Die seltsamen Taufgäste - Elizabeth Ann Scarborough - E-Book

Die seltsamen Taufgäste E-Book

Elizabeth Ann Scarborough

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Beschreibung

Der vierte Band der »Geschichten aus Argonia«: Prinzessin Bronwyn hat Jack geheiratet und ist nun Prinzessin von Ablemarle geworden. Sie hat inzwischen noch drei Brüder bekommen, deren jüngster, Rupert, sie zur Taufe ihres ersten Kindes besuchen will. Aber da erscheinen die Magier der Firma Mukbar, Maschkent & Mirza GmbH und berufen sich auf einen alten Vertrag, wonach ihnen das Kind die ersten 15 Jahre seines Lebens übergeben werden muß, und nehmen es einfach mit … Eine atemberaubende, wundersame Geschichte. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Seitenzahl: 377

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Elizabeth Scarborough

Die seltsamen Taufgäste

Roman

Aus dem Amerikanischen von Sylvia Brecht-Pukallus

FISCHER Digital

Inhalt

Für David Michael Ruthstrom, [...]Die HauptpersonenIIIIIIIVVVIVIIVIIIIXXXIXIIXIII

Für David Michael Ruthstrom, Minstrel Extraordinär und Stallwart Questing Companion in unverbrüchlicher Zuneigung. Ebenso für meine Eltern, Don und Betty Scarborough, meinen Bruder Monte Scarborough und Greg Herriford, Jeannie Jett sowie Charles und Karen Parr für ihre Hilfe und Anregung. Besonderen Dank auch Tania Opland fürs Zuhören und dem Liedermacher und Sänger für seine besonderen Kenntnisse der Zigeuner. Ich möchte auch dankbar den schottischen Liedermacher und Sänger Archie Fisher erwähnen, dessen Song »Witch of the Westmereland« mich zu der ersten Begegnung von Rupert und Karola inspirierte.

Die Hauptpersonen

Rupert Eberesch

jüngster Prinz von Argonia

Bronwyn von Ablemarle

seine ältere Schwester

Jack von Ablemarle

Thronfolger von Ablemarle, Bronwyns Gemahl

Romania

ihr Töchterchen

Karola

Bronwyns Cousine

Timoteo

Jacks Vetter

Grippeldix

ein hübsches Drachenmädchen, vernarrt in Rupert

Mukbar, Maschkent & Mirza, Magische Artikel GmbH

florierendes Wüstenunternehmen für Zaubereibedarf, Propheten des Profits in der Stadt Miragenia

Mademoiselle Alireza Mukbar

Vorstandsvorsitzende des Unternehmens, eine dynamische Natur mit neun Schwestern

Rostie Killgilles

Edeldame, früher Piratin, zu Frostingdung

König Yagthra

der Löwe, Herrscher von Blutquarz

Egelina

seine zweite Gemahlin

Effluvia

die Erstgeborene König Yagthras, eine Stinktierfrau

Jasper

Hohepriester von Blutquarz, Bruder des Königs

Jushia

königliche Amme

Eberesch der Elendige

Gott von Blutquarz, früher ein Frostriese und Ruperts Urahn

Adelheid

seine Gemahlin

Morag

eine Zauberin

I

Markerschütterndes Geschrei und stoßweises Stöhnen hallte von den Steinmauern wider, schallte vom pfeilergetragenen Gewölbe zur Schießscharte und verlieh dem gesamten Nordflügel den friedvollen Reiz eines Kerkers. Rupert Eberesch, seines Zeichens Prinz und Anwärter im diplomatischen Dienst, zuckte zusammen, schlug erneut die Beine übereinander, sank in seinen gepolsterten Samtsessel zurück und versuchte trotz des schmerzerfüllten Wehklagens seiner Schwester, das durch die schwere Tür in ihren Eisenscharnieren drang, die mühsam gepflegte Gelassenheit zu wahren. Er war es müde geworden, stundenlang auf- und abzugehen, und hatte sich nun niedergelassen, um den Untergebenen, die gelegentlich auf dem Gang vorüberkamen, ein gutes Beispiel zu geben. Bei den meisten dieser Untergebenen handelte es sich um Frauen, und viele von ihnen taten, als hörten sie Bronwyns Jammern nicht, was Rupert ihnen als sehr taktvoll anrechnete. Bronwyn war als Kriegerin bekannt. Warum mußte sie ihren Gleichmut ausgerechnet zu einem Zeitpunkt aufgeben, da er sich in Hörweite befand?

Eine stramme Zofe mit kecker Miene und einem Kranz goldblonder Zöpfe lächelte ihm herzlich zu und überspielte den Ausdruck, den er häufig in Frauengesichtern las, mit gespieltem Mitgefühl.

»Ganz ruhig, Euer Hoheit, sorgt Euch nicht. Das Gebrüll lindert die Schmerzen ein wenig, wißt Ihr? Das macht jede Frau in den Wehen. Sie wird sich nicht einmal mehr daran erinnern, wenn sie das Kleine erst im Arm halten wird. Ihr werdet sehen.«

Er lächelte ihr etwas mitleidig zu und gab sich alle Mühe, weiter eine Miene zur Schau zu tragen, die sie ermuntern sollte, ihn an ihren Busen zu drücken. »Ihr seid sehr freundlich. Glaubt Ihr, es wird noch lange dauern?«

Sie strich mit wohlgeformter Hand die sauberen, weißen Handtücher glatt, die sie über einem Arm trug. »Nicht mehr sehr lange, würde ich meinen. Aber beim ersten geht es eben immer länger.

Ist es argonischer Brauch, daß ein männlicher Angehöriger der Niederkunft beiwohnt, Euer Hoheit? Vergebt mir, aber wir Mädchen würden einfach allzu gerne wissen, ob Ihr hier seid, weil Prinz Jack in Brazoria unabkömmlich ist, auch wenn das für die junge Herrin, Eure Schwester, sehr hart ist. Wir finden es einfach süß, daß dann ihr Bruder kommt, um ihr anstelle des Ehemanns beizustehen. Von seiner Familie hat sich niemand angeboten, nicht einmal die Frauen.« Ein liebreizendes Rosa stieg in ihre Wangen, und sie legte die Fingerspitzen auf die Lippen. »Wobei ich keineswegs respektlos sein wollte, Herr.«

»So habe ich es auch gewiß nicht aufgefaßt. Wir wissen ja alle, wie die Fahrenden sind. Allerdings bin ich …«

Aus dem königlichen Schlafgemach drang ein Schrei, der einem das Blut in den Adern gerinnen ließ. Das Mädchen schreckte zusammen, widmete dem Prinzen ein entschuldigendes Lächeln und einen hastigen Knicks, um dann davonzuhuschen und sich seitwärts mit Schulter und Hüfte voran durch die Tür zu schieben.

Er hatte ihr gerade erklären wollen, daß er nicht die geringste Absicht gehabt hatte, Bronwyn bei ihrer Niederkunft die Hand zu halten. Vielmehr hatte er auf dem Rückweg von Wasimarkan, wo er auf Geheiß seiner königlichen Mutter, Königin Bernsteinwein, die Diplomatie erlernte, zu einem kurzen Besuch vorbeigeschaut. Die Königin hatte mit Recht darauf hingewiesen, daß mit einer älteren Schwester als Prinzgemahlin von Ablemarle und älteren Zwillingsbrüdern (von denen der eine, Raleigh, König und der andere, Roland, Heerführer würde) für das vierte Kind wenig Sinnvolles zu tun bliebe.

