Die Silkwell-Verschwörung - David Baldacci - E-Book

Die Silkwell-Verschwörung E-Book

David Baldacci

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Beschreibung

Mord an einer CIA-Agentin. Kann Travis Devine die Wahrheit herausfinden?

CIA-Agentin Jennifer Silkwell wird bei einem Besuch in ihrer Heimatstadt im ländlichen Maine ermordet. Zusätzlich besonders brisant: Ihr Laptop samt gespeicherter Staatsgeheimnisse ist spurlos verschwunden. Die Regierung schickt Ex-Army-Ranger Travis Devine nach Maine, um diskret zu ermitteln und die sensiblen Daten zu sichern. Dabei muss er sich misstrauischen Einheimischen stellen, darunter Jennifers Geschwistern Dak, ein suspendierter Army-Private und Unternehmer, sowie der bildschönen, aber reservierten Künstlerin Alex. Schnell wird Devine klar, dass es in der Kleinstadt viele Geheimnisse gibt und viele Einwohner vor nichts zurückschrecken, damit diese nicht ans Tageslicht kommen. Und so weiß Devine bald nicht mehr, wem er trauen kann - und wer ihn tot sehen will ...

Der 2. Fall für Ex-Army-Ranger Travis Devine

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Seitenzahl: 596

Veröffentlichungsjahr: 2025

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INHALT

CoverÜber das BuchÜber den AutorTitelImpressumWidmungKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Kapitel 19Kapitel 20Kapitel 21Kapitel 22Kapitel 23Kapitel 24Kapitel 25Kapitel 26Kapitel 27Kapitel 28Kapitel 29Kapitel 30Kapitel 31Kapitel 32Kapitel 33Kapitel 34Kapitel 35Kapitel 36Kapitel 37Kapitel 38Kapitel 39Kapitel 40Kapitel 41Kapitel 42Kapitel 43Kapitel 44Kapitel 45Kapitel 46Kapitel 47Kapitel 48Kapitel 49Kapitel 50Kapitel 51Kapitel 52Kapitel 53Kapitel 54Kapitel 55Kapitel 56Kapitel 57Kapitel 58Kapitel 59Kapitel 60Kapitel 61Kapitel 62Kapitel 63Kapitel 64Kapitel 65Kapitel 66Kapitel 67Kapitel 68Kapitel 69Kapitel 70Kapitel 71Kapitel 72Kapitel 73Kapitel 74Kapitel 75Kapitel 76Kapitel 77Kapitel 78Kapitel 79Kapitel 80Kapitel 81Kapitel 82Danksagung

ÜBER DAS BUCH

CIA-Agentin Jennifer Silkwell wird bei einem Besuch in ihrer Heimatstadt im ländlichen Maine ermordet. Zusätzlich besonders brisant: Ihr Laptop samt gespeicherter Staatsgeheimnisse ist spurlos verschwunden. Die Regierung schickt Ex-Army-Ranger Travis Devine nach Maine, um diskret zu ermitteln und die sensiblen Daten zu sichern. Dabei muss er sich misstrauischen Einheimischen stellen, darunter Jennifers Geschwistern Dak, ein suspendierter Army-Private und Unternehmer, sowie der bildschönen, aber reservierten Künstlerin Alex. Schnell wird Devine klar, dass es in der Kleinstadt viele Geheimnisse gibt und viele Einwohner vor nichts zurückschrecken, damit diese nicht ans Tageslicht kommen. Und so weiß Devine bald nicht mehr, wem er trauen kann - und wer ihn tot sehen will …

 

Weitere Titel des Autors:

Der Präsident Das Labyrinth Die Versuchung Die Wahrheit Die Verschwörung Das Versprechen Der Abgrund Das Geschenk Auf Bewährung Das Glück eines Sommers

 

Bände der Shaw-Reihe:

Die Kampagne Doppelspiel

 

Bände der Maxwell / King-Reihe:

Im Bruchteil der Sekunde Mit jedem Schlag der Stunde Im Takt des Todes Bis zum letzten Atemzug Fünf vor zwölf

 

Bände der Camel-Club-Reihe:

Die Wächter Die Sammler Die Spieler Die Jäger Der Auftrag

 

Bände der Will-Robie-Reihe

Der Killer Verfolgt Im Auge des Todes Falsche Wahrheit Der Feind im Dunkeln

 

Titel in der Regel auch als Hörbuch erhältlich

ÜBER DEN AUTOR

David Baldacci wurde 1960 in Virginia geboren, wo er heute lebt. Er wuchs in Richmond auf. Sein Vater war Mechaniker und später Vorarbeiter bei einer Spedition, seine Mutter Sekretärin bei einer Telefongesellschaft. Baldacci studierte Politikwissenschaft an der Virginia Commonwealth University (B. A.) und Jura an der University of Virginia. Während des Studiums jobbte er u.a. als Staubsaugerverkäufer, Security-Guard, Konstrukteur und Dampfkesselreiniger. Er praktizierte neun Jahre lang als Anwalt in Washington, D.C., sowohl als Strafverteidiger als auch als Wirtschaftsjurist. Von David Baldacci wurden bislang 29 Romane in deutscher Sprache veröffentlicht. Seine Werke erschienen auch in Zeitungen und Zeitschriften wie USA Today Magazine und Washington Post (USA), Tatler Magazine und New Statesman (Großbritannien), Panorama (Italien) und Welt am Sonntag (Deutschland). Außerdem hat er verschiedene Drehbücher fürs Fernsehen geschrieben. David Baldaccis Bücher wurden in 40 Sprachen übersetzt und in mehr als 80 Länder verkauft. Alle Romane von David Baldacci waren nationale und internationale Bestseller. Die Gesamtauflage seiner Romane liegt bei über 110 Millionen Exemplaren. Neben seiner Arbeit als Schriftsteller engagiert sich Baldacci für eine Reihe karitativer und gesellschaftlicher Institutionen, darunter der National Multiple Sclerosis Society, der Barbara Bush Foundation for Family Literacy, der Virginia Foundation for the Humanities, der America Cancer Society, der Cystic Fibrosis Foundation und der Viriginia Commonwealth University. David Baldacci ist verheiratet und hat zwei Kinder: Tochter Spencer und Sohn Collin. Er lebt mit seiner Familie in Virginia, nahe Washington, D.C.

DAVIDBALDACCI

DIE

SILKWELL-VERSCHWÖRUNG

THRILLER

Übersetzung aus dem Amerikanischenvon Frauke Meier

Vollständige eBook-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Titel der amerikanischen Originalausgabe:

»The Edge«

Für die Originalausgabe:

Copyright © 2023 by Columbus Rose, Ltd.

Für die deutschsprachige Ausgabe:

Copyright © 2025 by

Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6–20, 51063 Köln, Deutschland

Vervielfältigungen dieses Werkes für das Text- und

Data-Mining bleiben vorbehalten.

Textredaktion: Dr. Frank Weinreich, Bochum

Umschlaggestaltung: Massimo Peter-Bille

Umschlagmotiv: © Shutterstock AI Generatorshutterstock/

shutterstock; Parilov/shutterstock

eBook-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde

  

ISBN 978-3-7517-7470-3

luebbe.de

lesejury.de

 

Im Gedenken an Lee Calligero,einem Mann, der mich viel gelehrt hatund der beste Strafverteidiger war,den ich je erlebt habe.

KAPITEL 1

Zugreisen waren allgemein schon nicht als besonders gefährlich bekannt, noch weniger in Europa, wo die Züge wie der Wind über präzise konstruierte Schienen brausten, die eine seidenglatte Fahrt gewährleisteten. Jeden Tag zeichneten verschiedene Eisenbahngesellschaften für mehrere Verbindungen zwischen Genf und Mailand verantwortlich und man konnte früh am Morgen oder spät am Abend reisen. Die Züge fuhren mit einer Maximalgeschwindigkeit von zweihundert Kilometern pro Stunde, während die Passagiere schlummerten, arbeiteten, Serien über Streaming-Dienste verschlangen oder recht komfortabel aßen und tranken. Dieser spezielle Zug war ein silberner Astoro mit Neigetechnik und einer Frontpartie, die an die Spitze einer Patrone erinnerte, betrieben von Trenitalia. Keiner der über hundert Passagiere zog in Erwägung, an diesem Tag zu sterben.

Bis auf einen.

Soweit es Travis Devine betraf, war diese Fahrt auf jene Weise hoch riskant, die einen nicht ins Krankenhaus brachte, sondern eher zwei Meter tief in kalte Erde. Die Ursache dafür hatte jedoch nichts mit dem Zug zu tun. Die hatte sein gut geschultes Situationsbewusstsein aufgestöbert und ihn zu dem Schluss geführt, dass sein Leben in unmittelbarer Gefahr war.

Die Reise von Genf nach Mailand führte durch eine wunderschöne Landschaft, vorbei an den hoch aufragenden, schneebedeckten Gipfeln der Schweizer Alpen, durch üppig grüne Täler, an gepflegten Weingütern und zwei unberührten Seen vorüber und durch idyllische, malerische Dörfer, die sich zwischen den beiden ehrwürdigen Städten verteilten. Devine interessierte das alles nicht im Geringsten, während er auf seinem lederbezogenen Polstersitz in der ersten Klasse saß und scheinbar ins Nichts starrte, tatsächlich aber alles in dem Waggon im Auge behielt. Und da gab es eine Menge zu sehen.

