfahrene Interaktion von Licht und Dunkel. Die Kriegsund Nachkriegsgenerationen zeigen sich in der Haltung zu ihrem Land besonders gespalten. Die Älteren erleben diese – ihre eigene – Gebrochenheit oft als leidvoll, jüngere Deutsche macht sie eher ratlos.
Der akademische Diskurs des Nationalen lässt jedoch keinen Zweifel daran, dass nationale Identität heute in vielen anderen Ländern ebenfalls als gebrochen wahrgenommen wird. Es scheint verständlich: Die Schatten des Nationalismus waren im vergangenen Jahrhundert ins Unermessliche gewachsen und sind auch heute als potenzielle Bedrohung präsent. Nicht nur in Deutschland resultiert aus dieser Gebrochenheit eine oft bedrückende Entmutigung, die der möglichen Vision und Vorstellung einer tragfähigen Weiterentwicklung nationaler Identität entgegensteht. Es ist ein Mangel an Vertrauen, der sich trotz – aber auch: wegen – EU, Internet und Globalökonomie nicht von selbst aufheben will.
Was also fehlt, um jenseits der meist als fremdbestimmt erlebten politischen, wirtschaftlichen und Sicherheits-Strategien tief in uns selbst den Mut und die Vision für diesen nächsten Schritt zu finden? Was können wir tun, um sowohl unsere eigene nationale Erfahrung zu leben als auch uns für das neu entstehende Potenzial des Globalen und Postnationalen zu öffnen? Wie können wir frei werden für Europa und die künftige Weltgesellschaft, ohne dabei die Essenz unserer eigenen Länder zu verlieren?
Vor Jahren war ich mit anderen im Haus eines Freundes bei Münster. Wir trafen uns als Arbeitskreis zum internationalen Auroville-Projekt in Südindien. Unsere Aufgabe bestand darin, einen der Länderpavillons in einem Viertel der entstehenden Modellstadt zu entwerfen. Ein Gebäude, dessen Gestaltung und Funktion »deutsche Seele« zum Ausdruck bringen soll.
Wir versuchten gemeinsam, uns von verschiedenen Seiten dem fremden und unerschlossenen Terrain zu nähern. Aus kontemplativem Schweigen heraus antwortete jeder mit Stichworten auf scheinbar einfache Fragen wie: Was magst du nicht an diesem Land? Die Antworten darauf kamen schnell und klangen vertraut. Die deutsche Prinzipienreiterei gehörte dazu, der pathetische Militarismus seiner jüngeren Geschichte, der humorlose Bierernst der Teutonen.
Doch der Koan lautete anders. Was ist es, was du an Deutschland – liebst? Er traf mich wie ein Schlag, wie eine jähe Sturmbö, die mich an einen tiefen Ort in mir wirbelte. Um mich herum schattenhafte und riesenhafte Gestalten mit strengen Stimmen: Was wagst du da zu fragen?! Weißt du nicht, dass genau dieser Weg zum Wahn der Nazis führt?! Ich fühlte mich zutiefst ertappt und erschrocken. Nur schwer gelang es mir, den Stimmen und ihrem Druck standzuhalten.
Und genau das führt(e) zum Durchbruch. Direkt vor meinem inneren Auge schob sich ein riesiger dunkler Felsblock zur Seite und gab den Blick frei auf eine weite und lichterfüllte Landschaft. Nicht in spezifisch deutscher Gestalt, sondern stellvertretend für das jeweilige Stückchen unserer Erde, das wir als unsere Heimat empfinden. Es war wie ein sich offenbarendes Gemälde, das mich mit nie gekannter Freude und Leichtigkeit erfüllte. Die einfache Frage, so unschuldig in den Ohren der Angehörigen vieler anderer Nationen, konnte bei mir die Sperre durchbrechen und mich von meinem internalisierten deutschen Kollektiv-Trauma befreien. Ein unbefangener Zugang zum »deutschen« Teil meiner Identität wurde endlich sichtbar.
Das vorliegende Buch richtet sich jedoch keineswegs nur an Deutsche, es wendet sich gleichermaßen an seine weltweiten Nachbarn. Alle Nationen, seien sie Sucher ihrer Identität oder nicht, agieren im Verborgenen aus ihrem seelischen Potenzial heraus. Sie entwickeln dabei, gleich Individuen, zunächst und für lange Zeit im Vordergrund stehende nationale Ego-Formationen und Schattenprojektionen. Deutschlands jüngere Geschichte verdeutlicht die Risiken und das egoistische Selbsttäuschungspotenzial, denen sich jedes Land bei dem Versuch der Integration seiner Qualitäten und Aufgaben ausgesetzt sieht. Deutschland bietet aber auch Anschauungsmaterial für die Aufarbeitung der möglichen Mega-Katastrophe auf diesem Weg. Beides kann zum Versuch der »Selbstverwirklichung« eines Landes gehören.