Die Königin hatte mit ungewohntem Nachdruck erklärt, daß sie nicht zusehen würde, wie einer ihrer Söhne sich zu einem nichtsnutzigen Ritter entwickelte, der die Bevölkerung schikanierte und seine königlichen Vorrechte zum Rauben und Plündern nutzte. Solche Fälle waren in anderen Reichen aufgetreten, und Rupert lehnte diese Lebenseinstellung ebenso ab wie seine Mutter. Er war von Natur aus äußerst friedfertig und liebevoll – sogar so liebevoll, daß er im Alter von zwanzig Jahren, da ihm seine Eisriesenvorfahren eine ungewöhnlich hohe, gut gebaute Statur und sein Feenblut ihm gleichzeitig ungewöhnliche Schönheit und Charme verliehen, bei den Vätern und Ehemännern am wasimarkanischen Hof größte Besorgnis auslöste. Die Männer nannten ihn hinter seinem Rücken (denn es wäre unklug gewesen, einen so mächtigen Verbündeten wie das Königshaus von Argonien zu beleidigen) Eberesch den Roué. Für die Frauen, in deren Augen er so gefühlvoll blickte und denen er fast ungeachtet ihres Alters, Standes und ihrer Schönheit so zärtlich die Hände küßte, war er Rupert der Romantiker. Er würde jede einzelne dieser barmherzigen, großzügigen Damen vermissen, doch seine Lehrer hatten unter dem Druck der männlichen Höflinge erklärt, daß angesichts eines Ohnmachtsanfalls von sechs Prinzessinnen im Wettstreit um seine Aufmerksamkeit weiterführende Lektionen in Diplomatie für ihn vonnöten wären, die sie nicht zu erteilen vermochten. Sie schickten ihn zur weiteren Unterweisung zu seiner Familie zurück.

Zum Besuch seiner Schwester hatte er sich ganz unvermittelt entschlossen. Sein Schiff lag an den Docks, um mit Fracht beladen zu werden. Er hatte Bronwyn seit einigen Jahren nicht mehr gesehen, und sie war ihm von der ganzen Familie immer am liebsten gewesen. Sie war eine gute Kämpferin, übertraf sogar Roland – zumindest in der Praxis –, und sie hatte in weit zarterem Alter als Rupert bereits großartige Abenteuer bestanden. Wenn Rupert es leid war, sich diese Abenteuer erzählen zu lassen – er wollte stets etwas Neues hören –, hatte Bronwyn zu seiner Unterhaltung geschickt andere Geschichten erfunden.

Er hätte das Geschöpf fast nicht wiedererkannt, das sich da bei der Begrüßung mit großen Augen, bleichem Sommersprossengesicht, wild zerzaustem drahtigem, rotem Haar und hochschwanger an seine Hand klammerte. Die selbständige, große Schwester aus seiner Jugend flehte ihn geradezu an, bis zur Geburt ihres Kindes zu bleiben, weil ihr Mann, Prinz Jack, in Brazoria aufgehalten wurde. Rupert hatte ebensowenig wie die hübsche Zofe verstanden, weshalb ein männliches Familienmitglied für Bronwyn Trost bei einer Aufgabe bedeutete, die er in erster Linie als unbestreitbare Frauensache betrachtete, doch er konnte ihr die Bitte nicht abschlagen. Also war er geblieben.

Ein langgezogener, keuchender Aufschrei ging in ein ohrenbetäubendes Kreischen über, dicht gefolgt von einem weiteren Schrei, bei dem es sich diesmal unmißverständlich um das Quäken eines Kindes handelte. Rupert sprang hoch und eilte zur Tür, an die sein Ebereschenholzschild gelehnt stand. Alle Eberesch-Kinder trugen die Schilde, Geburtsgeschenke ihrer Väter, bei sich, denn Ebereschenholz schützt vor Zauberei. Er war weit aufgeregter angesichts der Ankunft des neuen Familienmitgliedes, als er geglaubt hätte.

Die Tür wurde aufgestoßen, und die Zofe, mit der er gesprochen hatte, stürzte heraus, ein wimmerndes, in Decken gehülltes Bündel an der Brust.

»Wartet«, sagte er schnell. »Darf ich es mir ansehen?«

Sie hob den Deckenzipfel und zeigte ihm ein runzliges, rotes, kleines Gesicht, das sich gerade zu einem neuen Schrei verzog. »Es ist ein Mädchen«, informierte ihn die Zofe. »Ist sie nicht süß?«

»Und wie«, antwortete er und gab sich alle Mühe, aufrichtig zu klingen. »Ich werde rasch Bronwyn beglückwünschen.«

»Oh, noch nicht, Herr. Sie wird gerade gewaschen und muß dann ein wenig schlafen. Ich werde das Kind baden, damit man es ihr zeigen kann, sobald sie aufwacht.«

»Baden?« fragte er verständnislos. »Oh, natürlich, der Säugling wird ein Bad benötigen. Nun, hm, darf ich zuschauen? Ich habe noch nie gesehen, wie ein neugeborenes Kind gebadet wird.«

»Ich wüßte nicht, was dagegen spräche«, erwiderte das Mädchen mit kessem, berechnendem Augenaufschlag. »Aber Ihr Argonier habt wirklich eigentümliche Gewohnheiten, wenn Ihr mir diese Bemerkung verzeihen wollt, Herr.«

»Ich würde Euch fast alles verzeihen, meine Liebe«, erklärte er höflich und hielt ihr die Tür zum angrenzenden Zimmer auf.

Rupert faszinierte es, daß man ein ganzes menschliches Wesen in einer Wanne waschen konnte, in die kaum seine beiden Hände paßten. Ansonsten war es eine ziemlich unsaubere Angelegenheit. Die kleine Zofe war weit reizvoller, und er machte sich daran, sie besser kennenzulernen, als seine neue Nichte in ihrer Wiege schlief, die in der Form eines Schwans geschnitzt und von der jungen Dame, an deren Ohr er gerade knabberte, mit rosafarbenen Bändern geschmückt war.

Der gewaltige Ruck, mit dem plötzlich die Doppeltüren aufgestoßen wurden, schleuderte Rupert und seine Gefährtin auf den Fliesenboden. Hilflos sah er zu, wie mit dem Windstoß ein ziemlich großer Teppich hereingeweht kam. Zwei Herren in blauen Gewändern hoben den Säugling aus der Wiege auf den Teppich und flogen wieder hinaus. Sie hielten sich erst gar nicht damit auf, die Tür wieder hinter sich zuzuschlagen, und Rupert hörte andere Türen knallen, die sie vermutlich auf dem ganzen Weg hinab zum Haupteingang aufstießen.

Als die letzte Tür in der Ferne laut zufiel, kam der Prinz wieder einigermaßen zur Besinnung und sprang – immer noch recht benommen – auf. Das ganze unglaubliche Geschehen hatte sich so schnell abgespielt, daß er glaubte, vielleicht in den Armen seiner neuen Liebsten eingenickt zu sein. Aber die Wiege war leer, und als er zur Schießscharte auf dem Korridor hinauslief, konnte er die Umrisse des fliegenden Teppichs mit den beiden Männern darauf erkennen. Hinter ihm rappelte sich das Mädchen in die Höhe, raffte ihr Mieder und huschte ins Zimmer seiner Schwester. Rupert sah dem Teppich nach, wie er über der Stadt flog und schließlich am Horizont verschwand.