Devine schaute zur Uhr. In manchen Zügen war man für diese Strecke fünfeinviertel Stunden unterwegs, aber dies war ein Expresszug, der es in knapp vier schaffen würde. Nun hatte er noch neunzig Minuten zu fahren, aber möglicherweise auch nur noch ebenso viele Sekunden zu leben. Devine hätte einen vollgestopften Zug vorgezogen, aber er war in Genf nur knapp davongekommen und hatte keinen Spielraum hinsichtlich des Zeitpunkts seiner Abreise gehabt. So früh am Morgen waren außer ihm nur noch drei andere Passagiere in der ersten Klasse unterwegs. Die Zugbegleiter waren bereits durchgekommen und hatten die Tickets kontrolliert. Obwohl dies die erste Klasse war, wurde kein Essen am Platz serviert, aber es gab einen Speisewagen zwischen den Waggons der ersten und der zweiten Klasse. Die Zugbegleiter waren in der zweiten Hälfte der Reise gen Süden irgendwo anders hin verschwunden.

Alpha, Bravo und Charlie, so nannte der ehemalige U. S. Army Ranger Devine die anderen Passagiere im Stillen. Zwei Männer, eine Frau. Und zumindest in seinen Augen nicht nur irgendwelche Mitfahrenden.

Widersacher. Böse Geister. Der Feind.

Die Männer saßen einander gegenüber, ein gutes Stück vor Devine nahe dem vorderen Ende des Wagens, die Frau nur zwei Reihen vor ihm auf der anderen Seite des Gangs. Sie sah aus wie eine Studentin – stapelweise Lehrbücher und ein voluminöser Rucksack in einem Gepäckregal; sie zeichnete etwas in einem Skizzenbuch. Aber Devine war schon früher von Leuten zum Narren gehalten worden, die sich als Studenten ausgegeben hatten.

Die Männer trugen dicke Mäntel zum Schutz vor dem Klima, das vor den schmalen Zugfenstern lauerte. Mäntel, unter denen sich eine Menge Dinge verbergen ließen.

Devine war inzwischen zweimal aufgestanden und zur Toilette gegangen, aber nur einmal, um sich zu erleichtern; das andere Mal hatte der Aufklärung gedient. Er hatte sich auch im Speisewagen etwas zu essen geholt und an seinen Sitzplatz mitgenommen. Wenn er von seinen Ausflügen zurückgekommen war, hatte er jedes Mal einen Blick auf seine Reisetasche geworfen, die hinter ihm in einem Gepäckregal lag.

Und beim dritten Mal sah er, was er zu sehen erwartet hatte.

Er rief die Zugfahrt auf seinem Handy auf, sah sich die ganze Route an, den Verlauf und den Zeitablauf, den kritischsten Punkt überhaupt. Von besonderem Interesse war der Simplontunnel, den sie nach der Schweizer Stadt Brig erreichen würden. Beim Verlassen des Tunnels wären sie bereits in Italien. Der Artikel, den er gerade las, besagte, dass der Tunnel zwölf Meilen lang war und der Zug acht Minuten benötigte, um ihn zu passieren. Nach dem 1906 eröffneten Tunnel war der vermutlich berühmteste Zug der Welt benannt worden: der Simplon-Orient-Express.

Die Geschichte war Devine egal; er konzentrierte sich auf den Tunnel selbst.

Er schickte einer interessierten Partei eine Nachricht mit hoher Priorität und sah erneut zur Uhr.

Alpha und Bravo hatte er bereits mehrmals dabei erwischt, dass sie ihn angestarrt hatten, sich aber nichts anmerken lassen. Derlei Blicke bezeichnete man in Devines Welt als Zielblicke. Charlie, die eine Schirmmütze von Real Madrid trug, hatte nicht ein Mal in seine Richtung geschaut, aber sie hatte die beiden Männer verstohlen beäugt, wenn sie etwas aus ihrer Tasche geholt hatte. Ihre Bewegungen waren angespannt, sogar roboterhaft, wie er festgestellt hatte. Sie versuchte zu angestrengt, normal auszusehen, und das wirkte ängstlich. Stress aktivierte das sympathische Nervensystem, den Teil des Körpers, der für Flucht oder Schockstarre zuständig war; eine Funktion, die die Menschheit der Gegenwart ihren Höhlenmenschenvorfahren verdankte. Furcht wirkte sich körperlich aus. Der Geist war imstande, einem Streiche zu spielen, die man sich kaum vorstellen konnte. In dem Versuch, sich zu schützen, konnte die Stressreaktion des Körpers ebenso dazu führen, dass ein Mensch einem Herzinfarkt erlag oder unfähig wurde, etwas zu seiner Rettung zu unternehmen. Oder sie konnte, wie in diesem Fall, einen Mordplan zunichtemachen und dem potenziellen Opfer eine Überlebenschance verschaffen.

Devine analysierte die Situation genau so, wie er es gelernt hatte, und zog jede Eventualität, jegliche Schwachstelle in Betracht. Die Männer hatten ihre Mäntel nie abgelegt, obwohl es im Inneren des Zuges recht behaglich war. Tatsächlich hatte Devine seinen Parka ausgezogen, weil es ihm zu warm geworden war.

Die Hände in den Taschen zu behalten, war im Hinblick auf böse Absichten ein besonders verräterisches Zeichen, denn Hände waren ein notwendiges Hilfsmittel zum Einsatz einer Primärwaffe, wobei es sich zumeist um eine Schusswaffe handelte. Und ihre Blicke hatten Devine nicht nur einmal anvisiert, sondern zweimal. Außerdem hatten sie, soweit er das beurteilen konnte, ihre Sitzplätze nie verlassen. Weder Speisebehälter noch Trinkbecher waren auf ihrem Tisch zu sehen. Damit waren alle Bedingungen für Devines »Regel der drei« erfüllt, einem Trio von abweichenden Verhaltensmustern, das, wenn es zutage trat, besagte, dass man sich einen Plan zurechtlegen sollte, wollte man noch aus eigener Kraft davonspazieren.

Gut, ich habe also mindestens vier Warnzeichen hier in Anbetracht dessen, was ich an meiner Reisetasche bemerkt habe. Also muss ich mir wohl allmählich was einfallen lassen.

Erneut warf Devine einen Blick auf seine Uhr, ehe er die Reisetasche musterte. Als er aus dem Speisewagen zurückgekommen war, hatte er bemerkt, dass der Reißverschluss um drei Zähne weiter geschlossen war als vorher. Dank eines passenden Lichteinfalls hatte er zudem die Wirbel eines Daumenabdrucks auf dem Schieber erkannt; eines Daumenabdrucks, der bestimmt nicht seiner war. In der Tasche war weiter nichts außer Klamotten und einem Kulturbeutel; andernfalls hätte er sie nie unbewacht liegen lassen. Innerlich wollte er sich in den Arsch beißen, weil er auf diese Reise keine Schusswaffe mitgenommen hatte, aber das wäre aus verschiedenen Gründen problematisch gewesen.

Am Grenzbahnhof Domodossola enterte ein Kontingent schweizerischer Grenzschützer den Zug, um die Zollkontrolle durchzuführen. Devine wurde gefragt, ob er etwas zu verzollen habe und wie viel Bargeld er mit sich führe, und er musste seinen Pass vorzeigen. Anschließend gab er sich desinteressiert, sah aber insgeheim aufmerksam zu, als die anderen drei Passagiere der gleichen Prozedur unterzogen wurden. Die Pässe der beiden Männer konnte er nicht sehen, aber der der Frau schien ein Post-Brexit-Ausweis Großbritanniens zu sein, in Blau und Gold, die ursprünglichen Farben britischer Pässe von 1921 bis zum EU-Beitritt.

Später sah er zum Fenster hinaus, als der Zug langsamer wurde und in die Stadt Brig einfuhr. In der ersten Klasse stieg niemand zu und niemand aus, abgesehen von dem Aufgebot der Schweizer. Einen Moment lang dachte Devine daran, selbst auszusteigen oder ihnen von seinen Sorgen hinsichtlich der anderen Passagiere zu erzählen. Doch inzwischen hatte er einen Plan, und an den würde er sich halten. Außerdem traute er derzeit so oder so niemandem, nicht einmal Schweizer Grenzwächtern. Die Gegner, mit denen er es zu tun hatte, verfügten über die Ressourcen, um so ziemlich alles und jeden zu kaufen.

Und diese Widersacher waren überaus motiviert, Devine Böses zu wollen. Im Auftrag der Vereinigten Staaten hatte Devine dazu beigetragen, den Versuch einiger ebenso mächtiger wie skrupelloser Akteure zu vereiteln, aus Profitgier weltweit Unruhen zu begünstigen und nebenbei Regierungen zu stürzen, die den Drahtziehern dieses Plans feindlich gesonnen waren. Solange Menschen scharf auf Geld und Macht waren, hörte auch dieser Mist nicht auf, wie es aussah. Und eines Tages könnten diese Leute es vielleicht schaffen, die Welt zu übernehmen, dachte Devine manchmal.

Der Zug verließ den Bahnhof. Die beiden Zugbegleiter betraten den Waggon und Devine übergab einem von ihnen die Abfälle, die von seiner Mahlzeit übrig geblieben waren. Darüber hinaus gab es nichts, was ihre Aufmerksamkeit erfordert hätte. Es war auch niemand zugestiegen, also verließen sie den Waggon auf der anderen Seite wieder, um sich dem zuzuwenden, was immer Zugbegleiter taten, wenn ihre offizielle Arbeit abgeschlossen war.

Die Geschwindigkeit des Zugs wurde auf einem Bildschirm an der Stirnwand des Waggons angezeigt. Devine sah zu, wie sie auf einhundertachtzig Kilometer pro Stunde stieg und dann wieder sank. Im Kopf rechnete er Meilen in Kilometer um, um herauszufinden, welches Tempo der Zug im Simplontunnel haben würde.

Zwölf Meilen entsprechen neunzehn Kilometern. Diese Strecke in acht Minuten zu schaffen, erfordert eine konstante Geschwindigkeit von … genau.

