Die Selbstvergessenen - Anna Palm - E-Book

Die Selbstvergessenen E-Book

Anna Palm

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Beschreibung

Sofia Wilden hat in ihrem Leben schon einige Sünden begangen – und sie nie wirklich bereut. Kein Wunder, dass die 16-Jährige mit der chronisch großen Klappe entsetzt ist, als ihre überforderte Mutter sie auf ein Internat für Problemkinder verbannt. Dort ist Sofia nicht nur von ihrer Zwillingsschwester Mila getrennt, sondern auch das einzige normale Mädchen unter zweihundert wunderschönen, aber seltsam teilnahmslosen Schülern. Schnell rutscht Sofia in die Außenseiterrolle. Und als wäre das nicht schon schlimm genug, beginnt sie bald zu verstehen, dass hinter der schönen Fassade dieser Schule ein hässliches Spiel vor sich geht. Anna Palm ist mit Die Selbstvergessenen ein Roman gelungen, der nicht nur Gänsehaut hinterlässt, sondern auch die Gewissheit, dass erst unsere Fehler Menschen aus uns machen.

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Seitenzahl: 344

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ANNA PALM

DIE SELBSTVERGESSENEN

ROMAN

INHALT

FÜR MEINE FAMILIE, DIE SEIT 17 JAHREN MEINE SCHREIBATTACKEN ERTRÄGT.

FÜR KREUZ-, PIK- UND KARODAME. I LOVE YOU, GIRLS.

UND FÜR ALLE NICHT PERFEKTEN MENSCHEN.

PROLOG

Die Wände sind weiß und steril. Der lange Flur ist fensterlos. Als hätte man Angst, jemand würde in einem plötzlichen Ich-will-hier-raus-Anfall den Abflug machen. Wie in einer geschlossenen Anstalt. Na ja, eigentlich ist »Internat« ja auch nur der Codename für »Anstalt«.

Großartig, Sam, denke ich. Großartig.

Meine lilafarbenen Sneakers sehen auf dem blank geschrubbten Linoleum fehl am Platze aus. Sie hinterlassen schmutzige Spuren. Das gefällt mir, aber an Rache reicht mir das noch lange nicht aus. Die können mich nicht zwingen hierzubleiben. Ich mein, ich bin jung. Fehler gehören zur Jugend dazu.

Es ist menschenleer und die Luft schmeckt nach Desinfektionsmittel. Die hellen Neonröhren blenden. Seitlich von mir hängt ein schlichter Spiegel. Ein Blick genügt. Ich sehe richtig scheiße aus in diesem Licht. Wie eine Wasserleiche.

Ungeduldig trete ich gegen die makellose Wand und starre auf die gegenüberliegende verschlossene Tür. Gleich kommt ein Herr Stauber, der hoffentlich nicht so eine Antiquität ist, wie ich befürchte, setzt sich mir mit Frankenstein-Blick gegenüber und verkündet, Drogen seien auch keine Lösung. Richtig, sie sind ein Feststoff.

Drogenberatung! Ich bin neu an der Schule und als Allererstes geht es zum Pillenpsychologen. Ich check das echt nicht. Mein bisher schlimmstes Vergehen war die Wasserpfeife. Ja, ich bin zwar nicht fromm, würde ich im Beichtstuhl all meine Sünden aufzählen, der Pfarrer könnte in der Zwischenzeit den Jakobsweg einmal hin und zurück laufen. Aber ich bin clean!

Wenn ich es mir recht überlege, vielleicht war es doch schlau, keine Fenster in diesen Gang einzubauen. Das Weiß der Wand schmerzt in meinen Augen. Vor mir sehe ich das Grinsen meines besten Freundes Jasper, den herausfordernden Spott in seinen braunen Augen. Früher hätten wir nach unseren Carhartt-Rucksäcken gegriffen, die bunten Spraydosen ausgekippt und unsere Definition von Kunst an die Wände gesprüht. Grell, bunt, beißend, jeder Buchstabe ein Zeichen an die Erwachsenen, dass sie uns nicht ändern können. An meiner alten Schule war jede Wand knallbunt, ich hatte sogar meine eigene, persönliche Sam-Wand. Und wenn es uns mal an Spraydosen gemangelt hat, dann haben wir uns unsere Eddings gegriffen und die letzten Zentimeter Weiß beschmiert. Ich habe mehr an die Wand geschrieben als in mein Schulheft. Aber diese Wand ist einfach nur weiß. Ohne Farbe und ohne Jas.

Nachdem ich mit dem Pillenpsychologen mein Leben durchgekaut habe, wird mich niemand mehr aufhalten können. Denn Jas ist auch hier. Der einzige Lichtblick in dieser sterilen Anstalt. Wir werden es genauso machen wie früher. Den Älteren das Kölsch klauen, das sie unter der Matratze verstecken, Strichliste über alle Rendezvous führen, die ein bisschen körperlicher wurden, und natürlich sprayen. Jas ist zwei Monate vor mir geflogen und vielleicht ist es Schicksal, dass ich ihm nun gefolgt bin. Persönlich beeinflusstes Schicksal, haha. Wir werden dieses Totenhaus so lange mit Heavy Metal rocken, bis die Leichen wieder aufwachen. Ein zufriedenes Grinsen rutscht mir über die Lippen.

Wie lange braucht Herr Stauber denn noch? Durch die geschlossene Tür dringt ein hässliches Knarzen, als würde jemand mit einem Fingernagel über eine Schultafel kratzen. Kurz darauf poltert etwas.

Ich schaue genervt den Gang hinunter, der aussieht, als ob er niemals endet, und verharre. Ein Mädchen kommt mir entgegen. Oh, das gefällt mir. Dichtes, blondes Haar fällt ihm in sanften Wellen über den Rücken. Ein Hüftschwung – woah. Besser als Shakira. Meine Kinnlade sackt herunter und ich bemühe mich, jeglichen Speichel zu schlucken. Ich mime den Bad Boy und versuche, der Kleinen lässig zuzuzwinkern, aber sie sieht mich nicht an, tut, als wäre ich auch nur ein Stück weiße Wand. Ihre Augen sind von einem träumerischen Blau. So ähnlich wie das Meer auf Malle. Sie lächelt, zuckersüß, Wahnsinn, das kribbelt ja direkt, aber sie lächelt nicht mir zu, sie lächelt die Wand an. Ich räuspere mich. »Hi«, sage ich und stelle entsetzt fest, dass ich rot werde. Ich werde niemals rot! Ich bin noch nicht mal rot geworden, als ich meinem letzten Date nach einem blinden Griff in den Rucksack statt Pralinen Kondome überreicht habe.