Als wenige Augenblicke später ein Schrei aus Bronwyns Schlafzimmer gellte, öffnete er die Tür einen Spaltbreit und erwartete, seine Schwester bewußtlos vorzufinden. Doch statt dessen saß sie mit starr geradeaus gerichtetem Blick in ihrem Bett, und ihr Haar ergoß sich wie Blut über das Kissen. Die Damen um sie herum liefen nervös durcheinander, doch Bronwyn brachte sie mit einem Blick zur Ruhe und bat Rupert hereinzukommen.

»Bronwyn, Schwester, ich weiß nicht, was ich sagen soll«, hob er an. »Ich half deinem Kindermädchen, das Kind zu baden, und wir hatten das süße Kleine gerade hingelegt und plauderten, als …«

Sie schloß ihre beiden Hände um die seine, zog ihn neben sich aufs Bett und schlang die Arme um ihn. Sie schluchzte erschöpft und fast lautlos; ihre Tränen durchnäßten sein Hemd. Er hielt sie umfangen und wiegte sie, bis sie so ruhig geworden war, daß er glaubte, sie schliefe. Dann löste sie sich aus seiner Umarmung und ließ sich aufs Kissen zurücksinken; ihr Gesicht war von einem Ausdruck gezeichnet, den er als Widerspiegelung seiner eigenen Scham darüber deuten konnte. Ihr Kummer brachte ihn so aus der Fassung, daß auch ihm Tränen kamen. Ihr Blick kehrte in die sie umgebende Wirklichkeit zurück, und sie hob die Hand, um seine Tränen mit dem Zipfel ihres Lakens fortzuwischen.

»Bei der Großen Mutter, Bronwyn, es tut mir so entsetzlich leid. Ich hatte nicht die geringste Ahnung …«

»Ich weiß, Ru. Ich weiß. Ich hatte kein Recht, dich in diese Sache zu verwickeln, ohne dich aufzuklären, aber ich glaubte, sie würden nicht ganz so schnell zuschlagen, sondern warten, bis sie ein bißchen älter, bis sie getauft wäre … warum ich mir allerdings ausgemalt habe, Miragenier könnten etwas anderes als ihren verdammten Profit achten …«

»Du weißt, wer das war?« fragte er ungläubig. Sie nickte.

»Ich habe dir niemals das Ende der Geschichte des verzauberten Granatapfels erzählt, den ich aus dem versunkenen Schloß in Frostingdung geborgen habe. Ich hatte ihn den Mirageniern für den Beistand im Großen Krieg versprochen. Sie erfüllten ihren Teil der Abmachung so bereitwillig, daß mir klar war, von welch großer Bedeutung der Granatapfel sein mußte. Ich erfuhr, daß er die Macht besaß, alle Glückseligkeit aufzuheben und an ihrer Stelle Enttäuschung und Verzweiflung zu säen. Eine solche Waffe in den Händen jener, die nur nach Profit trachten, wäre eine Katastrophe. Und so ließ ich sie verschwinden, oder vielmehr Jack tat das, indem er den Granatapfel in die tiefste Gletscherspalte, die er finden konnte, warf. Doch die Miragenier erhoben als angemessene Tilgung meiner Schuld Anspruch auf mein erstgeborenes Kind. Jack verhandelte mit ihnen, bis sie sich bereit erklärten, es für nur fünfzehn Jahre zu behalten …«

»Nur fünfzehn Jahre? Große Mutter vom Erdboden, Bronwyn, wie konntet ihr nur mit einer solchen Vereinbarung leben?«

Sie zuckte mit den Schultern. »Man kann nie genau wissen, was geschehen wird. Wir überlegten, ob wir vielleicht nicht heiraten sollten, Jack und ich, doch selbst wenn wir uns nicht schon so lange Zeit geliebt hätten, wäre diese Verbindung für Argonia und Ablemarle notwendig gewesen. Dann hofften wir, ich wäre unfruchtbar, und versuchten aufzupassen, daß ich nicht schwanger würde, aber …« Sie verdrehte die Augen und seufzte, weil es ihr nicht gelungen war, sich von ihrem Ehemann fernzuhalten.

»Ich verstehe«, antwortete Rupert schnell.

»Ich weiß, daß Jack aus diesem Grund nun nicht hier ist. Er konnte es nicht ertragen, dabeizusein, wenn sie das Kind holen kämen. Er benahm sich eigenartig während meiner Schwangerschaft. Und ehrlich gesagt, kann ich ihm keinen Vorwurf daraus machen. Ich wäre auch nicht hier, hätte ich die Wahl gehabt. Aber ich kann nicht einmal hinter ihnen herreiten und mich als Amme für meine Tochter anbieten. Um Argonias Ehre willen muß die Abmachung respektiert werden, so hart sie auch sein mag, und ich habe keine Hoffnung, mein Kind wiederzusehen, bevor es schon fast eine erwachsene Frau ist. Allerdings hatte ich gedacht, sie würden mich wenigstens noch für ihre Taufe sorgen lassen, damit sie durch die wenigen Geschenke geschützt wäre, die wir ihr hätten machen können. Die Jahre hindurch waren wir bei unseren Familien wegen dieses Handels insgeheim in Ungnade gefallen. Die Zigeuner, abgesehen von Jacks Vater und Großvater, sprechen kaum noch mit ihm …«

Bei diesen Worten ließ die schwarzhaarige Magd, die den Boden neben dem Bett geschrubbt hatte, den feuchten Lappen fallen, wischte sich die Hände an den Röcken und rauschte mit einem undeutbaren Blick aus ihren kohlschwarzen Augen aus dem Zimmer.

»Ach du liebe Güte. Ich hatte nicht an sie gedacht. Fahrende sind so empfindlich …« Sie sank für einen Augenblick ins Kissen zurück und setzte sich dann plötzlich auf.

»Was hast du vor?« fragte Rupert und wollte sie zurückhalten.

»Ich werde mich als Mann verkleiden und ihnen folgen. Ich weiß nicht, ob ich Miragenia wiederfinde, aber einmal ist es mir schließlich schon gelungen. Die Taufgeschenke nehme ich mit, damit meine Tochter, selbst wenn man mich entdeckt, wenigstens ihr Geburtsrecht bekommt …«

Ihr Gesicht glühte.

»Bronwyn, das geht nicht. Du darfst das Wochenbett noch nicht verlassen. Außerdem hast du mir gesagt, daß sie in Miragenia über Magie verfügen. Du aber besitzt keine Zauberkräfte und hast deshalb keine Chance gegen sie.«

»Ich werde Karola, unsere Cousine, aufsuchen. Sie wird mir mit ihren magischen Kräften helfen. Außerdem ist sie inzwischen Priesterin und kann mein Kind taufen. Ja, genau das werde ich tun …« Sie riß sich von Rupert los und blieb einen Augenblick lang stehen, ehe Blut ihr Nachthemd tränkte. Sie versuchte, das Gleichgewicht zu wahren, aber ihre Knie gaben nach, und Rupert stopfte sie wieder ins Bett, während ihre Zofen sich um sie scharten.

»Wo sind deine Taufgaben?« fragte er sie, strich ihr Haar zurück und kümmerte sich nicht um die Mädchen, die ihre Wunde versorgten.

