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Ellens Leben ist eine fiese, fette Gemeinheit und irgendeine höhere Macht hat da die Finger im Spiel - davon ist die Zehntklässerin überzeugt: Nachdem ihr Schwarm Bo sie beim ersten Date versetzt hat, nimmt sie sich fest vor, ihn für immer aus ihrem Leben zu streichen. Doch als sie ihn nach den Ferien wiedersieht, ist schnell klar: Daraus wird nichts. Ellen ist wie eh und je in den Draufgänger verknallt und ziemlich schlecht darin, es zu verbergen. Nicht zuletzt deshalb, weil ihr eigenwilliges Herz ihr immer einen Knoten in der Zunge beschert, sobald Bo in ihrer Nähe ist. Auch ihre beste Freundin Neele kann nicht verhindern, dass Ellen von einem Fettnäpfchen ins nächste stolpert und zwar - im wahrsten Sinne des Wortes - mit Vollkaracho: Denn Ellen hat ihren Klassenkameraden nicht nur ein Übermaß an Tollpatschigkeit voraus, plötzlich übertrifft die 15-Jährige sie auch in Sachen Tempo und Reaktionsfähigkeit. Und zusehends schärfen sich ebenso ihre Sinne. Was das zu bedeuten hat, beginnt Ellen allerdings erst zu verstehen, als sie der rätselhaften Helena begegnet. Zum ersten Mal fühlt sie sich völlig verstanden und das hat seinen Grund: Denn Ellen ist ein Schutzengel wie Helena auch. Und als solcher hat sie eine Aufgabe: Leben retten. Dumm nur, dass Ellen sich ab sofort allein um Bo kümmern soll. Charmant und nachdenklich erzählt Anna Palm die Geschichte eines Mädchens, das über Nacht zur Heldin wird. Ellen, Schutzengel ist ein erfrischender Roman über das Erwachsenwerden, Verantwortungsbewusstsein und die Tücken der ersten Liebe - eine Prise Magie inklusive. Bis zu ihrem 16. Geburtstag dachte Ellen, sie wäre eine Elfe. Doch damit lag das verträumte Mädchen gehörig daneben. Denn nach ihrem 16. Geburtstag weiß sie: Sie ist ein Schutzengel. Und als solcher soll sie sich künftig ausgerechnet um ihren Schwarm Bo kümmern. Doch ist sie der Verantwortung überhaupt gewachsen? Und wie soll sie damit umgehen, dass sie plötzlich für den Jungen sorgen muss, der ihr das Herz gebrochen hat? Anna Palm, Jahrgang 1995, ist ein himmlisch humorvolles Debüt gelungen: die Geschichte eines unsicheren Mädchens, dem ganz plötzlich Flügel wachsen. 'Als ich endlich am Theater bin, stürze ich die hohen Stufen hinauf. Schon wieder komme ich erst, wenn alle schon da sind. Und diesmal bin ich auch noch ungekämmt und ungeschminkt. Ich drücke die Türklinke hinunter. Unsicher tapse ich ins Foyer, lasse meinen Blick über Plakate schweifen. Am Empfang steht eine Frau mit Dauerwelle. Ich stammele etwas von Wilhelm Tell, wedele mit der Eintrittskarte und grinse blöde. Die Frau mustert mich und hebt eine Braue. Ich mag es nicht, wenn Leute so gucken. Schließlich zeigt sie mir, wo ich langgehen muss. Ich stemme mich mit meinem ganzen Gewicht gegen die Tür - ist. die. schwer - und stolpere in den Saal. Alle schauen mich an. Ich suche den Saal nach meinen Klassenkameraden ab. Wo sind die denn? ›Hey, Mami, die find ich noch besser als den, der die Äpfel erschießt!‹, höre ich ein Kind neben mir sagen. Ich kämpfe mich durch die Reihen und die Menschen raunen. Da drüben ist Frau Finn. Und ja, Neele, Katja, Mick, Bo sind auch da - zum Glück. Inzwischen haben die meisten wohl verstanden, dass ich kein ins Stück eingebauter Witz bin, trotzdem starren sie mich weiterhin an. Nicht mehr freudig-überrascht, sondern entsetzlich irritiert. Die Ersten kichern. Was ist los? Nur, weil ich meine Haare nicht gemacht habe? Neben Neele ist ein freier Platz, ich setze mich. Die Schauspieler werden nervös, das Publikum konzentriert sich nicht mehr. Mir wird unerträglich heiß und ich beiße mir auf die Unterlippe. Katja flüstert ihrer Freundin etwas ins Ohr, Bo und Mick grinsen mich breit an. Das können doch nicht nur meine Haare sein! Ich habe sie notdürftig mit den Fingern durchgekämmt, und nur weil ich mal keine Bürste und kein Spray benutzt habe. Allmählich überrollt mich eine Panikwelle. Vorn stehen zwei Frauen auf und recken die Hälse. Ich verstehe die Welt nicht mehr. Neele bearbeitet meine Hüfte mit ihrem Ellbogen. ›Ellen, was hast du an?‹, murmelt sie. Ich sehe an mir herunter - und erstarre: Chucks, graue Jeans und. mein Pyjamaoberteil.' Anna Palm
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Seitenzahl: 492
Anna Palm
Das Wesentliche kann man nicht sehen«, sagt mein Physiklehrer. Und er liegt absolut richtig. Auch wenn er wahrscheinlich Atome und Moleküle meint, die er seiner Ehefrau zweifellos vorzieht und mit denen er bestimmt ganz gern mal ein nettes Gespräch führt. »Na, Chlorid-Ion, heute schon den Sauerstoff getroffen?« Nicht, dass mich das auch nur im Geringsten interessiert. Als wenn ich mein Physikbuch anrühren würde, haha.
Aber manche dieser Sätze von Herrn Emmling gefallen mir. »Das Wesentliche kann man nicht sehen.« Das stimmt. Nicht nur für Atome und Moleküle. Bezieht man das Ganze auf mein Leben, trifft es ebenfalls zu: Ich weiß vielleicht, welches T-Shirt der eine am liebsten trägt, oder dass der Nächste sich mittwochs in der großen Pause Lasagne kauft oder dass Madame immer auf Zehenspitzen geht, um ihre tänzerische Ausstrahlung zu unterstreichen. Aber ich weiß nicht, was meine Klassenkameraden lieben, woran sie abends im Bett denken, was sie vermissen, wofür sie eine Schwäche haben, was ihnen wehtut und welche Dinge sie ewig vor Augen haben.
Ich seufze und streiche mir den blonden Pony aus der Stirn. Der Raum ist von einem billigen Aftershave erfüllt. Wahrscheinlich Micks. Ich rieche es ganz deutlich. Ein Aftershave von Playboy, wenn ich mich nicht irre. Zitrone, Limette, oder so. Zitrone und männlicher Schweiß. Na ja, ich weiß nicht, ob Mick wirklich männlich ist. Er ist eigentlich noch ein kleiner Junge. Und er wird gerade aus seinen Gedanken herausgerissen – falls er denken kann.
»Mick, Definition von einem Mol!«, blafft Herr Emmling.
»Mol?« Es piepst. »Mol?«
»Her mit deinem Game Boy! Abgeben! Sofort!«
»Das ist ein iPod«, sagt Mick beleidigt und alle lachen. Er steht auf und drückt unserem Physiklehrer das Ding in die Hand, für das er seine Seele eintauschen würde.
Ich schalte derweil ab. Neele liegt neben mir auf dem Tisch und schlummert vor sich hin. Ab und zu flattern ihre schwarzen Wimpern. Sie hat ihre Arme zu einem Kissen gefaltet und träumt bestimmt von Südseeinseln, gebräunten Surfern, Tauchermissionen, Korallen und ... Halt, davon würde ich träumen. Ich würde jetzt auch echt gern schlafen und der stickigen Dschungelhitze und dem ganzen Formelscheiß entfliehen, aber leider sitzt keiner so vor mir, dass er mich verdeckt. Neele ist hinter den breiten Schultern des Jungen vor ihr völlig unsichtbar. Finde ich nicht fair. Ich male ein paar Rosen auf den Rand meines Heftes. Blatt für Blatt für Blatt.
»Warum verschwindest du nicht einfach in einem Märchenbuch?«, knurrt Katja, die auf der anderen Seite neben mir sitzt und mich hasst. Wieso auch immer.
Ich blicke auf und sehe sie an, merke, wie meine Wangen ganz rot werden. Ich kann es nicht leiden, wenn mich jemand provoziert. Katjas goldgrüne Augen sind stechend und erwartungsvoll, leicht spöttisch, da sie mich schon verloren glaubt. Nur weil ich noch träume. Dumme Zicke.
»Ja, warum eigentlich nicht?«, murmele ich. »Dann nehme ich alle mit und du musst allein hier bleiben und darfst keine Feen sehen.«
Katja verzieht etwas irritiert die Brauen. »Hör auf, von deinem Happy End zu träumen. Es gibt keine Prinzen. Jungs kommen in der Realität nicht auf Pferden angeritten und stehen auch nicht auf Mädchen, die nicht mal über eine gewöhnliche Verkaufstheke gucken können. Gartenzwerg!«
Ich setze zu einer Antwort an und fange prompt an zu stottern. Denn ja, ich träume leider von einem Happy End und meinem Superman, genauso wie von Weltfrieden und Sonnenschein. Ich bin hoffnungslos romantisch, verpeilt, nachdenklich und absolut gefangen in meinem chaotischen Leben. Und ich benötige jetzt dringend eine schlagfertige Antwort. Hallo?!
»Du … ich …«, stammele ich.