Er sah erneut zum Bildschirm. Einhundertundsechzig Kilometer … hundertdreiundfünfzig … hundertzweiundvierzig Komma …

Er zog seinen Parka an und erhob sich, als der Zug gerade in den Tunnel einfuhr; nun spendete nur noch die Innenbeleuchtung des Waggons Helligkeit. Devine ging den Gang hinauf in Richtung der Toilette im Verbindungsgang. Als er an der Frau vorbeikam, warf er einen Blick auf ihre Kohlezeichnung.

Okay, das ergibt Sinn. Und es ist nett, zumindest in einem Punkt eine vage Bestätigung zu bekommen.

Aber der Beweis wird auch bald folgen und keine Fragen offenlassen.

Devine fing an, taktisch zu atmen: Einatmen und dabei bis vier zählen, Atem anhalten und bis vier zählen, ausatmen und bis vier zählen, Atem anhalten und bis vier zählen. Wiederholen. Das würde sein sympathisches Nervensystem daran hindern, seine periphere Sicht auszulöschen, seine feinmotorischen Fähigkeiten zu zerschlagen und ihn in ein großes, dummes Tier zu verwandeln, das nur darauf wartete, getötet zu werden. Eines Tages würde er sterben, wie jeder andere auch, aber ganz sicher nicht so.

Er ging an Alpha und Bravo vorbei, die ihn keines Blickes würdigten. Die Automatiktür öffnete sich mit einem hydraulischen Seufzer, und Devine trat in den Verbindungsgang. Die Toilette war auf der rechten Seite, gerade außer Sichtweite der Passagiere.

Wenige Augenblicke später öffnete sich die Toilettentür, und noch einen Moment später wurde sie wieder geschlossen.

Die beiden großen Männer erhoben sich, als wären sie miteinander verschnürt, und folgten Devine.

Unterwegs schraubten sie Schalldämpfer auf die Mündungen der völlig übertriebenen Maschinenpistolen deutscher Herstellung, die sie aus ihren Manteltaschen gezogen hatten. Sie erreichten den Verbindungsgang, in dem sie Wasser rauschen und jemanden im Waschraum reden hören konnten. Sie zielten und feuerten geradewegs durch die dünne Tür. Das Geräusch der so oder so schallgedämpften Schüsse ging im gesteigerten Dröhnen des Zugs im Tunnel unter, weshalb sie mit der Ausführung ihres Auftrags auch bis jetzt gewartet hatten. Ihre Schüsse folgten einem klaren Muster, von oben nach unten und dann im Zickzack zurück. Auf diese Weise deckten sie Stück für Stück die Kabine ab, sodass es in dem beengten Raum hinter der Tür keine Überlebenschance gab. Bei insgesamt sechzig Patronen war der Tod der Zielperson garantiert.

Gedeckt von Bravo öffnete Alpha vorsichtig die durchlöcherte Tür. Ihr Auftrag erforderte ein per Handy an ihren Auftraggeber zu verschickendes Foto der Leiche.

Doch alles, was er sah, war ein leerer Waschraum mit offenem Wasserhahn. Und ein Telefon, das auf dem Boden neben der Toilette an der Wand lehnte und einen Podcast abspielte.

In diesem Moment schwang die Tür zu dem Abstellraum gegenüber der Toilette auf und erwischte Bravo an der rechten Schläfe.

Nun, da er sie ihre Waffen hatte leerschießen lassen, war Devine der Jäger, und sein Ziel lautete, den Boden einzunehmen, auf dem die Männer standen. Die einzige Möglichkeit, das zu tun, bestand darin, sie zu überrollen.

Er begann seinen Feldzug mit einem beidhändigen Daumenangriff auf die Augen, der Bravo blendete. Als Nächstes formte eine Hand ein V, der Daumen auf der einen, die vier Finger auf der anderen Seite, und rammte sie dem Mann hart genug in die Kehle, um seine Luftröhre zu quetschen. Dem folgte ein doppelter Ellbogenstoß an die rechte Halsseite, bei dem zwei seiner Wirbel brachen und das Gehirn vom Rest des Körpers getrennt wurde. Er ging zu Boden. Der Kampf war für ihn vorbei, genau wie sein Leben. Der ganze flüssige Bewegungsablauf hatte nicht mehr als vier Sekunden erfordert.

Anschließend drängte Devine einen halb betäubten Alpha samt Maschinenpistole gegen den Türrahmen der Toilette, der gerade ein neues Magazin einlegen wollte. Die Waffe fiel zu Boden, als Devine dem Mann die Hand erst abwärts und dann kraftvoll so weit zur Seite verdrehte, dass das Gelenk aus der Kapsel sprang. Eigentlich hätte Alpha längst nachgeladen und auf Devine geschossen haben sollen, aber der Mann konnte nur stoßweise atmen, während die Nebennieren seinen Blutkreislauf mit Cortisol fluteten und die Kommunikation zwischen Kopf und Körper empfindlich störten. Seine Pupillen vergrößerten sich in einem Atemzug um das Dreifache; seine periphere Sicht war komplett hinüber. Devine wusste schon jetzt, dass er diesen Kampf gewinnen würde, denn nichts von all dem schränkte ihn ein. Seine kognitiven und mithin kämpferischen Fähigkeiten waren unbeeinträchtigt.

Unbeholfen schlug Alpha nach ihm und streifte sein Kinn. Der Schlag war nicht hart genug, um ernsten Schaden anzurichten, und der in Panik geratene Mann hatte sich durch diese Bewegung selbst aus dem Gleichgewicht gebracht. Zwei Ellbogenstöße in die rechte Niere trieben ihn auf die Knie. Devine packte seinen Kragen und schleuderte ihn mit dem Kopf voran gegen die Wand, einmal und dann gleich noch einmal. Der verzweifelte Killer zog, vielleicht, weil er seinen bevorstehenden Tod ahnte, ein Messer, wand sich und stieß zu. Die Klinge erwischte Devine am Arm, aber der Mann hatte schlecht gezielt, und der dicke Parka trug den größten Teil des Schadens davon.

Okay, Zeit, dem ein Ende zu machen. Und ihm.

Devine rang dem Mann das Messer aus der Hand, und es fiel klappernd zu Boden. Dann schlug er ihm mit solcher Gewalt auf das rechte Ohr, dass das Trommelfell platzte. Der Körper des Mannes verkrampfte sich und präsentierte dabei Devine das Gesicht, was der zu einem Handflächenschlag auf seine Nase nutzte. Dem folgte ein zweiter, der all die kinetische Energie seines muskulösen Arms, der Schulter, des breiten Rückens sowie der Drehbewegung aus der Hüfte freisetzte. In diesem straffen Angriff lag genug Kraft, um die scharfen Bruchstücke des Nasenknorpels geradewegs in das weiche Gewebe des Gehirns zu treiben. Mit dem Gesicht voran ging der Angreifer zu Boden. Zur Sicherheit beugte sich Devine hinunter und brach dem Mann das Genick, wie es ihn die U. S. Army gelehrt hatte.

Devine zerrte die beiden toten Killer samt Waffen in die Toilette, drehte das Wasser ab, nahm sein Telefon wieder an sich und verkeilte die von Schüssen zersiebte Tür im Rahmen.

Bei so einem Kampf ging es nicht in erster Linie darum, bestimmte Techniken zu beherrschen; das war wichtig, aber noch bedeutender war ein hoch entwickelter mentaler Zustand. Ohne den waren auch fortgeschrittene Nahkampffähigkeiten nutzlos, weil man schlicht zu eingeschüchtert wäre, um sie anzuwenden. Und mit dem Konzept der Selbstverteidigung stand man von vornherein auf verlorenem Posten, räumte sozusagen das Feld und machte sich selbst zum Opfer in Wartestellung. Du verteidigst dich nicht, du greifst an. Du hältst niemanden davon ab, dich zu verletzen oder zu töten. Du verletzt beziehungsweise tötest. Den Gegner.

Er betastete vorsichtig den Arm, von dem er jedoch instinktiv wusste, dass er nicht schwer verletzt war, rieb sich das angeschlagene Kinn und kehrte zurück in den Waggon, wo Charlie ihm entgegenstarrte.

»Was ist passiert?«, fragte sie mit angespanntem Blick. »Was war das für ein Lärm?«

Also gut, dachte Devine, das ist der passende Moment, um die Theorie zu erproben.

Während er langsam auf sie zuging, warf Devine einen kurzen Blick auf das Zugfenster, in dem sich der Innenraum spiegelte, da sie weiterhin durch den Simplontunnel fuhren, was auch noch einige Minuten dauern würde. Er sah, was er sehen musste.

Er zuckte mit den Schultern. »Zwei Kerle. Ziemliche Sauerei auf der Toilette. Die werden eine Menge zu putzen haben.«

»Meine Güte. Kann ich irgendwas tun?«

Ihre Halsmuskulatur war nun entspannt, wie ihm auffiel, die Pupillen normal, die Atmung ebenfalls. Sie war eine Stufe weiter als die beiden toten Schläger im Klo.

Devine blieb neben ihr stehen, musterte die Zeichnung und sagte: »Ja, Sie könnten mir erklären, warum Sie hier seit über zwei Stunden sitzen und arbeiten, ohne auch nur einen verdammten Strich hinzuzufügen.«

Sie stand halb auf und schwang ein Messer mit langer Klinge von ihrem Schoß aus aufwärts, aber Devine hatte die Waffe längst im Fenster entdeckt. Er vergeudete keine Zeit damit, den Angriff zu blocken, sondern rammte ihr die Faust unters Kinn und hob die viel kleinere, leichtere Frau hoch und donnerte sie gegen die Wand. Sie sackte zu Boden, bewusstlos von dem kraftvollen Faustschlag und der Kollision mit der Wand. Devine überlegte kurz, ob er den Job zu Ende bringen sollte. Aber sie war jung und mochte sich vielleicht noch eines Besseren besinnen. Er nahm das Messer an sich, zog ihr den Schirm der Mütze tiefer ins Gesicht, drapierte ihr Haar um die schmalen Schultern und setzte sie so hin, dass es aussah, als würde sie nur ein Nickerchen machen.