»Hier«, sagte sie, griff unter ihr Kopfkissen und zog ein winziges Päckchen hervor. »Es sind gute Wünsche, die verbrannt und mit der Tauferde vermischt werden müssen. Sonst habe ich nichts außer … meinem Eschenholzschild. Nimm ihn mit, Rupert. Sie wird einen Schutz benötigen.«

»Du nicht?« fragte er. »Sie soll meinen Schild bekommen, ich werde mir einen neuen machen. Versprich mir nur, daß du nicht aufstehst, ehe deine Hebamme ihr Einverständnis gibt. Ich werde Karola ausfindig machen, und wir werden gemeinsam alles tun, was für dein Kind getan werden kann.« Er küßte ihr Haar und stürzte hinaus, um ein Schiff zu heuern.

 

Kaum einen Monat später hatte Rupert den Klabautermanngolf und Argonia durchquert und ritt nun über die schneebedeckten Weiten des Lindwurmtales. Die Schatten der hohen Gletschergipfel neigten sich ihm entgegen und überzogen ihn mit Eiseskälte. Der Schnee lag schwer auf den Ästen der Tannen, die sich neigten wie alte, gramgebeugte Frauen mit vollgefüllten Schürzen. Ruperts Pferd kam nur langsam voran. Der Himmel war grau und unheimlich. Wilde Tiere huschten über den Schnee. Es war das rauheste Land, das Rupert jemals gesehen hatte, aber er genoß die Fährnisse seiner Mission. Das Leben bei Hof war angenehm, aber gelegentlich brauchte ein Mann Abwechslung und Abenteuer.

Und so war er jetzt unterwegs in dieses furchterregende Grenzland, nur in Begleitung seines Pferdes, eines Falken und eines Hundes, die er sich auf Rolands Schloß, seinem Nachtlager, geliehen hatte. Er bereitete sich innerlich darauf vor, einer Hexe gegenüberzutreten. Zwar war sie seine Cousine, doch nichtsdestoweniger eine Hexe mit gefährlicher Macht. Er konnte sich sehr gut an Bronwyns Schilderung erinnern, wie sie versucht hatte, seine Schwester zu ertränken. Äußerungen seiner wasimarkanischen Freunde und die Einstellung der Menschen, die ihn zuletzt erzogen hatten, beeinflußten ihn dahingehend, daß er glaubte, seine ganze Kraft aufbieten zu müssen, um es mit einer Hexe aufzunehmen.

Die Hexe ihrerseits mußte sich mit einer Menge von Problemen weltlicher Natur befassen und hätte es, wie sie erst am Tag zuvor der Näherin des Dorfes versichert hatte, vorgezogen, an jedem beliebigen anderen Ort zu leben und sich allen möglichen Angelegenheiten zu widmen. Aber sie hatte ihre Pflichten. Die Dorfbewohner waren an ein magisch einwandfreies Herrenhaus, einen ebensolchen Speisesaal und an einen Tisch, der sich vor Speisen bog, gewöhnt, was Karolas Mutter Gretchen mit ihren Zauberkünsten stets, wie es schien, mühelos geschafft hatte. Karola, deren eigene Kräfte darin bestanden, Gegenstände, Menschen und Tiere mit einem Pfeifen oder Summen zum Tanzen zu bringen, kostete es erheblich mehr Mühe, das gleiche Niveau wie ihre Mutter zu halten. Sie konnte nicht einfach etwas wünschen, sondern mußte pfeifen, um einen Besen in die richtige Bewegung zu bringen, ein Staubtuch, Spültücher, Schöpfkellen, Spieße und Poliertücher und so fort in ihre richtige Funktion. Hackmesser waren ein Alptraum, und Flickarbeit hatte mehr als einmal zu merkwürdigen Ergebnissen geführt, weil sie es versäumt hatte, die Nadel rechtzeitig aufzuhalten.

Und im Gegensatz zu ihrer Mutter konnte sie auch nicht einfach ihre Nahrungsmittelbestände aufstocken, sondern mußte neue suchen, wenn die Vorräte ausgingen. Gretchen war so eilig zu einem Besuch am Krankenbett von Großtante Sybil in die Nordmark aufgebrochen, daß sie nicht richtig abgeschätzt hatte, was während der Zeit ihrer Abwesenheit, die sich länger als erwartet hinzog, benötigt wurde. Folglich neigten sich die Vorräte an Getreide, Obst und konserviertem Gemüse dem Ende entgegen, und die Dorfbewohner meuterten lautstark gegen die häufigen Fischgerichte auf ihrem Speiseplan, da Karola absolut nicht bereit war, etwas weniger Kaltäugiges auf ihren Mittagstisch zu zaubern. Ihr Vater, Colin Liedschmied, der bekannte Barde, hatte dem ersten Siedlungsrat vorgesessen, bei dem die Bewohner ihre Unzufriedenheit über die Regelung vorgetragen hatten. Danach mußte er urplötzlich an einem wichtigen Seminar der Königlichen Bardenakademie weit im Süden und fernab vom Tal, dessen Regierungsgeschäfte er führen sollte, teilnehmen.

Karola hatte freilich mit ihrem Gelübde als Priesterin noch andere Pflichten übernommen. In Lindwurmtal gab es nicht viele Eheschließungen, denn die meisten Einwohner waren im Alter ihrer Eltern oder noch älter, wohl aber viele Wachen an Kranken- oder Totenbetten und die Gottesdienste an Feiertagen, die nun aber – die Große Mutter sei gepriesen! – weitgehend entfielen und gewiß erst wieder mit der Rückkehr Gretchens ins Haus ständen.

Manchmal hegte Karola insgeheim den Verdacht, daß Tante Sybil, die in das Leben anderer Menschen Einblick hatte, nur krank geworden war, damit ihre Nichte genug zu tun hätte, um nicht an den schändlichen Treuebruch ihres verflossenen Freiers Herrn Brendans zu denken, eines ehemaligen Ritters von Burg Rowan, der nun mit seiner neuen Braut in Königinstadt wohnte. Nicht daß Karola das im geringsten interessiert hätte, Königinstadt war ein überschätztes Kaff voller schöner, teurer Waren, unsinniger Betriebsamkeit und Leuten, die töricht genug waren, für beides zuviel Geld auszugeben. Sie hatte das Leben dort ausprobiert und zwischen ihrem fünfzehnten und siebzehnten Lebensjahr dort als Ziehtochter gelebt, sich aber bald nach dem Dorf und seinen Bewohnern gesehnt, die im allgemeinen recht anspruchslos waren. Und hier wurden ihre Zauberkräfte nur knapp durch die häuslichen Künste ihrer Mutter und die überzeugende Musikalität ihres Vaters geschlagen, anstatt in einem Feuerwerk großartiger und ausgefallener Fähigkeiten, wie sie bei Hofe reichlich vorhanden waren, unterzugehen.

Wenn ihre Eltern zu Hause waren, bestand natürlich ein geringerer Bedarf, Dinge umherzupfeifen, doch die Arbeit der Priesterin war unverzichtbar. Sie hatte dennoch reichlich Zeit zur Verfügung, im geschwätzigen Plappermaulfluß zu schwimmen, den eine frühere Dorfhexe verzaubert hatte, um Gesellschaft zu haben. Sie besuchte auch gerne Sebastian, das liebenswerte, weiße Ungeheuer, das die Gletscher auf der gegenüberliegenden Seite des Tales bewachte. Sie war häufig durch die Ruinen des Eisschlosses gestreift, ohne den schlafenden Eiswurm zu stören, dessen Atem die Siedlung im Winter mit Nebel überzog. Hin und wieder war sie mit Roland und dessen Ehefrau zu einer Abendgesellschaft oder einem Wochenendausflug nach Schloß Eberesch geritten; die beiden waren zwar langweilig, aber wenigstens in ihrem Alter. Sie beobachtete gerne die Einhörner, wenn diese kamen, um mit ihren Hörnern den Fluß zu segnen, und ihn damit nicht nur reinhielten, sondern ihm auch die Fähigkeit verständlichen Sprechens verliehen (sonst schwatzte er nur und stieß unverständlichen Blödsinn privater Natur hervor). Sie beobachtete auch gerne den Wolf Leofric, der früher einmal ein Werungeheuer gewesen war, bei seinen Streifzügen durch das Tal, was er manchmal bei Vollmond tat, um dann in sicherer, einsamer Entfernung stehenzubleiben und zum Gruß zu heulen.