Und dann ist sie auch schon wieder weg. Das ist wirklich bitter. Sie hat mich nicht mal wahrgenommen. Dieses Lächeln, dieser Glanz, diese sanften Schritte, dieser Hüftschwung. Sie ist schön. Sie ist so was von schön. In tausend Jahren könnte ich nicht mit ihr zusammenkommen. Sie ist eindeutig zu hot für mich.

Moment, diese Einstellung passt gar nicht zu mir. Ich wundere mich über mich selbst, runzele die Stirn. Was bin ich nur für ein Idiot. Vorsichtig schlucke ich den restlichen Speichel herunter und schlage dann einmal wütend gegen die Wand. »Ich bin kein sentimentaler Softie!«, knurre ich und wünsche mir einen Ausschalter für mein klopfendes Herz. So perfekt. So unglaublich schön.

»Samuel Kristener?«

Ich blinzele.

»Adam Stauber. Du hast heute einen Termin bei mir.«

Krampfhaft konzentriere ich mich auf die Zukunft und schaue dem Typen ins Gesicht. Er trägt eine entsetzliche polierte Eulenbrille und hat einen Schnurrbart. Jas’ Opa hat auch einen und dem klebt immer die Hälfte seines Essens darin. Adam Stauber ist ein Nerd. Jemand, der eigentlich quadratische Augen haben sollte, weil er so viel vor dem Computerbildschirm sitzt. Und trotzdem trägt er einen Hugo-Boss-Anzug und hat makellose Nivea-Haut. Sein Haar ist dicht und dunkel, ich suche nach aschgrauen Strähnen, finde sie aber nicht. Sogar sein Schnurrbart kommt mir irgendwie gestylt vor. Das klingt vielleicht albern, aber ich finde ihn unheimlich.

»Komm rein, Samuel«, sagt er mit sanfter Stimme. Warum redet er so komisch? So ähnlich sprechen die Wahnsinnigen in den Horrorfilmen, bevor sie ihre Opfer zerstückeln.

Ehe ich’s mich versehe, sitze ich auf einem Zahnarztstuhl. Adam Stauber steht lächelnd vor mir, zieht sich einen Lederhocker heran und setzt sich.

»Warum tragen Sie Hugo Boss?«, frage ich und erhalte keine Antwort. »Warum sitze ich auf einem Zahnarztstuhl?« Wieder erhalte ich keine Antwort. »Kann ich aufs Klo?«, versuche ich es, weil ich mich irgendwie abregen muss.

Adam Stauber neigt milde den Kopf. Er sitzt zwar, bewegt sich aber, als würde er tanzen. Ich habe das absurde Gefühl, dass er mich gleich anspringt. In einem panischen Satz fahre ich hoch.

Herr Stauber rollt sachte und fast in Zeitlupe zur Tür und schließt sie mit einem Klicken. »Wie früh hast du angefangen, Drogen zu nehmen, Samuel? War es auf einer Party?«, fragt er.

»Gar nicht. Ich bin clean«, nuschele ich. »Kann ich bitte aufs Klo?«

»Entspann dich, Samuel«, sagt eine andere Stimme und ich drehe mich um.

Oh. Die ist aber schön. Eine dunkelhaarige Frau mit Elfenbeinhaut und breitem Lächeln schiebt mich mit weichen Händen in den Stuhl zurück. »Es ist alles gut«, sagt sie sanft.

Wieso trägt sie einen Arztkittel?, fragt eine leise Stimme in mir.

»Du kannst mich Sandra nennen«, flüstert die schöne Frau. Ihre Hände sind glatt. Glänzend. Getaucht in Discokugellicht.

Tatsächlich blendet mich plötzlich etwas, aber es ist keine Discokugel. Über mir befindet sich eine überdimensionale Neonröhre. Ich kneife erschrocken die Augen zu, zeitgleich sticht mich etwas in den Oberarm.

»Ah«, mache ich. »Ah, mich hat etwas gestochen. Sandra, das tut irgendwie weh.« Ich zwinkere verwirrt.

Sandra und Adam Stauber beugen sich über mich. Die Schränke sind weiß, der Boden ist weiß, die Wände sind weiß, in Gedanken sprühe ich Worte an sie, in Rot, in Blau, in Grün. Warum liege ich hier? Was ist das?

»Ich nehme keine Drogen, ich kiffe nicht mal, ich schwöre«, nuschele ich und versuche, mich zu bewegen, aber meine Arme sind so schwer und plötzlich kribbelt es überall. Bitte, die sollen das Licht ausmachen.

Noch eine Person, sie lächelt, sie schiebt etwas heran, einen seltsamen Apparat. Was ist das, ist das ein Messer, was wollen die schneiden, wollen die mich aufschneiden? Sandra streicht mir über die Wange, sie ist verdammt schön, ich mag ihren Mund und ihre Berührung, die das unerträgliche Kribbeln etwas abschwächt. Das Neonlicht beißt, ich muss gleich heulen, so sehr beißt es.

Und dann ist es plötzlich dunkel.

1. KAPITEL

AUSGESPIELT

»Lebenskunst besteht zu neunzig Prozent aus der Fähigkeit, mit Menschen auszukommen, die man nicht leiden kann.«

SAMUEL GOLDWYN

Er hätte es gern perfekt. Er hat ein genaues Bild im Kopf und erwartet, dass wir eine fantasielose Kopie anfertigen. Die Zeiten, in denen Kreativität und eigene Ideen gefördert wurden, sind wohl eindeutig vorbei – armes Deutschland.

Mit einem falschen Lächeln auf den Lippen rühre ich eine Mischung aus Ocker und Weinrot auf meiner mit Alufolie bedeckten Palette an. Ich werde für Albert Luxemburg eines von zwanzig identischen Bildern malen: ein gelbes Haus, davor ein Weinberg, im Hintergrund ein schlichter grauer Himmel.

Wenn ich vermeiden will, dass Herr Luxemburg mich um die Ecke bringt, darf mein Ocker nicht zu Orange werden und wehe, mein Weinberg besteht nicht nur aus Tupfen.

Fee sitzt mit blassrotem Gesicht vor mir und nagt nervös an ihrer Unterlippe. Maître Luxemburg hat ihr soeben erklärt, sie wäre dabei, ihr Bild zu ruinieren. Sie könne die Weinreben ruhig in diesem Grün malen, solle aber bitte nicht mit einer guten Note rechnen.

»Komm schon, Fee«, flüstere ich aus meinem linken Mundwinkel heraus. »Jemand, der aussieht wie eine Mixtur aus Mafiaboss und Kermit der Frosch schafft es doch nicht, dich zu verunsichern!«

Fee kichert angespannt, ihre blonden hochgesteckten Locken sind zerwühlt und werden nur notdürftig von einem Bleistift gehalten. »Mafia-Kermit?«, raunt sie.