Neben mir seufzt Neele leise und hebt den Kopf von ihren Armen. Ihre braunen Murmelaugen funkeln, ihr Haar ist zerzaust. »Katja? Jungs stehen aber auch nicht auf Mädchen, denen mit rotem Lippenstift ›Nimm mich‹ auf der Stirn steht. Wisch dir mal das Rouge ab. Du hast ’nen halben Schlecker im Gesicht. Sieht aus, als hättest du einen Megasonnenbrand. Und lass Ellen in Ruhe … ach ja, und hör auf, die ganze Zeit deinen Busen zurechtzurücken, ich seh das, okay? Glaub bloß nicht, niemand würde das bemerken. Ich beobachte dich.«
»Leck mich, kann Ellen nicht selbst reden?«, faucht Katja so laut, dass unser Physiklehrer auf uns aufmerksam wird.
Neele stützt ihr Gesicht auf ihren Händen auf und verzieht dabei genervt die Mundwinkel. Katja schlägt ihre Beine übereinander, hebt das Kinn und funkelt mich an. Sie kratzt mit ihren langen, rot lackierten Nägeln über die Tischplatte.
»Bo steht garantiert nicht auf dich!«, zischt sie mir zu.
»Boris steckt jetzt seinen iPod weg, auf den er sicherlich am meisten steht, und Katja und Ellen hören auf, darüber zu diskutieren, wen von ihnen er lieber mag.« Das war mal eine Ansage, Herr Physiklehrer.
Flammend rotes Blut schießt mir in den Kopf. »Ich hab seinen Namen gar nicht erwähnt!«, protestiere ich mit kratziger Stimme und vermeide es, Bo anzusehen. Bo. Den Jungen, wegen dem ich über allerhand Mist nachdenke und wegen dem ich gerade rot bin. Bo, dessen Gedanken ich gern lesen können würde, weil ich ihn einfach nicht verstehe und nie verstanden habe. Er ist ein großkotziger, oberflächlicher und gut aussehender Macho. Er hat immer ins Gesicht gekämmtes Haar und immer teure Skaterschuhe und immer grinst er. Er ist nie traurig und hat nie Angst und braucht nie etwas. Wahrscheinlich ist ihm alles egal. Es kümmert ihn nicht, kratzt ihn nicht, hat ihn noch nie gekratzt. Er ist lustig und laut und kann auch ungeheuer charmant sein, aber er braucht mich nicht. Er braucht niemanden. Und ich weiß nie, was er denkt. Diese Tatsache macht mich wahnsinnig. Aber wenn er dann so süß lächelt, dann weiß ich, wieso ich in ihn verliebt war. Und wenn er zwinkert – ich kann nicht zwinkern, bei mir sieht das so aus, als hätte ich ein Insekt im Auge –, dann ist es wirklich filmreif. Außerdem kann er unheimlich gut trösten und er ist einer der wenigen, die mehr sagen, wenn sie schweigen. Denn sobald er den Mund aufmacht, ist er ein Idiot. Und dann hasse ich mich für all das, was passiert ist, und könnte mich so darüber aufregen, was er alles bringt: über jeden arroganten Satz, jede Prügelei, die er anzettelt, jede fiese Dissattacke. Dann könnte ich wirklich gegen einen der Klitschko-Brüder antreten und würde siegen. So wütend macht mich dieses Getue. Ist Bo ein Stein? Eine Mauer? Menschen haben Gefühle, müssen sie haben. Ich habe besonders viele, besonders verletzliche, besonders bescheuerte Gefühle.
Auf meinen Ohren kann man inzwischen Spiegeleier braten. Ich konzentriere mich auf Neeles baumelnden Perlenohrring und warte darauf, dass Herr Emmling wieder zum Unterricht übergeht. Ruft ihn, geehrte Atome! Die Perlen von Neeles Ohren wackeln durch die Brise, die durch das leicht geöffnete Fenster hereinweht … und alle glauben, dass ich auf Bo stehe, verdammte Scheiße. Sie glauben, dass ich will, dass er mich mag. Ich verkrampfe mich und kralle mir die Nägel ins Fleisch. Nie im Leben würde ich auf Bo stehen. Doch nicht auf den. Nein, du bist ihm nur ein ganzes Jahr hinterhergelaufen, flüstert mir meine innere Stimme zu. Aber ich hatte meine Gründe, antworte ich ihr. Welches Mädchen würde sich nicht in den Bo verlieben, in den ich mich damals verliebt habe? Ich erinnere mich an verregnete Tage mit seinem Pullover auf meiner Haut. Ich erinnere mich an eine verqualmte Party, von der er mich nach Hause brachte. Ich erinnere mich an die Szene auf dem Schulhof, als er mich vor einem Typen beschützte, der mir ein bisschen zu sehr auf die Pelle rückte. Noch viel mehr erinnere ich mich daran, wie es ist, mit ihm zu lachen. An unseren Austausch von Blicken, an Berührungen, von denen ich nicht weiß, ob sie gezielt oder zufällig waren. An meinen Geburtstag, an dem er mich so fest in die Arme nahm. Und an diesen Tag im Oktober, an dem … stopp! Schluss damit.
Ich blicke reflexartig auf und sehe in sein hübsches Gesicht: gleichmäßig goldbraun gebrannt, ein weiß blitzendes Lachen und überirdisch leuchtende Augen, kobaltblau, glitzernd, als hätte man ihm Saphire ins Gesicht gesetzt. Er betrachtet mich. Ganz kurz. So kurz, dass es Zufall sein könnte. Oder ist es doch Absicht? Schließlich verziehen sich seine Mundwinkel zu dem üblichen spöttischen Grinsen und ich könnte ihn k.o. hauen. Kann ich aber nicht, Leute k.o. hauen.
Herr Emmling greift Demokrits These auf und ich würde am liebsten einen Freudentanz machen, weil ich der peinlichen Situation entfliehen kann und sich alle wieder dem Unterricht zuwenden. Aus dem Augenwinkel blinzele ich zu Bo rüber. Ich will ihm das Grinsen aus dem Gesicht wischen. Los, mach es weg, mach es weg. Sein bester Freund Mick, den man am besten damit beschreibt, dass er gern mit seinen winzigen Bauchmuskeln angibt und mindestens zehn Tuben Gel auf dem Kopf hat, lacht mich aus, glaube ich. Ich muss eiskalt sein. Eiskalt.
Ich bin aber nicht eiskalt. Ich denke über die letzte Scheiße nach, wie, dass man das Wesentliche nicht sieht, und habe einen übersteigerten Hang zu Ehrlichkeit und liebevollem Miteinander. Neele betitelt mich liebend gern als »harmoniesüchtigen Pfannkuchen«. Wieso Pfannkuchen weiß sie auch nicht, aber der Ausdruck gefällt ihr.
Ich fixiere ihn weiterhin. Bo scheint zu überlegen, den iPod abermals herauszuziehen und irgendwelche Figuren abzuballern. Dann fängt er aber doch lieber an, seinen Kugelschreiber in Einzelteile zu zerlegen.
Immer noch das dumme Grinsen im Mundwinkel … Aber warum gucke ich da überhaupt hin? Er ist nur ein entsetzlicher Idiot, verdammt. Er ist kein perfekter Gentleman, es ist nur ein Traumbild, ich muss mich zusammenreißen!
Schon ist der Kugelschreiber wieder eins und Bo rammt die Spitze höhnisch grinsend dem Jungen vor ihm in den Nacken. Wie asozial ist das denn bitte? Glaubt er, in seiner fiktiven iPod-Welt gelandet zu sein? Der vor ihm lacht nur und versucht, ihm mit der Faust auf die Nase zu hauen. Mick bewirft das Opfer derweil mit Knopperspapierchen. Ich drehe mich schwungvoll zu Neele herum und knalle Katja dabei meinen Ellbogen ans Brustbein. Das war keine Absicht. Mehr oder weniger.
»Pass mal auf mit deinen Gliedmaßen, Mann! Nur weil du denkst, dass du eine Elfe bist …!«
Ich ignoriere sie und fauche in Neeles Richtung: »Sag mal, weißt du eigentlich, wie sehr ich Bo verabscheue? Das tut doch total weh, jemandem einen Kugelschreiber so in den Nacken zu rammen. Stell dir vor, der verletzt sich! Vielleicht hätte der da ein Loch. Vielleicht würde er keine Luft mehr kriegen.«
Neele sieht mich etwas verdutzt an.
Der, der den Kuli abgekriegt hat und den Namen Justus trägt, dreht sich zu mir um. »Süß, dass du dich so sorgst, Schlumpf.«
Scheiße. War ich so laut? Ich halte entsetzt die Luft an und sehe mich um. Jedes Paar Augen in diesem Raum starrt mich an.
Neele räuspert sich. »Das ist natürlich nicht nett, Ellen. Herr Emmling wird Bo bestimmt zur Rechenschaft ziehen.«
Oh nein, oh nein. Ich versinke im Boden. Ich komme nie wieder zurück. Wo ist die Rakete? Ich siedele auf die Venus um. Da müsste es keine Typen geben, die mich zur Verzweiflung bringen.
»Ellen, möchtest du mit Justus in den Arztraum gehen? Oder möchtest du Boris anzeigen?«, fragt Herr Emmling.
Ich hasse meinen Physiklehrer. Ich möchte sterben. Erschießen Sie mich. Sicher, dass man mit einem Kugelschreiber niemanden umbringen kann? Ob Neele mir den Gefallen tun würde?
Diese holt Luft und setzt sich aufrecht hin. »Was soll das, wollen Sie Ellen bloßstellen? Jetzt machen Sie schon weiter mit dem Unterricht.«
»Versprichst du mir, im wachen Zustand unter uns zu weilen?« Herr Emmling ist leider nicht dumm. Neele wird nicht rot. Neele wird nie rot.
»Wenn Sie es interessanter machen, ist das ein Deal.«
Überraschtes Gemurmel. Neele muss daraufhin an die Tafel, aber trotzdem meine ich irgendwo in meinem Nebel der Scham zu sehen, wie Herr Emmling grinst. Und ich kann Bo und Mick deutlich hören.