Ein bißchen Heulen täte ihr auch ganz gut, dachte Karola bei sich, als sie an der vom Dorf am weitesten entfernten Flußbiegung von ihrer schwarzen Stute abstieg. Sie legte ihr Netz beiseite und streifte ihren Umhang und ihr braunes Kleid ab, unter denen ihr Badeanzug zum Vorschein kam. Er war aus blauem Samt mit langen Ärmeln und Hosenrock. Die Nixen, die sie als junges Mädchen kennengelernt hatte, würden darüber lachen, doch ihre Mutter wollte sich nicht mit einem anderen, weniger aufwendigen Modell zufriedengeben, und auch die Dorfbewohner waren leicht zu schockieren; jedenfalls wären sie es von der üblichen Aufmachung der Nixen bestimmt gewesen, die nur aus einem funkelnden Fischschwanz und einer gewaltigen Haarmähne bestand. Manchmal wünschte sie, sie wäre bei den Seejungfrauen geblieben, wie es deren Wunsch war, doch sie hatte keinen Geschmack daran gefunden, Seeleute zu ertränken. Außerdem hätte sie durch eine solche Entscheidung den Rest der Suche versäumt, die – abgesehen von ihrer Priesterinnenausbildung und Sir Brendan – das letzte Interessante darstellte, was ihr widerfahren war.

Am Rand des Lochs, das sie mit dem Handbeil ins Eis gehackt hatte, waren eisige Dornen gewachsen, doch sie konnte noch mit dem Netz durch die schmale Öffnung in die schwatzenden, schwarzen Gewässer tauchen.

 

Rupert, der durch den Nebelhauch des Drachens auf den murmelnden Fluß zuritt, wußte sofort, daß er die Hexe gefunden hatte, die er suchte. Wer sonst würde triefend naß, aber völlig gelassen aus einem fest zugefrorenen Fluß auftauchen? Ihre rabenschwarze Stute ging daneben so ruhig auf und ab, daß sie den Schwanz des geduldigen Tieres fassen und sich mit einem Pfiff aus dem Wasser ziehen lassen konnte. Sie zitterte nicht einmal. Der Prinz hielt sein Ebereschenholzschild entschlossen vor seinen Körper und schleuderte den Falken vom gepanzerten Handschuh, während der Hund bellte und winselte. Das sollte reichen, sie davon abzuhalten, ihn mit ihren Hexenkräften zu einem Bad einzuladen, falls sie die Absicht hegen mochte. Er hätte nicht die geringsten Schwierigkeiten gehabt, mit einer gewöhnlichen Frau umzugehen, aber eine gewisse Nervosität war seiner Ansicht nach in der Gesellschaft von Hexen völlig gerechtfertigt.

Die Hexe klammerte sich an den Schwanz des Pferdes und beobachtete den Falken einen Augenblick, ehe sie drei kurze Töne ausstieß, die den Vogel zu Rupert zurückflattern ließen. Verwirrung stand in den scharfen Augen des Tieres.

»Verzeiht mir«, sagte sie und winkte mit der freien Hand. »Haltet das Tier an der Leine, ja? Oder am Wurfriemen oder wie immer man das nennt. Die Dorfbewohner werden alles andere als glücklich sein, wenn ich irgendeinen fremden Vogel mit ihrem Abendessen davonfliegen lasse, auch wenn es nur Fisch ist.« Und sie schleuderte ein Netz voller Fische aufs Eis und kletterte endgültig heraus.

Rupert schwang sich schnell von seinem Pferd und reichte ihr die Hand, die sie anstelle des Pferdeschwanzes ergriff.

»Ihr wart fischen?« erkundigte er sich. »Dort drinnen?« Er schaute über ihre triefende Schulter zu dem dampfenden Loch hinter ihr.

»Ja«, antwortete sie. »Eisfischen. Mir ist schon klar, daß es ein wenig merkwürdig aussieht, aber es macht mir nichts aus, nicht einmal bei sehr kaltem Wasser. Nixenblut von väterlicher Seite, wißt Ihr. Aber jetzt entschuldigt – wenn ich aus dem Wasser bin, friere ich ebenso schnell wie jeder andere, und Ihr steht zwischen mir und meinem Mantel.«

Die letzte Äußerung wurde durch ein Zähneklappern unterstrichen, so daß er ihren Umhang vom Sattel riß, ihn um sie schlang und zusah, wie sie mit der Kapuze heftig ihr Haar rubbelte und Schultern und Arme rieb, ehe sie ihr Pferd bestieg.

»Ich bin in dringlicher Mission unterwegs«, sagte er, als er ebenfalls aufsaß, und wollte sich sofort zu erkennen geben.

»Zweifellos, denn das ist kaum die Jahreszeit für Sommerfrischler. Aber entschuldigt mich, es ist ebenso dringlich, daß ich diese Fische zum Gut befördere.« Und das Pferd galoppierte von dannen. Er holte sie ein, ehe sie das Haus erreichten, und folgte ihr nach drinnen. »Macht es Euch ein wenig gemütlich, während ich mich abtrockne, ja?« rief sie und verschwand durch eine Seitentür, um dann mit ziemlich düsterem Gesicht und zurückgekämmtem braunem Haar wieder zu erscheinen. Sie war unauffällig gekleidet mit brauner Bluse, Rock und gefütterten Stiefeln, was ihr nicht halb so gut stand wie der nasse blaue Samt.

»Habe ich das Vergnügen, mit der ehrenwerten Karola Liedschmied-Grau zu sprechen?« erkundigte er sich, wohl wissend, daß es so war.

»Ich hoffe aufrichtig, daß Ihr es als Vergnügen empfinden werdet«, entgegnete sie. »Aber das hängt vermutlich davon ab, wer Ihr seid und was Ihr wollt.«

»Darauf wollte ich gerade zu sprechen kommen«, erwiderte Rupert und war so vor den Kopf gestoßen durch diesen Mangel an Höflichkeit, daß er seine eigene gute Erziehung vergaß. »Wenn Ihr so freundlich sein wollt, mich weitersprechen zu lassen.«

»Tut mir leid«, meinte sie, ohne daß es auch nur annähernd ehrlich klang.

Er lächelte auf sie hinab. Wahrscheinlich war sie immer noch verwirrt, von einem so riesenhaften Fremden wie ihm alleine in der Wildnis angesprochen zu werden. Allerdings wirkte sie doch erheblich gelassener als er. »Ich bin Euer Vetter, Rupert Eberesch, viertes Kind und dritter Sohn Seiner Majestät und – äh – auch Herzog der Östlichen Salzmarschen.«

Sie blinzelte zweimal, gaffte ihn zu seiner Befriedigung mit offenem Mund an, setzte sich und wies ihn mit einer Handbewegung an, es ihr nachzutun. »Potzwetter«, sagte sie schließlich. »Was für eine angenehme Überraschung. Dann bist du der kleine Rupert? Entschuldige, wenn ich dich nicht wiedererkannt habe. Ich glaube, du warst etwa vier Jahre alt, als ich dich zum letzten Mal sah. Du bist gewachsen.«

Er nickte.