Gleichwohl wird mancher fragen, ob »Selbstverwirklichung« mit ihren Anforderungen innerer Integration und Schattenarbeit nicht doch ein eher müßiges Vorhaben oder einen unangemessenen Begriff darstellt. Die Antwort lautet: Für die dafür bereiten Nationen verkörpert sie im Gegenteil die evolutionär dringlichste, und das heißt eine für das Überleben der von ihnen abhängigen Menschen und Länder ausschlaggebende Notwendigkeit. Selbstverwirklichung ist unabdingbare Vorbereitung für ein neues integrales Bewusstsein, das uns stärker von unserem wirklichen Selbst aus und weniger schattengetrieben mit anderen zusammenleben lässt. Sie ist sowohl für das Kollektiv wie für den Einzelnen die evolutionäre Basis für eine friedliche und auch innerlich weltumspannende Existenz. Das Freisetzen unserer von Ego geläuterten, »ureigensten« seelischen Qualitäten ist die stärkste Kraft, die wir zur Evolution und zu unserer eigenen Entwicklung beitragen können.
Analog der individuellen Seele durchläuft die nationale Psyche einen evolutionären Prozess der Individuation. Die Nation erfährt sich schließlich im Tiefsten, relativ unabhängig von Konstituenten wie gemeinsamer Sprache, Abstammung, Hautfarbe und Religion, als seelische Werte- und Schicksalsgemeinschaft, als eine definierte Menschengruppe mit spezifischen Erfahrungen und Aufgaben.
Doch was bedeutet dieser Reifungsprozess konkret, was können wir heute von einem Akt der Integration nationaler Qualitäten und der Arbeit an kollektiven Schatten erwarten?
Nur wenn eine Gesellschaft und ihre Angehörigen die authentischen und jeweils einzigartigen Qualitäten des eigenen Landes ausreichend integriert, das heißt sich seelisch bewusst und zu eigen gemacht hat, kann sie die Herausforderung des nationalistischen Egos rechter Fanatiker und Populisten mit wirklicher Substanz beantworten. Sie wird deren meist vereinfachten und mythisch verbrämten Parolen nicht nur mit guten Argumenten, sondern vor allem aus der inneren und zeitgemäß verstandenen Wahrheit der seelischen Wertegemeinschaft heraus begegnen, die diese Nation ausmacht.
Insofern sich eine Gesellschaft der sich entwickelnden Werte und Qualitäten ihrer nationalen Individualität sicher ist, kann sie neuen Minderheiten und Einwanderern gegenüber eine klare Integrationspolitik formulieren. Sie führt keine Kopftuchdiskussionen, aber sie weiß, wo sie für ihre essenziellen, oft bitter errungenen Freiheiten und Erkenntnisse einstehen muss.
Übernationale Zusammenschlüsse wie die Europäische Union setzen zumindest ein gewisses Maß an kollektiv-seelischer Bewusstheit und Differenzierung bei den Mitgliedsnationen voraus. Dazu bedarf es auch der Arbeit an den jeweiligen nationalen Schattenaspekten der beteiligten Länder. Werden unzureichend integrierte Minderheiten, zu hohe soziale Spannungen oder eine unaufgearbeitete Vergangenheit nicht von dem betreffenden Land selbst angegangen, werden diese Schatten den anderen Unionsmitgliedern zur Last fallen. Überschreitet die Zahl dieser sich kaum oder zu langsam entwickelnden Mitglieder eine kritische Masse, droht die Gemeinschaft zu stagnieren oder wieder zu zerfallen.
Die stärkste Kraft für eine harmonischere und nachhaltigere Entwicklung zu supranationalen Unionen und zu einem weltzentrierten Bewusstsein liegt jedoch darin, dass eine genügende Zahl von Menschen heute eine grundlegende Erfahrung sucht (und findet), die nicht zuletzt dank gewachsener Bewusstseinsfreiheit und komplexerer Weltperspektive im größeren Ausmaß als in der Vergangenheit realisiert werden kann. Es ist die Erfahrung der seelischen Einheit und Identität der Menschen und Völker, so wie sie bisher vor allem von Mystikern, Philosophen und Weisen aller Zeiten und aller Kulturen bestätigt wurde. Dieses tiefste Wissen universaler Verbundenheit findet heute seine integrale Synthese: Es geht einher mit dem gleichzeitigen Erkennen der Einzigartigkeit des seelisch-individuellen Entwicklungsganges jedes Menschen und jeder Nation.