»Du wirst von einem Schlumpf gehasst. Das bringt Unglück«, grunzt Mick.
»Ich find’s witzig«, sagt Bo nur.
Ich werde ihn nie wieder ansehen. Und Katja fühlt sich wie eine Königin. Neben die Definition von »Arroganz« im Wörterbuch könnte man ein Foto ihres herablassenden Lächelns kleben. Es ist herablassend, weil ich mich mal wieder grottenpeinlich gemacht habe. Ich atme tief durch und empfange Neele, als sie von der Tafel zurückkehrt, an die sie kurzerhand einen Kussmund gemalt hat.
»Was du dich immer traust«, sage ich ehrfurchtsvoll.
»Ach, Schätzchen. Chill mal!«
Ja, ich sollte wirklich mal chillen. Ich glaube, ich bin verrückt. Bald lasse ich mich einweisen. Symptom meines Irrsinns: Ich bin davon überzeugt, eine Elfe zu sein. Dabei nennen mich meine Mitschüler aufgrund meiner Körpergröße von 1,60 Meter »Schlumpf«. Und Neele ist genauso groß und hat den Spitznamen nicht, wieso bloß? Ich will lieber eine Elfe sein als ein Schlumpf. Das passt auch viel besser: Ich bin wirklich sehr zierlich und sehr blond und habe weiße Haut. Meine Augen sind türkisblau und ich habe unheimlich kleine Füße. Da ich außerdem für mein Leben gern träume, immer mal wieder Fantasy-Romane mit meinem Alltag vergleiche und eine Schwäche für Harmonie und weinende Menschen habe, passt Elfe doch ganz gut. Nur die spitzen Ohren fehlen mir.
Ich reibe mir die Augen und hoffe, dass ich meine Wimperntusche nicht zu gruftigen, rauchgrauen Augenringen verschmiere. »Gleiches stößt einander ab, Ungleiches zieht einander an«, sagt Herr Emmling und meint natürlich Protonen und Elektronen. Auf zwischenmenschliche Beziehungen trifft das aber leider auch zu. Obwohl? Bo und ich, wir sind zwar verschieden, verschiedener könnte man gar nicht sein, aber wir ziehen einander doch nicht an. Elfen und Ritter mit Herzen aus Stein passen einfach nicht zusammen. Das habe ich – Ellen Sternling, seit zwei Tagen in der zehnten Klasse, letzter Jahrgang mit dreizehn Schuljahren, fünfzehn Jahre alt – jetzt endlich verstanden. Ich habe deswegen ein Vorhaben, einen Plan, etwas, was ich auf jeden Fall umsetzen will. Ich will mich verändern. Seit den Sommerferien will ich ein anderer Mensch werden. Nicht komplett, natürlich. Ich möchte immer noch Fantasie besitzen und lachen und auch meine Körpergröße finde ich gar nicht so schlimm. Ich will nur eines: unabhängig von Bo sein. Mehr nicht. Das ist der Plan. Ich will über ihn hinauswachsen. Auf ihn hinablächeln können, obwohl er sehr viel größer ist als ich. Ihn mit einem wissenden, mitleidigen Blick betrachten, wenn er in Deutsch mal wieder versagt, oder vielleicht auch in Englisch, egal. Ihn abfertigen, wenn er mich anspricht, immer mit einem Strahlen im Gesicht und einem Geheimnis im Herzen. Ich will, dass er ein bisschen eifersüchtig wird. Er soll denken, ich wäre mit einem finnischen Musiker zusammen, oder einem italienischen Schauspieler, oder von mir aus auch mit einem supergut aussehenden französischen Barmann. Tja, aber mein Plan klappt leider nicht so richtig: Ich bin immer noch die naive, doofe, schüchterne Ellen und ich rege mich immer noch über Bo auf, genau wie früher. Es hat sich kein bisschen verändert. Ich sehe ihn jeden Tag und er hat weiterhin keinen Respekt vor mir. So viel zu meinem traurigen Leben.
*
Nach der Stunde laufe ich mit hochrotem Kopf nach draußen. Natürlich stellt Bo mir ein Bein und natürlich fliege ich hin. Natürlich läuft er lachend mit Mick weg und natürlich hilft Neele mir mitleidig auf die Füße. Natürlich labert Katja etwas von einer »gefallenen Elfe« und natürlich esse ich erst mal zwei Schokocroissants, so erschöpft bin ich von den ganzen Fettnäpfchen.
Ich quetsche mich neben Neele auf die Heizung, die sich zum Schlafen in meinen Schoß legt. »Weck mich, wenn du vergisst, was Schlagfertigkeit ist«, murmelt sie sanft, dann ist sie auch schon weggedämmert.
Ich tätschele ihre Wangen. Danke Neele, danke, dass du mich immer aus den Peinlichkeitsoasen rettest, denke ich, und kaue auf dem letzten Bissen Schokocroissant herum. Warum passiert so etwas immer mir? Warum ist Bo so ein unglaublicher Arsch?
Stimmen dringen an mein Ohr, Leute laufen an uns vorbei, Pausenbrote mit Salami werden ausgepackt, Hotdogs gekauft, laue Spätsommerluft weht durch die geöffneten Fenster herein, viele Mädchen mit vielen Schuhen überlegen, ob sie selbst die schönsten Schuhe haben. Was für ein Gewirr. Ich reibe mir die Stirn. Es ist so laut. Warum können nicht alle mal leise sein? »Ey, Alter, haste ’n Euro?«
»Schätzchen, ich liebe deine Sandaletten.«
»Oh nein, da kommt ’ne Lehrerin!«
»Aber er hat doch gesagt, dass er mich liebt!«
»Lass mal Fußball spielen!«
»Sie sind so laut«, seufze ich.
»Ach, hör bloß auf, Alter«, murmelt Neele. »Hier ist kaum jemand.«
»Deine Sinne schlafen«, antworte ich und lehne mich an die Scheibe.
Ein Mädchen geht vorbei, es sieht anders aus als die anderen. Das ist das Erste, was mir auffällt. Ich sehe es nur kurz, ein blasses Gesicht in der Menschenmenge, leuchtende Augen, dunkler Mantel. Ich frage mich, wieso es mir auffällt. Vielleicht, weil es mich anschaut? Ausgerechnet mich, wo es weit auffälligere Menschen gibt. Menschen, die Ed-Hardy-Pullis tragen zum Beispiel, oder solche, die jeden Tag mit neuer Tasche in die Schule kommen. Ich blinzele, und dann guckt das Mädchen wieder weg, aber ich könnte wetten, dass es mich angelächelt hat. Ach Blödsinn, es kann auch jeden anderen angeguckt haben, hier ist es voll, ich kenne es nicht. Das ist normal, ich kenne viele ältere Schüler nicht, und dieses Mädchen ist wahrscheinlich älter. Ich recke den Hals, um noch einen Blick auf es zu erhaschen, und könnte schwören, ein feines Lächeln, das definitiv mir gilt, in der Menge aufleuchten zu sehen. Nur eine Sekunde später ist das Mädchen jedoch verschwunden und ich zweifele daran, dass es überhaupt da war.
Nach der Schule will ich zackig nach Hause. Ein Ade an alle Arschkekse, die ihre Klassenkameraden mit Kugelschreibern erstechen. Ob es wohl noch mehr von dieser Sorte gibt? … Halt, genug damit! Schluss mit Bo. Ich kann nicht immerzu an ihn denken. Dann unterscheidet sich mein jetziges Leben ja kaum von meinem früheren. Okay, damals habe ich von seinen Lippen geträumt, die sich cremig weich auf meine drücken, jetzt sehe ich meistens nur den Kugelschreiber und das Machogrinsen – aber trotzdem, ich denke an Bo. Und Gedanken an Bo sind tabu.
Stattdessen versuche ich, in meine Umwelt einzutauchen, als ich aus dem Bus steige. Hellgrüne Blätterkronen auf dunklen Stämmen, wuchtig, stark. Der Duft von Lavendel. Rote Kletterrosen. Straßenkreide auf Asphalt, jemand hat Flugzeuge und Hubschrauber gemalt, wie süß. Ein Säugling in den Armen einer blassen Frau. Eine ausgehungerte Straßenkatze. Ein grünes Cabrio … Und dank des Cabrios scheitert es dann. Ich hätte nämlich auch gern ein Cabrio. Darin würde ich mit der Liebe meines Lebens sitzen und in den Sonnenuntergang fahren. Wir würden uns ein Baumhaus bauen und Pferde zähmen, Stockbrot über Lagerfeuer backen und glücklich werden. Friede, Freude und ein harmoniesüchtiger Pfannkuchen.
Aber wo ist denn die Liebe meines Lebens, wo ist der Richtige? Den ersten musste ich ja aufgeben, da kein Gehirn vorhanden war, dafür aber Markenschuhe und cooles Getue. Ich schaue mich um, aber ich sehe natürlich keinen Traumtypen. Stattdessen laufe ich in eine Gruppe von drei Kindern hinein, die einander durch die Gegend schubsen. Es handelt sich um zwei Jungen und ein Mädchen. Sie sind im Grundschulalter, atmen hektisch, haben rote Wangen. Das kleine Mädchen nimmt gerade Anlauf, dann springt es einen der Jungen von hinten an, beide fallen auf den Asphalt. Das Mädchen bleibt auf dem Rücken des Jungen sitzen, überlegt, was es tun soll, lässt ihm keinen Bewegungsraum. Ich runzle die Stirn, während der zweite rothaarige Junge wohl gerade realisiert, dass hier ein Rollentausch stattfindet. Er geht in die Knie und versucht, das Mädchen von dem anderen Jungen herunterzuziehen, streckt seine schmalen Hände aus. Das Mädchen zögert nicht, drückt ihn, ohne sich umzudrehen, von sich weg. »Raaah!«, schreit es dem Jungen unter sich ins Gesicht, dann springt es wie ein Ninja auf die Füße und wendet sich wild dem anderen Jungen zu, ballt die Fäuste.
