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In Rothenburg, das durch sein mittelalterliches Stadtbild Touristen aus aller Herren Länder anzieht, lebt eine junge Frau namens Amelie, die insofern außergewöhnlich ist, als sie sich Meisterin der Gegensätze nennt. Sie beschäftigt sich mit Aberglauben einer gottesfürchtigen Zeit. Ihre Vorfahren, wegen ihres Handwerks einstmals allesamt 'Unehrenhafte', haben ihr den Hang zum Aberglauben vererbt, genauso, wie die roten Haare. Andererseits ist sie mit so brisanten Dingen vertraut, wie Aktien, Börse und Weltmärkten. Eines Nachts sieht Amelie ihren Vorfahren im Traum das Richtschwert schwingen. Die erstarrten Augen des abgeschlagenen Kopfes verfolgen sie, zumal die Hinrichtung unrechtens war. Sie führen sie zu dem Nachkommen des Gerichteten: Arno von Winterhausen. Dessen Vorfahren, und mit ihnen der Gerichtete, hatten maßgeblichen Anteil am Dornröschenschlaf der Stadt, den sie wohl berechnet bis heute schläft. Sowohl des Freiherrns als auch Amelies Blick zerren etwas an die Oberfläche, das beiden Unbehagen bereitet. Jeden auf seine Art. Sie meidet ihn. Er ist trotz des Unbehagens von ihrer Schönheit angetan. Amelie lässt seine Annäherungsversuche unbeantwortet, leugnet ihre Abstammung und damit die unrechtmäßige Hinrichtung seines Ahnen. Daraufhin treibt er ein böses Spiel mit ihr. Er stellt ihr Bild wirkungsvoll neben einer mittelalterlichen Hinrichtungsszene platziert ins Internet und schreibt, die Abgebildete, Hexe und Henkerstochter in einem, wäre zu besehen. Zusammen mit den Hinrichtungsutensilien ihrer Sippe wäre sie da zu besehen, wo sich das Mittelalter bis heute gehalten hat: in Rothenburg ob der Tauber. Das wirkt. Die Fantasien sind schnell geweckt in den Köpfen und treiben wild ihre Blüten. Zumal, wenn es sich um einen altertümlichen Ort wie diesen handelt. Amelie, einstmals als Baby von ihrer Mutter ausgesetzt wegen deren Scham über ihre Herkunft, hat mit ihren inzwischen zweiunddreißig Jahren ein starkes Selbstbewusstsein aufgebaut. Sie toppt die ihr angedachte Verunglimpfung, indem sie sich als 'moderne Hexe' gibt und zu ihren Vorfahren steht. Amelie kommt den Fantasien der extra Angereisten sehr gerne nach. Ohne Scheu zeigt sie ihnen die Folterinstrumente ihrer Vorfahren, die im Kriminalmuseum vor Ort in Augenschein genommen werden können. Äußerst effektvoll vermarktet sie dabei – quasi als ein Gesamtkunstwerk - den mittelalterlichen Ort. Aber nicht nur das...
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Seitenzahl: 473
Veröffentlichungsjahr: 2009
www.tredition.de
E-Book-Formate von
readbox publishing, Dortmund
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blog.readbox.net/verlage
Im Lesen wie auch im Schreiben entstehen für sie Welten in der Welt. Das Schöne daran ist, sie kann an ihrer Gestaltung mitwirken, bei dem einen wie auch bei dem anderen. Anne Schneider bevorzugt die tiefgründigen Geschichten. Jene, die nie ganz geklärt sind am Schluß und die ein Geheimnis als solches einfach auch einmal stehen lassen können. Ihre sprachliche Ausdrucksform versucht sie dem Inhalt der jeweiligen Geschichte anzupassen.
Die Seelengespielin
Ein Roman um das weltbekannteRothenburg ob der Tauber
Einstimmung
Wo sich das Kriminalmuseum befände, wollte der interessierte Tourist wissen.
Weil er bemerkt hatte, dass ich ihm freundlich und aufmerksam gesonnen war, fragte er weiter. Den Galgenturm und das gleichnamige Tor dazu wollte er sich auch ansehen, und ob man da noch irgendwas sehen könne von der einstigen Hinrichtungsstätte. Ach, den Henkersturm und dazu gleich den Totengräbersturm, von denen er auch schon gehört habe, die beiden würde er sich auch gerne mal ansehen. Und weil ich ihm immer noch freundlich und aufmerksam gesonnen war, fragte er weiter und zählte noch mehr Türme auf. Den Strafturm und den Faulturm, den Pulver- und den Schwefelturm. Ich dachte schon, er wolle alle dreiundvierzig Türme der Stadt aufzählen. Er meinte, wenn er schon mal hier sei, möchte er „möglichst viel von diesem einzigartigen Dornröschenschlaf sehen“.
Ich sah, dass sich der Besucher Relikte tiefsten Mittelalters anschauen wollte, mit Bezeichnungen, die für sich sprechen.
Dann fiel ihm plötzlich ein, als er mich so dasitzen sah an der Tauberriviera und ihm freundlich Gehör schenkend, ob ich denn überhaupt von hier sei und Bescheid wisse. Ja, ich sei von hier, und ich wüsste auch ein wenig Bescheid über die Stadt, gab ich ihm zur Antwort. Den Henkersturm, sagte ich, könne er sich gleich in Verbindung mit dem Galgenturm ansehen, denn der steht nicht allzu weit entfernt. Und dazwischen liegt das Kummereck, da könne er auch gleich mal einen Blick hinwerfen. Wenn die Unglückseligen zur Galgenstätte gebracht wurden und an dieser Ecke vorbeikamen, machte ich ihn aufmerksam, grauste ihnen noch mehr vor ihrem Schicksal, weil sie schon hier den Tod begegneten: in Form der Abdeckerei nämlich, die sich einst hier befand. Ich legte meine Lektüre zur Seite und freute mich über solch reges Interesse für die mittelalterliche Stadt und war bereit, ihm zu helfen.
So und ähnlich erging es mir ziemlich oft. Ich glaube, man sah mir an, dass ich dem Ort recht zugetan war. Und vielleicht merkten die Besucher sogar, dass ich in ihn verliebt war, wenn sie mich dasitzen sahen, versonnen an einem der lauschigen Plätzchen unterhalb der Stadtmauer, wo ich mich romantischen Gedichten hingab und gerne bereit war, ihnen den Weg zu den gewünschten Sehenswürdigkeiten zu weisen.
In der Tat verbindet uns etwas, das zu einer richtigen Liebschaft herangereift ist und es geschafft hat, meine Seele zu infizieren und bisweilen ganz für sich einzunehmen. Und so übt diese alte Stadt Macht über mich aus und hat mich zu ihrem Werkzeug gemacht. Sie flirtet mit mir auf eine äußerst leichtfüßige Art, wenn ich dastehe und ihre Silhouette zum soundsovielten Mal bewundere. Bin ich dann erst mal hinter ihren mächtigen Mauern, nimmt sie mich mit Haut und Haaren für sich ein, ohne dass ich es merke, und flüstert mir unablässig zu:
Sag mir, strahle ich nicht etwas Liebliches aus? Etwas Ruhiges? Behäbigkeit? Und Beschaulichkeit und Anmut? Und erinnere ich nicht damit immer wieder, gerade in der heutigen Zeit: Eile mit Weile? Ist es nicht das, was alle so an mir schätzen und mögen, wenn sie ankommen vor meinen Türmen und Toren, um mich zu bestaunen? Aber das alles weiß ich. Ich bekomme es schließlich täglich aufs Neue bestätigt, wenn ich ihren Gesprächen lausche. Und wenn ich dann sehe, wie zur Winter- und Weihnachtszeit, wenn ich meinen Zauber besonders großzügig verströme, die Busse sich zu Hunderten vor meinen Toren drängen und massenhaft Menschen herbeibringen, weil gerade in dieser Zeit spürbar ist, was ich in mir berge, macht es mich schon ein bisschen stolz und selbstverliebt. Verbindet diese Menschen alle doch eine ganz bestimmte Sehnsucht: die Sehnsucht nach Geborgenheit nämlich. Nach einer heimeligen Glückseligkeit einer längst vergangenen Zeit. Hier wissen sie sie zu stillen, und sei es nur für ein paar wenige Stunden. Egal, welche Versprechungen der Zeitgeist ihnen macht, hinter meinen Mauern können sie ungeniert alten Sehnsüchten nachhängen und die Seele darinnen verweilen lassen.
Manche von ihnen kommen gar arg gestresst an. Sind ungeduldig und hektisch von dem, was die Zeit ihnen heute tagtäglich abverlangt. Es ist nicht die meine Zeit!, möchte ich an dieser Stelle ausdrücklich betonen. Einige haben von vornherein kaum Zeit für die Zeit, die sie benötigten, um meinen Liebreiz auch nur annähernd wahrzunehmen, weil der Bus sie schon bald wieder zurückkarrt in ihren Alltag. Andere wiederum sind meinem Reiz mehr zugetan, nehmen sich einfach die Zeit und stimmen sich schon über die Fahrt durchs romantische Taubertal auf mich ein. Und dann gibt es jene, die immer wieder kommen, Jahr für Jahr, weil auch sie sich haben infizieren lassen von meiner Lieblichkeit. Genau wie auc du dich hast infizieren lassen, Amelie, nicht wahr?
Ihnen allen ist eines gemein: Sie lieben Romantisches. Wie sie überhaupt Vergangenes noch einmal schauen möchten, das es anderenorts längst nicht mehr gibt. Aber sie kommen nun mal nicht aus der Zeit, als Romantisches noch aus jedem Mauerritz sprach - wie sollten sie die Zeit auch aufhalten oder gar anhalten können, oder den Zeitgeist einfach im Boden verschwinden lassen -, sondern sie kommen aus der heutigen Zeit, die sie mit dem prägt, was in dieser angesagt ist. Sie alle möchten nur eins: ein Stück Romantik und Mittelalter nachfühlen und schauen können.