»Ich meinte gehört zu haben, du wärst im Ausland?«

»War ich auch. In Wasimarkan. Ich habe alles gelernt, was sie mir beibringen konnten, und bin jetzt, wie bereits erwähnt, in dringlicher Mission für meine Schwester unterwegs.«

»Bronwyn? Hast du sie gesehen? Wie geht es ihr?«

»Sie ist krank vor Kummer«, sagte er und erzählte ihr die Geschichte der Entführung, wobei er ein paar Schwerthiebe seinerseits hinzufügte und die Rolle des Kindermädchens strich.

»Die haben aber keine Zeit verloren, wie?« fragte sie und warf einen grübelnden Blick in ihren Becher Kräutertee. Während Rupert erzählte, hatte sie ihnen beiden einen Becher zubereitet.

»Nicht einmal soviel, daß das Kind noch getauft werden konnte, was Bronwyn am meisten Sorge bereitet. Sie wollte schon im Nachthemd hierher reiten, dich um deine Hilfe bei dem Versuch zu bitten, für die vollen Schutzriten des Kindes Sorge zu tragen.«

»Du bist nun an ihrer Stelle gekommen?«

Er nickte.

»Laß mich ein paar Lebensmittel zusammenpacken und meinen Umhang holen«, schlug sie vor und stand auf.

»Du verstehst mich nicht richtig. Die sind inzwischen bereits in Miragenia. Das wird eine lange und gefährliche Suche werden.«

»Oh, das ist mir sehr wohl klar. Ich bin jetzt durchaus bereit, es sei denn, du bist müde von der Reise und möchtest eine Nacht hier schlafen?« Karola gab sich Mühe, hilfsbereit zu klingen, doch insgeheim dankte sie der Großen Mutter, sie von der Langeweile der vergangenen Wochen erlöst zu haben. Und wenn die Hexe auch auf eher distanzierte Art traurig war über den Kummer, der über Bronwyns Haus gekommen war, so zeigte sie sich über die Aufregung, die Bronwyns Unglück auszulösen versprach, weder überrascht und schon gar nicht unglücklich. Nicht, daß Karola sich über die Schwierigkeiten freute, wohl aber über die Gelegenheit, ihrer Cousine zu helfen wie schon zuvor, als Bronwyns Fluch sie ebenso wie alle andern im königlichen Haus getroffen hatte.

Was für ein glücklicher Zufall. Gerade als sie dabei war, das ganze Dorf zu verschaukeln, was ihr zweifellos alle sehr übel genommen hätten, verschaffte ihr Bronwyn eine makellose Ausrede, alles liegen zu lassen und davonzuziehen, um einem bedrängten Säugling zu helfen. Nein, keine Ausrede – eine heilige Pflicht, ein Gebot der Familienehre. Ein widriger, schlimmer Notfall. Selbst wenn man äußerst abgeneigt wäre, müßte man etwas unternehmen, sowohl als Priesterin wie als Familienangehörige. Jeder würde das verstehen. Andrerseits würde wohl keiner, und der Prinz am allerwenigsten, Karolas unangebrachte Freude bei diesem Vorhaben gutheißen, also beherrschte sie sich und senkte ihre Stimme drei Oktaven unter das aufgeregte Kreischen, das sie in ihrer momentanen Stimmung hätte von sich geben können. »Du sagtest doch, es wäre dringend?«

»Ja, ich glaube, das sagte ich. Ich rechnete nur damit, daß du mehr Zuspruch bräuchtest.«

»Angesichts der Umstände kann ich kaum Ausflüchte machen. Laß mich nur diesen Fisch im Haus eines Ratsmitglieds des Dorfes abgeben, dann werde ich dich nicht länger aufhalten.«

Als sie jedoch ihren Umhang zusammenraffte, begannen die hohen, schmalen Fenster zu klirren und die schweren Möbel zu wackeln. Darauf erhob sich ein heftiger Lärm, ein dumpfes Trommeln, das über sie hinwegdonnerte und aufhörte, sobald es den Herrensitz überflogen hatte. Ein Pferd wieherte. Rupert war sogleich auf den Beinen und griff zu seinem Schwert. Karola faßte nach seinem Arm.

»Das ist nichts Besorgniserregendes. Nur einer der Drachen. Da es mir gelungen ist, den Rat zu überzeugen, die Kuh, die ich für den Drachen bereitgestellt hatte, nicht zu schlachten, wird er dein Pferd nicht belästigen. Es sei denn, er wäre außergewöhnlich hungrig.«

Rupert, den diese Versicherung nicht beruhigte, eilte zur Tür und inspizierte das Gebäude. Im Innenhof des Gutes stand tatsächlich eine Drachin, die unter einer Windung ihres Schwanzes den verkohlten Kadaver einer Kuh versteckte, von der sie gerade eine Keule kaute. Sie schaute auf, rülpste und errötete zu Ruperts Überraschung. Er konnte tatsächlich feststellen, daß sie errötete, denn ihre Farbe verstärkte sich, daß der zart rosige Hauch ihrer Schuppen, der dem Innern einer Seemuschel glich, so intensiv rosa wurde wie an ihren dunkelsten Körperstellen. Ihre Augen hatten die Größe seines Schildes und waren veilchenblau. Sie blinzelten langsam und ungläubig bei seinem Anblick.

»Ach, Grippeldix«, sagte Karola, die kaum einen Schritt hinter ihm stand. »Nett, dich zu sehen. Ich möchte dir meinen Vetter, den Prinzen, vorstellen.«

Die Augen der Drachin wurden, soweit dies möglich war, noch größer, dann ließ sie die zart geäderten Lider schüchtern darübersinken und hielt den Blick auf den Boden geheftet. Sie neigte den Kopf auf ihren rosa Flügel hinab. Rupert war diese Geste wohl bekannt, bei einer Drachin hatte er sie allerdings noch nicht erlebt. Ihn beschäftigte unablässig die Frage, wie sich Karola mit dem Tier verständigte. Aber schließlich war sie eine Hexe. Er vermutete, daß sie Zauberkräfte benutzte. Er holte zu seiner elegantesten und höflichsten Verbeugung aus und sagte: »Ich hatte nicht die geringste Ahnung, daß unser Land so liebreizende Drachen hervorbringt, Cousine.« Flüsternd fügte er hinzu: »Übersetze ihr nur, was ich gesagt habe. Sie ist doch eine Drachen-Dame, oder?«

Karola nickte. »Grippeldix hat diesen Monat Bergwacht. Wir stellen ihr Vieh für ihre Dienste zur Verfügung.«

Grippeldix stieß ein tiefes, heiseres Knurren aus, dem eine Dampfwolke folgte. Karola nickte und drehte sich mit erheiterter Miene und leicht emporgezogener Augenbraue zu Rupert um. »Sie möchte wissen, wo du ihr ganzes Leben lang gesteckt hast.«

»Ich war …« Rupert überlegte. »Paß auf, ich werde dich entlohnen, wenn du mir den Zauberspruch beibringst, durch den du mit ihr sprechen kannst. Ich habe mich noch nie mit einem Drachen unterhalten.«

»Tut mir leid, aber es ist kein Zauberspruch. Es ist Panelfisch, eine Zaubersprache, die schwer zu erlernen ist. Weißt du, es sind alles lautlose Zeichen. Der gewöhnliche Zuhörer hält sie für Argonisch; die Drachin dagegen hört sie in ihrer eigenen Sprache und antwortet entsprechend.«