Ich gehe auf die Kinder zu, der eine Junge liegt schwer atmend auf dem Boden. »Himmel, Himmel!«, schreit er und starrt das Mädchen mit riesigen Augen an, als es mit langsamen, schweren Schritten wieder zu ihm rüberstapft. Kurzerhand fasse ich das Mädchen an den Schultern. Es fährt blitzschnell zu mir herum, erwartet wohl den nächsten Angreifer. Erst als es sieht, dass sein Gegenüber zwei Köpfe größer ist, bleibt es mit vorgeschobener Unterlippe stehen. Jo, dass ich mal zwei Köpfe größer bin, ist auch ein Ding.
»Was machst du?«, frage ich ruhig.
Das Mädchen hat ein heißes Gesicht und blonde Zottelhaare, trägt einen Hosenanzug aus Jeansstoff. »Er hat mich einfach geküsst!«, keift es mich an und will sich befreien, um nun auf den loszugehen, der noch steht.
»Bitte?«, frage ich verdattert.
»Ja, geküsst!«
»Und warum saßt du dann auf dem anderen drauf?« Das irritiert mich.
»Der hat mich auch geküsst.«
»Oh.«
Verkehrte Welt. Mehrere Jungs küssen ein Mädchen. Sie schlagen sich allerdings nicht untereinander, nein, das Mädchen ihrer Träume verdrischt sie. Ich wäre so gern auch noch klein. Lass mich Küssen doch bitte ekelhaft finden, Himmel … Denn im Moment würde ich alles für einen süßen Kuss geben, jetzt, sofort, hier. Für einen Kuss von einem schnuckeligen Jungen natürlich, nicht von einem der kleinen Streithähne. Plötzlich habe ich Angst, dass das hier schlimm endet. Ich sehe schon vor mir, wie einer der Jungen verdroschen in der Ecke liegt. Das Mädchen hat Fäuste aus Stahl. Ich gehe in die Knie und ziehe es näher an mich heran. Es will sich wehren, aber ich halte es unbeirrt an den Schultern fest.
»Ihr prügelt euch, okay, Kinder prügeln sich. Aber schlag nicht ins Gesicht!«
»Er hat mich auch ins Gesicht geküsst!«, faucht die Kleine, ihre Augen glühen.
»Ja, vom Küssen kriegt man aber kein blaues Auge«, schmunzele ich. »Schlag sie nicht ins Gesicht. Kämpfer müssen fair sein.«
Ich lasse das Mädchen wieder los und es stürzt sich sofort auf den, der noch nicht am Boden liegt. Es schlägt ihm nicht ins Gesicht. Ich gehe weiter und bin recht zufrieden. Habe mal wieder etwas für die Welt getan.
*
»Puuuh, ich bin wieder dahaaa!«, rufe ich und werde von unserem Golden Retriever umgeschmissen, der mich schlabbernd begrüßt und mich ein bisschen an ein liebeshungriges Pferd erinnert.
»Du bist ein Hund, benimm dich!«, ermahne ich ihn mit erhobenem Zeigefinger. Dann hebe ich ihn von meinem Bauch und kraule ihm die nussbraunen Ohren.
»Ellen, es muss jemand mit Maja gehen!«, höre ich es aus der Küche.
Ich stehe auf, lasse meine Schultasche mit einem lauten Krachen fallen, hoffe, mein Englischbuch ist dabei draufgegangen, und stöhne. »Mama, ich bin zwei Minuten hier. Schön dich zu sehen, Ellen, wie war dein Tag? Ich habe uns allen Schokopudding gemacht!«
»Sonst noch Wünsche? Madame lässt sich mal wieder bedienen, verdien dir doch selbst deinen Unterhalt und …«
»Ist gut, Mum, ich geh gleich mit Maja«, seufze ich und unterbinde damit ihren Wortschwall. Der würde ohnehin nur darin enden, dass sie mir erklärt, dass ich meine Pausenbrote selbst schmieren muss und wir heute noch den Hund verkaufen. Würde meine Mum immer tun, was sie sagt, wäre der Hund schon um die zweihundert Mal verkauft worden.
»Du hast Schokopudding gemacht?«, fragt eine Stimme.
Ich sehe nach rechts und die nächste Überraschung erwartet mich. Also, eigentlich ist es keine Überraschung, dafür habe ich diese Situation schon viel zu oft erlebt: Da steht Dave, eine schlanke Blonde nur Millimeter von seinen Lippen entfernt. David, kurz Dave, ist mein großer Bruder. Er sorgt mit seiner Ich-mach’s-wie’s-mir-gefällt-Egoistennummer dafür, dass meine Mum noch gestresster ist, und ich den Stress dann zu spüren bekomme. Er ist ein idiotischer Draufgänger, genau wie Bo. Einziger Unterschied: Immer mal wieder versuche ich, Dave umzuerziehen. Mitunter mit knallharten Methoden. Bei ihm habe ich ja die Möglichkeit dazu, bei Bo fehlt die leider.
»Wer ist das?«, frage ich kritisch und verziehe den Mund.
»Schokopudding?«, entgegnet Dave. Ja, klar, natürlich zieht er den Schokopudding dem Blondchen vor.
»Da sie bestimmt nicht Schokopudding heißt, nehme ich an, dass sie keinen Namen hat.«
Es tut mir leid, dass ich dem Mädchen nicht mehr Respekt entgegenbringen kann, aber es ist einfach nur dumm, auf jemanden wie Dave hereinzufallen. Außerdem ignoriert das Blondchen mich, konzentriert sich ganz auf Daves Küsse. Ich wünsche meinem Bruder, dass ihm eines Tages das Herz gebrochen wird. Ich will nicht grausam klingen, aber vielleicht wirft er dann endlich seine harte Schale ab und hört auf, die ganzen Mädchen zu verarschen. Vielleicht versteht er dann, was er tut.
»Was ist denn jetzt mit Schokopudding?« Dave schiebt das Gesicht der Blonden weg. »Hör mal, du, also …«, flüstert er mit heiserer Stimme. »Also, wir machen wann anders weiter, ja, das passt jetzt gerade nicht …«, raunt er seinem Heidi-Klum-Klon zu.
Das verstehe ich nicht. Es ist Dave normalerweise so was von egal, ob Mum oder ich ihm bei Knutschen zugucken, vermutlich fände er es sogar lustig, wenn wir uns mit Popcorn und Cola vor ihn und seine neueste Flamme setzen würden. Ich hebe irritiert die Brauen und warte, aber die Blondine geht gar nicht auf Daves Einwand ein. Sie drückt sich an ihn und saugt sich wieder an seinen Lippen fest. Ich gehe in die Küche.
»Mum, ich hab was gegen Softpornos im Haus. Warum geht Dave nicht mit Maja?«
Meine Mutter rempelt mich an und kippt mir die Hälfte des Rühreis über das Shirt. »Mensch Ellen, jetzt pass doch mal auf!«
Wer ist hier gegen wen gelaufen, na? Ich beiße mir auf die Lippe, um nicht auszuticken. Ganz ruhig bleiben. Nur ein weiterer stressiger Tag in einer psychopathischen Familie, von der sich mein kluger Vater gelöst hat.
»Warum geht Dave nicht?«, wiederhole ich und fange an, mit einem angefeuchteten Tuch die Fettflecken aus meinem roten Shirt zu reiben.
Meine Mutter ist beschäftigt, sie kann nicht mehr reden.
»Ach, der muss also mit dem Blondchen gehen«, sage ich und bin auf 178, schon fast auf 180.
Ich gehe zurück in den Flur und streichele Majas weiches Hundefell, um mich zu beruhigen. Dave hat den Schokopudding inzwischen wieder vergessen und knutscht mit dem namenlosen Blondchen rum. Unterdessen schiebt er sie zur Tür raus. Und noch einen Zentimeter, Zungenkuss, und ein weiterer Zentimeter, Zungenkuss. Ich frage mich, wieso er sie loswerden will. Ist das eine Jungsstrategie, von der man in der Bravo liest und mit der man Mädchen verrückt nach sich macht?
Ich gucke meinen Bruder so drohend an, wie ich kann. Ich wirke leider nicht besonders angsteinflößend, aber wer es nicht probiert, hat schon verloren. Er presst die Namenlose kurz an seine Brust. Der Arsch hat eine Freundin. Und zwei Affären. Und noch eine zum »Rumlecken«, wie er es nennt. Wie wütend mich so etwas macht. Dave sieht auf und blinzelt nervös. Etwas an der Sache ist faul. Ich bin viel zu überrascht, dass er auf meine Blicke reagiert, um mich zu freuen und will ihm gerade mit meinen Gesten zeigen, dass Fremdgehen das Allerletzte ist, da geht mir auf, dass er nicht zu mir guckt, sondern zur Treppe. Moment …
»Du musst jetzt wirklich gehen«, sagt er hastig, packt das Blondchen an den Schultern und schiebt es nun recht ruppig zur Tür hinaus. »Echt nett, dass du mir meine Jacke noch vorbeigebracht hast, danke.«
Das Blondchen versteht es nicht, es muss irgendeinen angeborenen Fehler haben, denn es macht genau das Gegenteil von dem, was Dave verlangt. »Ich fand es echt nett, dass du mir deine Jacke gegeben hast, als mir kalt war«, schnurrt es und kommt wie ein Bumerang zurück, klatscht wieder gegen Daves Brust, krallt sich dort fest, spitzt die Lippen. Ich drehe mich um und rase zur Treppe. Es ist mir plötzlich klar, wieso er die Blondine schleunigst aus dem Haus haben will, auch wenn er ihre Lippen gern hier behalten würde. Im Sprint laufe ich die Stufen hoch. Schneller werde ich wohl niemals laufen.