»Aber sicher, Fee, solche Ziegenbärte haben nur die ganz Harten. Glaubst du, der frisiert den mit dem Lockenstab seiner Frau? Glaubst du …«

»Sofia Wilden, ich notiere mir eine mündliche Sechs für die heutige Stunde. Ich scheine den Beginn der Tea Time verpasst zu haben.«

Ich verdrehe die Augen, stütze mein Kinn auf meine linke Hand auf und lächele meinen Kunstlehrer süßlich an. Ich habe schon eine Antwort auf der Zunge, da wird mir plötzlich eine Faust in die Seite gerammt. Vor Erstaunen verschlucke ich mich, ich presse mir die Hand auf den Mund und drehe mich verwirrt zu meiner Zwillingsschwester Mila um, die ihren Pinsel aus der Hand gelegt hat und mich böse anschaut. Ihre Botschaft ist eindeutig: Ich soll die Klappe halten.

Ich deute auf Fee, ziehe die Mundwinkel nach unten, um anzudeuten, dass das ohnehin nicht gerade üppige Selbstbewusstsein unserer Freundin gerade im Begriff ist, sich vollkommen zu verflüchtigen. Dann hebe ich die Arme und klopfe mir in einer ausladenden Geste auf die Brust, um zu zeigen, dass ich sie davor bewahren wollte.

Oh, du Held, spotten Milas Augen, dann wendet sie sich ab, greift nach ihrem Pinsel und malt das gelbe Haus.

Ich will kein gelbes Haus malen. Ich male jetzt ein violettes. Genüsslich drehe ich die Lilatube auf und lächele Albert Luxemburg unverwandt an. Ich hasse diesen Mann. Ich hasse sein nachtblaues Jackett, seinen Ziegenbart, seine dunkelgrauen Augen und seine unnatürlich roten Lippen.

»S, what’s going on?«, nuschelt jemand. Es ist Hannes, der sich seit Neuestem cooler fühlt, wenn er englisch spricht. Er hängt wie ein Schluck Wasser in der Kurve auf seinem Stuhl. Sein Grinsen hinterlässt niedliche Grübchen in seinen Wangen. Wer sagt, dass Milch schön macht, muss davon ausgehen, dass Hannes darin gebadet hat. Aber das ist egal, denn er ist ein typischer I-don’t-care-Penner. Er bricht Herzen, aber Gott sei Dank nicht meines.

Ich hebe meinen in lila Farbe getauchten Pinsel, um Fee zu zeigen, dass ich gleich eine Revolution anzetteln werde. Meine Freundin sieht auf. Ich lächele triumphierend und senke den Pinsel auf die Leinwand. Fee schüttelt wild den Kopf. Er bringt dich um!, warnt ihr Bambiblick.

»Mila Wilden.« Kurz bevor die violette Farbe die Leinwand berührt, verharre ich. Er verwechselt mich mit meiner Schwester – und das, obwohl wir uns bei genauem Hinsehen schon voneinander unterscheiden. Er meint Sofia Wilden.

Ich genieße den Moment. Ich habe schon einen Spruch auf den Lippen und hebe den Kopf, aber Albert Luxemburg steht tatsächlich vor meiner Schwester und guckt höhnisch. Mila erwidert seinen Blick halbwegs gelassen.

Mit einem Mal ist es totenstill. Wie die Aasgeier warten zwanzig Schüler auf die Worte des Kunstlehrers. Ich bin verwirrt. Die durch die Fenster scheinende Hochsommersonne mischt sich mit klebrigem Schweiß und gibt mir das Gefühl, in einem Tropengefängnis zu sitzen.

»Das ist nicht dein Ernst, nicht wahr?«

Mila ist sichtlich unwohl.

»Worum geht es denn?«, fragt sie leise, ihre Stimme ist glatt, aber ihre Ohren färben sich rot. Sie zupft an ihrem mit Farbe bekleckerten Kittel.

»Das fragst du noch, Madame? Hast du die Aufgabenstellung nicht verstanden? Wir gestalten das impressionistische Bild eines Weinbergs und malen nicht mit Fingerfarbe! Ich weiß, dass dir jegliches künstlerisches Talent fehlt, aber könntest du dich nicht wenigstens ein bisschen bemühen? Abkratzen, kratz die ganze Farbe ab! Man muss die Pinselstriche sehen. Weg damit, das lässt mich brechen!«

Die Stille ist allumfassend. Fee ist so nervös, dass sie Schluckauf bekommt. Mila streicht sich langsam und nach Worten ringend das dunkelbraune Haar zurück.

Ich schiebe meinen Stuhl zurück und stehe auf. »Herr Luxemburg, entschuldigen Sie, ich möchte dazu gern etwas sagen, in Ordnung?«

»Sofia …«, setzt Mila an, doch ich schneide ihr das Wort ab.

»Danke schön, Herr Luxemburg. Ich möchte das Gesagte kommentieren. Also erstens finde ich es schade, dass in diesem Kurs jegliche künstlerische Freiheit verloren geht und dass Sie so wenig mit gesellschaftlichen Umgangsformen vertraut sind. Ich finde das moralisch sehr … Okay, tut mir leid, ich habe keine Lust, so zu reden. Sie sind unhöflich und ich denke nicht, dass man sich das in diesem Beruf erlauben kann. Sie müssen brechen? Ich kotz Ihnen gleich vor die Füße! Ach, und wieso sollte ich dich eigentlich noch länger siezen? Du bist doch auch nicht besser, du …«

»Sofia, es reicht!«, zischt Mila.

Nein, das denke ich nicht. »Fehlt dir jegliche Erziehung, weißt du nicht, wie man mit Menschen umgeht? Bist du kein Homo sapiens sapiens? Es tut mir leid, aber man sollte kein Kunstlehrer werden, wenn man grobmotorisch wie ein Affe ist und keinerlei, keinerlei emotionale Intelligenz besitzt und …«

»Sofia!«, nuschelt Hannes.

Ich rede mich richtig in Rage, mir wird heiß, während ich spreche, ich stemme die Hände in die Hüften und hole zu einer Geste aus, die ihm zeigen soll, was für ein Perversling er ist. Mit dem Ellbogen treffe ich Milas mit Apfelschorle gefüllte Glasflasche. Ich versuche noch, sie zu fangen und festzuhalten, aber sie entgleitet mir, fliegt durch die Luft und schlägt mit voller Wucht an die Tafel. Auf meinen Kunstlehrer regnen Scherben. Ich halte die Luft an.

»Das war’s, Sofia Wilden. Du wirst dieses Gebäude nie wieder betreten.«

Albert Luxemburg löst sich aus seiner Starre und will auf mich zulaufen, aber ich bin schneller. Ich werde diesen Raum nicht wie ein getretener Hund verlassen, deswegen renne ich einfach raus.