Voilà!, das könnt ihr gerne haben, hauche ich ihnen dann zu, ohne dass sie es merken. Und wenn sie meine Stadttore eiligst erst einmal passiert haben und sich hinter meinen wuchtigen Mauern befinden und schon ungeduldig darauf drängen, meine Schätze zu schauen, ermahne ich all diese betriebsamen und modernen Menschen - wiederum, ohne dass sie es merken würden -, ihre Unruhe doch zu zügeln und sich meiner Gemächlichkeit hinzugeben. Wenn sie dann ein paar Stunden später durch eines meiner Tore wieder gehen, sehe ich ihnen deutlich an, dass sie durchaus empfänglich sind für Gemächlichkeit und Eile mit Weile für sie nicht einfach irgendein verstaubter Spruch ist.
Hier sind sie, meine Schätze! Zeige sie ihnen, mein wertes Fräulein.
Mein wertes Fräulein?? - Ja Amelie, ich sehe es dir wohl an, was du denkst. Guckst hochmütig und spöttisch auf mich herab, wenn du solch eine altmodische Redewendung hörst, und fängst an zu kichern. Aber ich bediene mich eben mal hin und wieder gern dieses Sprachstils. Nicht zuletzt, weil er wunderbar zu mir passt. Und es stört die Besucher keineswegs, wenn ich hier und da längst nicht mehr gebräuchliche Worte hervorkrame und benutze. Im Gegenteil! Ihnen gefällt es. Das eine passt zum andern, und in dieser Stimmigkeit bekommen sie beides zusammen wahrscheinlich nicht mehr geboten.
Verschweige ihnen aber auch nicht die dunklen Seiten meiner Zeit. Einige liegen weit zurück. Meine große Zeit ist und bleibt die der Romantik. Gehe zurück ins 12. Jahrhundert, zu jenem Platz, von dem gesagt wird, dass er als erste Hinrichtungsstätte gedient haben soll.
Erzähle ihnen die Geschichte, die man sich von dem Platz erzählt, der heute ein gewöhnliches Stück Ackerland ist und „Herzacker“ genannt wird. Du kennst sie, und du weißt wo der Platz liegt, Amelie. Im Taubertal drunten. Zwischen ein paar Mühlengehöften. Hier soll sie sich befunden haben, die erste Richtstätte, nachdem Fehden nicht mehr nach altem Sippen- und Stammesrecht ausgetragen wurden. Wie gesagt, lange vor meiner Zeit war das. Fast tausend Jahre sind das nun her, bevor dann einige Jahrhunderte später die Galgen unweit vor eines meiner Stadttore aufstellt wurden, weshalb dieses Tor bis heute 'Galgentor' genannt wird. Die nicht weit davon entfernt liegende Wiese, die so genannte Köpfleswiese, diente ebenfalls als Exekutionsplatz. Man pflegte die Wiese mit dem Blut der Geköpften zu düngen. Der Boden hier, wie auch dort unten, war mit Blut getränkt. Ziemlich makaber das Ganze. Auch schon zur damaligen Zeit. Aber Blut fließt auch heute noch. Wenn auch nicht mehr unmittelbar vor meinen Toren, so doch an anderen Orten auf der Welt und durch andere Praktiken und nicht unbedingt mehr zum Düngen.
Du kennst die Geschichte von dem Wiedergänger, Amelie, nicht wahr? Dass nächtens ein kopfloser Ritter auf einem schwarzen Pferd sein Unwesen treiben soll und umherirrt und sein Herz sucht, das man ihm auf besagtem Herzacker mit Gewalt entrissen hat. Und hast du vor einiger Zeit nicht selbst gesagt, als wir uns wiedermal über das so genannte „finstere Mittelalter“ unterhielten, du hättest eines Nachts, als du noch nichts von dieser Geschichte wusstest und in einer der Mühlen genächtigt hast, Hufschläge gehört? Und zwar ganz deutlich, die dort auf dem Kopfsteinpflaster des Mühlenhofes auf und ab gingen und widerhallten und dich fürchten machten und du schwören könntest, dass du das nicht bloß nur geträumt hattest?
Was es auch immer gewesen sein mag, das du gehört hast, keiner der um diese Geschichte weiß, würde sich nachts freiwillig in der Nähe des besagten Ackers aufhalten wollen. Weitere Hinweise auf die dunklen Seiten vor meiner Zeit habe ich fein säuberlich im Kriminalmuseum zusammentragen lassen. Aber das brauchst du eigentlich gar nicht großartig hinausposaunen. Das Kriminalmuseum kennt eh jeder. Deshalb ist es fast schon zum Pflichtteil geworden für die Besucher. Und das, was dort alles gezeigt wird, zeugt wirklich von einem finsteren Zeitalter.
Noch einen Hinweis auf die dunklen Seiten jener Zeit kannst du geben: der Faulturm! Auch das weißt du, weil du zu gern und wie ich finde, zu viel in finsteren Dingen rumstöberst, und es mir weitaus lieber wäre, du würdest dich ausschließlich mit meiner schönen Seite befassen. Dort, im hohen, wuchtigen Faulturm, der einst für die Bestrafung der schweren Fälle errichtet wurde und diesen Namen deshalb erhielt, weil die Verurteilten dort drinnen regelrecht verfault sind, fand man vor einigen Jahrzehnten beim Stöbern im so genannten Armesünder-Loch die Gebeine der Unglückseligen eimerweise. Ich hoffe, dass nicht du es warst, die dort rumgestöbert hat, Amelie.
Genug mit Grausigem, das, wie gesagt, weit vor meiner Zeit lag. Lass die Gäste lieber an meiner schönen Seite teilhaben, der romantischen, derentwegen sie schließlich gekommen sind. An den alten verträumten Volksweisen zum Beispiel, die so wunderbar zu mir passen und die der Troubadour mit so viel Gespür für meine Lieblichkeit Tag für Tag im Burggarten aufspielt. Schon unten im Tal, an der Tauber, kann man einzelne Klänge hören, wenn es ruhig genug ist und keine Verkehrsgeräusche sie übertönen: Am Brunnen vor dem Tore... oder: Sah ein Knab ein Röslein stehn... dringen da immer deutlicher ans Ohr. Und wenn man die Weinsteige allmählich höher kommt und sie dann klar und deutlich vernimmt, vermögen einem diese lieblichen Klänge geradezu zu verzaubern.
Lass meine Gäste einen Spaziergang durch den Burggarten machen. Entlang der Sandsteinplastiken und blühender Beete, mit allerlei lieblichen Blumen darinnen. Zeig ihnen mein einmaliges Panorama, das sich vom angestammten Platz des Troubadours aus wunderbar auftut. Lass sie dann den herrlichen Blick hinab aufs Tal und zur Tauber genießen. Auf dieses Ensemble dort unten, das sich sanft in die Talwindung einschmiegt. Es besteht, wie nicht nur du weißt, aus der berühmten Doppelbrücke, der Kobolzeller Kirche und den alten Mühlengehöften zu beiden Seiten des Flüsschens.
Künstler und Maler hat dieses Panorama einer mittelalterlichen Stadt, die ich nun mal bin, schon immer angezogen und inspiriert. Gewähre meinen Gästen freundlichst diesen romantischten aller Ausblicke. Gebiete ihnen, sich doch für ein Weilchen hinzusetzen, auf eine schattige Parkbank, den verträumten alten Volksweisen zu lauschen und das einmalige Panorama auf sich wirken zu lassen. Denn erst jetzt werden sie es in aller Deutlichkeit wahrnehmen. Vor allem aber werden sie es nun auch in sich selbst spüren, das, was ich in mir berge und herübergerettet habe in die Moderne: Beschaulichkeit, umrahmt von einem Hauch Romantik. Ihren Augen wird sich für ein paar Minuten eine friedliche Idylle auftun, die es schafft, ihre Seele ins Gleichgewicht zu bringen. Spätestens jetzt wird sich auch der nüchternste Betrachter, jener, der mit Romantik nicht allzu viel anzufangen weiß, angekommen fühlen, wo er sich seinen Träumen hingeben kann. Egal welche Träume er hegt, und egal aus welcher Ecke der Welt er kommt, hier gebiert sich sein Innerstes zur wahren Romantikerseele.
Oder führe sie ein wenig entlang der meterhohen, massiven Außenmauern des ehemaligen Dominikanerinnenklosters, die mir jahrhundertelang als uneinnehmbares Bollwerk gedient haben. Den Gästen wird schnell klar werden, wie wehrhaft stolz ich einst meine Feinde abschmettern konnte. Zeige ihnen den Innenhof des Klosters und den Klostergarten. Ich weiß, Amelie, der Klostergarten ist einer deiner Lieblingsplätze. Wegen der sprichwörtlichen Stille, die dort herrscht und in die du dich nur allzu gern hineinbegibst. Aber es gibt noch einen anderen, einen weitaus wichtigeren Grund, weshalb du gern hierher kommst. Den wirst du später in der Geschichte selbst verraten. Lass die Besucher diese Stille für ein kurzes Weilchen auch genießen, ehe sie wenige Gassen weiter wieder auf dem geschäftigen Rathausplatz gelangen.
Wir könnten so weitermachen: Ich hole ein Kleinod nach dem anderen aus meiner Schatztruhe, und zusammen preisen wir es an. Ich glaube aber, meine Schätze anzupreisen ist gar nicht groß notwendig. Einmal, weil jeder, der Romantik liebt, mich kennt und mich mag, und zum anderen, weil du gleich selber auf die Schätze stoßen wirst in der Geschichte. So ist mein Name heute zu einem Synonym für Romantik schlechthin geworden.