»Nein, Ellen, ich bring dich um!«, höre ich ihn zischen.
Ich habe recht. »Hallo Veraaa!«, rufe ich im Laufen. »Hier spricht Ellen, alias Daves kleine Schwester. Während du in seinem Zimmer sitzt, eine von ihm gebrannte CD hörst und Kerzen anzündest, macht er hier unten mit einem namenlosen Blondchen rum! Ist eine echte Show, willst du nicht verpassen!« Ich reiße die Tür zu seinem Zimmer auf, die hübsche Vera steht schon vor mir, ihre riesengroßen, knallgrünen Augen funkeln. Ich bleibe stehen und beruhige mich. »Es tut mir leid«, flüstere ich. »Vertrau jedem – nur nicht meinem Bruder, bitte.«
Sie stürzt an mir vorbei, die Treppe hinunter und lässt ihre erste Liebe hinter sich, die wohl nicht viel erfüllter war als meine. Sie verliert keine Zeit, rennt einfach nur weg. Das namenlose Blondchen, das gerade zu verstehen scheint, dass es nicht wie versprochen Daves Nummer eins ist, macht sich noch die Mühe, nach Dave auszuholen, es trifft beim Schlagen aber nur die Wand und flucht. Dann ist es auch weg. Ich gehe langsam die Treppe hinunter.
»Mann, Ellen, ey.« Dave grinst. Und da ist das Problem: Ich hätte meinen Bruder ja nicht verraten, wenn er wenigstens ein schlechtes Gewissen gehabt hätte. Nur einen Anflug davon. Wenn er sich bemüht hätte, etwas zu verheimlichen oder so, um Vera nicht zu verletzen.
Wenn er wirklich etwas für sie übrig gehabt hätte. Aber sie ist ihm leider egal. So egal, dass es wehtut. Und ich glaube, dass ich Bo genauso egal bin. Vielleicht war das, was ich Vera gesagt habe, auch ein Ratschlag an mich selbst.
*
Wenig später sitzen wir am Tisch und essen das übrig gebliebene Rührei und ein bisschen trockenen Salat. Das heißt: Dave und ich sitzen, meine Mutter rennt durch die Küche.
»Setz dich, Mum.« Dave klopft neben sich. Er hat Vera und das anonyme Blondchen schon wieder vergessen, überlegt gerade, wie viel Rührei in seinen Mund passt, wenn er seine Backen aufbläht.Ich hingegen habe die ganze Zeit Veras grüne Augen vor mir.
»Du bist ein Dreckskerl«, sage ich zu Dave.
»Jo«, entgegnet er locker und ich drehe mich weg, weil er nun seinen ganzen Teller Rührei im Mund hat.
Meine Mutter läuft immer noch unermüdlich wie eine Dampflok durch die Küche. Seit sie wieder angefangen hat, in der Kanzlei zu arbeiten, ist sie ein einziges Nervenbündel. Seitdem knutscht Dave alles ab Körbchengröße C und seitdem gibt es verpackten, trockenen Salat aus dem Kühlregal. Wenn sie arbeiten geht, okay. Aber warum muss sie dann die ganze Zeit so hysterisch sein? Mich macht das absolut wahnsinnig.
Jetzt hat sie einen schweren Porzellanteller in der Hand, sündhaft teures Erbstück von Oma. Er rutscht ihr aus den Fingern, ich sehe ihn in Zeitlupe zu Boden fallen, höre schon das feine Klirren und ihr wütendes Schnauben, einem Rhinozeros gleich. Okay, das sollte ich verhindern. Ich mache meinen Arm lang, erwische den Teller im Fall und balanciere ihn auf meinem Handgelenk.
»Super Zirkusnummer«, kommentiert Dave. Meine Mutter reagiert nicht mal.
»Hey, Mum, ich hab Omas Teller gerettet!«, beschwere ich mich lauthals, aber meine Mutter sortiert gerade Gewürzgläser. Warum muss man Gewürzgläser sortieren? Es ist doch vollkommen egal, ob der Muskat neben dem Curry oder dem schwarzem Pfeffer steht. Meine Mutter ist ein absoluter Ordnungsfreak. Aber ein bisschen Lob für die Rettung von Omas Teller hat sie leider nicht übrig. »Tut mir leid, Oma, niemand legt Wert auf deinen Teller!«, sage ich mit einem Blick zum Himmel und falte die Hände.
»Ellen!«, faucht meine Mum, denn mit Toten darf man nicht sprechen, das ist wohl das neueste Gesetz.
Ich räume meinen Teller in die Spülmaschine und schnappe mir die Hundeleine. Ich muss wirklich mal hier raus.
*
Nach einer erfrischenden Runde im Wald mit meinen Lieblingssongs auf dem iPod rufe ich Neele an und frage, ob wir zusammen Vokabeln lernen wollen. Sie kommt vorbei, hat aber leider zufälligerweise und überhaupt nicht beabsichtigt ihr Englischbuch vergessen. Deshalb schlendern wir zum McCafé, kaufen Cupcakes, gehen wieder zu mir, gucken ein Fußballspiel, nur um zu sehen, ob Fernando Torres ein Tor schießt und danach möglicherweise sein Trikot verliert, legen anschließend Sweeney Todd ein und enden um 22 Uhr kichernd beim Chatroulette. Englischvokabeln ade.
Nachdem sich Neele verabschiedet hat, bleibe ich im Schneidersitz auf meinem Bett sitzen. Ich strecke die Hand aus, berühre die Federn meines Traumfängers und hoffe, er behält meine ganzen Sehnsüchte für sich. Mein Blick gleitet an den himmelblau gestrichenen Wänden meines Zimmers entlang, bleibt kurz an dem Spiegel hängen, von dem mich meine türkisblauen Augen anschauen. An meiner Wand hängen Sprüche, flüchtig auf Löschpapier gekritzelt, immer dann, wenn mir einer gefiel. Sprüche wie: »Leben ist das, was passiert, während du dabei bist, andere Pläne zu machen« von John Lennon. Oder: »Sometimes you put walls up not to keep people out, but to see who cares enough to break them down.« Ich habe immer gehofft, dass das auf Bo zutrifft. Bestimmt wartet er nur darauf, dass jemand hinter seine steinerne Fassade blickt.
Ich kneife mich in die Hand, weil ich nicht an ihn denken will, schaue mich weiter in meinem Zimmer um. Weiße Seidenvorhänge vor meinem Fenster, die sich im Abendwind bauschen. Eine Fotowand: Ellen und Neele mit pinken 3D-Brillen. Ellen und Neele mit Erdbeergesichtsmasken und knallrot lackierten Zehennägeln. Ellen und Neele auf dem Zehnmeterbrett im Schwimmbad. Ellen und Neele auf einer blühenden Sommerwiese. Ellen und Neele auf streichholzdünnen Absätzen, ein Bein albern lachend ausgestreckt, als würden sie eine Zirkusnummer aufführen. Ellen und Neele mit schwarz geschminkten Lippen. Dann einzelne Bilder, eins von meiner Mum mit locker hochgesteckten Haaren, sie lächelt entspannt. Eins von meinem Dad, auf dem er mich mit Rosinen füttert. Eins von Dave, auf dem er noch treuherzig aussieht, fünf Jahre alt, das süße Grübchen in der Wange, das er heute noch hat. Ist wohl das Einzige, das er damals schon hatte und heute noch mit sich trägt. Bilder von Maja als Welpe, Bilder von anderen Freunden. Ein paar von mir angefertigte Skizzen. Am besten ist meiner Meinung nach ein Cocktailglas mit Zitrone am Rand geworden. Und kein einziges Bild von ihm. Ich schlucke und schaue hastig weiter, erblicke mein schneeweißes, unschuldiges Prinzessinnenbett. Es ist ein Himmelbett, aber auf der Packung stand »Prinzessinnenbett«. Mein Vater hat es mir geschenkt, ich war damals sechs. Auf dem Boden liegen meine Kuschelsocken, ohne die ich nie ins Bett gehe, ein Märchenbuch, einzelne Smarties und ein Poster von Fernando Torres.
Ich suche mir etwas für morgen zum Anziehen raus – ein regenbogenfarbenes Kleidchen – und lehne mich an den Schrank, seufze. Ich werde es nicht tun. Ich werde es ganz bestimmt nicht tun. Ich werde … Ich öffne meinen Kleiderschrank und lange in die Kiste mit den alten Puppenkleidern: Bilder von Bo. So viel zu meinem Durchhaltevermögen.
*
Während die Tage vorbeiziehen, geht mein Superplan immer weniger auf. Es ist alles wie immer. Bo ist ein Lackaffe – wie immer – und ich rege mich darüber auf – wie immer. Dave knutscht mit allen möglichen blonden und brünetten, blauäugigen und braunäugigen Weibswesen – wie immer. Eine hat sogar lila Kontaktlinsen. Meine Mutter ist dauerhaft davon überzeugt, irgendeinen wichtigen Auftrag für die Kanzlei vergessen zu haben – wie immer. Papa ist weg – wie immer. Und nach dem Wochenende ist wieder Schule, Montagmorgen, 6 Uhr aufstehen – wie immer.
Ich lenke mich den Vormittag über mit Gedanken an den Nachmittag ab. Neele und ich wollen zusammen zum Freibad fahren und uns jegliche negativen Sachen – in meinem Falle Bo, in Neeles Falle Englisch – aus dem Kopf schlagen. Heute ist Karibischer Abend.
Ich treffe mich mit ihr an der Bushaltestelle auf der Hauptstraße. Sie kommt mir entgegen, hat sich einen Strohhut über den braunen Bob gezogen. Neele zieht sich immer modisch an und achtet mehr auf ihre Accessoires als ich, ich trage meistens nur eine Kette mit einem silbernen Schlüssel um den Hals. Selbst beim Schlafen ziehe ich sie nicht aus. Auch wieder so eine peinliche Angewohnheit. Ich lächele Neele entgegen.