Auf dem Flur angekommen, frage ich mich, was ich jetzt tun soll. Den Rest des Tages mache ich am besten frei. In meinem Kopf habe ich schon eine nette kleine Vision von Muffins mit weißer Schokolade und Kaffee, natürlich schwarz. Beides viel besser als Kunstunterricht. Da komm ich glatt darüber hinweg, dass mein violettes Haus wohl nur ein Hirngespinst bleiben wird. Und sollte ich doch noch extreme Lust darauf bekommen, sprüh ich es eben an die Hauswand vom Luxemburg.

Mit einem freudigen Lächeln auf dem Gesicht verlasse ich das Schulgelände und laufe fast gegen einen dieser hässlichen Frank-Grimm-Aufsteller. Die ganze Stadt ist mit dem Gesicht dieses Typen zugepflastert. Keine Ahnung, was er macht, auf jeden Fall wird es jede Menge Frauen geben, die ihn heiraten und dann töten wollen. Er ist stinkreich und sponsert alles und jeden. Er hat steile Augenbrauen und schwarzes gelocktes Haar. Seine Augen sind auffällig grün. Ich mag sein strahlendes Lächeln nicht. Auf diesem Plakat wirbt er für eine Partei. Aus Jux kratze ich so lange über seinen Mund, bis der nicht mehr da ist. Tja, irgendwann vergeht einem halt das Lachen.

Kaum habe ich den Gedanken beendet, ertönt passend dazu ein kindliches Wimmern. Ich drehe den Kopf zu allen Seiten. Die Straßen sind weitestgehend leer, gegenüber preist ein Verkäufer Kirschen und Pfirsiche an, auf einer einsamen Parkbank ruht ein lebensmüder Jogger, der wohl kurz davor ist, sich einen Hitzschlag zu holen, und zehntausend Kilometer über mir verziert ein Flugzeug den Himmel mit Kondensstreifen.

Aber das Wimmern kommt von woanders. Ich nähere mich vorsichtig dem dichten dunklen Gestrüpp, das neben dem Schultor wächst, und sehe nun zwei Jungen: der eine vielleicht neun, der andere circa dreizehn.

Der Jüngere der beiden liegt winselnd im Dreck, seine blonden Locken sind schmutzig und sein Fiepen erinnert mich ein bisschen an Fee. Der Ältere steht breitbeinig und süffisant grinsend über ihm und streift sich mit einem provokanten Augenbrauenzucken die Ärmel seines Hemdes hoch. Das weißblonde Haar ist perfekt gescheitelt. Er heißt Moritz Leukamm und ist der Sohn des Direktors. Interessant. Ich verharre regungslos und beobachte die beiden Jungen.

»Du wirst nicht weiter Hockey spielen. Ich bin der Beste und ich bleib auch der Beste. Verstanden?«

Jetzt erkenne ich auch den blond gelockten Jungen, der sich am Boden windet.

Sein Name ist mir unbekannt, aber der Kleine war mehrfach in der Zeitung, weil er wohl Hockey spielt wie ein Gott. Mit neun Jahren hat er Moritz fast überholt.

»Aber …« Der kleine Supersportler versteht nicht ganz.

Moritz bückt sich, packt ihn am Kragen seines roten Shirts und drückt ihn tiefer in den Dreck. »Du sagst deiner Mami, dass …«

Diesen Satz wird er leider nicht mehr beenden können. Ich steuere geradewegs auf den Direktorensohn zu, packe ihn an den Haaren und zerre ihn hinter mir her.

»Aaah, waaas?«, schreit Moritz Leukamm.

»Du mieses kleines Frettchen! Von Neid zerfressen bist du! Kickt man dich von der Bühne? Denkst wohl, dass du ein bisschen Druck machen kannst, und dann bekommste deinen Platz zurück?« Ich schüttele ihn kräftig, während wilde Wut durch meine Adern rast. »Hör zu, du Gleitcremefrisur, du wirst ihm nichts mehr tun! Du glaubst wirklich, du hättest das Recht dazu, aaaber«, ich wedele mit meinem Zeigefinger vor seiner Nase herum, »fail. Ich weiß, dass dein Leben schwer ist. Deine Mutter sieht aus, als wäre sie deine Oma, und dein Vater könnte auch von einem Wildschwein abstammen, trotzdem kann man sich so nicht benehmen, mein Lieber. Und das hier brauchst du auch nicht.«

Ich reiße die silberne ganz nach einer Rolex aussehende Uhr von seinem Handgelenk, hebe langsam die Hand und lasse sie dann auf den Gehweg fallen. Das Glas über dem Ziffernblatt zerspringt. Der Obstverkäufer hebt den Kopf. Ich lächele zuckersüß.

Moritz Leukamm starrt mich an. In seinen blassgrauen Augen stehen die Tränen. Er fällt auf die Knie, sammelt die Einzelteile seiner Uhr ein. Ich bin kurz davor, alles zurückzunehmen, überlege, wieso ich seine Uhr ruinieren musste, da schaut er mit berechnendem Blick auf, streicht sich den Pony aus der Stirn und sagt lächelnd: »Sofia Wilden, nicht? Ich glaube, das war’s für dich. Game over.«

*

Ich werde jetzt nicht länger darüber nachdenken. Dieses feige Kind hat meinen Zorn genauso verdient wie mein Kunstlehrer. Und meine Handlungen sind vollkommen logisch, wenn nicht sogar ehrenwert. Ich komm da schon wieder raus. Ich schaff doch immer alles. Muss ich ja auch – bei der Mutter. Sie ist alleinerziehend, hypersensibel und naiv. Sie weint so oft und heftig, dass die schwarzen Wimperntuschelinien praktisch schon dauerhaft auf ihren Wangen zu sehen sind. Und jede Woche steht ein neuer Idiot vor der Haustür, immer den gleichen Blumenstrauß vom Gemüseladen um die Ecke in der Hand und verkündet, er würde Linda gern kennenlernen und sich auch darüber freuen, Zeit mit Mila und mir zu verbringen. Ich liebe meine Mutter, aber ich bin erwachsener, als sie es je war. Seit frühester Kindheit habe ich alles selbst gemacht: Mit sechs Jahren habe ich mir überlegt, meine Klamotten und Accessoires selbst zu designen, und mir schief und krumm einen Beutel zusammengenäht. Meine Mutter hat mich sage und schreibe drei Wochen damit zur Schule gehen lassen, ohne es zu bemerken. Erst dann fragte sie entgeistert, was das eigentlich sei, was ich da mit mir herumschleppe. Ich gehe einkaufen, ich halte unsere Katze am Leben und ich sortiere die Typen für meine Mum aus. Einer mit ’nem Gemüseladenblumenstrauß kann wohl kaum der Richtige sein. Mila ist Mums Gesprächspartnerin und häufiger auch ihre Psychologin, für Seelenpflege fehlt mir leider die Geduld. Da stell ich meiner Mutter zum Trost lieber ein Nutella-Glas mit Löffel hin.