Einen deiner Lieblingsplätze wollen wir noch kurz erwähnen. Aber er ist nicht nur dein Lieblingsplatz: das Wildbad! Eine wahre Perle, die sich unterhalb meiner Mauern in die steilen Tauberhänge schmiegt und mit ihren Gebäudeteilen bis an den Fluss heranreicht und eingebettet ist in eine schöne Baumlandschaft. Der herrliche Jugendstil der Gebäude kommt hier besonders schön zur Geltung. Idyllisch und friedlich ist es dort unten am ehemaligen Bad, und Ruhe und Erholung sind wie einst, auch heute noch garantiert. Das kleine Rondell, das sich mitten auf der Rasenfläche, nahe des Flusses befindet, mit Pflanzen darinnen, die allesamt Erwähnung in der Bibel finden, ist gewiss auch ein schöner Anblick und fügt sich ausgesprochen gut in diese friedliche Idylle. An den Stufen des weinlaubbewachsenen Wandelganges sehe ich dich hin und wieder sitzen, wenn du, versunken in deine Lektüre, dort unten liest. Und die Tauber rauscht an dieser Stelle, wie eh und je, ganz besonders laut.
Was ist es, fragte sich Amelie, nachdem sie der Seelengespielin so nannte Amelie ihre imaginäre Freundin, die die Stadt für das Waisenkind ist, wieder einmal bedächtig gelauscht hatte. Was mögen Menschen aus aller Herren Länder so an diesem alten und verträumten Ort? Warum zieht er sie jedes Jahr aufs Neue an, sommers wie winters? Was gibt er ihnen mit auf den Weg, wenn sie ihn durch eines der Stadttore wieder verlassen haben? Ist es nicht auch ein Stück Gelassenheit, die sie für das rüstet, was ihnen zuhause in ihrem Alltag alles abverlangt wird?
In der Tat ist es das. Es hat aber auch mit Beschaulichkeit zu tun, war Amelie sich sicher. Bestimmt muss es damit zu tun haben, denn Beschauliches begleitet einen auf Schritt und Tritt. Und sei es nur, wenn man die gleichmäßigen Hufschläge der Pferdegespanne gemächlich durch die Stadttore trappen hört. Heutzutage ausschließlich als Attraktion für die Gäste natürlich. Aber auch mit Verschlossenem, das wenig von seiner Vergangenheit preisgeben will, hat es zu tun. Mit Stillstand der Zeit überhaupt. Man spürt es tatsächlich, dass die Zeit an diesem Ort stehengeblieben ist. Bestimmt aber hat es auch mit der gewaltigen, dicken und teilweise meterhohen Mauer zu tun, die die einstmals Freie und Reichsstadt komplett umgibt und die es heute so nirgends mehr gibt. Auch die massiven Basteien zeugen heute eher von einer gewissen Beschaulichkeit, als dass sie bedrohlich wirkten. Aus ihren Schießscharten lugen vereinzelt noch Kanonenrohre heraus, die nur noch von den Tauben genutzt werden, wenn sie sich auf den Eisenrohren niederlassen und so allenfalls ein Schmunzeln hervorrufen.
Es hat überhaupt mit der einmaligen Silhouette der Stadt zu tun und dem, was ihr zu Füßen liegt. An beidem kann man sich nicht satt sehen, und beides schafft es, einen der Wirklichkeit zu entheben. Wenn der Tag sich dann neigt, dieses Bild zum Beispiel, wenn man den Blick vom Burggarten hinab auf Fluss und Tal schweifen lässt, spürt man es in besonderem Maße. Auf der gegenüberliegenden Talseite des Burggartens, der Engelsburg, siedelten vor fast zweitausend Jahren die Kelten. Steinerne Reste zeugen heute noch davon. Der Blick schweift einen auf und davon, in die Ferne und weit in die Zeit zurück. Jahrhundert um Jahrhundert zieht an einem vorüber. Eine Stimmung tut sich auf, die Melancholie und Sehnsucht in einem aufkommen lässt. Es ist eine unbestimmte Sehnsucht, die dem Betrachter die Vergangenheit geheimnisvoll erscheinen lässt. Am Flüsschen unten reihen sich dickköpfige Erlen und Weiden dunkel und knorrig aneinander. Große, schwarze Vögel plustern sich in ihnen. Aus der Ferne sehen sie aus wie Gespenster. Oder sind es doch die Seelen aus jenen vergangenen, geheimnisvollen Zeiten?
Hier unten ist stilles Land, der Besucher merkt es schon bald. Und heute wie einst, stilles ländliches Leben, das schon unmittelbar an der Kobolzeller Kirche beginnt. Mühlengrundiges ist hier angesiedelt. Kleine Inseln im Tal, versponnen in ihr Fachwerkgeäst, verträumt zwischen Bäumen und wilden Hecken. Schattental mit alten schönen Brücken und Stegen. Mit Gehöften, die sich verschlossen geben, dem Flusslauf und dem Tal angepasst und ihrem Gestern zugewandt.
Was Rothenburg ob der Tauber die Magie verleiht, der sich Amelie verschrieben hat und deren Geheimnis sie lüften will, mag mit folgendem Bild zu tun haben.
Man stelle sich die Stadt an einem späten Sommerabend vor:
Die Sonne hat sich golden im Westen hinter den Hängen des Taubertals verabschiedet. Die Nacht ist inzwischen hereingebrochen. Der klare Himmel über die vielen roten Ziegeldächer, über Türme und Stadtmauer ist ein einziges Sternenzelt. Im Süden gesellt sich die Mondsichel dazu. Der Nachtwächter hat seine Runde durch die engen Gässchen gemacht. Wie eh und je mit Laterne, Wächterspieß und Signalhorn. Nur, dass er heutzutage seinen Rundgang ausschließlich für die Gäste macht, die er dann bestens zu unterhalten weiß. Und auch der Märchenerzähler hat seine Zuhörer mitgenommen an geheimnisumwitterte Plätze der Stadt, sie dort wieder einmal beund verzaubert und nun in eine süße Nachtruhe entlassen.
Beide haben sich zurückgezogen. Die leeren Gassen gehören sich wieder selbst, wie sie das schon im Mittelalter taten bei Anbruch der Nacht. Bald aber gehören sie den modernen Nachtschwärmern. Jenen, die auf der Suche sind nach einem Nervenkitzel, ohne genau zu wissen, welcher das sein sollte, den sie aber irgendwo aus der Vergangenheit kommend vermuten. Die Seelengespielin gesellt sich ihnen unauffällig zu. Und mit ihr die Magie, wie sie es nur in einer mittelalterlichen Stadt zur nächtlichen Stunde geben kann. Die Nachtschwärmer bekommen ihren Nervenkitzel. Und er kommt sehr wohl aus der Vergangenheit, aus einer längst totgeglaubten Welt.
Amelie war ein 'Findelkind'.
Zeitgemäßer ausgedrückt würde man sagen: ein Sozialfall. Einer, der der Öffentlichkeit klammheimlich zugespielt wurde. Aber das klingt zu unromantisch für den Ort, an dem Amelie abgelegt worden war.
Eines frühen Sommermorgens vor zweiunddreißig Jahren fand man in Rothenburg ob der Tauber im Innenhof des ehemaligen Dominikannerinnenklosters ein Neugeborenes. Dort, wo heute der Eingang zum Reichsstadtmuseum ist. Eine Babyklappe gab es zu der Zeit noch nicht, und sie gibt es auch heute in der kleinen Stadt nicht. Für ein Neugeborenes hatte es einen beträchtlichen Haarwuchs, sodass ein üppig bewachsenes rotes Lockenköpfchen aus dem Kissenbündel hervorragte. Eine Tüte mit ein paar wenigen Babysachen lag daneben. Obenauf in der Tüte steckte ein Kärtchen, auf dem in Blockbuchstaben geschrieben stand:
DAS BABY AMELIE IST EINE RÜCKGABE AN DIE STADT.
Das Baby Amelie ist eine Rückgabe an die Stadt?! Mit diesem seltsamen Satz konnte zunächst niemand etwas anfangen. Man brachte den Säugling in eine soziale Einrichtung, in der neben anderen auch Waisen erzogen wurden. Dann stellte man Nachforschungen an, wem das Baby gehörte und wer es ausgesetzt haben könnte. Beweise aber fand man nicht, es blieb bei vagen Vermutungen.
Die Vermutungen, die man wegen des seltsamen Hinweises ... eine Rückgabe an die Stadt ... hatte, bezogen sich auf eine Frau, die die Stadt mied, wie der Teufel das Weihwasser. Ein paar Alteingesessene meinten zu wissen, die Frau stamme von jener Familie ab, die hier einstmals das Henkershandwerk betrieben hatte. Dass es sich bei ihr also um ein Nachfahre einer alten und weithin verstreuten Henkersdynastie handelte, die über Generationen hinweg in verschiedenen Städten Bayerns und Baden-Württembergs das Scharfrichteramt innehatte. So auch in der ehemals freien Reichsstadt Rothenburg. Sie rümpften verächtlich die Nase bei dem Namen 'Bürckh'. So hieß der hiesige Zweig der besagten Henkersdynastie. Sie seien sich sicher, sagten sie, dass das ausgesetzte Baby dieselbe rote Haarfarbe und den selben Lockenkopf habe, wie seinerzeit Lisbeth Bürckh, als sie noch als Schulmädchen hier gewohnt hatte, von der aber keiner wisse, wo sie sich heute aufhält.
So sprach einiges dafür, dass es sich um ihr Kind handelte und sie es dorthin zurückbrachte, wo es ihrer Meinung nach hingehörte.
Amelie wuchs in dem Heim auf, in das sie als Baby verbracht worden war. Das Heim befand sich außerhalb der Stadt und stand unter kirchlicher Leitung. Als lerneifrig, folgsam und freundlich beschrieb man dort das rothaarige Mädchen. Eine, die nie aufmüpfig wurde und „ihr Schicksal“, so die Heimleitung, hinnahm. Selbst im schwierigen Alter, als Heranwachsende, habe sie nie Ärger gemacht. Weshalb man ihre Entwicklung mit Freude beobachtet habe.