»Wie soll das denn funktionieren? Das sind viel zu viele Vokabeln!«, schießt sie los, zerrt sich den Hut vom Kopf und schwenkt ihn dramatisch hin und her. Neele ist maulig. Und wenn Neele maulig ist, sollte man sie möglichst freundlich und verständnisvoll behandeln. Ich seufze leise, zupfe ihre Haare zurecht und setze ihr den Hut wieder auf den Kopf. Ich ziehe ihn ein bisschen zu tief, sie sieht nichts mehr. Sie murrt nur laut. Warum müssen wir über Englisch reden? Wir reden auch nicht über Bo.
»Natürlich, Neele, natürlich sind das zu viele Vokabeln. Du solltest dich beschweren.«
»Das mach ich auch … Ich, ich zeig’s ihr!«
Neele ballt die Faust. Die kleinsten Dinge machen sie wütend, das lässt sie stark und unnahbar wirken. Neele zeigt immer, was sie will. Ich schiebe ihr den Hut zurück, sodass sie gerade so unter ihm hevorlugen kann, und schleife sie hinter mir her in den Bus. Wir setzen uns in die vorletzte Reihe und ich stütze meine Füße am Sitz vor mir ab. Der Typ, der dort sitzt, fährt wütend herum, er ist von der Sorte, die im Sommer mit nacktem Oberkörper Bus fährt.
»Ist ja gut«, sage ich halblaut und nehme langsam meine Füße herunter.
»Ich zeig’s ihr wirklich!«, faucht Neele erhitzt. Sie ist immer noch bei Englisch und ich stöhne innerlich.
»Tu das, Neele. Sag ihr, dass du das nicht okay findest. Damit lässt du Wut ab.«
»Tse, du bist doch kein beknackter Psychologe, Alter!« Neele muss grinsen, wühlt in ihrer Tasche, angelt eine Packung Smarties heraus und kippt sie sich in den Mund.
»Ich hab dich zum Lachen gebracht!« Ich hebe den Zeigefinger und heische ein wenig Anerkennung.
Neele malt mit dem Finger zwei vertikale Linien an die dreckige Busscheibe, dann kreuzt sie diese mit zwei horizontalen Linien und setzt in eines der entstandenen Kästchen ein Kreuz. Dann wühlt sie auch schon nach ihrem iPod und stopft mir den linken Kopfhörer ins Ohr. Wenigstens ist das Thema Englisch damit beendet. Ich male einen Kreis in irgendein Kästchen. Die Konzentration für dieses wirklich nicht viel Intelligenz erfordernde Spiel fehlt mir heute. »Hä? Ellen?« Neele malt ihr nächstes Kreuzchen und hat bereits gewonnen, während Rihanna und Eminem Love the way you lie singen.
Auch die nächsten Spiele verliere ich, Neele zweifelt langsam an meinem Verstand. »Mann, Ellen, mach doch mal mit!« Bettelnd schlägt sie mir auf die Oberschenkel. Ich kann Tic Tac Toe heute nicht so viel abgewinnen. »Spaßbremse!« Schmollend verschränkt Neele die Arme und wischt die Kästchen weg.
Ich male ein paar Schnörkel und Herzchen an die Scheibe und blinzele hinaus. Die Bäume flirren vorüber. Da, ein festgebundener Cockerspaniel mit cremefarbenem Fell, ich wollte früher immer einen haben, aber inzwischen finde ich Maja besser. Und dort werden frische Tomaten verkauft, der Marktmann und eine Kundin feilschen um den Preis. Und da ein Mädchen, es hat eine pralle Tüte in den Armen, gefüllt mit Luftschlangen, mehr sehe ich nicht, denn wir sind schon vorbei. Ich frage mich, ob das Mädchen glücklich ist. Bin ich glücklich?
»Bin ich glücklich?«, erkundige ich mich bei Neele.
»Das müsstest du selbst wissen«, entgegnet sie trocken und wischt mit der Hand über ihren von Kratzern übersäten iPod.
»Weiß ich aber nicht.« Ich bleibe hartnäckig. Ich möchte darüber reden, eben haben wir auch über Englisch geredet.
»Ellen, Süße, lach einfach, dann bist du glücklich.«
Ich verziehe meinen Mund zu einem fast schmerzhaften Grinsen. »Oh, ich bin so glücklich, Neele, weil ich lache, weißt du, ich bin so unendlich glücklich!«
Neele zieht mich vom Sitz und reißt den Stöpsel aus meinem Ohr. Wir verlassen den Bus, schlagen den Weg durch den Park zum Freibad ein. Eine Weile lang verschluckt uns die Stille.
»Ich bin sooo glücklich«, sage ich irgendwann mit einem falschen Grinsen und recke die Arme.
»Morgen Englisch-Vokabeltest …«, knurrt Neele nur.
»Fuck, morgen Englisch-Vokabeltest!«, echot eine fremde Stimme. Ich drehe verwirrt den Kopf und lösche das falsche Grinsen aus meinem Gesicht. Eigentlich ist die Stimme gar nicht so fremd, sie klingt irgendwie nach … Ich schiebe einen Ast beiseite, zwänge mich durch eine Hecke hindurch und trete einen Weg in die Pampa an. Ich höre Neele protestieren, sie bleibt stehen. Ein Dorn kratzt mir über den Handrücken, neben einem breiten Baumstamm verharre ich schließlich, hinter dem Zaun in ungefähr zehn Meter Entfernung liegt der Skatepark. Die Stimme ist Micks, er brettert gerade eine Rampe hinauf und landet halbwegs gerade. Und wo Mick ist, da ist auch Bo nicht weit. Als ich ihn entdecke, steht er ebenfalls auf seinem Board, rollt sanft hin und her, hält das Englischbuch in den Händen und starrt verwirrt auf die Seiten. Ich bin kurz irritiert, ich hätte nicht gedacht, dass Bo sein Englischbuch mit in seinen persönlichen Skate-Himmel nimmt … Beeindruckt verziehe ich die Mundwinkel, ohne es überhaupt zu wollen. Tiefe Runzeln graben sich unterdessen in Bos Stirn, und ich wünsche mir, dass sie nie wieder weggehen und ihn hässlich machen. Oder dass er das Gleichgewicht verliert und auf den Boden donnert. Tut er aber leider nicht. Stattdessen schleudert er sein Englischbuch in den Dreck, es gibt einen lauten Knall. »Fuck Englisch!«, brüllt er, Mick johlt und die anderen Gestalten in engen Jeans, bunten Schuhen und mit langen Haaren tun es ihm nach. Das ist ja der reinste Zoo. Ich komme mir vor wie bei den Gorillas.
Keiner von ihnen sieht mich, und so sollte es auch bleiben. Ich sollte jetzt gehen. Ich muss jetzt mit Neele zum Karibischen Abend. Wir werden sanfte Schritte am Beckenrand machen und ich werde keinen Gedanken mehr an Bo verschwenden, verdammt, ich hab es mir doch so fest vorgenommen.
Ich hab mich schon fast weggedreht, als Bo plötzlich Anlauf nimmt. Ich kann nicht anders. Ich werde nur kurz zugucken. Mal sehen, was er kann. Er legt sich eh aufs Maul. Zu viel Selbstbewusstsein tut niemandem gut. Ich lächele spöttisch, lehne mich lässig an den Baum.
»Mann, Ellen, was machst du, pinkeln?«, höre ich Neele, die irgendwo hinter der Hecke steht und unruhig stampft. Sie soll bloß den Mund halten, ich will nicht bemerkt werden.
Bo rollt die Rampe hoch, geht in die Knie und hebt ab, schwebt ein ordentliches Stück über dem Boden, kommt unbeschadet wieder auf, rollt weiter und wackelt kein bisschen. Ich hebe erstaunt die Brauen, er reckt die Arme in die Luft, er ist der König, ich sehe es in den Gesichtern der anderen. Ich kann mir nicht helfen, ich schlurfe nach vorn und bleibe ganz nah am Zaun stehen, stütze mich mit den Ellbogen darauf ab und konzentriere mich auf ihn, denn es sieht gut aus, was er da tut. Da bemerkt mich auch schon Mick, rollt auf mich zu, springt von seinem Board ab. »Tach!«, sagt er cool und grinst schief.
Ich reagiere nicht. Was Bo tut, wird mir immer unheimlicher, aber ich kann nichts dafür, ich bewundere ihn. Meine Augen werden größer und mein Mund klappt langsam auf. Jetzt steht er oben an der Rampe, tastet sich langsam an die Kante vor. Ich hab keine Ahnung vom Skaten, aber um das zu schaffen, muss er gut sein. Er fährt ohne Schutz. Verdammt, er kann sich doch alles brechen. Ich beiße mir auf die Lippe und nehme meinen Wunsch, dass er sich hinlegt, im Stillen zurück.
»Krass, ’ne?«, grunzt Mick nur, während Bo an der Wand entlangrollt.
Wie ist es möglich, dass er da runterfährt, er muss doch vom Board fallen? Hallo, Schwerkraft?
»Hey, der is ja geil gefahren …«, nuschelt Mick, als stünde er seinem größten Idol gegenüber. An dem erwartungsvollen Leuchten in seinen dunklen Augen erkenne ich, dass das erst der Anfang war.
Ich halte die Luft an, als Bo nun erneut die Rampe hochsaust.
»Backflip!«, schreit Mick.
»Was ist das, was ist das?«, kreische ich hysterisch, ich kann nicht anders.
»Rückwärtssalto mit dem Board, Mann!« Mick fängt an zu lachen und plötzlich dreht Bo sich um sich selbst, landet perfekt auf seinem Brett, brüllt noch lauter als zuvor, schüttelt seine Haare. »Mann, das gibt’s ja gar nicht!« Mick kriegt sich vor Begeisterung kaum ein, während mein Herz wie wild klopft und Bo die Rampe zum dritten Mal hochfährt. »Du bist ja ganz blass«, bemerkt er.