Anschließend schnappte er sich seine Reisetasche, marschierte in den Speisewagen und weiter durch die Waggons der zweiten Klasse bis zum letzten Wagen, wo er das Messer in einen Mülleimer warf. Der Zug ließ den Tunnel hinter sich, und als er langsamer wurde und in Stresa, der letzten Station vor Mailand, hielt, stieg Devine aus. Die Textnachricht, die er zuvor verschickt hatte, zahlte sich aus, als eine schwarze Limousine ihn auflas. Der Fahrer würde Devine nach Mailand bringen. Dort würde er ein Flugzeug zurück in die Vereinigten Staaten nehmen, wo zweifellos schon die nächste Mission auf ihn wartete.

Als er sich zum Zug umschaute, fragte sich Devine, ob es ein Fehler gewesen war, die Frau am Leben zu lassen.

Er würde nicht lange auf die Antwort warten müssen.

KAPITEL 2

Emerson Campbell saß in einem schäbigen Büro in einer Einkaufszeile aus den Sechzigern in Annandale, Virginia, und er war kein glücklicher Mann.

Er war ein Zwei-Sterne-General im Ruhestand. Wie Travis Devine besaß er das Ranger-Tab und das Abzeichen der Spezialeinheiten, was bedeutete, dass er die Ranger School abgeschlossen hatte und in die Elite-Truppe des 75. Ranger-Regiments aufgenommen worden war, die angesehenste und forderndste Sondereinsatzeinheit der Army. Sein stahlgraues, kurz geschnittenes Haar und die verwitterten, grimmigen Züge zeugten von lebenslanger Disziplin verbunden mit einem Höchstmaß an Professionalität sowie, und das war vielleicht sogar am eindrucksvollsten, von all dem Mist, den er zu sehen bekommen hatte, als er für sein Land in einer ganzen Anzahl von Kriegen gekämpft und zudem an Geheimoperationen teilgenommen hatte, von denen die Öffentlichkeit nie erfahren würde.

Devine saß auf der anderen Seite des Schreibtischs und musterte den Mann, der ihn einige Monate zuvor für den Dienst für das Office of Special Projects unter dem gewaltigen bürokratischen Dach von Homeland Security rekrutiert hatte.

Special Projects, dachte Devine, das hört sich an, als würden wir Büropartys und Gesellschaftstänze organisieren.

»Das ist ein Desaster, Devine. Die Regierungen Italiens und der Schweiz haben offiziell Beschwerde eingelegt. Zwei tote Kerle in einer zerschossenen Zugtoilette im Grenzgebiet ihrer beider Länder. Das sieht nicht gut aus.«

»Es sieht besser aus als ein toter Kerl, namentlich ich. Wurden die Toten identifiziert?«

Campbell zuckte mit den Schultern. »Kasachische Schläger, weiter nichts. Die haben mindestens zwanzig Menschen umgebracht. Ihren Lohn erhielten sie stets per elektronischem Geldtransfer, sobald sie den Beweis für den Mord erbracht hatten. Keine nachverfolgbare Interaktion mit dem Auftraggeber, wer immer es sein mag. Keine Möglichkeit, darüber hinaus irgendetwas in Erfahrung zu bringen. Genau darum geht’s.«

»Dann bin ich froh, dass ich ihnen den einundzwanzigsten verweigert habe. Und die Frau?«

»Es wurde keine Frau gefunden«, sagte Campbell. »Sie muss sich recht schnell erholt und aus dem Staub gemacht haben.«

»Überwachungsaufnahmen?«

»Wir arbeiten dran, allerdings sind die Italiener und die Schweizer momentan nicht besonders kooperativ.«

Devine schüttelte den Kopf. Ich wusste, ich hätte sie ausschalten sollen. Aber sie war bewusstlos und stellte keine Gefahr dar.

Ihm fiel auf, dass Campbell ihn forschend betrachtete. »Ich weiß, das war eine schwere Entscheidung, Devine. Keine Ahnung, was ich getan hätte.«

»Tja, die Beschreibung habe ich Ihnen ja gegeben. Vielleicht können Ihre Leute sie zur Strecke bringen.«

»Gut, dann sollten wir uns jetzt auf Ihren nächsten Auftrag konzentrieren.«

»Ich bekomme nicht mal ein paar Tage Urlaub?«, fragte Devine nur halb im Scherz.

»Sie können sich ausruhen, wenn Sie tot sind.«

»Ja, das hat man mir in der Army auch erzählt.«

»Ich habe Ihnen die Einsatzdokumente zugemailt.«

Devine öffnete den Anhang der E-Mail auf seinem Telefon und betrachtete das Foto einer schönen Frau Ende dreißig mit glatter, heller Haut, blondem Haar und tief liegenden, intelligent aussehenden Augen, die inmitten all der Pixel mit einer geradezu unheimlichen Intensität zu schimmern schienen.

»Das ist Jennifer Silkwell«, sagte Campbell. »Haben Sie schon mal von den Silkwells gehört?«

»Nein, aber ich bin sicher, ich werde alles über sie erfahren haben, ehe das hier vorbei ist.«

»Curtis Silkwell war der dienstälteste US-Senator aus Maine. Sein Ururgroßvater hat auf mehreren Gebieten ein Vermögen gemacht: Schifffahrt, Fischerei, Immobilien, Landwirtschaft. Dieser ganze Reichtum ist nun weitgehend erschöpft. Sie haben noch den alten Familiensitz in Maine, aber das ist es dann auch.«

»Er war Senator?«

»Er ist in seiner dritten Amtszeit zurückgetreten. Alzheimer. Sein Zustand hat sich schrittweise verschlechtert. Er wurde im Walter Reed behandelt, bis klar war, dass ihm nicht mehr zu helfen ist. Derzeit befindet er sich in einer privaten Einrichtung in Virginia und wartet auf seinen Tod.«

»Er wurde im Walter Reed behandelt? Weil er Senator war?«

»Nein, weil er Soldat war. Ein-Stern-General bei den Marines, ehe er den Dienst quittiert hat und in die Politik gegangen ist, heiratete und eine Familie gegründet hat.« Campbell warf Devine einen prüfenden Blick zu. »Um es offen zu sagen, Curt ist einer meiner besten Freunde. Wir haben in Vietnam Seite an Seite gekämpft, und er hat mir zweimal das Leben gerettet.«

»Okay.«

»Mir liegt also persönlich daran, Devine.«

»Ja, Sir.«

»Seine Frau Clare hat sich gleich, nachdem er die letzte Wahl gewonnen hatte, von ihm scheiden lassen. Unter uns, ich glaube, sie hat geahnt, was auf ihn zukommt, und beschlossen, das Weite zu suchen. So viel zu ›in Gesundheit und Krankheit‹.«

»Wo ist sie jetzt?«

»Hat wieder geheiratet, irgendeinen reichen Kerl in D. C., der es nicht wert ist, Curts Kampfstiefel zu putzen.«

»Und der Fall?«, soufflierte Devine, um Campbell von der persönlichen Ebene auf die missionsbezogene zurückzuholen.

»Sehen Sie sich Seite fünf der Unterlagen an. Jennifer ist die älteste Tochter von Curtis und Clare. Sie hat für die CIA gearbeitet, überwiegend im Außendienst, auch wenn sie Central Intelligence irgendwann mal als Kontaktperson zum Weißen Haus gedient hat. Sie ist schnell aufgestiegen, war unfassbar talentiert und wird sicher schmerzlich vermisst werden.«

Devine überflog Seite fünf. »Was ist aus ihr geworden?«

»Jemand hat sie vor vier Tagen umgebracht. Oben in Maine, als sie ihre alte Heimat besuchte.« Die Stimme des Mannes brach, ehe er den Satz beenden konnte.

Devine blickte auf. Campbells Gesicht war gerötet, und seine Unterlippe zitterte.

»Ich hab sie in meinen Armen gehalten, als sie ein Baby war. Ich war ihr verdammter Pate.« Er wischte sich die Tränen weg und fuhr gefasster fort: »Curt ist erst spät Vater geworden. Bei Jennys Geburt war er beinahe vierzig. Clare war viel jünger als er. Ging noch ins College, als sie geheiratet haben.«

»Gibt es irgendwelche Hinweise auf den Täter?«

»Nicht, soweit wir wissen.«

»Und warum sind wir daran interessiert?«

»Jenny Silkwell war ein wertvoller Aktivposten für dieses Land. Sie war mit den meisten unserer bedeutendsten Staatsgeheimnisse vertraut. Wir müssen wissen, ob ihr Tod etwas damit zu tun hat und ob jemand in den Besitz irgendwelcher Informationen gelangt ist, die unsere Interessen gefährden. Ihr privater Laptop wurde bei ihr zu Hause gefunden, und das Diensttelefon war ebenfalls dort. Aber ihr CIA-Laptop hat sich weder in ihrem Büro noch zu Hause eingefunden, und das Gleiche gilt für ihr privates Handy. Die Geolokatoren der Geräte sind abgeschaltet worden. Das ist bei Leuten wie Jenny üblich, es sei denn, sie sind in einem Einsatzbereich tätig, in dem ihre Befehle oder logistische Umstände es erfordern, sie zu aktivieren. Die Daten stecken heutzutage überwiegend in der Cloud, aber sie könnte auch noch Dinge auf ihrer Festplatte oder in ihrem Telefon gespeichert haben, die heikel sind. Und wir wollen natürlich auch nicht, dass jemand ihre Geräte als Hintertürchen zu unseren Cloudspeichern benutzt.«

»Also gehe ich dorthin, wo sie getötet wurde? Nach Maine?«

»Ja. Putnam, Maine. Aber jetzt noch nicht. Ich möchte, dass Sie erst mit Clare in Washington reden. Sie könnte etwas Nützliches wissen. Und dann reisen Sie nach Maine. Die Einzelheiten zu Jennys Tod finden Sie auf den Seiten acht bis zehn Ihrer Unterlagen.«

Devine las die Seiten schnell, aber gründlich, ganz, wie die Army es ihn gelehrt hatte. Im Gefecht war die Zeit kein Verbündeter. Flüchtigkeit aber auch nicht, denn die barg das Risiko, etwas zu übersehen, was später in einer Katastrophe mündete.