Gedankenversunken betrete ich mein Lieblingscafé und stelle mich in die Schlange. Als ich einen süßen, schlaksigen Typen mit rotblonden Haaren entdecke, der gerade einen Erdbeermilchshake entgegennimmt, überprüfe ich mein Aussehen rasch in der Vitrinenscheibe. Meine Haare fallen in dunklen Wellen über meine Schultern, mein eines Auge ist blau, das andere grün. Meine Haut ist so weiß wie eh und je. Hannes findet das immer ganz besonders witzig, hält seine gebräunten Hände an meine und verkündet: »Haha, guck mal, Milchschnitte.«

Mein Handy klingelt. Ich ziehe es unwillig aus meiner Hosentasche. »MILA«, leuchtet es mir entgegen und ich drücke auf den grünen Hörer. »Ja, liebste Schwester, what’s up? Halt … warte kurz, ganz kurz.« Ich klemme mir mein Motorola zwischen Ohr und Schulter, nehme Muffin und Kaffee entgegen, bezahle und gehe raus.

»Sofia? Sofia, bist du da?«, höre ich Milas Stimme.

»Komm runter! Bin da«, sage ich seufzend.

»Komm runter?«, fragt Mila, einen selten hysterischen Tonfall in ihrer ansonsten so glatten Stimme. »Bist du irre geworden? Bei aller Liebe, was bildest du dir ein, Sofia? Du kannst unmöglich so mit einem Lehrer sprechen! Grobmotorisch wie ein Affe? Du kotzt ihm gleich vor die Füße? Verdammt, S, das war’s, verstehst du das? Du fliegst!«

Ich sehe mein Handy einen Moment verärgert an und beiße von meinem Muffin ab. »Ich habe dich beschützt, Mila«, sage ich mit vollem Mund.

»Ja, lobenswert, und dann bist du total ausgerastet, so wie immer. Ich liebe dich, Sofia, das weißt du, aber du machst es immer wieder! Mit jedem von Mums Typen, mit jedem Lehrer und manchmal auch einfach nur aus Langeweile! Für wen hältst du dich? Für den Messias, oder was?«

Ich bin relativ baff. Ich habe Mila geholfen und irgendjemand musste dem Luxemburg doch mal das gehässige Maul stopfen. »Mila, wenn niemand was sagt, sag ich halt was. Und deshalb werde ich schon nicht gleich von der Schule fliegen.«

»Du sagst immer was, Sofia, jedes Mal, und damit hast du dir selber deinen Galgen gebastelt. Es tut mir leid, aber du versaust dir alles. Ich wünsch es dir zwar nicht, dass du von der Schule fliegst, aber irgendwie hättest du es auch ein bisschen verdient.«

Vor Überraschung muss ich mich auf die nächstgelegene Bank setzen. »Mila? Geht’s noch? Verdient?«

»Du verstehst nicht, Sofia. Der Luxemburg meint das ernst. Erst recht nach der Attacke mit der Apfelschorle.«

»Das war keine Absicht! Ich wollte ihn nicht treffen!«, protestiere ich. »Und jetzt ruinier mir nicht länger meinen Tag.«

»Warte, S …«, ruft Mila mit heiserer Stimme und dann habe ich sie auch schon weggedrückt. Ich habe mich für sie eingesetzt und jetzt fällt sie mir derart in den Rücken. Ich widerstehe der Versuchung, mein Handy im nächsten Gully zu versenken.

Es vibriert nun. SMS. Nein, ich will sie nicht lesen, ich habe absolut keine Lust … und trotzdem öffne ich sie: »Ich liebe dich trotzdem. Auch wenn’s echt nicht leicht mit dir ist.«

Ich verdrehe die Augen und stecke das Telefon weg, dann mache ich mich auf den Nachhauseweg. Als ob der Luxemburg Ernst machen würde.

*

Ich schließe die Tür mit einem Klicken auf und gehe geradewegs in die Küche. Unsere Wohnung ist halbwegs aufgeräumt, aber überhitzt. Mum hat vergessen, die Heizung abzudrehen. Morgens sei ihr immer so kalt – im Sommer! Fluchend stelle ich das Ding auf null. Auf dem Esstisch stehen noch Erdbeerschnitten von gestern. Ich strecke mich, sodass meine Arme knacken. Nein, ich werde bestimmt nicht fliegen. Bestimmt nicht. Das können die nicht machen. Ich brauch Mila und Fee und Hannes. Ende.

»Hallo, Sofia.« In der Küchentür steht meine Mutter. Ich bin nur fünf Zentimeter größer als sie, muss aber ehrlich sagen, dass ich sie bis jetzt übersehen habe.

»Sorry, Mum, hätte ich dich bemerkt, hätte ich Hi gesagt«, entgegne ich grinsend und pule einen Muffinkrümel aus meinem Mundwinkel. »Pass auf, der Luxemburg wollte Mila so richtig in den Boden stampfen und ich hab’s ihm gegeben. Ich fand, dass …«

»Ich weiß«, sagt meine Mutter und starrt mich an.

»Woher?«, frage ich verwirrt und gleichzeitig verärgert, weil sie meine Show ruiniert hat.

Ihre dunklen Locken sind verwuschelt und sie müsste dringend ihre Brille putzen. »Ich habe soeben einen Anruf vom Direktor erhalten. Er sagt, dass sie deinetwegen eine Schulkonferenz einberufen. Das war’s für dich. Endgültig. Sie wollen, dass du gehst.«

Ich runzele die Stirn und versuche, die Kälte, die sich in meiner Brust ausbreitet, zu ignorieren. »Das stimmt nicht, der Direktor mag mich«, sage ich.

»Nicht, seit du ihn mit einem Wildschwein verglichen hast«, sagt meine Mutter hart. »Ich verstehe es nicht, Sofia. Ich verstehe dich nicht. Warum willst du nur immer und überall im Mittelpunkt stehen und warum suchst du immer Ärger? Warum musst du dich an dem Direktorensohn vergreifen?«

Ich schlucke. Mein Hals ist trocken. »Moritz Leukamm. Ich bring das kleine Miststück um«, zische ich und trete heftig gegen einen Holzstuhl, der quer durch die Küche schlittert.

»Nein, das wirst du garantiert nicht. Du wirst keine Gelegenheit dazu haben«, sagt meine Mutter.