»Quatsch, stimmt nicht«, erwidere ich hastig.
»Jetzt noch runterdroppen!«, freut sich Mick, etwas Neid klingt trotzdem in seiner Stimme mit.
»Was bedeutet das?« Ich kralle mich in seine Schulter und versuche, ihn zu schütteln. »Macht er noch mal das von gerade eben? Sag ihm, er soll’s nicht!«
Mick grinst nur. »Wieso hast du eigentlich so Panik, Schätzchen?«
»Hab ich nicht.«
Ich atme tief durch, drehe mich zurück, um Bo zuzusehen und stelle fest, dass dieser mich nun auch entdeckt hat und durch den Skatepark rollt. Er sagt nichts, ein übles Grinsen umspielt seine Mundwinkel. Im Nu ist er auf einer neuen Rampe.
»Das ist die Halfpipe, oder?«, erkundige ich mich kleinlaut bei Mick.
»Jo, Mann«, entgegnet der und springt ein bisschen mit seinem Board herum, um auch etwas Jubel von seinen Kumpels einzuheimsen, aber der Applaus bleibt aus. Alles konzentriert sich auf Bo.
»Hör auf!«, rufe ich ihm zu, ehe ich weiß, was ich tue.
»Mann, Ellen, was soll die Scheiße?« Jetzt steht Neele neben mir, Mick dreht sich zu ihr um.
Bo reagiert nicht auf mich, er macht einfach weiter.
»Der fährt jetzt nur hin und her, oder?« Ich sehe zu Mick und zeige mit den Händen, was ich meine, rase mit meinem Zeigefinger durch die Luft.
»Doch nicht Bo«, sagt Mick.
»Bitte?«
Als er auf der anderen Seite der Halfpipe ankommt, saust Bo plötzlich über die obere Kante hinaus. Mick hat die Wahrheit gesagt. Scheiße. Warum kann er dieses dumme Teil nicht hoch- und runterfahren und sich super fühlen, wie jeder andere Affe auch? Sein Board dreht sich wie wild.
»Er verliert die Kontrolle!«, kreische ich, kneife die Augen zusammen, nur um sie einen Moment später panisch aufzureißen und zu sehen, dass er sicher landet.
»Double Kickflip!«, schreit Bo und macht wieder diese Affennummer mit Arme hoch und King-Kong-Brüllen.
Dann rollt er langsam auf Mick, Neele und mich zu. Meine Anspannung löst sich. Erst jetzt nehme ich die vielen goldblonden Mädchen in Jeansröckchen wahr, die an der anderen Seite des Parks stehen und glückselig lächeln. »Du bist der Beste!«, schreit eines von ihnen. »Wahnsinn!«, gluckst ein anderes.
Verflucht, das war gefährlich. Ich atme zittrig ein und aus. Bo dreht sich um und verteilt Kusshände. Idiot! Und was macht Neele? Die sieht nur das Englischbuch und stöhnt laut: »Lasst uns morgen alle zusammen Frau Gustav den Hals umdrehen!« Hallo? Bo hätte sterben können, doppelter Halsbruch oder so, und sie schmiedet irgendwelche Pläne für den Mord an unserer Englischlehrerin.
Bo bleibt neben Mick stehen, er blinzelt kurz zu mir herüber, schlägt mit Mick ein, während Neele über den Zaun klettert, um Bos Englischbuch zu massakrieren. Ich schwöre, ich bin in der Klapsmühle gelandet. Der eine dreht Rückwärtssaltos und schaufelt sich damit sein eigenes Grab, die andere trampelt böse wie Rumpelstilzchen auf einem Schulbuch herum, ansonsten johlen ein paar Affen und am Rand stehen goldblonde Hühner und kreischen nach Bo. Ich glaub, ich sollte schlafen gehen.
»Komm, Neele, lass uns gehen, wir müssen jetzt. Du willst Bos Buch nicht ersetzen. Ich kauf dir beim Kiosk eine Tüte mit viel Vanillekaramell, ja? Dann musst du Frau Gustav nicht töten, Süßes beruhigt dich vielleicht.« Erhitzt atme ich durch, massiere mir die Schläfen, alles an Temperament, das ich habe, ist soeben mit mir durchgegangen.
»Und was willst du dafür?« Neele lässt von ihrem Opfer ab. Sie klettert zurück über den Zaun und schaut mich aufmerksam an. Bos Buch sieht übel mitgenommen aus, aber der ignoriert das. Ich hab ein bisschen Angst vor Neeles Energie.
»Was ich will?« Ich überlege und kaue auf meiner Unterlippe herum. »Herzchen, reg dich ein klitzekleines bisschen ab, das wäre sehr nett. Und sollte ich mir obendrein noch etwas wünschen können, dann … Ach, rette mich einfach weiterhin aus den Situationen, in denen man etwas benötigt, was als Schlagfertigkeit betitelt wird und mir grundsätzlich fehlt.«
»Verstanden!« Neeles Gesicht hellt sich auf. Für Vanillekaramell tut sie so ziemlich alles. Also besteche ich meine beste Freundin hin und wieder damit.
Ich verspreche ihr nochmals, ihr gleich eine Tüte zu kaufen, und zupfe an ihrem Ärmel. Wir sollten jetzt hier weg. Ich will nicht mit Bo reden, der tauscht sich gerade noch mit Mick über irgendwelche Dinge in Skatesprache aus. Sie murmeln was von »One eighty« oder so. Das ist also unsere Chance abzuhauen.
»Weiß nicht, ob ich gehen will«, sagt Neele und begutachtet schamlos einen süßen Typen mit karamellblonden Locken, der jetzt langsam auf Bo und Mick zuschlendert. Er heißt Ole, wenn ich mich nicht irre.
Auch die Hühner vom Zaun kommen jetzt alle angelaufen, vermutlich, um sich Bo zu Füßen zu legen und seine Skateschuhe abzuknutschen. Wir müssen jetzt weg. Ich reiße an Neeles Arm, um sie von Ole loszueisen. »Haaach«, seufzt sie. Mick sieht auf und fixiert sie. Für diese Angelegenheit habe ich jetzt keinen Nerv. Ich marschiere los, die Finger in Neeles Jacke gekrallt, aber ich komme nicht von der Stelle, denn Neele hält sich am Zaun fest und wartet, dass Ole näher kommt.
»Bo, du bist der Master!«, ruft der.
»Neele, verdammt!«, jammere ich.
Die goldblonden Hühner kommen angerannt wie eine Schar Tokio-Hotel-Fans, das macht mich noch nervöser, als ich sowieso schon bin.
Neele guckt sehr unschuldig, reckt den Hals, sodass ihre Schlagader hervorblitzt. Bravo-Flirttipp: Jungs stehen auf Mädchen, die ihren Hals zeigen, weil sie dann das Gefühl haben, sie beschützen zu müssen. Ich schlage mir entsetzt die Hände vors Gesicht und blinzele vorsichtig zwischen meinen Fingern hindurch, Bo und Micks Gespräch ist beendet, beide sehen sich suchend um, Bo schaut mich an. Er ist zu hübsch für diese Welt, aber ich bin fertig mit ihm, ja, er ist charmant, aber ich bin fertig, fertig, fertig mit ihm. Bo lässt seine Finger knacken, mehrmals, laut und deutlich, es klingt, als ob jemand Nüsse aufbricht. Er zieht sich die Jeans gefühlte zwei Meter herunter, sie müssen ja tief sitzen. Er verpasst Mick einen Hosenzieher und lacht ihn daraufhin aus. Dann schaut er wieder zu mir, es ist still, ich nehme die Hände von meinem Gesicht und streiche mir mit Unbehagen über die Arme. Neele fixiert Ole, Mick fixiert Neele, und zwischen den goldblonden Mädchen steht Katja – wie könnte es auch anders sein? Was für ein Horrortag. Etwas Schlimmeres kenne ich nicht mal aus dem Kino.
Ich mache ein, zwei Schritte zurück. Ich werde jetzt gehen. Dann soll Neele halt hier stehen bleiben und Oles karamellblonde Locken zählen, bis er sie küsst. Bo folgt mir. Er klettert über den Zaun. Er geht doch bestimmt vorbei? Steht jemand hinter mir? Guckt er mich an? Äh … Im Film würde er jetzt winken und ich würde mich superduper freuen und zurückwinken und dann bemerken, dass er die Heidi Klum hinter mir meint. Aber hinter mir ist nur der Baum. Panik! Er meint mich. Oh Gott. Was tut er? Ist er böse? Will er mich ärgern? Er grinst über das ganze Gesicht und erinnert mich dabei vage an ein arrogantes Calvin-Klein-Model. Was soll das? Die Sekunden ziehen sich wie Klebstoff. Dann bleibt er vor mir stehen.
»Ellen«, sagt er.
»Mein Name, jo.« Meine Wangen färben sich purpurrot.
»Du bist ja cool, Ellen, jo«, sagt er und lacht.
»Noch viel cooler als du!«, kontere ich und presse meine Handflächen an die Baumrinde.
»Süß. Aber was ich eigentlich fragen wollte: Warum um Himmels willen hast du geschrien?«
»Weiß nicht«, antworte ich schüchtern.
»Ellen, ich kann skaten, ja? Du brauchst dir also keine Sorgen zu machen. Mann, du bist schon lustig. Du Gollum.«
»Gollum?«
Gollum? Aus Der Herr der Ringe? Aber … Ich bin doch die Elfe. Und er … igitt … er findet, ich sehe aus, höre mich an, gehe, rieche wie … Ich starre ihn fassungslos an. Lautes Klatschen. Bo gibt Mick High five, der jetzt ebenfalls seine Kletterkünste bewiesen und den Zaun überwunden hat.
»Die Reaktion ist ja geil, Mann«, grölt Mick.