»Der Schütze hat seine Hülsen nicht eingesammelt?«

»Richtig. Und diese Hülsen waren nicht aus Messing, sondern aus einem Polymer.«

Devine sah überrascht aus. Weil er überrascht war. »Eine Patronenhülse aus einem Polymer?«

»Ja. Es dehnt sich aus und zieht sich in der Kammer sofort wieder zusammen. Messing dehnt sich, wie Sie wissen, nur aus. Schont die Ausrüstung, weil das Polymer die Hitze abschirmt und so die Kammer schützt.«

»Und weniger Hitze und Reibung bedeuten weniger Abnutzung, höhere Präzision und längere Schussfolgen«, bemerkte Devine.

»Die Army kommt deshalb allmählich vom Messing ab. Teufel, die kleben schon seit vor dem spanisch-amerikanischen Krieg daran fest, also wird es verdammt auch Zeit. Und die Marines testen Polymerhülsen für ihre M2-Maschinengewehre Kaliber .50. Die Briten sind auch an Polymeren interessiert, für ihre 5.56-mm-Patronen.«

»Das ist auch gut so. Messing macht die Ausrüstung schwerer.«

»Darum wollen sie wechseln. Mit all den Smartphones und Palmtops und immer mehr Waffen und optischen Gerätschaften liegt die Last für einen Soldaten der Army inzwischen bei rund fünfundvierzig Kilo. Von Messing auf Polymer umzusteigen, ist eine kostengünstige Methode, um das Gewicht um etwa vierzig Prozent zu reduzieren. Bei den Marines ließen sich bei den Achtundvierzig-Karton-Paletten der Kaliber .50 mit Polymer gegenüber Messing um die dreihundert Kilo einsparen. Zudem besteht sogar die Möglichkeit, 3D-Druck für die Ersatzteilbeschaffung zu verwenden, denn die Hülsen sind recycelbar.«

Während er sprach, hatte Devine bereits weitergelesen. Nun blickte er auf. »Es war eine .300 Norma Mag.«

»Ja«, bestätigte Campbell.

»Und dem Bodenstempel zufolge stammt sie vom Militär der Vereinigten Staaten.«

»Scharfschützen der Army und die Jungs in den Spezialeinheiten benutzen die Norma in ihren Barret-MK22-Gewehren.«

Devine nickte. »Sie sind von der 6.5 Creedmoor umgestiegen, nachdem ich den Dienst quittiert hatte. Aber benutzt die Army schon Polymerhülsen bei der .300 Norma?«

»Nein, Devine. Derzeit finden in diversen Army-Einrichtungen im ganzen Land Tests mit der Norma und anderer Munition mit einer Polymerhülse statt, aber sie ist noch nicht offiziell im Einsatz. Sie wissen ja, wie das läuft. Die Army muss erst tonnenweise von dem Zeug in jeder vorstellbaren Gefechtssituation verballern, ehe sie überhaupt eine Chance hat, eine Genehmigung für den Masseneinsatz zu erhalten.«

»Wer ist der Hersteller?«

»Warwick Arsenal. Eine kleine Firma in Georgia.«

»Die Frage lautet also: Wie kommt eine noch in der Testphase befindliche .300-Norma-Polymerhülse, produziert von einem Hersteller in Georgia, an einen Tatort in Maine?«

»Wir haben mit den Leuten von Warwick gesprochen«, sagte Campbell. »Sie sind ihre Bestände mehrfach durchgegangen, konnten aber keine Inventurdifferenz entdecken. Doch das ist meiner Ansicht nach bedeutungslos, weil sie Hunderttausende dieser Patronen an Army-Einrichtungen im ganzen Land geliefert haben, in denen wiederum Hunderte von Leuten an der Erprobung beteiligt sind. Es ist unmöglich, jede einzelne Patrone nachzuverfolgen. Das ist die sprichwörtliche Nadel im Heuhaufen.«

»Also könnte jemand die Polymerpatrone eingesteckt und jemand anderem gegeben haben, und dann ist sie durch diverse Hände gewandert, bis sie schließlich dazu benutzt wurde, Jenny Silkwell zu ermorden. Ist es wichtig, dass sie mit dieser speziellen Kugel getötet wurde? Hatte sie irgendetwas mit ihrer Entwicklung zu tun?«

»Nein. Und ich habe keine Ahnung, ob der Einsatz dieser speziellen Munition etwas zu sagen hat oder nicht. Das herauszufinden wird Ihre Aufgabe im Zuge der Ermittlungen sein. Übrigens ist die örtliche Polizei auch an dem Fall dran. Sie werden mit denen zusammenarbeiten müssen.«

»Und warum sollten die mit mir zusammenarbeiten wollen?«

Campbell nahm etwas aus seiner Schreibtischschublade, das aussah wie eine schwarze Brieftasche aus Leder, die er zu Devine schob. »Darum.«

Devine öffnete, was sich als Dienstausweismäppchen inklusive glänzender Dienstmarke entpuppte. Er betrachtete es eingehend, ehe er verwundert aufblickte. »Ich bin jetzt Sonderermittler von Homeland Security? Ernsthaft?«

»Ihre Tarnung ist absolut wasserdicht.«

»Abgesehen davon, dass ich kein ausgebildeter Ermittler bin.«

Campbell bedachte Devine mit dem Todesblick eines Ausbilders beim Militär. »Verkaufen Sie sich nicht unter Wert. Sie haben im Nahen Osten neben Ihrem Kampfauftrag Ermittlungen durchgeführt. Und Sie haben in New York im Fall Brad Cowl verdammt gute Detektivarbeit geleistet. Sie haben sich auch bei anderen Aufträgen, die ich Ihnen zugeteilt habe, hervorragend geschlagen. Also, es ist Ihr Job, herauszufinden, wer Jenny umgebracht hat und warum. Und festzustellen, ob nationale Sicherheitsinteressen gefährdet wurden. Und treiben Sie ihren Laptop und ihr Handy auf.«

»Na, das klingt doch ganz einfach«, kommentierte Devine trocken.

»Der Herausforderung werden Sie wohl gewachsen sein«, konterte Campbell.

»Warum haben die Bundesbehörden keine gemeinsame Einsatztruppe ihrer Agenten zusammengestellt? Central Intelligence betreibt eine Politik der verbrannten Erde, wenn es einen von ihnen erwischt. Und das FBI ebenso.«

»Die CIA hat auf amerikanischem Boden keine Befugnisse. Und wenn wir ein Heer von FBI-Agenten in Marsch setzen, wird die Presse anfangen, herumzuschnüffeln, und die Sache wird publik. Dann könnten unsere Feinde uns als geschwächt einstufen, was sie nur ermutigen würde. Jenny Silkwell könnte ebenso gut aus einem Grund ermordet worden sein, der absolut nichts mit ihrer Position bei der CIA zu tun hat. Deshalb gehen wir verdeckt vor, solange die Fakten es erlauben. Folglich, Devine, sind Sie derzeit das ganze ›Heer‹.«

»Und wenn meine ›absolut wasserdichte‹ Tarnung auffliegt?«

»Haben wir noch nie von Ihnen gehört.«

KAPITEL 3

Es nieselte, als Devine die offenen Tore von Clare Robards’ Villa in Kalorama im Nordwesten des District of Columbia passierte. Dies war eines der teuersten Wohngebiete der Hauptstadt. Die Preise für ein Haus in dieser Gegend lagen im Mittel deutlich oberhalb der Millionenmarke. Kalorama, so hatte Devine gelernt, war der griechische Begriff für »schöne Aussicht«. Und sie war schön, wenn auch für ein deftiges Eintrittsgeld.

Embassy Row, die Botschaftsmeile, lag ganz in der Nähe an der Massachusetts Avenue, und die offiziellen Domizile des niederländischen und des französischen Botschafters befanden sich in der direkten Nachbarschaft, zusammen mit dreißig weiteren ausländischen Vertretungen. Jeff Bezos besaß ebenfalls ein Haus in diesem Viertel, für das er dreiundzwanzig Millionen hingelegt hatte, nur um dann für weitere fünf das Nachbarhaus dazuzuerwerben. Milliardäre brauchten offenbar viel Platz oder einen beträchtlichen Puffer, um sich von denen abzusetzen, die einfach nur reich waren, überlegte Devine.

Auf dieser Ebene ist es so oder so nur Monopoly-Geld.

Das beachtliche Herrenhaus der Robards’ war aus Stein und großen, rustikalen Holzbalken erbaut, hatte kleine Fenster und Türmchen mit metallenen Kegeldächern. Zu dem Anwesen gehörten eine ausgedehnte, abschüssige Rasenfläche, ausgewachsene Bäume und andere Pflanzen. Man hatte weder an Geld gespart noch irgendwelche Details vernachlässigt bei dieser gedämpften Zurschaustellung alten Geldes, die wohlbedacht so angelegt worden war, dass sie den Betrachter nicht mit übertriebener Pracht erdrückte.