Rupert, der das ganze nicht annähernd begriffen hatte, kratzte sich am Kopf und warf die Locke zurück, die ihm so reizvoll in die Stirn hing. »Ich bitte dich, mir diese Zeichen beizubringen. Ich muß unbedingt lernen, mit Drachen zu sprechen.«

»Wir haben auch Einhörner hier, die sind allerdings ziemlich scheu, es sei denn … und ich nehme nicht an, daß du ein … nein, wie töricht von mir, vergiß es.«

Rupert wollte gerade protestieren, ihm zu verraten, was sie damit meinte, bis ihm dämmerte, mit wem die Einhörner der Legende zufolge am freundlichsten verkehrten. Er grinste und zwinkerte ihr zu. »Nein, ich fürchte, in dieser Hinsicht wäre ich nicht der Richtige; allerdings bin ich überzeugt, ein Einhorn von der Lauterkeit meiner Absichten zu überzeugen, wenn du mich erst einmal entsprechend mit ihnen bekannt machen würdest.«

Grippeldix, die etwas gereizt war, weil man sie aus der Unterhaltung ausschloß, hauchte einen leicht schwefligen Atemstoß in ihre Richtung. Karola antwortete unverzüglich. Die Drachin blinzelte Rupert noch zweimal an, ehe sie sich mit der Kuh in die Luft erhob und in Richtung der Gletschergipfel verschwand.

»Der Fisch wird noch schlecht, wenn wir ihn nicht bald abgeben«, erklärte Karola und hakte sich fröhlich bei ihm unter. »Und es wäre klug aufzubrechen, ehe die Drachin beschließt, dich an Stelle der Kuh zu verschlingen. Diese Drachen sind ziemlich unberechenbare Geschöpfe.«

II

Der Ratsherr der Gemeinde war wenig erbaut über Karolas Geschenk und über die Neuigkeit, daß Lindwurmtal nun für eine Zeitlang ohne seine ortsansässige Hexe und spirituelle Beraterin auskommen müßte.

»Wird ihnen das nicht sehr schwerfallen?« erkundigte sich Rupert, als sie davoneilten, während hinter ihnen die Haustür des Gemeinderats laut zugeschlagen wurde.

Karola grinste, wie es der wasimarkanischen Ausgabe einer Hexe angestanden hätte. »Im Gegenteil, ich glaube, es wird ihnen sehr guttun. Zweifellos war das die Absicht der Großen Mutter. Trotzdem müssen wir jetzt sehen, daß wir rasch fortkommen. Ich bin überzeugt, der Stallmeister wird den Jagdhund und den Falken gern in Obhut nehmen, vielleicht fällt dem alten Bernard sogar wieder ein, wie man mit ihnen auf die Jagd gehen kann.«

»Besitzt du die Zauberkraft, uns fliegend zu befördern?« erkundigte Rupert sich mißtrauisch. Er hatte nichts dagegen, sie mitzunehmen, doch störte ihn bereits sehr ihre Art, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen.

»Nein«, sagte sie. »Aber ich habe ein zweites Paar Skier – das heißt, sofern dir an einer Abkürzung liegt.«

»Zurück nach Königinstadt?«

»Durch den Berg, wie damals in unserer Jugendzeit mit Bronwyn, und dann ans Meer.«

»Werden deine Skier uns auch übers Meer und nach Miragenia tragen?«

»Nein, aber vermutlich die Nixen. Oder sie lassen uns möglicherweise auf ihrer Seeschlange reiten.«

Rupert, der niemals auf Skiern gestanden, einen Berg durchquert, Nixen gesehen oder auf einer Seeschlange geritten war, entwickelte große Beredsamkeit, den Stallmeister zu überzeugen, daß Pferd, Falke und Jagdhund, die er von Roland geborgt hatte, dem Dorf von großem Nutzen wären und liebevollste Pflege verdienten.

Die Skier waren ihm zu kurz, und die Bindungen mußten für seine Füße verlängert werden, doch sobald er auf den Brettern stand, nahm er sich ein Beispiel an seiner Cousine, die halb ausschritt, halb schlitterte, und zog tapfer hinter ihr her. Auf dem Fluß erwarb er genügend Selbstvertrauen und Geschicklichkeit, sie zu überholen, doch sie hielt ihn mit einer Handbewegung zurück und setzte ihren Weg in schnellerem Tempo fort, bis sie an eine Stelle gelangten, die wie ein Berghang aussah; sie duckte sich und schoß in totes Gestrüpp hinab.

Kurz darauf rief sie ihm zu: »Komm weiter. Es ist ungefährlich.«

Er tat wie geheißen, glitt nach vorn, duckte sich an der Stelle, wo sie sich seiner Erinnerung nach niedergebeugt hatte, und fragte sich gerade, was der ganze Wirbel sollte, als der Grund unter dem Fluß abfiel und ihm seine Skier weggerissen wurden. Er stürzte und rutschte durch das tote Gestrüpp in eisige Finsternis.

»Sagtest du nicht, es wäre ungefährlich?« meinte er, nach Atem ringend, als er sie über sich stehen sah, neben dem gefrorenen Wasserfall, den er gerade herabgestürzt war. Sie waren von Höhlenwänden umgeben, durch deren Löcher Licht auf einer weiten Eisfläche glitzerte.

»Mach dir keine Sorgen«, sagte sie. »Nach einer Weile bekommst du schon den Bogen für die Schußfahrten heraus. Es kommen nicht mehr viele dieser Art. Ich war mir nicht sicher, ob der Fluß hier unten auch gefroren ist, aber vermutlich hätte ich ihn auch fragen können. Wäre er nicht zugefroren gewesen, hättest du mich wieder hochziehen müssen, damit wir einen anderen Weg suchen, aber ich glaube, es wird gehen.«

Rupert beendete seine Untersuchung mit der Feststellung, daß ihm nichts fehlte. Karola zog eine Taschenfackel aus ihrem Vorratsbeutel und entzündete sie vor dem Gang auf der gegenüberliegenden Seite des Eissees.

Der Tunnel war lang und finster und verzweigte sich gelegentlich. Die erste dieser Gabelungen ließ Karola einen Moment innehalten.

»Sind sie dir niemals zuvor aufgefallen?« wollte Rupert wissen.

»Die Schwanin hat uns im Boot gezogen. Sie hat vermutlich den richtigen Weg gewählt. Seither bin ich nie wieder durch den Gang gekommen. Einen Augenblick. Ich werde fragen.«

Sie kniete nieder und benutzte die Fackel, um ein tiefes Loch ins Eis zu schmelzen. Eine feine Stimme sprudelte hoch. »Welcher ist für uns der ungefährlichste Weg zum Meer, Plappermaul?« erkundigte sie sich.

»Rechts lang«, antwortete er.

»Danke«, erwiderte sie.

»Nichts zu danken. Um diese Jahreszeit ist es einsam hier.«

Als sie das nächste Mal den Fluß befragte, war er alles andere als höflich: »Geradeaus weiter, Dummkopf!« Karola erklärte Rupert, daß der Fluß in seinem Verlauf ziemlich launisch sei, eine Behauptung, die sich später noch bestätigen sollte, als die zu einem gurgelnden Flüstern gedämpfte Stimme antwortete: »Mir sind alle Wege eins« und eine Menge Unfug mehr, mit dem Rupert nichts anfangen konnte.