So gestaltete sich die „Rückgabe des Babys Amelie an die Stadt“, um es mit den seinerzeit vorgefundenen Worten zu sagen, mehr als etwas Positives, denn als eine Last oder gar böses Omen. Amelie brachte es mit ihrer Tatkraft und ihrem freundlichen Wesen fertig, andere Heimkinder zu etwas Nützlichem zu bewegen, anstatt gegen ihr Schicksal, gegen das Heim und gegen Gott und die Welt zu rebellieren. Pünktlich sein zum Beispiel. Ordnung mit Kleidung und Schulsachen halten. Das Heimpersonal nicht ständig reizen und herausfordern. Sich Ziele setzen und diese dann auch erreichen wollen. Zum Beispiel die schulischen Leistungen so verbessern, dass man selbst stolz auf sich sein konnte und einem auch das Lob der Heimleitung gewiss war. In solchen Dingen ging Amelie mit gutem Beispiel voran.
Als sie das Alter hatte und begann, sich nach ihrer Herkunft zu erkundigen, fragte, wer ihr Vater und ihre Mutter seien und warum sie nicht bei ihnen leben durfte, erhielt sie die Antwort: Man wisse nicht wer ihre Eltern seien und wo sie sich aufhielten. Sie sei einfach eines Morgens, als sie erst wenige Tage alt gewesen war, am ehemaligen Dominikanerinnenkloster gefunden worden.
Die Antwort: Man weiß nicht, wer deine Eltern sind, damit gab sich Amelie nicht zufrieden. 'Jedes Kind hat Eltern! Auch die, die hier im Heim leben, wie ich, haben Eltern', sagte sie sich. 'Selbst wenn sie gestorben sind, aber Eltern haben alle Kinder.' Sie bekam es schließlich ja mit. Einige ihrer Schulfreunde erzählten ihr doch hin und wieder von ihren Eltern. Darüber, dass sie sich tierisch über sie aufregten. Ein paar Tage später fanden sie sie dann wieder ganz o.k. Ob so oder so, sie hatten auf jeden Fall Vater und Mutter. Warum sie also nicht?
Gelegentlich glaubte Amelie zu spüren, dass einige der Erwachsenen sie anders behandelten als die übrigen Kinder. Sei es im Heim, in der Schule oder auf der Straße. Erst dachte Amelie, es liege an ihren auffälligen roten, krausen Haaren. Dass sie ihnen vielleicht nicht gefielen und sie sie deshalb nicht mochten. Nicht, dass die Erwachsenen unfreundlich gewesen wären zu ihr oder ihr was zu Leide taten, aber sie verhielten sich manchmal so, als hätte sie eine ansteckende Krankheit, vor der es sich tunlichst zu hüten galt und man nicht allzu sehr mit ihr in Berührung kommen sollte. Als Kind, das sie damals war und das nicht so recht verstehen konnte, schwor sie sich, wenn sie erst einmal größer ist, über ihre Herkunft, und wer ihre Eltern seien, nachzuforschen. Sie ahnte, dass es etwas damit zu tun haben musste.
Als sie dann größer war, fragte sie erst gar nicht mehr länger bei der Heimleitung nach. Sie erhielt eh immer nur die gleiche Antwort: dass sie als Baby im Klosterhof gefunden wurde und man es nicht wisse, wer ihre Eltern seien. Mehr würde sie nicht in Erfahrung bringen.
Amelie fragte stattdessen beim Pfarrer nach, den sie im Religionsunterricht hatte. Auch ihren Klassenlehrer fragte sie. Der konnte ihr im Grund nichts anderes sagen, als ihr die Heimleitung auch schon gesagt hatte. Der Pfarrer allerdings gab ihr den Rat, es doch mal bei ein paar älteren Leuten zu versuchen, die schon lange Zeit hier leben, die könnten ihr vielleicht was dazu sagen.
Amelie befolgte seinen Rat und kam zu der Überzeugung, dass man durchaus was wusste über ihre Herkunft, aber nicht so recht mit der Sprache herausrücken wollte. Dass man wusste, wer ihre Eltern, ihre Mutter und ihr Vater seien.
Über ihren Vater konnte sie allerdings so gut wie nichts in Erfahrung bringen. Nur soviel, dass er sich angeblich Hals über Kopf aus dem Staub gemacht haben soll, nachdem er von der Herkunft ihrer Mutter erfuhr. „Was auch kein Wunder war!“, wie die Befragte Amelie gegenüber ironisch bemerkte. Was ihre Mutter anbetraf, wusste diese ihr nur zu sagen, dass deren Vorfahren generationenlang in der Stadt gelebt hätten und „nicht gerade eine angesehene Familie gewesen waren“, wie sie es forumlierte. Was genau sie damit meine: nicht gerade eine angesehene Familie gewesen waren, wollte Amelie wissen. Doch die alte Frau rückte nicht mit der Sprache heraus, sondern wiederholte sich nur. Anscheinend mochte sie das Wort 'Henker' nicht in den Mund nehmen. „Eine Familie eben, die kein sonderliches Ansehen genoss“, sagte sie. Dabei sah sie Amelie weiterhin spöttisch an.
Amelie ging. Es brachte nichts. Aber sie gab nicht auf, sie forschte weiter nach. Mit ihren inzwischen sechzehn Jahren wollte sie wissen, was das zu bedeuten hatte: 'nicht gerade eine angesehene Familie gewesen waren'. Sie gewann mehr und mehr den Eindruck, dass sie etwas Besonderes sein musste, aber eher im negativen Sinne. So wie ihr Argwohn entgegengebracht wurde von den Befragten, musste sie zwangsläufig diesen Eindruck gewinnen.
Schließlich rückte eine alte Dame doch mit der Sprache heraus. Die vornehme alte Dame entstammte einer der alteingesessenen Patrizierfamilien der Stadt und schien tatsächlich mehr über Amelies Mutter zu wissen.
Amelie erfuhr, dass die Vorfahren ihrer Mutter das Henkershandwerk ausübten. Dass sie einer weithin verstreuten Henkersdynastie entstammten, die durch Einheiratung und Verschwägerung auch hier ihre Wurzeln schlug und bis ins 19. Jahrhundert hinein hier tätig war. Die vornehme alte Dame empfing Amelie lediglich am verschlossenen großen Hoftor ihres Patrizierhauses. Was heißt, durch ein geöffnetes, aber vergittertes, etwa einen halben Meter große und breite Guckloch. Mit einem spöttischen Unterton in der Stimme, wie es zuvor schon die andere Frau tat, fuhr sie in ihrer Ausführung fort:
„Wo sich aber die rothaarige Lisbeth heute aufhält“ Amelie erfuhr damit, dass ihre Mutter Lisbeth hieß und auch rote Haare hatte -, „das weiß ich nicht. Das wird dir wohl keiner sagen können. Die wohnt schon ewig lange nicht mehr in der Stadt. Und ob du es glaubst oder nicht“, schleuderte sie der verstört dreinblickenden Amelie ins Gesicht, „niemand vermisst sie und ist traurig drum.“
Nachdem sie sah, wie beschämend das rothaarige Mädchen dastand, das sich da nach ihren Eltern erkundigen wollte, versuchte sie einzulenken.
„Nun, du kannst nichts für das grausige Handwerk deiner Vorfahren. Aber du hast nun mal ihr Blut in den Adern. Grausiges Blut, wie ihr Handwerk, ist das, glaube es mir! Damit musst du ein Leben lang fertig werden. Genau wie mit deinen roten Haaren auf dem Kopf, die du ebenfalls von ihnen hast.“
Die sechzehnjährige Amelie, damals wegen ihres krausen roten Lockenkopfes alles andere als glücklich mit ihrem Haar, sah noch beschämender drein und kaute auf ihrer Unterlippe. Die alte Dame sah verächtlich über Amelies rote Haarpracht und wurde mit einem Mal plötzlich richtiggehend gehässig, als sie sagte:
„Weißt du, mit Henkersgesindel wollten ehrbare Bürger nie etwas zu tun haben und machten von jeher einen großen Bogen darum. Für mich hat sich daran bis heute nichts geändert. Wenn du verstehst, was ich meine. Ich wünsche dir aber trotzdem einen Guten Tag noch!“
Damit wies sie das rothaarige Mädchen vom Heim ab und schloss das Guckloch des wuchtigen Hoftors, mit dem sie es sich vom Leib gehalten hatte, und ging zurück in ihr vornehmes Patrizierhaus.
Als wäre das Mädchen etwas Unheilbringendes, behandelte sie es.
Amelie lief beschämt die Straße hinunter, ohne nach rechts oder links zu blicken. Das saß erst mal, was ihr da an den Kopf geschleudert wurde. Vor allem aber, wie! Mit einer regelrechten Verachtung hatte die alte Dame sie abgefertigt. Amelie konnte es nicht glauben! Es war nicht mal so sehr die Tatsache, dass sie einer Henkersfamilie entstammte, in diese Richtung gehend ahnte sie eh etwas. Es war schlicht und einfach die Tatsache, dass es heutzutage noch Menschen gab, die deutlich ihre Verachtung zeigten. Und zwar für etwas, das zweidreihundert Jahre zurücklag und für dass Amelie nun wirklich nichts konnte. Das nach damaliger Rechtssprechung geschah und gang und gäbe war, landauf, landab.
Nachdem sie ein paar Mal über diese unschöne Abservierung geschlafen hatte, nahm sie sich vor, zukünftig zurückzuschlagen. Sich so etwas nicht mehr gefallen zu lassen. Wer immer sie behandelte wie eine Ausgestoßene, so wie es die hochnäsige alte Patrizierin tat, die glaubte, auch heute noch über Menschen wie Amelie zu stehen und was Besseres zu sein, dem würde sie auch Spöttisches ins Gesicht schleudern. Amelie kam es vor, als seien einige Leute vor Ort nicht nur von mittelalterlichen Fassaden umgeben, sondern dachten ganz offensichtlich auch noch mittelalterlich. Jedenfalls konnte bei so einer Denkweise wie bei ihr nicht von 'weltoffen', von 'modern' und 'aufgeschlossen' die Rede sein. Obwohl doch alle hier, auch die alte Patrizierin, tagtäglich mit Menschen aus aller Herren Länder in Berührung kamen und mit ihnen zu tun hatten. Amelie verstand eine solche Haltung nicht.