»Mum, ich kann nicht von der Schule fliegen! Das kriegen wir schon wieder hin! Ich brauche meine Freunde. Lass uns bitte mit dem Leukamm reden.«

»Sofia, man will dich da nicht mehr haben. Es sind ja nicht nur dein Kunstlehrer und Moritz Leukamm. Ich erinnere dich an Frau Magenta, die du mit einer Hassrede auf ihr Unterrichtsfach zum Heulen gebracht hast, oder an Carsten, der nicht mehr zur Schule kommen wollte, weil er Angst hatte, dass du ihn fertigmachst, weil er mit Mila Schluss gemacht hat.«

»Wo soll ich denn sonst hin?«, frage ich, während mir trotz der Augusthitze kälter und kälter wird und ich mich unwillkürlich danach sehne, die Heizung wieder aufdrehen zu können.

»Die Schule empfiehlt das Internat Hellenwald.«

Ich verschlucke mich.

Ich muss mich verhört haben. Das meint sie nicht ernst. Das meint sie unmöglich ernst. »Das soll ein Witz sein, oder?«, frage ich und suche hinter den verschmierten Brillengläsern meiner Mutter nach ihrem Blick. »Bitte, Mum, lass das mit den Witzen, das ist nicht deins.«

»Nein, Sofia, Hellenwald ist ein Internat für schwer erziehbare Kinder und genau das Richtige. Die Schule hat einen sehr guten Ruf. Dort haben sie es schon geschafft, Straftäter zu Stipendiaten zu machen. Außerdem hat das Schuljahr gerade erst angefangen, es sollte also kein Problem sein, dich dort unterzubringen.«

»MUM!«, schreie ich. »Hast du sie noch alle? Ich bin doch kein Straftäter!« Ich gehe auf meine Mutter zu, packe sie an den Schultern und schüttele sie. »Hallo? Hallo?«, brülle ich ihr entgegen.

»Hör auf damit.« Meine Mutter stößt mich zurück. »Dein Kunstlehrer hat eine Verletzung, weil du ihn mit einer Glasflasche beworfen hast. Und du hast den Direktorensohn bedroht.«

Ich habe das Gefühl, vor Wut und Hilflosigkeit zu zerspringen. »Ich wollte ihn nicht bewerfen! Und ich hab den kleinen Schisser nicht bedroht!«

»Sofia, vergiss es! Keine weitere Diskussion! Du hast die Uhr von Moritz ruiniert. Sachbeschädigung nennt man das. Komm von deinem hohen Ross runter und pass bloß auf, dass du nicht mit deinem Heiligenschein an die nächste Tür stößt.«

»Mum, weißt du was?«, frage ich hysterisch. »Organisier doch erst mal dein Leben und projizier deine Probleme nicht auf mich. Du gehörst auf dieses Internat, du gehörst in die Anstalt!«

Und dann brennt meine Wange. Überrascht fasse ich mir ans Gesicht. »Du hast mich geschlagen«, stammele ich, schaue auf ihre Hand und ihre vor Wut zitternden Lippen.

»Du wirst nicht hierbleiben, Sofia. Du wirst gehen«, sagt meine Mutter. Nach einer kurzen Weile fällt mir auf, dass ich inzwischen vor Kälte zittere.

*

Mila sitzt vor mir auf meinem Bett. Ich schüttele wieder und wieder den Kopf. »Nein. Das kann nicht sein. Es ist nicht so. Ich werde nicht gehen. Ich werde nicht gehen!«

Mila legt ihre Hände auf meine. »Bitte schrei nicht so!«

»Verstehst du nicht? Mum ist irre geworden! Sie will mich loswerden, dabei ist sie selbst gar nicht überlebensfähig! Internat für Straftäter? Als ob ich eine Mörderin wäre, Mila!«

Mila beißt sich auf die Lippe. Ihre blauen Augen sind traurig und ihr sommersprossiges Gesicht ist blass.

»Weißt du, Sofia, vielleicht musst du ein wenig sanfter sein. Überleg mal, du hast es ihr wirklich nicht leicht gemacht. Ich erinnere dich daran, dass du diesem Leopold seine Blumen ins Gesicht gehauen und gesagt hast, er soll daran ersticken. Oder dass du gedroht hast, den Nachbarsrottweiler auf diesen Nico loszulassen. Oder daran, dass du, als Mum weg war, spontan beschlossen hast, eine Riesenparty zu schmeißen. Salami an der Decke, Kotze in der Badewanne und ein fremdes Pärchen in Mums Bett und …«

»Danke. Ich war auch auf dieser Party!«, fahre ich Mila wütend an.

»Am heftigsten fand ich es ja immer noch, als hier plötzlich die Polizei vor der Tür stand«, beginnt meine Schwester von Neuem und durchbohrt mich mit vorwurfsvollem Blick.

»Fang nicht damit an!«, fauche ich. »Der Typ hat Mum bei ihrem Vorstellungsgespräch erzählt – ich zitiere: ›lebensunfähige Hausfrauen mit dem Scharfsinn einer Weißwurst haben bei uns keinen Platz‹. Nicht, dass ich mich bei ihrem jetzigen Verhalten je wieder für sie einsetzen werde, aber das damals war echt nötig.«

»Ja, ist natürlich total logisch, daraufhin ›Wichser‹ an seine Hauswand zu sprühen und ihm die Autoreifen zu zerschneiden«, spöttelt Mila mit funkelnden Augen.

»Ist ja klar, dass dann direkt Bullen vor der Tür stehen. Nehmen wir statt perversen Stiefvätern lieber 16-jährige Mädchen fest. Und bitte, jetzt hör auf, all meine Sünden aufzuzählen. Auf wessen Seite stehst du eigentlich?«

Mila seufzt leise, rutscht über die Bettdecke zu mir heran und legt mir ihre Arme um den Hals. Ich wehre mich und versuche, sie wegzustoßen, aber sie gibt nicht nach und umarmt mich eisern weiter.

»Auf deiner Seite, Sofia. Ich stehe immer auf deiner Seite. Und ich sage das, weil ich wirklich glaube, dass du so nicht weitermachen kannst. Ich finde es toll von dir, dass du aufstehst, wenn alle anderen sitzen bleiben. Aber du kannst nicht jeden, der sich dir in den Weg stellt, mit dem Morgenstern zu Boden schlagen.«

Ich funkele sie böse an und umschlinge meine Knie, dann starre ich mein altes Beatles-Poster an, festgeheftet mit bunten Reißzwecken, daneben Fotos von Fee, Mila, mir – und Hannes, der gern mit drei Mädchen rumläuft. Jeden Sommer sind wir zusammen am See.

Mila und ich lassen Steinchen springen und Hannes wirft Fee ins Wasser und macht ihr Hoffnungen, die er danach wieder zerstört. Ich habe ein Foto, auf dem er ihr mit einem hinreißenden Lächeln die Lippen auf die linke Wange drückt. Fee sieht dabei unendlich glücklich aus. Mistkerl.