Karola kniete länger an dieser Stelle, und ihre Augen zuckten im Fackelschein wie die eines wilden Tieres. »Hier endet der Zauber«, erklärte sie. »Jenseits des Berges spricht der Fluß überhaupt nicht mehr. Aber der Gang rechts sieht breiter aus, meinst du nicht auch?«

Er meinte es und führte an, daß sie ja immer noch kehrtmachen und flußaufwärts zurückgehen könnten, falls die Annahme sich als falsch erwiese.

Die Höhle gab schließlich den Blick auf einen weiten Horizont frei, begrenzt durch ein wogendes grünes Band, das sich zwischen dem sternenübersäten Himmel und der weiten Schneefläche kräuselte – der östliche Plappermaulfluß.

Sie lehnten sich am Höhleneingang auf ihre Skistöcke und ließen ihre Blicke auf dem grünen Band und den Sternen ruhen. Unvermittelt schob sich plötzlich etwas ganz anderes in ihr Blickfeld: Alles Licht von oben wurde verdeckt, als ein karrengroßer Kopf am oberen Höhlenrand auftauchte, schweflige Begrüßungswolken ausstieß und große, leuchtende Augen sie anblinzelten.

Rupert lachte. »Wie ausgesprochen schlau! Sie ist uns gefolgt.«

Karola war über die Störung verständlicherweise verärgert. Sie hatte die ruhige Skitour durch Berg und Mondschein und die Aussicht auf Abenteuer in Gesellschaft ihres gutaussehenden und liebenswürdigen jungen Vetters genossen. Und die Tatsache, daß sie sich entschieden hatte, ihre derzeitigen Pflichten einem anderen zu übertragen, stellte doch wohl keinen Grund dar, daß jedes andere Lebewesen im östlichen Argonia es ebenso hielt. »Grippeldix, warum bist du nicht auf Patrouille? Du weißt sehr wohl, daß nur wir hier unten sind und nicht irgendwelche Invasionsarmeen oder Banditen.«

Die Drachin überschlug sich rückwärts in der Luft und landete graziös auf Klauen und Schwanz im Flußbett vor ihnen. Sie spie ihnen Funken entgegen.

»Was hat sie gesagt?« wollte Rupert wissen und schickte ein verwirrtes, aber nichtsdestotrotz einnehmendes Lächeln in Richtung der Drachin.

»Nichts Besonderes. Sie ist nur neugierig. Sie ist noch halbwüchsig und nimmt ihre Pflichten nicht ganz ernst«, bemerkte Karola, die sich allerdings in dieser Hinsicht selbst einiges vorzuwerfen hatte.

»Aber wenn sie auf Patrouille ist, hielt sie uns vielleicht für Eindringlinge. Ich hatte keine Ahnung, daß Drachen so intelligent sind.«

Das Objekt seiner Bewunderung betrachtete ihn liebevoll und schnalzte mit der Zunge.

»Ich glaube kaum, Grippeldix«, erwiderte Karola rasch. »Es paßt nicht in unsere Pläne. Warum fliegst du jetzt nicht einfach davon und kümmerst dich um deine Aufgaben? Du weißt sehr wohl, daß Drachinnen gewöhnlich keine Prinzen freien. Du stammst von einer anderen Art. Es würde niemals gutgehen.«

Grippeldix ließ mürrisch den Kopf hängen. Rupert warf Karola einen empörten Blick zu. »Sie bemüht sich doch nur, freundlich zu sein. Das ist kein Grund, ihre Gefühle zu verletzen. Bitte sag ihr, daß ich sie wunderschön finde, und wäre ich ein Drache, wäre ich einfach hingerissen von ihr. So aber hoffe ich, daß wir Freunde werden.«

Karola gehorchte widerwillig. Ihr Vetter war vielleicht ein Prinz, aber von Drachen hatte er kaum eine Ahnung. Sie wußte, daß selbst ihre Mutter und ihr Vater vorsichtig mit Drachen umgingen, obgleich sie gelegentlich schon mit Grippeldix’ Eltern zu tun gehabt hatten. Drachen mochten hin und wieder mit Menschen Zusammenarbeiten, aber man konnte ihnen nicht trauen. Das Verhalten, das Grippeldix an den Tag legte, war so ungewöhnlich, daß jeder, der mehr Verstand als Eitelkeit besaß, nervös werden mußte. Immerhin waren Karola und die Drachin zusammen aufgewachsen, und ihr hatte Grippeldix noch niemals angeboten, sie auf ihrem Rücken fliegen zu lassen.

Grippeldix gurrte. Rupert rutschte auf seinen Skiern weiter und streckte die Hand aus, um die Drachin zu tätscheln. Das Tier senkte den Kopf und stieß ihn auffordernd an.

»Nun, ich denke, sie möchte mich einladen, auf ihr zu reiten, Cousine«, sagte er und bückte sich, seine Skier zu lösen.

»Ich halte das nicht für klug, Euer Hoheit. Meines Wissens hat noch keiner Grippeldix geritten, und die Küste ist nicht so weit entfernt, daß man sie nicht mit Skiern erreichen könnte. Abgesehen davon sind die Nixen …«

Rupert ließ sich nicht umstimmen. »Unfug. Bislang hat niemand sie geritten, weil sie es nicht wollte. Ich bin überzeugt, wenn ich sie bitte, wird sie dich ebenfalls mitnehmen. Sei kein solcher Spielverderber. Ich werde eine Übersetzerin brauchen. Sag ihr, daß wir nur bis zur Meeresküste mitfliegen werden. Ich will auf keinen Fall versäumen, die Nixen kennenzulernen.«

Der ernsthafte junge Mann, der ihr so rührend die Notlage seiner Schwester geschildert hatte, schien nun größeres Interesse daran zu haben, einen Nervenkitzel nach dem anderen zu erproben, aber das war kennzeichnend für den übersättigten Menschenschlag bei Hofe, dachte Karola, und ihre gute Laune darüber, das Dorf hinter sich gelassen zu haben, wandelte sich in Gereiztheit.

Sie konnte es sich nicht verkneifen, beim Aufsteigen Grippeldix ins Ohr zu flüstern, daß sie hoffte, die Drachin würde sich damit zufriedengeben, sie zur Küste zu befördern, und dann ihren ernsthafteren Aufgaben nachgehen.

»Kümmere dich nicht um meine Aufgaben, Liebste«, antwortete Grippeldix. »Dazu gehören auch Eindringlinge, und er ist der einzige Fremde weit und breit. Ich sehe bei einem einzigen Tagesflug mehr als du in einer Woche. Ich kann die Zeit erübrigen, und dein winziges Herrschaftsgebiet ist trotzdem nach wie vor in Sicherheit. Warum entwickelst du überhaupt plötzlich so heftiges Interesse für meine Pflichten, Gnädigste? Früher hast du nicht viel mehr zu mir gesagt als ›Deine Kuh steht dort drüben, Drachin‹. Willst mich wohl loswerden, was? Kann es dir nicht verdenken. Mir war nicht klar, daß es Sterbliche wie ihn gibt.«

Karola schüttelte den Kopf und setzte sich zwischen zwei Rückenwirbeln vor Rupert zurecht. »Gibt es auch nicht, Drachin. Aber er ist mit mir und der Königsfamilie verwandt. Ich wollte nur sichergehen, daß du dich nicht soweit hinreißen läßt … ihn wie eine deiner Kühe zu behandeln.«

Die Drachin schnaubte verächtlich bei diesen Worten, antwortete aber nicht.