Nach der Verdichtung bezüglich ihrer Herkunft forschte sie nicht mehr weiter und behielt das, was man ihr über ihre Mutter gesagt hatte, für sich.
Wenn sie heute, doppelt so alt wie damals, am Henkersturm und dem gleichnamigen Häuschen, das direkt an der Stadtmauer klebt und in dem aller Wahrscheinlichkeit nach ihre Vorfahren gelebt hatten, vorbeilief und daran dachte, was ihr Handwerk war, wusste sie nicht so recht, ob sie sich rühmen sollte, eine der letzten Nachkommen einer alten und großen Henkersdynastie vielleicht gar die letzte zu sein, oder lieber peinlichst darüber zu schweigen.
Amelie sah mitgenommen aus. Gar nicht so, wie man es nach einem gemütlichen und beschaulichen Spaziergang durch einen romantischen Ort wie Rothenburg erwarten würde. Der Spaziergang sollte der Auftakt einer merkwürdigen Begegnung werden, die fortan ihr Leben bestimmen sollte.
Der Schrecken haftete ihr noch in den Gliedern, als sie eilends nach Hause lief, ohne dabei nach rechts oder links zu blicken. Die Absätze ihrer Schuhe hallten in die Nacht hinein auf dem kopfsteinernen Pflaster der engen Gasse, die entlang der hohen Stadtmauer führte. Ihre lange rötliche Mähne hatte sich teilweise aus dem Band gelöst, mit dem sie ihre Haare zu bändigen versuchte. Nun hingen sie ihr nicht nur wirr um den Kopf, sie gaben ihr auch ein sonderbar wirres Aussehen.
Amelie ließ die Wohnungstür hinter sich ins Schloss fallen, entledigte sich ihrer Schuhe, indem sie sie einfach von den Füßen schleuderte, und riskierte einen Blick in den Spiegel. Dass ihr alles andere als eine entspannt dreinlächelnde Amelie entgegenblicken würde, das konnte sie sich beinahe denken. Sie wollte ihr Konterfei nur sehen, um auch sicher zu gehen, dass sie es auch wirklich war, die ihr da ihr Antlitz entgegenhielt. Ihr eigenes Spiegelbild erschreckte sie. Fast glaubte sie wirklich, ein Gespenst gaffe sie hämisch an. Schnell wandte sie sich vom Spiegel ab und ging ins Wohnzimmer und ließ sich in den Sessel plumpsen.
Nicht nur, dass sie ihren Widersacher begegnete und sie zu dem Zeitpunkt noch nichts von ihm und seinen Machenschaften ahnen konnte, artete ihr nächtlicher Spaziergang eher zu einem Schauertrip aus. Dabei hätte er ihr Muße bringen sollen. Amelie war nicht ganz unschuldig daran, dass es so kam. Während sie nämlich an der Stadtmauer entlang lief und die einstige Richtstätte ansteuerte, stellte sie sich die Galgengerüste vor, die dort einmal standen. Nicht genug damit, sie stellte sich sogar vor, dass einer noch dranhinge und sein Geist sie flehentlich böte, ihn doch bitte abzunehmen und so von der Schmach zu erlösen. Vor zweihundert Jahren hätte es so gewesen sein können, wäre sie damals dort vorbeigegelaufen. Denn erst achtzehn-hundertzehn verschwanden die letzten Galgen endgültig aus dem Stadtbild. Heute standen auf dem Platz Wohnhäuser.
Oder sie hielt sich plastisch vor Augen, wie sie am geschicktesten die abgeschlagenen Köpfe umging, die da verstreut über die 'Köpfleswiese' lagen, über die sie gerade ging. Wie deren erstarrter Blick sich für alle Zeiten in ihr Gedächtnis einbrennen würde. Noch hatte ihr Vorfahr, der Scharfrichter der Stadt, keine Zeit gehabt, sie von seinen Henkersknechten wegräumen zu lassen. Heute rollten dort keine Köpfe mehr, sondern Autoräder, wenn die Besucher mit ihren schicken Wagen aus den Parklücken des einstigen Exekutionsplatzes fuhren.
Was Amelie aber wirklich zusetzte an diesem Abend, war der berüchtigte 'Herzacker', den sie ins Visier nahm und von dem gemunkelt wurde, dass sich dort nächtens ein Wiedergänger herumtreiben soll. Für solche Geschichten war Amelie zu haben.
Es schien, als hafte ihren Genen doch noch was vom einstmals furchtlosen Henkersblut an, weil sie nichts lieber tat, als nachts Plätze aufsuchen, die andere lieber mieden. Sogar mitten in der Nacht über den Friedhof laufen, machte ihr nichts aus. Aber von solchen Genen in ihr sollte niemand etwas erfahren. Die paar Alteingesessenen, die Vermutungen über ihre Herkunft anstellten, mit denen ging sie auf Distanz. Wie Amelie überhaupt Abstand zu Klatschmäulern hielt.
Amelies übermäßige Beschäftigung mit dem Handwerk ihrer Vorfahren gewährte ihr diesmal ein paar zu tiefe Einblicke und ließ das Furchtlose in ihr für den heutigen Abend dahinschwinden. Fast glaubte sie den Boden unter den Füßen zu verlieren. Aber nicht nur der berüchtigte 'Herzacker' war es, der ihr zusetzte und sie nun wirr im Sessel dasitzen ließ, während sie versuchte, wirkliche Welt und unwirkliche auseinanderzuhalten. Da war noch etwas, was auch nicht gerade zu einem entspannten Abendspaziergang beitrug. Es hatte zwar nichts mit dem Handwerk ihrer Vorfahren zu tun wiederum doch, ging es auch hier letztlich ums Töten. Was sie da beobachtete, schreckte Amelie und gab ihr Anlass, sich Fragen zu stellen. Und es trug sich real zu, und nicht nur bloß als ein Gespinst aus dem Totenreich.
Amelie wohnte einem hoch brisanten Deal bei. Ganz rein zufällig und unbeobachtet sah sie, was da seinen Besitzer wechselte. Nie hätte sie solche Geschäfte hinter verschlafenen, mittelalterlichen Mauern für möglich gehalten.
Die beiden Männer, die den hoch brisanten Deal abwickelten, waren auf den ersten Blick als zwei ganz normale Touristen auszumachen, wie es sie viele hier gab. Wäre da nicht ihr gezielter Gang zu später Stunde gewesen. Wie die beiden da zielstrebig dahinschritten und zügig die Innenseite der Stadtmauer entlangeilten, sah nicht gerade nach einen gemütlichen Abendbummel durch den historischen Ort aus.
Die zwei vermeintlichen Touristen peilten den Strafturm an und gingen durch die Schlupfpforte neben dem Turm und befanden sich nun außerhalb der Stadtmauer. Dort blieben sie stehen, nahe einer Ecke, wo es nicht mehr weiter ging, da die Mauer mit dem Turm abschloss. Tagsüber bot sich von hier aus ein imposanter Blick auf die Außenbefestigung des ehemaligen Dominikanerinnenklosters und hinab ins Taubertal. Vorausgesetzt man fand den Zugang zu dieser versteckten Ecke.
Die beiden fanden ihn. Sie warfen einen Blick um sich und auch hinunter auf den Gehweg, ob sie auch wirklich alleine waren. Der eine der beiden jung, Anfang, Mitte zwanzig vielleicht, soweit Amelie das im Schein der Straßenlaterne erkennen konnte hatte die Kapuze seiner Windjacke tief ins Gesicht gezogen. Der andere, um einiges älter, Mitte fünfzig etwa, war vermutlich Osteuropäer oder Russe. Denn in sein Wortgemisch aus Englisch und Deutsch mischten sich Wörter, die perfekt ausgesprochen wurden, flüssig abhoben und slawisch anhörten. Wahrscheinlich sollten sie seine Überredungskunst glaubwürdig erscheinen lassen.
Der stämmige, hoch gewachsene Mann hatte eine große, voll bepackte Einkaufstüte bei sich. Vom Aufdruck der Tüte her ein geschmückter Tannenbaum zierte sie war anzunehmen, dass sie Weihnachtsschmuck enthielt, den man in Rothenburg sommers wie winters in allen Variationen kaufen konnte. Doch was er ihr dann entnahm, hatte mit Weihnachtsschmuck rein gar nichts zu tun.
Er legte die große Plastiktüte auf die Stadtmauer und zerrte eine Art Aktenkoffer heraus und redete dabei in einem fort auf seinen jungen Begleiter ein.
Als er genug auf ihn eingeredet hatte und bevor er den breiten, schwarzen Koffer öffnete, nachdem er ein richtiges Geheimnis darum gemacht hatte, warf er einen Blick um sich, ob er auch wirklich nicht beobachtet wurde. Er tat es mehr der Gewohnheit halber, denn er wägte sich sicher hinter dem alten Gemäuer unter dem Turm, wo es eh nicht mehr weiter ging und um diese Uhrzeit keiner mehr hierher kommen würde. Der Mann öffnete die beiden Schnappschlösser des schwarzen Koffers, der Deckel sprang hoch und gewährte auch Amelie einen Einblick. Er leuchtete mit einer Taschenlampe auf den Inhalt, damit die Kaufobjekte besser zu sehen waren. Vor Schreck hielt sie sich die Hand vorm Mund, damit ihr beim Anblick des Kofferinhalts um Himmels willen kein Laut entfuhr.
Eigentlich hatte Amelie den heraneilenden Schritten der beiden Männer nur eben kurz aus dem Weg gehen wollen, um sie nicht passieren zu müssen. Warum, wusste sie selbst nicht so recht. Sie hatte es nicht so gerne, wenn ihr auf ihrem nächtlichen Streifzug jemand über den Weg lief. Deshalb flüchtete sie schnell in den Treppenaufgang des Strafturms. Da die beiden zu Amelies Erstaunen die Schlupfpforte ansteuerten mit ihrer großen Tüte in der Hand und unter dem Turm stehen blieben, wurde sie stutzig. Um diese Uhrzeit, wo es dunkel war und nur die Laternen die Spazierwege spärlich erhellten, gab es hier weiß Gott nichts mehr zu besichtigen. Amelie lugte durch einen der schmalen Lichtschlitze des Strafturms zu ihnen hinunter. Sie hatte sich gefragt, was sie hier wohl so spät noch wollten mit der großen Tüte, die anscheinend eine Rolle spielen musste. Nun wusste sie es.