Viele große Denker und Visionäre bestätigen uns, dass wir gegenwärtig an einem evolutionären Wendepunkt, integral gesehen an der Schwelle eines transnationalen und weltzentrierten Bewusstseins stehen. Der Schritt dahin scheint paradoxerweise zunächst in einer neuen und differenzierteren Wahrnehmung der eigenen nationalen Identität zu liegen.
Was wir brauchen, um hierbei der Falle des Nationalismus zu entgehen, um nationale Seele von nationalem Ego unterscheiden zu können, sind neue Werkzeuge und Perspektiven.
Gemeinsam mit der US-Psychologin Soleil Aurose entwickelte ich vor mehreren Jahren »Soul of Nations«-Workshops, die seitdem in einer wachsenden Zahl von Ländern mit viel Zustimmung angeboten werden. Die Teilnehmer erfahren dabei ihre internalisierte Teilhabe an den jeweils einzigartigen Qualitäten der kollektiv-seelischen Schicksals- und Wertegemeinschaft, die wir unser Land nennen. Und oft ist es erst diese Erfahrung, die eine wache Betrachtung der ebenso spezifischen und uns mitprägenden Schatten des nationalen Egos erlaubt und erfordert.
Dieses zunächst vom Einzelnen, dann von der Gemeinschaft erlebte Gewahrwerden der seelischen Individualität der Nation ist Voraussetzung für deren Schritt in die evolutionär nächste, in die postnationale Stufe. Integration beginnt, wenn genügend Angehörige einer Nation den Prozess bei sich selbst vorwegnehmen. Es sind diejenigen, die als Erste dem evolutionären Ruf nach der Tiefe und Weite eines weltzentrierten Bewusstseins Folge leisten.
Wir haben die Wahl. Die Optionen sind zum einen die leidvolle, evolutionäre Wildwasserfahrt ins Unbekannte mit vielen über Bord gehenden Opfern. Zum anderen aber bietet sich erstmals, vergleichbar etwa wie beim Weltthema Ökologie, die Möglichkeit einer ko-evolutionären und integralen, das heißt einer »alle und alles« in bestmöglicher Weise integrierenden Transformation. Es ist ein Weg, der herausführen kann aus der widersprüchlichen Dynamik nicht enden wollender Kreisläufe nationaler Identitätsfindung auf der einen und hoffnungstragender, aber zu kurz angesetzter Globalisierungstrends auf der anderen Seite.
Lange Zeit lag diese Entwicklungsoption im Schatten des Kriegs- und Rassenwahns des 20. Jahrhunderts. Das verhinderte den erneuten Blick in den Abgrund, damit aber auch in die Tiefe des Nationalen. Diese Tiefe wird durch unsere seelische Dimension vorgegeben, doch nur zu oft stoßen wir zuerst auf abgründiges Ego.
Vielleicht ist jetzt, nachdem das Trauma der nationalen Exzesse des vorigen Jahrhunderts in zweiter und dritter Generation zu heilen beginnt, der frühestmögliche Zeitpunkt gekommen, um das Thema der Evolution und Transformation nationaler Identität individuell und kollektiv erfahrbar zu machen. Da die Gefahren unerfüllter Nationalität jedoch weiterhin weltweit virulent sind und den ohnehin steigenden Entwicklungsdruck unserer Gegenwart erhöhen, ist es für diesen Schritt zugleich höchste Zeit.
Es ist Kairos, die richtige Zeit eben.
Nationale Weltanschauungen und die mit ihnen verbundenen Strömungen haben in der Geschichte vieler Länder ihre Schatten geworfen. Angesichts dieses Leids und Unrechts gerät jedoch in Vergessenheit, dass Schatten sowohl auf dem individuellen als auch auf dem kollektiven Erkenntnisweg nichts anderes als verzerrte (Seelen-)Aspekte sind, die der Heilung bedürfen. Doch was ist »Seele« überhaupt?