»Aufs Maul?«, frage ich.
Bo ist nicht mehr zu halten, er beugt sich vornüber und hält sich den Bauch, so sehr muss er lachen. Wo ist Neele, verdammt? Sie steht immer noch da und schaut Ole an, hat die Lippen zu einem Schmollmund geformt. Ich brauche Schlagfertigkeit. Bitte, bitte, lass mich schlagfertig sein.
»Jetzt suchst du wohl deine beste Freundin, damit sie dir beim Coolsein hilft, Ellen?« Bo haut sich mit den Händen auf die Knie und pustet sich sein Haar aus der Stirn.
»Du bist … Gandalf!«, stottere ich hilflos. Und dann gehen sie. Sie lachen. Sie prusten.
»Aufs Maul?«, imitiert mich Mick.
»Geil, vergess ich nie«, sagt Bo.
Die beiden stellen sich zu den goldblonden Hühnern, ich glaube, Bo schreibt einem von ihnen seinen Namen auf den Arm. »Mal ein Herzchen daneben!«, verlangt es. Ich gehe ohne ein weiteres Wort davon. Und als Ole schließlich abhaut und in Richtung Kiosk läuft, folgt Neele mir bereitwillig.
»Gollum«, ruft Katja mir hinterher. Was sucht sie hier?
Gott sei Dank ist Neele wieder bei sich. Sie richtet gerade ihren Pony, schimpft schon wieder über Frau Gustav, zerrt an den Henkeln ihrer George-Gina-&-Lucy-Tasche und hat trotzdem noch Kapazitäten für Schlagfertigkeit. Kurzerhand fährt sie zu Katja herum. »Mensch Kat, sei doch nicht sauer, nur weil du aus der Massenproduktionsreihe der Mädchen stammst, die glauben, Niveau sei Hautcreme.«
»Sehr witzig, Neele!«, faucht Katja.
»Ellen ist mein Gollum und sie ist einmalig«, lächelt Neele und haucht mir ein Küsschen auf die Wange. Zeit für ein triumphierendes Grinsen und den Abgang.
Okay, jetzt schnell zum Kiosk und dann weg. Eigentlich fehlt mir inzwischen jede Lust auf das Schwimmbad, bei meinem Glück begegne ich dort bloß wieder Bo oder zumindest einem Abbild von ihm. Ich würde mich nicht wundern, wenn er bald mit uns Abendbrot isst, in meinem Bett liegt, morgens im Bad unter der Dusche wartet und so weiter. Wie ein Phantom, das immer bereit ist, mich zu demütigen.
Ich stelle mich an die Theke und lasse eine Tüte mit gezuckerten Gummibärchen, Lakritzdrops und Vanillekaramell füllen. Neele hat sich wieder halbwegs gefasst, linst nur verstohlen zu Ole hinüber, der gerade in einer Bravo Sport blättert und schokobraune Kopfhörer aufhat. »Wahnsinn, was für ein Gesicht, was für ein Mund … Betörend!«, flötet sie. Oje. Ich grinse schwach, bezahle die Tüte und gehe hinaus. Neele ist nach zwei Minuten ebenfalls da. Der Wind fährt mir in die Haare, er trägt den Geruch von Lavendel mit sich. Es riecht deutlich danach. Ich sehe die lilafarbenen Stauden vor mir und muss lächeln.
»Lavendel«, sage ich zu Neele.
»Wo?«, erkundigt sie sich und dreht den Kopf zu beiden Seiten.
Ich winke ab und inhaliere die Luft. Wie schön es wäre, wenn man all die wunderbaren Düfte immer bei sich tragen könnte. Ein bisschen Rosenblüte, ein bisschen Vanille, ein bisschen Schokobrownie und eine Prise Meer. Ich würde sie in ein Marmeladenglas füllen und immer dann ein wenig schnuppern, wenn ich traurig wäre. Das würde mir helfen zu wissen, dass es so viele schöne Sachen auf der Welt gibt, die man auch unter Tränen sehen sollte. Tränen … Wann habe ich eigentlich das letzte Mal geweint?
»Worüber denkst du nach, Lieblingsgollum?«
»Neele!«, murre ich und verziehe das Gesicht.
»Ach, ist doch irgendwie witzig.«
»Ich kaufe dir nie wieder eine Tüte Süßigkeiten!«
»Ich sage Katja nie wieder, dass sie glaubt, Niveau sei eine Hautcreme.«
Wir prusten los. Es tut gut zu lachen, es drängt Bo zurück in die stille Besenkammer in meinem Kopf, in die er gehört, zwischen Spinnweben und Ratten. Ich muss noch mehr lachen, weil mir bewusst wird, dass ich morbide Gedanken habe. Dann schwenke ich den Kopf hin und her und versuche die Namen Gollum und Gandalf herauszuschütteln. Ich hätte doch alles Mögliche sagen können. Ihm erklären können, dass wir in der wirklichen Welt leben und nicht im Film. Ihm verdeutlichen können, dass ich mich über seine außerordentliche Kreativität freue und er sich doch mal in Deutsch so anstrengen sollte wie jetzt, damit er nicht mehr von Fünfen erschlagen wird. Ich hätte ihn fragen können, ob er traurig ist, weil ich auf seine Künste nicht mit Gekreische oder Affenbrüllen reagiere. All das wäre schlagfertig gewesen. Aber es fällt mir leider erst jetzt ein. Ich sehe seufzend zu Neele hinüber. Sie ist schlagfertig. Immer. Es sei denn, sie entdeckt einen betörenden Mund. Sie schnappt sich ein Stück Vanillekaramell aus der Tüte, lässt mich abbeißen, weil ich ebenfalls ein bisschen süchtig danach bin, und hält es dann in die Sonne.
»Jetzt überleg bloß nicht, ob das Oles Haarfarbe ist!«, wehre ich lachend ab. Es blitzt verräterisch in ihren Augen, sie pikst mich in die Seite, ich kichere. »Aber das mit Katja war echt gut«, sage ich dann. »Alter, Neele, wie fällt dir dieser Mist eigentlich immer ein?«
»Das ist kein Mist. Das hat Niveau, Nivea …«
Dann sind wir kaum noch zu halten und würden uns am liebsten über die Stufen kugeln, die hinunter zur Straße führen.
»Jetzt geht’s mir gut«, stelle ich zufrieden fest.
»Und du bist kein Gollum«, sagt Neele.
»Danke. Wie komme ich zu dieser Ehre?«
»Du bist mein harmoniesüchtiger Pfannkuchen!«
Unser Lachen ist noch nicht ganz verklungen, da rempelt mich jemand an. »Huuuch!«, mache ich. Die Person schiebt mich zur Seite, drängelt mich gegen die Kioskwand und grinst mich an. Es ist Bo, sein Skateboard rollt sanft neben ihm hin und her, es ist schwarz und glänzt. Im Hintergrund sehe ich Mick, Ole und die anderen. Verdammt, Bo, verzieh dich, denke ich. Geh einfach. Warum tust du das? Es würde doch nicht mit uns funktionieren. In hundert Jahren nicht und auch nicht in tausend. Ich sehe ihn äußerst verzweifelt an. »Hilfloser Gollum«, sagt er und wendet sich ab, schnappt sich sein Skateboard, legt seinen Arm um eines der blonden Hühner und verlässt den Kiosk, ohne sich noch einmal zu mir umzudrehen.
Ach, er ist ein dummer Blödarsch, genau das. »Blödarsch«, murmle ich. Und während ich mir das Wort noch auf der Zunge zergehen lasse, da erinnere ich mich an … Nein, an überhaupt nichts, es ist ein schönes Wort. Gehört zu meinen Lieblingsworten und wird mich sicherlich an nichts erinnern.
»Blödarsch«, murmele ich und dabei konzentriere ich mich darauf, mich nicht zu erinnern.
»Ich?!«, erkundigt sich Neele.
»Nein, Quatsch. Bo. Er ist ein totaler Idiot, oder? Ich mein: Gollum? Hat er sie noch alle? Find ich echt nicht witzig. Und mich dann so auszulachen. Und mich gegen die Wand zu schubsen. Und so. Unmöglich. Ich glaube, ich hasse ihn, Neele, wirklich sehr doll.«
»Glaub ich nicht«, sagt Neele und schlackert mit den Armen.
»Bitte?«
»Ich glaube nicht, dass du ihn hasst.«
Ich bleibe stehen und schaue sie mit offenem Mund an. Ihn nicht hassen? Wen denn sonst? Ich hasse seine Haare, seine Schuhe, sein Lachen, seine Arroganz, sein Verhalten, seinen blöden Gehfehler, seinen besten Freund. Ich hasse es, dass ich mich so abhängig von ihm gemacht habe.
»Wohl!«, sage ich empört und verschränke die Arme vor der Brust. »Neele, er hat mir mein Herz gebrochen.«
»Dann wärst du tot«, entgegnet sie ungerührt.
In solchen Momenten würde ich gern die Schlagfertigkeit aus meiner Freundin herausholen und ihr stattdessen Empathie einsetzen. »Verdammt, Neele, er hat mir wehgetan. Ich war mal in ihn verliebt, aber jetzt nicht mehr, jetzt kann ich ihn überhaupt nicht mehr ausstehen.«
»Glaub ich dir nicht«, flötet Neele und holt einen Kamm aus der Tasche.
»Neele, er ist ein Arsch!«, schreie ich los. »Er soll sich verpissen und mich endlich in Ruhe lassen!« Ich halte mir erschrocken die Hand vor den Mund. Fluchen ist nicht meine Art. Zwei Fünftklässler sehen mich verängstigt an. Sie stehen mit dicken Tornistern an der Bushaltestelle vor dem Kiosk und mampfen Butterbrote. Hoffentlich habe ich bei ihnen keine nachhaltigen Schäden mit meinem Verhalten hinterlassen.