Noch immer hatte Amelie die Hand vorm Mund und den Schrecken im Nacken sitzen und sah auf die Schusswaffen, die sich in dem Koffer befanden. 'Die werden doch nicht anfangen auf den Turm zu ballern, die Luftschlitze als Zielscheiben, um die Dinger auszuprobieren?', ging es ihr durch den Kopf. So tief saß ihr augenblicklich der Schreck im Nacken. Der Jüngere der beiden nahm nacheinander einige der Waffen in die Hand und begutachtete sie. Schon wie er geübt damit umging und sie in der Hand hielt, ließ darauf schließen, dass er sich mit Waffen auskannte. Im Gegensatz zu seinem Begleiter war er wenig gesprächig, schien aber genau zu wissen, was er wollte. Schließlich legte er die kleinkalibrigen Schusswaffen wieder zurück in den schwarzen Koffer. Bevor er sie in die Hand genommen hatte, hatte er sich umgesehen. Misstrauisch, und bei weitem umsichtiger als sein Begleiter, tat er es. Er warf sogar einen Blick zum Turm hoch. Amelie dachte schon, er hätte sie erspäht, was ihr Herzklopfen nur noch verstärkte. Dann äußerte er sich über seine Begutachtung und antwortete dem Älteren etwas. Leise, Amelie konnte nicht hören, was er sagte.
Auf jeden Fall aber schienen sich die beiden so harmlos aussehenden Touristen über den Handel einig zu sein und machten ihn perfekt. Der schwarze große Koffer verschwand wieder in der Plastiktüte mit dem heimeligen Weihnachtsbaum darauf. Ein ansehnliches Bündel an Geldscheinen, und im Gegenzug dafür ein kleines Waffenarsenal, wechselte den Besitzer. Dann gingen die beiden durch die Schlupfpforte wieder zurück und befanden sich wieder innerhalb der Stadt. Es erfolgte noch ein förmlicher Händedruck, und der eine ging Richtung Innenstadt, der andere, der die Waffen erworben hatte, Richtung Klingentor, stadtauswärts zum Parkplatz.
Das war aber nicht das, was Amelie den eigentlichen Schrecken versetzt hatte und sie glauben ließ, der Boden unter ihren Füßen würde ihr weggezogen. Es gab ihr nur zu denken, warum die beiden ausgerechnet das romantische Städtchen für ihren Waffenhandel aussuchten.
Was ihr wirklich einen Schrecken versetzte und durch die Glieder fahren ließ, kam aus der Welt ihrer Ahnen. Die Seelengespielin öffnete sie ihr an diesem Abend einen Spaltbreit. Sie tat es lediglich deshalb, weil Amelie es so haben wollte.
'Seelengespielin', so nannte Amelie die Stadt und betrachtete sie als ihre imaginäre Freundin und hielt Zwiesprache mit ihr. Mit ihren verträumten Eckchen und geheimem Plätzchen ist ihr die Stadt nicht nur zu einem Refugium geworden, sondern auch Trösterin und ersetzte ihr so manches Mal Vater, Mutter und Familie, die Amelie nie gehabt hatte. Doch an diesem Abend öffnete sie ihr den Spalt ziemlich weit. Amelie sollte sich ruhig einmal ordentlich ängstigen. Dafür, weil sie partout nicht wahrhaben wollte, dass ein Geheimnis unverfügbar ist, sondern glaubte, sie könne ihm gewahr werden, es entschlüsseln und durchschauen. Ähnlich wie ein Rätsel.
An Geheimnissen hatte die Stadt einiges aufzubieten. Nicht nur für Amelie. Heute noch mit Bauwerken bestückt aus einer Zeit, als der Aberglaube die Menschen fest im Griff hatte, barg sie Geheimnisse auch für andere. Mit Häuserwänden zum Beispiel, die bewehrt sind mit Dämonen, mit Neidköpfen und Fratzen. Dazu eine Menge Türme mit fragwürdigen Bezeichnungen, die teilweise ebenfalls bewehrt sind, mit so genannten Pechnasen, das gab es noch genauso, wie trotzige Toranlagen und Geschützhöfe, die bis heute noch mit Kanonenrohren versehen sind. Dazu eine geschlossene Stadtmauer mit Wehrgang. All das hatte die Stadt herübergerettet. Damals, als sie ihre Funktion als stolze und freie Reichsstadt verlor. Aus heutiger Sicht stellt sie damit eine Attraktion dar und lockt Besucher an. Nur die Galgen auf der Hinrichtungsstätte hatte sie nicht mit herübergerettet. Damit mochte sie sich nicht rühmen, die wurden, wie schon gesagt, abmontiert. Die Stadt hatte aber nicht nur ihre äußere Erscheinung mit herübergerettet, sondern auch den Geist aus jenen Tagen. Wie die Menschen ein Leben lang die Sorge um ihr Seelenheil umtrieb. Diesen Geist hatte sie gewissermaßen konserviert, um ihn in der unsichtbaren Welt fortleben zu lassen. Für jeden, der nur mit ihm in Berührung kommen wollte. So wie Amelie.
Wenn Amelie sich auf ihren Streifzug begab, nachdem der Nachtwächter und seine Gäste sich aus den Gassen zurückgezogen haben und die Stadt sich wieder selbst gehörte, öffnete sich für sie manchmal die unsichtbare Welt. An diesem Abend tat sie es heftig und nachhaltig. Es sollte eine weitere Mahnung an Amelie sein. Schon vor einiger Zeit sollte es für sie so etwas wie eine Vorwarnung gewesen sein. Eine Vorwarnung dafür, dass man einem Geheimnis, wenn man es denn nur wolle, eben nicht habhaft werden kann. Damals übernachtete Amelie bei Bekannten in einer der Mühlen unten an der Tauber. Dort ereignete sich Folgendes:
Es ging die Sage um vom kopflosen schwarzen Ritter, der als Wiedergänger unterhalb der Stadt nachts sein Unwesen treiben soll. Amelie wusste zum Zeitpunkt, als sie dort unten in der Mühle übernachtete, noch nichts von der Sage. Dem edlen schwarzen Ritter, so ist mündlich überliefert, soll der Kopf abgeschlagen und hernach sein Herz herausgerissen worden sein, wie es bei Strafe des Hochverrats, den er begangen haben soll, damals praktiziert wurde. Bis heute soll seine Seele, die man zu jener Zeit noch im Zentrum des Herzens vermutete, ob dieses Raubes keine Ruhe gefunden haben. Deshalb irre er des Nachts schemenhaft, den abgeschlagenen Kopf unterm Arm, mit seinem getreuen Pferd unten an der Tauber herum und suche nach seinem Herzen. Und zwar genau dort suche er, wo er enthauptet wurde und man es ihm entriss.
Der Platz, wo dieser Ritter in grauer Vorzeit gerichtet worden sein soll heute ein Acker zwischen zwei Mühlengehöften war die erste Hinrichtungsstätte der freien Reichsstadt. So ist es jedenfalls mündlich überliefert. Bis heute wird der Acker „Herzacker“ genannt. Wenn man von oberhalb der Stadt auf den Acker hinunterblickt, erkennt man die Form eines Herzens. Ob er schon immer diese Form hatte oder nachträglich wegen dieser Sage in eine solche gebracht wurde und man ihn deswegen „Herzacker“ nennt, das konnte Amelie nicht in Erfahrung bringen. Wie auch immer es gewesen sein mochte, dieses Stückchen Erde war für sie ein magischer Platz.
Als Amelie nun im besagten Mühlengehöft dort unten übernachtete, kam sie das erste Mal nachhaltig mit etwas in Berührung, das Teil der unsichtbaren Welt war und für Menschen ihrer Herkunft sehr präsent. Amelie hatte zwar bevor sie einschlief einen Krimi gelesen, doch der konnte es nicht gewesen sein, der ihre Fantasie dermaßen in Gang setzte und sie kopflose Ritter sehen ließ. Der Krimi ließ an Wirkung zu wünschen übrig, sodass sie schon bald über die Zeilen einschlief.
Mitten in der Nacht hörte Amelie als sie später auf die Uhr sah, war es kurz nach zwei Hufschläge auf dem Kopfsteinpflaster des Mühlenhofes. Das Fenster ihres Zimmers im ersten Stock war gekippt und ging direkt auf den Hof hinaus. Deutlich waren Hufschläge auf dem Kopfsteinpflaster zu hören. Zuerst dachte sie, dass es das Nachwirken eines Traumes war, den sie vielleicht gehabt hätte. Aber sie konnte sich an keinerlei Traum erinnern. Die Hufschläge holten sie mitten aus dem Schlaf. Amelie setzte sich auf im Bett, schüttelte den Rest Schlaf von sich und horchte in die Nacht hinein.
Da!, kein Zweifel. Es waren Hufschläge, die vom Fenster her zu hören waren, und kein Traum. Hufschläge eines Pferdes, das auf dem Mühlenhof auf und ab zu gehen schien. Amelie wusste aber, dass der Mühlenhof keine Pferde besaß und sich eines eventuell hätte losmachen können und nun im Hof herumtrabte. Ihr kam es sehr merkwürdig vor, mitten in der Nacht Hufgeräusche zu hören. Wieder drangen Hufschläge an ihr Ohr heran, diesmal von näher herkommend, als ob sie sich direkt unter ihrem Fenster befänden. Mal waren sie von ganz nah zu vernehmen, dann wieder von weiter entfernt. So, als wenn jemand den geräumigen Hof auf und ab reiten und dabei jedesmal an ihrem Fenster vorbeikommen würde.