Dass Mensch und Welt ein sie bestimmendes Selbst aufweisen, etwa als Seele oder als inneres Wesen (lat. essentia) bezeichnet, darüber war und ist sich der größte Teil der Menschen in fast aller Vergangenheit und Gegenwart einig. Nach Ansicht des an der amerikanischen Yale-Universität lehrenden Entwicklungspsychologen und Kommunikationsforschers Paul Bloom »handelt eine der aufregendsten Theorien der Kognitionswissenschaft von einer vorgegebenen Grundeinstellung des Menschen. Sie besagt, dass Dingen, Menschen und Ereignissen eine unsichtbare Wesenhaftigkeit innewohnt, die sie erst zu dem macht, was sie sind.«2
Anthropologen und interdisziplinär forschende Wissenschaftler haben darauf aufbauend die Hypothese aufgestellt, dass diese Annahmen instinktiv vorhanden und weltweit verbreitet sind.
Die apriorische Wesenhaftigkeit, die der Mensch an sich selbst und in der Welt wahrnimmt, ist Grundlage für die große Mehrzahl traditioneller und philosophischer Welt- und Men schenbilder. Als Atman, Tao oder Buddha-Natur bildet sie Bestandteil der meisten spirituellen Psychologien des Ostens und findet in fast allen Philosophien und monotheistischen Religionen des Abendlandes und des Nahen Ostens ihre Entsprechung. Deren Mythen beschreiben eine uns innewohnende Seele als Ausdruck und Spiegelung eines göttlich-geistigen Ursprungs. Diese Essenz ist der buchstäbliche Grund, in dem und warum wir im tiefsten Innern eins mit der Welt sind. Sie »wird … als die authentische, fundamentale und gegebene Natur dessen angesehen, wer wir sind. Ihre Erfahrung und Realisierung ist in allen Traditionen die zentrale Aufgabe spiritueller Arbeit und Entwicklung.«3
Doch diese Traditionen blieben nicht ohne Gegenüber. Die moderne Hirnforschung sieht in Seele und Ich anstatt emotionaler oder gar mythischer Wesenhaftigkeit lediglich das Konstrukt eines neurophysiologisch generierten Selbst-Impulses.4 Entsprechend bestünde keine Veranlassung mehr, die traditionelle Unterscheidung zwischen Seele und ihrem Schatten, dem Ego, vorzunehmen.
In der Alltagssprache beziehen wir uns heute mit Seele meist auf eine Art empfindlich-emotionales Selbstwertgefühl, das uns eine weitgehend unbewusste, spezifische Prägung verleiht.
Das sich rational erkennende und definierende Ich, so klären uns Neurophysiologie und Hirnforschung bisher noch behutsam auf, ist bloßes Konstrukt, ist ein Nichts in fassadenhafter Individualität. Allerdings mit evolutionsbiologischer Bedeutung für Gattung und Individuum. »Genau genommen gibt es das Ich nicht … Das Gehirn erzeugt diese Illusion, um sich besser in der Welt orientieren zu können.«5
Dabei repetiert neue Wissenschaft hier nur altes Wissen. Buddhismus und Veden hatten die Persona, die Maske, schon lange als solche bloßgestellt. Sie ist bei ihnen der Schatten einer tieferen Seins-Wirklichkeit.
Wäre es nun denkbar, dass Neurophysiologie wie Geistestradition jeweils nur Teile des Ganzen sehen und dass das wahre Ich beides ist: ein uns mit unserer Erschaffung gegebenes und uns alle vereinendes Sein – und zugleich eine in jedem Menschen, dessen einzigartiges Werden zum Ausdruck bringende Kraft? Könnte unser innerstes Selbst sowohl ein Potenzial höchsten Bewusstseins darstellen als auch aus einer sich in relativer Freiheit individualisierenden und evolvierenden Ausdrucksform dieses Bewusstseins bestehen? Wobei dieses werdende Selbst dann zunächst ein vorbereitendes Schatten-Ich, ein »Ego«, in unserem äußeren Alltagsbewusstsein konstruieren würde?
Es ist eine revolutionäre Vorstellung unseres tiefsten Selbst, die über die zyklischen und unveränderlichen Wahrheiten von Mythen und Religionen wie auch über die neurophysiologische Realitätsreduktion postmoderner Erkenntnis hinausgeht. Was sich darin ausdrückt, ist ein drittes und beide Haltungen integrierendes Paradigma, das heißt nicht weniger als ein neues Welt- und Selbstverständnis des Menschen.