Er hatte im Vorfeld angerufen, folglich führte ihn die gut gekleidete, professionell wirkende Frau, die ihm die Tür öffnete, umgehend einen langen Korridor mit Marmorfliesen hinunter zu einer imposanten Eichentür.

Sie klopfte, und auf der anderen Seite der Tür sagte eine kultivierte Frauenstimme in gebieterischem Ton: »Herein!«

Und so betrat Devine vielleicht die Höhle der Löwin.

Clare Robards thronte königlich auf einem Sofa in einem Raum voller Regale, die ihrerseits voller ledergebundener Bücher waren. An einer Wand befand sich eine kleine Bar. Bildete er es sich nur ein oder huschte Robards’ Blick in diese Richtung?

Das hellgrüne Kleid der Dame war ihr perfekt auf den schmalen, zierlichen Leib geschneidert. Ihrem schulterlangen Haar hatte sie gestattet, weiß zu werden, was es umso eleganter erscheinen ließ.

Sie fummelte an einer schimmernden Perlenkette herum und sah überall hin, nur nicht zu Devine. Die Frau fühlte sich in seiner Gegenwart erkennbar unwohl. Sie trug wenig Make-up, und die dunklen Ringe unter den geröteten Augen verrieten, dass sie einige Tränen vergossen hatte.

Vielleicht denkt sie, wenn sie mich ignoriert, ist auch ihre älteste Tochter nicht tot.

»Mrs Robards, ich bin Travis Devine von Homeland Security.«

»Ja, ich weiß, Mister Devine«, sagte sie mit leiser Stimme. »Bitte, setzen Sie sich.«

Nun sah sie ihn doch endlich an – resigniert, wie Devine dachte.

»Möchten Sie etwas Heißes trinken? Heute ist es ziemlich kalt.«

»Nein, danke, ich möchte nichts.« Er setzte sich in den Ohrensessel gegenüber dem Sofa. »Und Ihr Verlust tut mir sehr leid.«

Bei diesen Worten zuckte sie regelrecht zusammen und schloss für einen Moment die Augen. »Wir dachten alle, Jenny wäre unbezwingbar, nicht unterzukriegen. Sie hat so vieles überlebt, bis zu dieser schrecklichen Geschichte.«

»Sie war herausragend in ihrem Beruf und hatte im Dienst für ihr Land eine brillante Zukunft vor sich.«

»Dieser gottverdammte Job hat meiner Tochter das Leben gekostet«, fauchte sie, setzte aber umgehend wieder die majestätische Maske auf. »Es tut mir leid«, sagte sie mit gedämpfter Stimme.

»Das muss es nicht.« Devine sah sich im Raum um. »Ist Ihr Mann auch hier?«

»Vernon ist in Thailand, glaube ich jedenfalls. Geschäftlich«, fügte sie mit einem Hauch Verbitterung hinzu. »Bei manchen Menschen stechen Geschäft und Geld zu scheffeln alles andere aus, sogar den Mord an der eigenen Stieftochter.« Sie starrte in ihren Schoß und faltete die Hände, als ob sie Halt suchte. »Das ist schon komisch, Mister Devine.«

»Was?«

»Als ich Curt geheiratet hatte, da war er bereits ein Kriegsheld. Dieser große, starke Marine, den kein Feind besiegen konnte. Und er war auch ständig weg. Nicht, um Geld zu machen, sondern um seinem Land zu dienen, genau wie Jenny es getan hat. Er hat es überlebt. Und dann ist er in die Politik gegangen. Hat sich emporgearbeitet und schließlich für den Senat kandidiert und gewonnen. Und da war er erneut ständig weg. Wieder nicht, um Geld zu machen, sondern um zu dienen. Und da wird es dann komisch.« Sie unterbrach sich, schien sich zu sammeln und fuhr mit den Fingern sacht über die kostbaren Perlen. »Das Komische ist, dass die Motivation für die, die zurückbleiben, nicht wichtig ist. Das Resultat bleibt doch das Gleiche: Man ist allein.«

»Das verstehe ich.«

Sie sah sich in dem geschmackvoll ausgestatteten Raum dieser Villa in dem teuren, gefragten Viertel mit der wundervollen Aussicht um. »Und falls Sie sich das fragen, wie so viele andere auch: Nein, das Gras ist nicht immer grüner.«

»Soweit ich weiß, war Jenny nicht ganz einverstanden mit der Scheidung?«, fragte Devine leise.

»Sie hat mich dafür gehasst, ganz einfach.« Robards ließ die Hände in den Schoß sinken. »Sie und offenbar auch alle anderen dachten, ich hätte Curt wegen seiner Krankheit verlassen. Tatsache ist, dass wir uns schon ein Jahr früher darauf geeinigt hatten, uns scheiden zu lassen. Aber diese Dinge brauchen Zeit, und eine Wahl stand bevor. Also haben wir einvernehmlich beschlossen, noch zu warten. Er hat die Wahl gewonnen, und wir sind getrennte Wege gegangen. Kurz darauf hat er die Diagnose erhalten, und ich wurde zur rücksichtslosen Ex-Frau.«

»Sie hätten das Scheidungsverfahren abbrechen oder verschieben können, nehme ich an.«

»Da habe ich Vernon schon gekannt und war mit ihm verlobt. Wir haben nur auf den Gerichtsentscheid gewartet, um unsere bevorstehende Hochzeit anzukündigen. Und die Wahrheit lautet, dass ich Curt vier Jahrzehnte meines Lebens und drei Kinder geschenkt hatte. Er hat gleich in zwei Berufen Karriere gemacht. Und ich? Ich hatte nicht einmal angefangen, mein eigenes Leben zu leben. Also habe ich mich entschieden, den nächsten Schritt zu tun, ehe es zu spät ist. Curt würde so oder so die beste Pflege erhalten.« Sie blickte auf. »Ich nehme an, Sie halten mich jetzt auch für herzlos, richtig?«

»Selbst wenn es für viele Menschen verlockend sein mag, fand ich persönlich es nie besonders faszinierend, über andere zu urteilen.«

Sie nickte. »Also, wie kann ich Ihnen helfen?«

»Wann haben Sie Ihre Tochter das letzte Mal gesehen oder gesprochen?«

»Ich bin ihr bei einer Senatsveranstaltung zu Ehren von Curts Andenken vor ungefähr sechs Monaten begegnet.«

»War das auch das letzte Mal, dass Sie mit ihr gesprochen haben?«

Wieder blickte sie in ihren Schoß. »Nein. Tatsächlich hat sie mich kürzlich angerufen. Sie sagte, sie wäre auf dem Weg nach Putnam. Dort ist sie aufgewachsen, zusammen mit unseren beiden anderen Kindern. Ein Vorfahr von Curt, Hiram Silkwell, hat den Familiensitz dort erbaut. Es ist mehr oder weniger im gotischen Stil gehalten und in meinen Augen außerordentlich hässlich. Curt hat die Steuern für das Anwesen bezahlt, bis er krank wurde. Offenbar konnte er sich nicht davon trennen. Er war immer ein äußerst nostalgischer Mensch und in manchen Punkten sehr in der Vergangenheit verwurzelt.«

»Hat sie gesagt, was sie dort wollte?«

»Sie sagte, es gäbe da eine unerledigte Angelegenheit.«

»Was war das für eine Angelegenheit«, fragte Devine scharf.

»Das hat sie nicht gesagt, und ich habe nicht gefragt.«

Devine musterte sie skeptisch.

Sie ertappte ihn dabei. »Unsere Beziehung hatte sich verändert, Agent Devine. Sie war eine erwachsene Frau, die meinen Rat und Beistand nicht mehr brauchte und auch nicht gewollt hätte.«

»Aber sie hat Sie angerufen, obwohl Sie sich entfremdet hatten. Dafür muss es einen Grund geben.«

»Sollte es einen gegeben haben, dann ist er mir entgangen.«

»Okay, haben Sie vielleicht irgendeine Idee, was sie mit dieser unerledigten Angelegenheit gemeint haben könnte?«

»Nein.«

»Und Ihre anderen Kinder?«

»Dak und Alex. Sie leben immer noch auf dem Familiensitz.«

»Irgendeine Ahnung, warum die in einem hässlichen, alten gotischen Gebäude leben wollen?«

»Offenbar gefällt es ihnen dort. Ich habe mit den Kindern dort gelebt, während Curt im Kongress war. Niemand von uns wollte, dass die Kinder hier im Rampenlicht stehen.«

»Was machen die beiden?«

»Alex ist die Jüngste und eine Künstlerin. Unfassbar talentiert. Sie könnte davon leben, sollte sie je einen Agenten an ihrer Seite haben. Alte Freunde haben mir erzählt, dass sie außerdem in einer staatlichen Schule als Teilzeitkraft Kunst unterrichtet.« Sie unterbrach sich und lächelte, aber zugleich lag ein bittersüßer Ausdruck auf ihrem Gesicht.

»Jenny war das Goldkind. Brillant, enorm ehrgeizig, wunderschön, sie hatte alles. Aber Alex war auch nicht übel. Sie war sogar schöner als Jenny, und klug war sie auch. Weil ihr Geburtstag so spät im Jahr liegt, war sie immer die Jüngste in der Klasse. Und weil sie so begabt war, hat sie in der Grundschule dann auch noch eine ganze Klasse übersprungen. Das hat nicht einmal Jenny geschafft«, fügte sie hinzu.