Amelie entschloss sich, einen Blick runter auf den Hof zu werfen, um zu sehen, was das war, obwohl ihr ein wenig mulmig war. Gerade weil ihr bewusst war, dass sie das nicht bloß träumte. Sie ging zum Fenster hinüber und schob den schweren Stoffvorhang ein Stückchen zur Seite und sah hinunter auf den Hof. Der abnehmende Mond warf nur ein fahles Licht ins Hofinnere, sodass sie die Umrisse der Gebäude, die im Geviert den Hof säumten, gerade noch erkennen konnte. Aber sie sah nichts von einem Pferd und einem Reiter, hörte aber nach wie vor Hufgeräusche. Trab, Trab, hallte es im Gleichklang über das Kopfsteinpflaster. Wie vorhin: erst von weiter entfernt, dann kam das Trab, Trab von näher. Amelie streifte sich ihre langen Haare aus dem Gesicht, riss die Augen weit auf, so, als wolle sie durch einen dichten Nebel hindurchblicken und presste dabei fast die Nase auf die Fensterscheibe. Nichts war zu sehen! Außer dem Trab, Trab war nichts zu vernehmen.
Als die Hufschläge wieder direkt unter ihrem Fenster zu hören waren, verstummten sie abrupt, vielleicht für eine halbe Minute. Als hätten sie bemerkt, dass da jemand oben am Fenster stand und den Hof ins Visier nahm. Dann setzten sich die Hufschläge wieder in Bewegung und galoppierten von dannen. In einem fort galoppierten sie und kamen nicht mehr wieder zurück und wurden für Amelie immer weniger vernehmbar. Schließlich verloren sie sich in der Nacht.
Ihr kam das alles sehr merkwürdig vor. Eine Zeit lang blieb sie noch am Fenster stehen. Sie hatte aber auch nicht gesehen, dass jemand davongeritten wäre. Nichts! Nicht mal schemenhaft hatte sie so etwas wie Pferd und Reiter ausmachen können, aber ganz eindeutig Hufschläge gehört, die auf dem Mühlenhof widerhallten. Amelie sah die Tauberhänge hoch, hinauf zur Stadt. Vielleicht würde sie ihr was preisgeben von den sonderbaren Hufschlägen. Aber die Stadt gab sich schlafend, mochte Amelie auch noch so lange zu ihr hinaufschauen.
Eine Weile noch horchte sie in die Nacht hinein, ohne irgendwelche Anhaltspunkte zu bekommen. Das einzige, was sie vernahm, war der abstoßende Schrei eines Käuzchens, der aus dem nahen Wäldchen herüberdrang. Amelie ging zurück in ihr Bett und fragte sich, was das war mit den Hufschlägen, die da so deutlich an ihr Ohr drangen.
Als sie einige Zeit später mehr durch Zufall von der Sage um den schwarzen kopflosen Ritter hörte, rief sie sich diese nächtliche Begebenheit ins Gedächtnis. Sonderbar daran war, dass die Hufschläge nicht weit von dem Platz entfernt zu hören waren, der einst als Hinrichtungsstätte gedient haben soll und jener Ritter dort gerichtet wurde. Grund genug für sie, sich näher mit dem Platz zu befassen, der so viel an Geheimen in sich barg, aber nicht gern was preisgeben wollte darüber.
Schon lange bevor Amelie von der Funktion des Platzes gehört hatte und von der Sage um den schwarzen kopflosen Ritter, zog dieser Flecken Erde rund um den besagten Herzacker sie ungemein an. Doch das hatte zunächst einen ganz erklärbaren Grund. Dieser Flecken Erde dort unten war in eine äußerst reizvoll anmutende Landschaft gebettet, die sich dem Auge des Betrachters als eine Idylle darbietet, die es heute so kein zweites Mal mehr gibt. Die Idylle, die aus ein paar stillgelegten Mühlen, dem alten Kobolzeller Kirchlein und der imposanten Doppelbrücke über dem Flüsslein besteht, sie gab es nur deshalb noch, weil dort unten über Jahrhunderte hinweg nichts, aber auch wirklich gar nichts verändert wurde und so dieser Flecken Erde vom Wandel der Zeit unberührt blieb.
Unterhalb der Stadtmauer, an der Tauberriviera, wo ihre Intuition sie hinlotste, waren Sitzbänke. Auf eine dieser Bänke ließ Amelie sich nieder. Die Spazierwege waren nur spärlich beleuchtet, und die Parkleuchten, die bis eben noch Licht vom Burggarten herunterschickten, inzwischen erloschen. Nur der hell erleuchtete Sternenhimmel nahm der Nacht von ihrer Schwärze.
Amelie saß auf der Bank und zog ihren dünnen Stoffmantel enger um sich, ein wenig fröstelte ihr. Für Mitte September war es aber noch ganz erträglich, um einen Abend draußen zu genießen. Über der Tauber hatten sich vereinzelt Nebelschwaden gebildet, die nun die Hänge hochkrochen und Feuchtigkeit mit sich brachten. Amelie spürte es an ihren Beinen. Hier und da verdeckte ihr eine Wolke, die allmählich von Westen aufkamen, die Sicht auf die Sterne. Sie blieb aber dennoch, lauschte in die Nacht hinein und sah zum Himmel hoch. Noch einmal musste sie an die beiden vermeintlichen Touristen von vorhin denken, die im Schutze der Nacht und versteckt hinter der Stadtmauer ihren Waffendeal aushandelten, was Amelie immer noch nicht so recht in den Kopf wollte. Warum gerade hier?
Vom Burgtorturm oben donnerte die Turmuhr elf Uhr herab und zerstob mit ihrem gewaltigen Glockenschlag die Stille. Und damit auch Amelies weitere Nachsinnen über Waffenhandel und vermeintlichen Touristen. Sie fuhr im ersten Moment richtiggehend zusammen. Bald schon fing sie sich wieder und lauschte weiter in die Nachtstille hinein. Wenn ringsum alles still und leise war, mochte sie es am liebsten. Dann erschloss sich ihr die unwirkliche Welt am ehesten.
Huch!, was war dass denn? Ein sonderbares Geräusch zerstob abermals die Stille. Vom Apfelbaum ein Stück weiter oben hatte sich ein überreifer Apfel vom Ast gelöst und kullerte nun den Hang hinunter. Noch einer purzelte hinterher. Wieder schreckte Amelie auf. Bei Tag hätte sie dem keine große Aufmerksamkeit geschenkt, und schon gar nicht hätte sie ein purzelnder Apfel schrecken können. Vielleicht, wenn ihr danach gewesen wäre, hätte sie ihn aufgelesen, ihn begutachtet, um dann herzhaft hineinzubeißen. Jetzt aber machte die Nacht selbst aus einen Apfel etwas, das Amelie zusammenfahren ließ.
Die Wolken, die im Westen aufzogen, verdeckten ihr die Sicht auf Sterne und Mond allmählich mehr und mehr. Was sie bis eben noch als schwache Umrisse erkennen konnte, verschmolz mit der Nacht. Dass Amelie sich ausgerechnet auf eine Bank niederließ, die ihr einen ungehinderten Blick auf den berüchtigten Herzacker ermöglichte, zumindest bis eben noch, registrierte sie gar nicht. Ebenso wenig, dass sie auf einmal mehr den Acker im Visier hatte als den Sternenhimmel, seinetwegen sie eigentlich hergekommen war. Es schien, als lotste die Seelengespielin sie genau hier her. Genau auf diese Bank, von der aus sie nachhaltig auf sie einwirken konnte. Aber davon sollte sie vorerst nichts bemerken.
Wie gebannt richtete Amelie ihren Blick auf den Herzacker, der ganz still und friedlich dalag. Sie konnte gar nicht mehr anders, als auf die einstige Hinrichtungsstätte zu starren, die heute eben dieses Stück Ackerland war und Herzacker genannt wurde. Selbst wenn sie ihren Blick hätte abwenden wollen, es ging nicht. Zu sehr hatte sie sich mit der Legende um den schwarzen kopflosen Ritter beschäftigt gehabt, der angeblich als Wiedergänger hier sein Unwesen treiben soll. Sogar im Stadtarchiv hatte sie Erkundungen über Platz und einstige Funktion, ob wirklich Hinrichtungen hier unten stattfanden, eingeholt, wenngleich auch nichts darüber zu erfahren war. Auch im Internet hatte sie herumgestöbert, ob sie vielleicht da was in Erfahrung bringen konnte.
Was allmählich die Oberhand über Amelie gewann, war ihre Empfängnis für Okkultes. Die Unterscheidung zwischen Wirklich und Unwirklich schmolz. Die unwirkliche Welt nahm sie in ihre Fänge und öffnete sich ihr Schicht für Schicht. Sehr gezielt, und ohne dass sie Einfluss darauf hätte nehmen können, wurde ihre Wahrnehmung gelenkt. Unsichtbares sollte für Amelies Augen sichtbar werden und Unheimliches entstehen lassen, direkt vor ihren Augen. Nacht und Nebel bewirkten, dass sie es nach und nach mit der Angst zu tun bekam.
Die anfänglich nur über den Fluss dahinziehenden Nebelschwaden hüllten nun den gesamten Talabschnitt ein. Der Hang mit der Weinrebenkultur, der tagsüber so einladend dalag und Spaziergänger anzog, war kaum noch auszumachen. Und auch von den Erlen und dickköpfigen Weiden, die den Acker zur Flussseite hin säumten und sich bis eben noch schwach im Sternenlicht abzeichneten, war nichts mehr zu sehen. Auch sie hatte der Nebel verschwinden lassen. Genau wie auch die Mühlengehöfte und die Kobolzeller Kirche. Selbst die illuminierte Doppelbrücke war nun nicht mehr zu erkennen. Nur noch ein milchiger, schwacher Schein der Strahler, die nichts mehr anzustrahlen vermochten, weil auch über sie der Nebel dominierte. Das ganze Ensemble dort unten am Fluss, tagsüber als jener friedliche Idyll wahrzunehmen, der Amelie so faszinierte, war mit einem Mal verschwunden. Stattdessen drangen Laute nachtaktiver Vögel vom Hang auf der gegenüberliegenden Talseite zu ihr herüber: Käuzchen, Eulen und anderes Nachtgetier, die den friedlichen Idyll vollends verbannten. Ihre unheimlichen Laute klangen abstoßed und furchterregend an ihr Ohr. Der des Käuzchens mit seinem unheilverkündenden Ruf im besonderen Maße.