Dann komme ich gedanklich wieder zu meinem Problem zurück. Nämlich, dass Fotos wie diese Vergangenheit sein werden. Und nicht nur das. Sie wollen mich auch von Mila trennen. Von meiner Schwester und allerbesten Freundin. Von der Person, der ich am meisten vertraue. Von der einzigen Person, der ich überhaupt so richtig vertraue. Das geht nicht. Ich werde nicht auf dieses Internat gehen. Den Teufel werde ich tun.

»Sofia, Süße. Wenn du dich ab jetzt top verhältst, vielleicht bist du dann ganz schnell wieder hier. Du musst aufhören, die Rebellin zu spielen, du machst dich selbst kaputt und ich hasse es, dich kaputt zu sehen.«

»Aufgeben, ja?«, frage ich und bemühe mich sehr, nicht zu heulen.

Auf meinem Nachttisch aus Ebenholz steht ein halb volles Wasserglas. Mila versucht, schneller als ich zu sein, muss sich dabei aber über mich beugen. »Sofia!«, stöhnt sie, aber da habe ich schon ausgeholt, das Glas gegriffen und von mir geschleudert. Es zerbricht, Wasser fließt die Wand hinunter.

»Scheiße«, flüstere ich.

Und lasse mich dann von Mila umarmen. Sie macht ein paar beruhigende Laute und schaukelt mich hin und her. Ich komme mir vor wie ein Kleinkind in der Wiege.

»Ich will nicht gehen, Mila«, schluchze ich. »Ich will nicht.«

Nach zwei weiteren Kuschelminuten löse ich mich schwerfällig aus der Umarmung meiner Schwester und konzentriere mich auf die Zukunft. Die sieht verdammt schwarz für mich aus.

»Okay. Internat. Ich werde brav sein. Brav wie die Kinder aus Bullerbü.«

»Bullerbü? Waren die brav?«, fragt Mila leise und streicht mir eine Haarsträhne aus der Stirn. Sie blinzelt.

Ich stocke. Die Augen meiner Schwester glitzern. In ihren Wimpern hängt eine dicke Träne, die sich nun löst und langsam ihre Wange hinunterrollt.

»Nein, bitte nicht, wein nicht, wenn du weinst, dann, dann …« Der Rest des Satzes geht in meinem Schluchzen unter und dann weinen wir beide mein Kissen und meine Bettdecke und danach Milas Kissen und Milas Bettdecke voll.

Unsere Gesichter sind völlig verklebt, wir sehen aus wie Vamp-Waschbären. Aber zu zweit ist das nur halb so schlimm. Ich gehe in Richtung Bad, um mir das Gesicht mit kaltem Wasser zu waschen. Meine Mutter steht mit dem Rücken zur Tür im Wohnzimmer und bügelt.

»Wie kann man nur so unbarmherzig sein?«, stottere ich im Vorbeigehen, aber sie ist vollkommen ungerührt, bügelt einfach weiter auf ihrer fliederfarbenen Bluse herum. Pass bloß auf, dass du unser Haus nicht abfackelst, denke ich und marschiere weiter.

13 TAGE SPÄTER

Es ist wahr. Ich werde nach Hellenwald gehen. Ich werde mit Verbrechern essen. Im wahrsten Sinne ein Krimidinner erleben. Ich atme tief ein und aus, damit ich nicht hyperventiliere. Mein Leben mag nicht perfekt sein, aber es macht mich glücklich. Und jetzt will man es mir wegnehmen.

Morgen geht es los. Ich habe eigentlich nicht vor, mich von meiner Mutter hinfahren zu lassen, ich werde sie nie wieder angucken. Aber leider ist das Internat isoliert und liegt auf einem von Bäumen umgebenen Hügel. Unmöglich mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu erreichen. Mum schickt mich ins Bootcamp. Nicht zu fassen.

Okay, ablenken. Ich muss hier und jetzt leben. Das ist mein letzter Abend, mein letzter Abend mit Mila, Fee und Hannes. Wir werden Cocktails trinken gehen, lachen und das Ganze vergessen, Fees Herz wird glühen, wenn Hannes sie anschaut, und es wird wehtun, wenn er eine andere anschaut. Wir werden tanzen, wir werden genießen, wir werden einfach Freunde sein – so wie bisher.

Ich schlüpfe in mein kurzes, schwarzes Seidenkleid. »Hilf mir mal, Mila!«, rufe ich, eine große Haarklemme im Mund.

Mila schaut auf. Nur ihr linkes Auge ist geschminkt. Sie kommt herüber und zieht den Reißverschluss zu. Ich lächele sie an, so gut es mit Haarklemme zwischen den Lippen geht, und binde mir die Haare zu einem hohen Pferdeschwanz zusammen. Ich kann meine High Heels vor Freude klappern hören. Der letzte Abend. Ich stecke mir die Haarklemme, auf der eine schwarze Stoffrose klebt, in die Haare und drehe mich ein paar Mal.

»Wunderschön, wie immer«, flüstert Mila, während sie ihren Kajalstrich zieht.

»Nicht schöner als du«, sage ich mit einem Zwinkern.

Mila trägt ebenfalls ein Kleid, allerdings in einem Nude-Ton und mit Ballonschnitt. Sie hat sich wunderschöne Ringellöckchen gedreht.

»Sei nicht albern, wir sehen uns verdammt ähnlich!«, sagt Mila und streckt mir die Zunge raus.

»Nö, ich seh immer aus wie grün und blau geschlagen«, schmunzele ich.

»Ich liebe deine Augen. Das ist so krass schön und so selten. Jadegrün und eisblau. Wahnsinn, ich seh mich nie satt dran. Warum sind wir eigentlich nicht eineiige Zwillinge, dann hätte ich die auch?«

»Komm runter, du würdest auch nicht immer angeguckt werden wollen, als wärst du das letzte Exemplar einer aussterbenden Tierart«, sage ich.

Mila grinst. Ich schnappe mir mein Lacktäschchen und wir machen uns auf den Weg. Zum letzten Abend unter guten Freunden.

*

Hannes, Fee, Mila und ich sitzen in der Bar, alle einen Cocktail vor uns. Ich hab irgendwas mit Kokosnuss und sehr viel Sahne, wirklich nichts für die schlanke Linie. Aber ich werde aus Protest eh nichts mehr essen, sobald ich in Hellenwald bin.

»Wie wär’s mit ’nem Schuss Rum?«, fragt Hannes und schenkt mir sein smartestes Lächeln.

Spar’s dir für Fee auf, denke ich. »Ich hab noch nie Rum getrunken«, erwidere ich.