»Und Ihr Sohn?«

»Dak hat ein Tattoo-Studio dort oben und verfolgt auch noch andere Geschäftsinteressen. Er ist der geborene Unternehmer. Ich glaube, er will eine Zillion Dollar verdienen, um zu zeigen, dass er keinen von uns braucht. Er war auch mal in der Army, wurde aber ausgemustert.«

»Darf ich fragen, warum?«

»Das kann Dak Ihnen selbst erzählen, sofern er möchte.«

»Könnte Jenny die beiden besucht haben?«

»Möglich. Ich habe versucht, sie anzurufen, aber bisher hat sich keiner von ihnen zurückgemeldet.«

»Haben Ihre Kinder eine enge Beziehung zueinander?«

»Früher schon. Aber das Leben verändert die Menschen, wissen Sie?«

»Ja, Ma’am. Aber ich schätze, Dak und Alex kommen gut miteinander aus, wenn sie noch zusammen dort wohnen.«

»Es ist ein großes Haus«, sagte sie nur. »Groß genug, um sich vorzukommen, als lebte man allein.«

»Wo und wann wird die Beerdigung stattfinden?«

»Es wird keine geben. Jenny hat testamentarisch festgelegt, dass sie eine Feuerbestattung wünscht und ihre Asche auf dem Meer verstreut werden soll. Keine Feier, kein Tamtam.«

»Hört sich an, als wäre sie der vorausschauende Typ gewesen.«

»Ich wünschte nur, sie hätte es geschafft, am Leben zu bleiben, bis ich tot und begraben bin.«

»Tja, in dem Punkt hatte sie wohl keine Wahl«, bemerkte er.

»Curt weiß nicht einmal, dass sie tot ist«, sagte sie und schluchzte leise.

»Vielleicht ist es besser so«, sagte Devine. »Wann haben Sie Alex oder Dak das letzte Mal gesehen?«

»Das ist tatsächlich schon Jahre her. Ich schätze, das fällt ebenfalls unter ›entfremdet‹«, sagte sie und schloss mit kummervoller Miene die Augen.

»Seit Ihrer Scheidung?«

»Ich nehme an, beides hängt zusammen«, sagte sie dumpf, schlug die Augen wieder auf und starrte ins Leere.

Devine erhob sich. »Nun gut, danke, dass Sie mich empfangen haben. Wenn Ihnen noch etwas einfällt, nehmen Sie bitte Verbindung auf.« Er reichte ihr seine Visitenkarte, deren frische Tinte zu leuchten schien.

Sie streckte die Hand aus, nahm die Karte und ergriff dann mit überraschender Kraft seine Hand. »Bitte, finden Sie heraus, wer sie mir genommen hat, Mister Devine. Bitte!«

Er blickte auf sie hinab. »Ich werde mein Bestes tun, Ma’am, so viel kann ich Ihnen versprechen.«

KAPITEL 4

Am nächsten Morgen betrat Devine zusammen mit Emerson Campbell die private Pflegeeinrichtung im Norden Virginias, um Curtis Silkwell aufzusuchen.

»Clare besucht ihn noch immer jede Woche«, sagte Campbell, als er Devine die Tür aufhielt.

»Dann ist sie wohl doch nicht so herzlos«, bemerkte Devine, was ihm einen gequälten Blick des anderen Mannes eintrug.

»Herzlos genug«, konterte Campbell.

Eine Pflegerin führte sie zu einem Zimmer auf einer speziell gesicherten Station für Menschen mit Demenzerkrankungen. Der Raum war klein, spärlich möbliert und vermittelte zumindest Devine ein Gefühl der Langsamkeit, eine Ahnung des Wartens auf den unausweichlichen Tod.

Als die Pflegerin gegangen war, konzentrierten sich beide Männer auf die zerbrechliche Gestalt im Bett. Er war nicht an irgendwelche Schläuche angeschlossen, aber seine Lebenszeichen wurden maschinell überwacht.

»Es geht ihm gut, er hat keine Schmerzen, hat man mir gesagt. Sie werden ihm aber bald eine Sonde zur künstlichen Ernährung legen müssen«, erklärte Campbell erbittert, und in seiner Stimme tat sich ein Maß an Schmerz kund, das Devine noch nie wahrgenommen hatte. »Er isst nicht. Er denkt nicht daran, wenn er wach ist. Er starrt das angebotene Essen nur an und schläft wieder ein. Und wenn sie doch etwas in ihn hineinbekommen, bleibt es in der Speiseröhre hängen und muss abgesaugt werden. Er hat eine Anordnung zum Verzicht auf Wiederbelebungsmaßnahmen erteilt. Nicht mehr lange, und sie werden seine Behandlung beenden.«

Sie betrachteten den eingefallenen, schlafenden Patienten.

»Ich erinnere mich an einen fast eins neunzig großen und hundert Kilo schweren Berg von einem Mann«, fügte Campbell mit dumpfer Stimme hinzu. »Einen, der seine Männer in eine Hölle nach der anderen geführt hat und auf der gegenüberliegenden Seite siegreich wieder rausgekommen ist. Er hat jeden Orden und jede Auszeichnung erhalten, die die Marines zu vergeben haben. Eigentlich sollte er eine ganze Schulter voller Sterne haben, aber er war nicht bereit, sich an den nötigen Spielchen zu beteiligen.«

»So wie Sie«, bemerkte Devine.

»Er war verdienstvoller als ich«, erwiderte Campbell.

»In meinen Augen ist jeder Mensch, der eine Uniform anzieht und zur Waffe greift, um sein Land zu verteidigen, verdienstvoll.«

Silkwell regte sich unter seiner Decke und schlug die Augen auf, sah aber keinen der Männer an. Stattdessen tanzte sein unfokussierter Blick ein paar Momente lang über die Zimmerdecke, ehe sich seine Lider wieder senkten.

»Er erkennt mich schon seit Monaten nicht mehr«, sagte Campbell. »Die Ärzte sagen, es schreitet immer schneller voran. Keine Chance auf Erholung. Verdammte Krankheit!«

Campbell führte Devine wieder hinaus und schloss leise die Tür hinter ihnen, ehe er sich dem jüngeren Mann widmete.

»Ich habe Sie hergebracht, Devine, weil ich wollte, dass Sie mit eigenen Augen einen echten amerikanischen Helden sehen. Und der verdient es, dass der Mörder seiner Tochter der Gerechtigkeit zugeführt wird.«

»Sie haben kein Vertrauen in die örtliche Polizei?«

»Da es sich um eine Zwei-Personen-Dienststelle mit geringen Ressourcen handelt, hält mein Vertrauen sich, sagen wir mal, in engen Grenzen. Und sollte Jennys Tod doch mit ihrer Arbeit bei der CIA zu tun haben, dann haben die Feds die Hand drauf, nicht die örtliche Polizei. Aber erst müssen Sie herumschnüffeln und etwas aufstöbern, an dem wir unsere Zuständigkeit festmachen können.«

»Ich soll also den Mörder finden und prüfen, ob irgendwelche Geheimnisse gestohlen wurden?«

»Wenn Sie den Mörder finden, haben wir haufenweise Experten, die uns helfen können, die Geheimnisfrage zu klären und festzustellen, ob ihr Tod eine Vergeltungsmaßnahme für irgendetwas war, das mit der nationalen Sicherheit in Verbindung steht.«

»Die Schwester und der Bruder, die oben auf dem alten Familiensitz leben – ich nehme an, die gelten als Verdächtige? Ich sagte Ihnen ja, dass Clare mir erzählt hat, Jenny sei auf dem Weg dorthin gewesen, um sich um eine unerledigte Angelegenheit zu kümmern.«

»Ja, Familie, Freunde, Fremde, Außenstehende – zurzeit ist jeder verdächtig.«

»Und wenn der Mörder längst fort ist?«

»Diese Brücke werden wir angreifen, falls dem so sein sollte.«

Vor der Pflegeeinrichtung schüttelte Campbell dem jüngeren Mann die Hand. »Für mich hat momentan nichts höhere Priorität. Viel Glück. Es gibt so einiges, das mir sagt, Sie werden es brauchen.«

Und dann wurde Campbell von einem Regierungs-SUV davongefahren.

Devine stand noch einige Augenblicke auf dem Parkplatz und betrachtete das Gebäude, in dem ein todgeweihter Mann nicht wusste, dass seine älteste Tochter ihn nicht überlebt hatte.

Er wusste, für Campbell war das eine äußerst persönliche Angelegenheit. Und obgleich Devine professionelle Objektivität zu wahren hatte, wusste er doch auch, dass ein gewisses Element dieser Mission nun auch für ihn zu einer persönlichen Angelegenheit geworden war.

Seiner Meinung nach verdiente ein sterbender Krieger nichts Geringeres.

KAPITEL 5

Nach einem kurzen Flug, bei dem die Maschine von starken Winden herumgeschleudert wurde wie eine Flipperkugel, setzte sie vergleichsweise unsanft auf der Rollbahn von Bangor, Maine, auf. Zurück am Boden holte Devine seinen Miet-SUV ab, einen Chevrolet-Tahoe, und brach zu der zweieinhalbstündigen Fahrt nach Putnam im Osten auf. Das kleine Nest lag an der felsigen Atlantikküste und beherbergte weniger Seelen als der Jumbo-Jet der United Airlines, mit dem Devine aus Italien zurückgekehrt war.

Das Laub hatte längst die Farbe gewechselt und seine jeweiligen Bäume und Büsche verlassen. Devines Erinnerung an einen sengend heißen Sommer in New York City und einen milden Herbst in Europa waren samt und sonders von der bitteren Kälte hier oben ausgelöscht worden. Sein Pullover mit dem Zopfmuster war auch wenig überzeugend hinsichtlich des Wärmefaktors.

Er erreichte Machias, nahm von dort die Route 1 und folgte ihr eine Weile in nördlicher Richtung, ehe er auf eine andere Straße abbog, die ihn nach Osten zum zweitgrößten Ozean der Welt führte. Schon jetzt drang ihm salzige Luft in die Nase, und ein scharfer Wind malträtierte den Tahoe. Der Anblick eines tief in die felsige Küste hineinragenden Meeresarmes vermittelte Devine trotz seiner Mission ein gewisses Gefühl der Ruhe.