Doch Amelie blieb. Sie hielt die Augen wie gebannt weiterhin auf den Herzacker gerichtet, den sie nur noch anhand des Wassergeräusches des Flusses orten konnte. Er war nun genauso verschwunden wie alles hier unten.
Je mehr Amelie von der sichtbaren Welt abgeschnitten wurde, die ihr Nacht und Nebel nach und nach völlig entzog, dämmerte ihr, dass sie keineswegs so mir nichts dir nichts hierher gekommen ist, sondern dass ein ganz bestimmter Grund sie hierher lotste. Obwohl sie ein mulmiges Gefühl in sich verspürte, nachdem ringsum alles verschwunden war durch den Nebel, machte sie keine Anstalten, endlich nach Hause zu gehen. Stattdessen schloss sie die Augen, sie sah ja eh nichts mehr, und hielt sie geschlossen weiter wie gebannt auf den Herzacker gerichtet. Das Nebulöse um die Sage mit dem kopflosen schwarzen Ritter, der hier auf grausame Weise gerichtet und bis heute nicht zur Ruhe gekommen sein soll, trieb sie um. Angst und Schauder vermischten sich zu etwas Trotzigem und hielten sie auf der Bank fest und redeten ihr ein, dass es jetzt eh zu spät sei, wegzulaufen.
Dass es so etwas Rohes und Verwildertes gegeben haben soll, wie es dem schwarzen Ritter widerfuhr, man ihm das Herz aus dem Leib riss, das beschäftigte Amelie trotz Angst und Schauder. Oder gerade deshalb. Sie fragte sich, ob es zu jener Zeit nicht so etwas wie Menschenwürde gab. Hatte man von dergleichen nichts gehört, und wenigstens ein klein wenig Mitgefühl? Wo man doch zu der Zeit, als das geschehen haben soll, so was von gottesfürchtig war, dass es schon gar nicht mehr 'fürchtiger' ging.
Durch ihre Besuche im Kriminalmuseum hatte Amelie eine vage Vorstellung, wie es damals um Menschenwürde und Mitgefühl bestellt gewesen sein mochte. Man schien um beides kein großes Aufhebens gemacht zu haben. Jemanden aus jener Zeit befragen zu können, warum man solche Abscheulichkeiten begehen konnte, wie das Herz aus dem Leib reißen, das doch als Sitz der Seele galt und man höllische Angst um sein eigenes Seelenheil hatte, dafür hätte Amelie alles gegeben. Aber keine Menschenseele aus den Tagen, als dies praktiziert wurde, weilte heute noch unter den Lebenden. Nur der ruhelose Geist eines jener Unglückseligen. Wie der schwarze kopflosen Ritter, dem die Seelengespielin nichts anhaben mochte und ihn hinter ihrem alten Gemäuer gewähren ließ, bis heute. Einfach deshalb gewähren ließ, weil er sie dauerte.
Amelie saß da, merkte gar nicht, wie ihr fröstelte und sie ihren Mantel noch enger um sich schlang und starrte in die wabernden Nebelschwaden hinein. Als wenn es da etwas zu sehen gäbe. Das Unheimliche, das eine von Nebel durchdrungene und gänzlich verhüllte Nacht auslösen kann, mit ungewohnt seltsamen Geräuschen noch dazu, hatte Amelie fest im Griff und ließ die Realität Stück für Stück abbröckeln. Aber sie ging auch jetzt noch nicht nach Hause, sondern blieb weiter auf der Bank sitzen, als sei sie dort angewachsen. Es schien, als hätte der Nebel eine lähmende Wirkung auf sie, die sie erstarren ließ und aussehen wie eine zu Stein gewordene Skulptur.
Das schemenhafte Bild des schwarzen Ritters tauchte über der einstigen Hinrichtungsstätte aus den Nebelschwaden auf. Umrisse von Pferd und Reiter schoben sich nach und nach vor ihre Augen und hoben sich immer klarer und deutlicher von den rauchigen Nebelfetzen ab. Eindeutig als Pferd und Reiter erkennbar, hoben sie sich ab. Eindeutig erkennbar auch, dass der Reiter keinen Kopf hatte. Zumindest saß er nicht da, wo er hingehörte. Amelie starrte wie paralysiert auf das Gebilde vor ihr. In ihrer Angst, die sich ihrer nun tatsächlich bemächtigte und sie lähmte, verfluchte sie diesen Drang in ihrem Blut. Diese okkulte Ader in ihr, die sie bedrängte, Dingen nachzuspüren, wovon sie lieber abließ.
Der Erscheinung von Pferd und Reiter über den berüchtigten Herzacker entstieg ein Gesicht und baute sich vor ihr auf. Direkt auf Augenhöhe mit ihr baute es sich auf. Das Gesicht sah gehetzt und ruhelos aus. Für einen flüchtigen Augenblick barg es aber etwas Schmeichelndes in sich, das gleich auch wieder verschwand. Als es mit zorniger Miene begann, Worte zu formen, die für Amelies Ohr Ton annahmen und es ganz dicht vor ihrem Gesicht war, schauderte ihr. Wie von einer Mechanik ausgelöst, wich Amelie in ihrer steifen Sitzhaltung mit dem Kopf nach hinten aus und vernahm Worte aus dem Gesicht vor ihr:
Du solltest mir nicht ständig nachspüren. Ich warne dich, in meine Welt eindringen zu wollen! Sie ist nicht für die Lebenden bestimmt. Es könnte ein böses Ende nehmen!
Kaum hatte es die Worte ausgesprochen, verschwand das Gesicht vor Amelies Augen so schnell wie es gekommen war. Umrisse von Pferd und kopflosen Reiter über den Herzacker setzten sich in Bewegung und verschwanden im Nebel.
Amelie brauchte erst mal einen Cognac, um diese makabere Erscheinung aus ihrem Kopf zu bekommen, als sie sich im Wohnzimmer in den Sessel plumsen ließ. Und Helligkeit brauchte sie. In der ganzen Wohnung sollte es hell sein. Die Erscheinung, die dem berüchtigten Herzacker entstiegen war und Nacht und Nebel zu seinen Verbündeten machte, verfolgte sie bis vor die Haustür. Kein Raum sollte unbeleuchtet bleiben, um dem Bild von neuem Nahrung zu geben. Amelie knipste sämtliche Lichtschalter an. Am liebsten hätte sie jetzt jemand um sich gehabt, um sich in einer vertrauten Atmosphäre zu wissen, die ihr deutlich machte, dass sie sich unter Menschen befindet und nicht unter Gestalten aus dem Totenreich. Oder jemanden angerufen, um von der nebulösen Erscheinung des kopflosen Ritters zu berichten und sich so vielleicht den Schrecken vom Leib geredet. Aber weder hatte sie jemand um sich noch wollte sie mitten in der Nacht jemanden anrufen.
Das war wieder einmal einer jener Momente, in denen Amelie sich eine Familie wünschte und sich selbst bemitleidete, weil sie keine hatte. Weil sie überhaupt niemand hatte! Weil sie als kleines, hilfloses Geschöpf wenige Tage nach ihrer Geburt sich selbst überlassen wurde. Nur wegen ihrer Herkunft! Und wegen dieser nun gejagt wird. Von ruhelosen Geistern, die zu Lebzeiten von ihren Vorfahren in den Tod befördert wurden.
Amelie stellte das Cognacglas auf den Tisch zurück und ließ das mit dem Selbstmitleid lieber sein. Es brachte nichts.
Vielleicht sollte sie Nora anrufen. Sie würde ihr den nächtlichen Anruf nicht übelnehmen, als Nachtmensch, der sie war. Auch wenn sie für Dinge aus unwirklichen Welten gewiss nicht die Richtige war. Aber Nora Goldsmith war ihre Freundin, und einer der wenigen Menschen, den sie hatte. Der Anruf bei ihr würde ihr bestimmt das Gefühl geben, sich unter Menschen zu befinden. Inzwischen war es jedoch halb eins in der Nacht, und deshalb ließ sie es. Sie schrieb ihr stattdessen eine E-Mail, berichtete, was sie soeben erlebt hatte und versuchte auf diese Weise wieder vertrauten Boden unter den Füßen zu gewinnen.
Amelie konnte sich Noras amüsierten Gesichtsausdruck nur zu gut vorstellen, während sie dasaß und die E-Mail las. Ziemlich amüsiert würden ihre Augen über die Zeilen wandern, um zu erfahren, was Amelie da nächtens gesehen haben will. Nora würde sich fragen, wie man heute, wo alles zu beweisen ist dank modernster Wissenschaft und Technik, wie man da überhaupt noch zu so etwas wie Wiedergängern oder kopflosen Rittern einen Bezug haben konnte. Nora Goldsmith, die kühle Strategin und Erfolgsfrau würde ihr einmal mehr raten, sich weniger mit zweifelhaften Gestalten und Geschichten aus dem Totenreich zu befassen und damit ihre Zeit zu vergeuden, sondern sich lieber mehr um ihre Börsengeschäfte zu kümmern und künftig weniger auf nächtliche Geisterjagd zu gehen. Vor allem ihre, Noras Tipps sollte sie mehr befolgen, wenn sie im Wertpapierhandel auch nur annähernd so viel Erfolg haben wollte wie sie.
Nora Goldsmith hatte zu Okkulten und Dingen, die sich in grauer Vorzeit einmal zugetragen haben sollen, ebensogut auch nicht, weil nicht beweisbar, so gut wie keinen Bezug. Als erfolgreiche Börsenanalystin und ein ganz anderer Typ von Frau als Amelie, konnten ihr deren fragwürdige Einblicke in die Vergangenheit gerademal ein: 'L