»Hast du denn schon mal rumgemacht?«, fragt Hannes.

Ich überlege kurz, wieso ich Alkohol produzieren sollte, erst dann verstehe ich sein Wortspiel. »Oha, Hannes, ist der schlecht!«, rufe ich lauthals prustend und boxe ihm gegen die Schulter.

»Warum lachst du dann?«, entgegnet er schmunzelnd.

»Weil deine Witze immer so schlecht sind, dass man lachen muss.«

Ich werde meinen Lieblingspenner ganz schön vermissen.

Mila schüttelt grinsend den Kopf, nur Fee sitzt ungerührt in ihrem selbst genähten Kleidchen mit Borte auf ihrem Höckerchen. Bestimmt geht sie gleich aufs Klo, hört It is what it is von Lifehouse und versucht zu akzeptieren, dass Hannes sich niemals ändern wird. Ich schaue Fee in die Rehaugen und schüttele unauffällig den Kopf. Ihre Augen werden groß, aber nur für eine Zehntelsekunde, dann versucht sie, die Verwirrte zu mimen und legt ihre Elfenbeinstirn in Falten. Aber ich weiß, dass sie genau weiß, was ich meine.

»Du wirst auch keinen Rum trinken, Sofia«, greift Mila das Thema wieder auf. »Alkohol verzehnfacht deine Launen nur.«

»Danke, Mama«, sage ich fade grinsend. Ich muss schon zugeben, dass eine Lotta aus der Krachmacherstraße hier jetzt nicht so angebracht wäre.

»Du siehst heut Abend toll aus«, sagt Hannes zu Fee und ihre Gefühle zeigen sich in einem Zehntelsekundenstrahlen auf ihren Lippen. Dann wird sie von hinten angeschubst und verzieht unwillig das Gesicht. »Aua!«, beschwert sie sich.

Ich recke den Hals. »Hey, du hast ihr wehgetan, entschuldige dich gefälligst …«

Meine Worte gehen in ersticktes Murmeln über, weil Mila mir blitzschnell ihre Handfläche auf den Mund presst.

»Ganz sicher nicht, S«, sagt sie. »Lass uns nach Hause gehen. Du musst morgen früh raus.«

Ich stehe unwillig auf, wende mich Fee zu und umarme sie. Sie riecht nach Veilchenparfüm. Danach umarme ich auch Hannes.

»Bye bye, best friend«, raunt er supercool in mein Ohr.

»Spiel nicht mit ihr«, erwidere ich. »Ich werd dich vermissen.«

»Hä? Spielen?«, sagt Hannes mit fragendem Blick.

Ich lächele ihm zu. Dann gehen Mila und ich in Richtung Tür.

»Ich versteh dich nicht …«, höre ich Fee hinter mir. Oha. Mutig. Der Anfang eines klärenden Gesprächs?

»Ich hab doch gar nix gesagt«, entgegnet Hannes ihr verwirrt.

»Jeeesus«, rufe ich aus und verdrehe die Augen – synchron mit meiner Schwester.

Das hier war bis jetzt mein Leben.

2. KAPITEL

HOFFNUNGSVOLL

»Did you think I’d crumble? Did you think I’d lay down and die? No, not I, I will survive.«

I WILL SURVIVE – GLORIA GAYNOR

Hellenwald holt Ihre Kinder zurück auf den richtigen Weg und formt sie zu vorbildlichen jungen Erwachsenen. ›Ich bin so froh, diese Schule zu besuchen‹, sagt Elena Klee, vor zwei Jahren noch Crystal-abhängig und ohne Zukunft. Nach ihrem Abitur im kommenden Jahr will sie in Heidelberg Medizin studieren und ihr Engagement in Sachen Umweltschutz ausweiten.

Überzeugen Sie sich selbst. Hellenwald trennt Ihre Kinder von jeglichen schädlichen Einflüssen, lässt sie gefährliche Angewohnheiten überdenken und bietet qualifizierten Unterricht, unter anderem mit dem Naturkundeprofessor Dr. Friedhelm Jason. Sie denken, Ihr Kind sei bereits verloren? – Hellenwald ist seine Chance.«

»Also eins weiß ich: Die sind verdammt gut mit Photoshop«, stöhne ich und klatsche Mila das glänzende Prospekt auf die Oberschenkel.

Das gesamte Heftchen sieht aus, als wäre es mit Zuckerguss überzogen worden. Auf einem hellgrünen Hügel thront ein burgähnliches Gebäude. Über dem Eingang steht in goldenen Lettern: »Hellenwald – die Chance«.

»Nicht zu fassen«, sage ich. »Wie in so einem ekelhaften Songtext. Your last chance.« Ich greife mir an die Brust.

Die Burg ist weiß gestrichen, so weiß, dass sie fast durchsichtig ist. Ein drei Meter hoher Stacheldrahtzaun umgibt sie, will man hinein, muss man durch ein imposantes schwarzes Eisentor. Vor dem Haus hat man Blumenbeete angelegt mit großen, hellgoldenen und blassrosafarbenen Rosen. Ich muss ganz ehrlich sagen, die Rosen sehen aus, als wären sie ins Bild reinkopiert worden. Hellenwald ist abartig. Das weiß ich jetzt schon. Genauso gut könnten sie mich nach Alcatraz schicken.

»Guck sie dir doch mal an!«, zische ich und deute auf Elena Klee. Ein brünettes Mädchen mit karamellfarbener, makelloser Haut und Samtkostüm. Spöttisch zeigte ich auf Elenas dunkelblaue Manga-Augen. »Photoshop. In echt ist der Schwan sicherlich ein hässliches Entlein.«

Mila schweigt seit einer halben Stunde eisern und starrt aus dem Fenster. Die Bäume rasen als Schatten am Auto vorbei. Vorne sitzt meine Mutter, aber mit der rede ich nie wieder. Ich balle die Fäuste und knirsche mit den Zähnen. Passenderweise läuft im Radio Take me home.

»Tja, ich würde auch gern zurück nach Hause«, fauche ich den Vordersitz an.

»Komm schon, S, wirst du dessen nicht langsam müde?«, fragt Mila leise.

»Nein, ich mag Sarkasmus, ist meine Muttersprache«, erwidere ich süßlich und drücke meine Knie gegen den Vordersitz und damit in den Rücken meiner Mutter.

»Sofia!«, keift sie.

»Mach dir bloß keine Sorgen, Mutter, auf der Rückfahrt ist mein Sitz leer«, sage ich mit einem eiskalten Lächeln. Den Tritt hat sie eindeutig verdient.

*

Mila zieht mich weg von unserer Mutter und ins dunkle Unterholz. Schließlich bleibt sie stehen und sieht mir in die Augen.

»Hauen wir jetzt ab?«, frage ich strahlend.