Um in der Lage zu sein, nationale Seele zu ermessen, einen Blick in den Abgrund und damit auch in die Tiefe dieses kollektiven Selbst zu werfen, bedarf es einer Integration jener seelischen Qualitäten und eine ausreichende Heilung der egoischen Schatten des Einzelnen wie der Nation. Es ist dieser Prozess, der es ermöglicht, evolutionäres Potenzial freizusetzen und letztlich Nationen und Menschheit aus den bestehenden Krisen zu führen.
»Evolution« in erweiterter Interpretation ist tatsächlich der Schlüsselbegriff des als integral bezeichneten ganzheitlichen Denkens und Bewusstseins. Das Modell einer Evolution des Bewusstseins in verschiedenen, aufeinander aufbauenden Stufen steht dabei im Zentrum aller integralen Entwicklungslehren. Philosophiegeschichtlich war es Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831), der dabei das Grundelement stufenweiser Entwicklung als Erster vorgab. Jede These ruft eine Antithese hervor, beide finden sich in einer nächsten Stufe, der Synthese, in transformierter Form vereint. Diese wird, »wenn ihre Zeit erfüllt ist«, selbst wieder zur These. Im Gegensatz zeigt sich eine tiefer liegende, verborgene Einheit, ein Zusammengehören des Verschiedenen. In seiner Phänomenologie des Geistes beschreibt Hegel die dialektische Bewegung als »den Gang des Geistes in seiner Selbsterfassung«.6
Integrale Denker wie der Jesuit und Wissenschaftler Teilhard de Chardin, der Yogi und Evolutionsphilosoph Sri Aurobindo Ghose, der Kulturtheoretiker Jean Gebser, der Anthroposophie-Begründer Rudolf Steiner sowie zeitgenössische Bewusstseinsforscher wie Ken Wilber, Don Beck und andere trugen seit Beginn des vorigen Jahrhunderts jeder auf seine Weise zur komplexen Sicht der Entwicklung des Bewusstseins als der grundlegenden Evolutionsschiene bei.
Diese Evolution der Wahrnehmung und Selbstwahrnehmung liegt damit nicht nur der materiellen Weltentstehung, sondern auch der menschheitlichen Geschichte und letztlich dem Leben jedes Einzelnen zugrunde. Es ist dies allerdings keine teleologische Zielgerichtetheit, also göttliche Bestimmung, wie sie etwa christliches »Intelligent Design« proklamiert. Integral verstandene Bewusstseinsentwicklung hat einen evolutionären Freiheitscharakter, fast könnte man sagen, eine Unbestimmtheitskomponente, die neuesten Modellen des aktuellen Evolutionsdiskurses entnommen sein könnte.7
In der Darstellung Ken Wilbers und anderer integraler Lehrer bildet Bewusstseinsevolution den reziproken Prozess der vor dem Urknall in unvorstellbarer Zeitverdichtung vollzogenen Involution höchsten, das heißt absoluten Seins und Bewusstseins in die Materie.8
Diese Evolution ist in Sri Aurobindos Sicht sowohl die schrittweise Entfaltung jener zugleich immanenten wie transzendenten Information und Seinsqualität als auch deren unendlich vielgestaltige Individuation in der manifesten Welt.9 Dies beschreibt und definiert das Bild einer evolutionären, integralen Seele in aller lebendigen Natur. Im fortgeschrittenen Grad der Individualisierung ist sie sowohl im einzelnen Menschen als auch im gewissen Maß in menschlichen Gemeinschaften wie der Nation zu finden.
Im Folgenden seien drei für die Darstellung von Struktur und Evolution nationaler Identität besonders hervorzuhebende Wegbereiter und Ausdrucksformen dieses integral-evolutionären Welt- und Selbstbildes vorgestellt. Den deutschen Idealisten und Romantikern widmen wir uns, weil ihnen als früh-integralen Denkern eine oft verkannte Schlüsselrolle in der jüngeren deutschen Seelengeschichte zukommt. Der Blick auf Spiral Dynamics kann uns das derzeit umfassendste integrale Evolutionsmodell kollektiven Bewusstseins erschließen.
Und das integrale Seelenverständnis Sri Aurobindos ist für uns wichtig, weil es erstmals die Struktur einer evolutionären Essenz auch in Nationen wahrnimmt.
Jahrzehnte vor Darwin lehrten und diskutierten in Jena, Tübingen und Weimar die – meist jungen – deutschen Idealisten und Romantiker neue Ideen der Weltentwicklung. Ihre Philosophie schulen nahmen das integrale Paradigma erstmals in philosophischer Herleitung vorweg. Hegel und andere idealistisch und romantisch orientierte Denker definierten Weltgeschichte als Evolution des Bewusstseins.10
Weltentwicklung wird von ihnen seit deren Beginn, das heißt also bereits vor dem Auftauchen des Menschen, als fortschreitende irdische Offenbarung des »Absoluten Geistes« im Zusammenspiel sich entfaltender menschlicher Freiheit verstanden.
Entsprechend ist Geschichte »nicht das blinde Ungefähr der (zeitgenössischen) Materialisten, dem Zufall und dem seelenlosen Mechanismus preisgegeben. Sie ist sinnhaft, wenn auch nicht auf ein geistig vorweg erfassbares Ziel hin geordnet. Die Verwirklichung der Humanität ist ein experimentum mundi, ein offener Prozess, dessen Verlauf vom Menschen abhängt, auch wenn im Hintergrund eine Naturabsicht wirkt.«11
Der Philosoph Johann Gottfried Herder (1744–1803) war ein entscheidender Inspirator der deutschen Romantik und des deutschen Idealismus. Er vertrat die Ansicht, dass der Mensch nach seinem Auftauchen innerhalb der Abfolge der Lebensformen zunehmend zum Mit-Träger der Evolution wird, zum koevolutionären Subjekt. Diese Sicht ist nicht zu verwechseln mit mythischer Anthropozentrik. Im Gegensatz zu dieser, die dem Menschen schon bei der Schöpfung eine festgelegte Rolle zuweist, kommt in idealistischer und später in integraler Interpretation erst dem entstehenden Menschen im Laufe der Evolution eine ko-kreative Bedeutung zu. Diese Bedeutung ist zunehmend und entspricht der jeweiligen Entwicklungsphase seines Bewusstseins bzw. dem Reifegrad seines seelischen Wachstums.
Herders Ideen zur Entwicklung und Entfaltung eines der Welt und dem Menschen innewohnenden Bewusstseins wurden von Johann Wolfgang von Goethe, Hegel und Friedrich Schiller aufgegriffen und erweitert. In ihrer Gesamtheit entwarfen diese deutschen Philosophen und Visionäre die Umrisse einer neuen, zugleich postreligiösen wie postmaterialistischen Weltsicht. In dem Weltbild einer geistig intendierten und beseelten Evolution mit der Reifung des Menschen zum ko-evolutionären Partner der Natur trat ein zentrales Merkmal des evolutionären oder integralen Paradigmas zum ersten Mal als Weltanschauung in Erscheinung. »Insbesondere in dem genuin romantischen, aber zugleich durch und durch rationalen Geist Schellings … nahm eine bemerkenswerte Vereinigung von Wissenschaft und Spiritualität erste Formen an. Indem er die evolutionären Gedanken eines ganzen Jahrhunderts mit der idealistischen Philosophie des Kant-Schülers J. G. Fichte verband, präsentierte Schelling eine Alternative zu dem immer weiter vordringenden Materialismus, … einen evolutionären Idealismus.«12
Wir werden in Kapitel 4 und 5 bei der Betrachtung der jüngeren deutschen Seelengeschichte sehen, wie sehr dieser Idealismus Ausdruck eines inneren Strebens dieses Landes ist – und wie sein Schatten die Deutschen gleichwohl ins Verhängnis führte.
Das Modell von Spiral Dynamics (SD) beschreibt die evolutionäre Bewusstseinsentwicklung von Gesellschaften. Das Konzept wurde von den US-Soziologen Don Beck und Chris Cowan auf Grundlage der Theorien von Clare W. Graves entwickelt und erstmals 1996 in einem gleichnamigen Buch vorgestellt.
Das Modell kann helfen, eine Gesellschaft evolutionär zu verorten, und damit im Kontext ihrer jeweiligen Seelenstruktur deren besondere Chancen und Aufgaben bei jedem Entwicklungsschritt deutlich machen. Hier soll das speziell am deutschen Beispiel geschehen.
Beck und Cowan bezeichneten die einzelnen Stufen der kollektiven Welt- und Selbstbilder als (Wert-)Memes. Sie stellen da mit das kulturelle Pendant zur biologischen Gen-Dynamik dar – ein Meme markiert hier einen Bewusstseinsinhalt im Sinne eines definierten Weltbildes oder Paradigmas, der durch Kommunikation weitergegeben wird und sich damit vervielfältigt.