Vor dem Sturm?

Devine warf einen Blick auf die Tasche mit seiner Ausrüstung, in der unter anderem seine Neun-Millimeter-Glock lag, eine Ersatzpistole und zusätzliche Munition für beide.

Während der Fahrt ging Devine in Gedanken die Einzelheiten des Briefings durch.

Jenny Silkwell war Operationsoffizier bei der CIA gewesen und ihr Haupteinsatzgebiet in den letzten paar Jahren der Nahe Osten. Davor war ihr Operationsgebiet die Russische Föderation gewesen, davor Südamerika. Die sprachbegabte Frau hatte fließend Spanisch, Portugiesisch, Russisch und Polnisch gesprochen und sich in Intensivkursen zudem Arabisch und Farsi angeeignet, ehe sie in den Nahen Osten gezogen war. Ihre Arbeit hatte sie an Orte überall auf der Welt geführt, wo sie sich mit Mitarbeitern des Geheimdienstes traf, die sie für die Zusammenarbeit mit den Vereinigten Staaten rekrutiert hatte.

Und vielleicht hatte sie deshalb eine bösartige Zielscheibe auf dem Rücken getragen, denn die Russen scheuten ebenso wenig wie diverse Gruppierungen im Nahen Osten davor zurück, vermeintliche Feinde radikal zu bekämpfen. Der Schlüssel zur Lösung dieses Falles mochte durchaus in Moskau, Teheran oder Damaskus liegen, nicht in Putnam, Maine.

Er hatte sowohl die bundesweiten als auch die lokalen Berichte über den Mord gelesen. Die überregionalen Nachrichtenmagazine hatten Kamerateams geschickt, die ein paar Tage lang Storys zu dem Mord gesendet hatten, ehe sie sich aktuelleren Fällen zuwandten, die mehr Blicke anziehen würden. Sollte der Täter aufgespürt und verhaftet werden, dann würden die großen Nummern in diesem Geschäft zurückkommen, um erneut von hier aus zu berichten, mutmaßte er.

Im Gegensatz dazu hatten die Lokalnachrichten die Story mit Volldampf weiter verfolgt. Devine konnte sich gut vorstellen, dass der Mord an einer Offizierin der CIA, die zudem die Tochter eines Kriegshelden und ehemaligen US-Senators war, der seinerseits einer prominenten und einst sehr wohlhabenden Familie Maines entstammte, mehr Aufsehen erregte als alles andere, was je in Putnam geschehen war.

Unterwegs passierte er Schilder, die besagten, dass er auf dem Bold Coast Scenic Byway war. Und der Name passte. Als er sich der Küste am Golf von Maine näherte, sah Devine wiederholt schmale Abschnitte von Sand- und Kiesstränden, aber auch hoch aufragende Granitfelsen, die über zerklüftete Buchten wachten. Felsige Landzungen und kräftiges, robustes Grün, das sich an dem vom Salzwasser polierten Gestein festkrallte, wo immer es möglich war, akzentuierten die Küstenlandschaft. Es gab auch ausgedehnte Wälder, die sich bis zum Horizont zogen, sowie alte Obstgärten voller Bäume, jahreszeitlich bedingt ohne Früchte, die bis an die Felsklippen wuchsen, die wie stumme Posten unbeugsam am Meeresufer aufragten.

Endlich verkündete ein verwittertes Schild an einem modernden Pfosten, dass er die Ortsgrenze von Putnam erreicht habe; einen Ort mit weniger als zweihundertfünfzig Einwohnern, wie dort ebenfalls zu lesen war. Das müssen robuste Naturen sein, dachte Devine. Die zerklüftete Topografie und die herben Wetterbedingungen machten nicht den Eindruck, als wären sie für zartfühlende Gemüter geeignet.

Er passierte einen jungen Mann mit einer Skimütze der New England Patriots auf einem verrosteten Fahrrad ohne Sattel. Dem folgten zwei junge Frauen in einem schlammverkrusteten Geländewagen. Ein Kombi aus den Achtzigern fuhr in die Gegenrichtung langsam an ihm vorüber. Der Fahrer hatte ein runzliges Gesicht und Hängebacken wie eine Deutsche Dogge unter dünnem, schneeweißem Haar. Er musterte Devine mit grimmiger Miene, ehe er sich wieder auf die Straße konzentrierte.

Das Putnam Inn befand sich an der schmalen Hauptstraße des Örtchens, ein Asphaltband, kaum zwei Wagen breit. Devine stellte den Tahoe auf dem Parkplatz ab und nahm seine Taschen heraus.

Auf der anderen Seite der Straße lag ein kleiner Hafen, beinahe vollständig eingekreist von Granitklippen, der über eine schmale Wasserstraße mit dem Ozean im Golf von Maine verbunden war. Es gab auch einen offenbar künstlich angelegten Hafendamm, der zusätzlichen Schutz vor Stürmen bot. Einige Boote ruhten an Liegeplätzen, die von den unerbittlichen Elementen gezeichnet waren, andere lagen im ruhigen, glatten Wasser des Hafens vertäut. Männer in schwerer Arbeitskleidung und halbhohen, wasserfesten Stiefeln schufteten auf dem Dock und auf den Booten, wickelten Taue auf, schleppten schwere Kisten und Metallkörbe und schrubbten Schmutz und Seepocken vom Rumpf trockengelegter Boote. Ein geschäftiges Treiben, wie man es in dieser Gegend vermutlich überall an der Küste erleben konnte.

Die lächelnde Frau hinter dem Empfangstresen stellte sich Devine als Patricia Kingman vor, die Eigentümerin des Gasthauses.

»Willkommen in Putnam. Ich bitte im Voraus um Entschuldigung, falls unser Service nicht Ihren Erwartungen entspricht. Wir sind unterbesetzt, darum stehe ich auch am Empfang. Niemand will mehr arbeiten, und alle sagen, es läge an COVID. Ich sage, es liegt schlicht an Faulheit. Diese X-, Y- und Z-Generation oder wie immer die sich auch nennen? Arbeitsethos kennen die nicht.«

Devine, selbst mit Haut und Haar ein Millennial, sagte nichts dazu, als er sich eintrug und Führerschein und Kreditkarte vorlegte. Er nahm seinen Zimmerschlüssel entgegen, einer von der altmodischen Sorte mit einem pfundschweren Bleiklotz als Anhänger.

»Diese Waffe können Sie hierlassen, wenn sie rausgehen«, witzelte sie mit einem amüsierten Blick auf den Schlüssel. »Es sei denn, Sie haben vor, Bizeps-Curls zu machen.«

»Ich glaube, ich werde ihn einfach bei mir behalten, danke«, antwortete Devine, der eine so leicht zugängliche Einladung in seine Privatsphäre niemals herumliegen lassen würde.

Kingmans belustigte Miene wich einem erst erschrockenen und dann misstrauischen Gesichtsausdruck.

»Was führt Sie in unsere Stadt, Mister Devine? Aus Lust an der Freude werden Sie ja nicht hier sein, es sei denn, Sie halten sich gern in Kühlräumen auf.«

»Geschäftliche Angelegenheiten.« Ruhig sah er sie an. »Soweit ich weiß, hatten Sie kürzlich etwas Ärger?«

»Schätze, den Mord an einer armen jungen Frau könnte man als Ärger bezeichnen, ja.«

»Wie war noch gleich ihr Name?«

»Jenny Silkwell.«

»Moment, gab es nicht auch einen Senator dieses Namens, der aus dieser Gegend stammt?«

»Curtis Silkwell. Jenny war seine Tochter. Er wurde krank und musste sein Amt niederlegen. Ich kannte Jenny schon, da hat sie noch Rattenschwänzchen und Kniestrümpfe getragen. Blitzgescheit und so hübsch und lieb, wie man es sich nur wünschen kann. Sie hat in Washington, D. C., gearbeitet.« Vorsichtig blickte sie sich um, als fürchte sie, jemand könnte sie belauschen. »Manche Leute sagen, sie hätte für uns spioniert oder so was.«

»Und glauben diese Leute auch, dass sie deswegen ermordet wurde?«

Ihre Miene wurde beinhart. »Ich kann mir jedenfalls nicht vorstellen, dass jemand von hier Jenny auch nur ein Haar gekrümmt hätte. Alle mochten sie.«

Tja, mindestens eine Person hat sie wohl nicht gemocht, dachte Devine. »Dann ist sie also hier aufgewachsen?«

Sie nickte. »Im alten Haus der Silkwells, Jocelyn Point. Benannt nach Hiram Silkwells Frau. Der hat vor mehr als einem Jahrhundert den großen Reibach gemacht und das Haus gebaut.«

»Leben immer noch Silkwells hier im Ort?«

»Alex, Jennys jüngere Schwester, und ihr Bruder Dak. Die beiden wohnen auf Jocelyn Point.«

»Dann hat Jenny sie wohl besuchen wollen, als sie ermordet wurde.«

Kingman verschränkte die Arme vor der Brust und trat einen symbolischen Schritt zurück. »Herrje, nicht zu fassen, dass ich einem Fremden gegenüber so viel über die Silkwells schwatze. Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Aufenthalt, Mister Devine. Und nur zu Ihrer Information: Auswärtige sind hier gewöhnlich nicht sonderlich gern gesehen.«

»Aber ich könnte mir vorstellen, dass ihr ganzes Geschäftsmodell auf der exakt gegenteiligen Geisteshaltung beruht.«

Verstimmt verzog sie die Lippen. »Ihr Zimmer ist gleich dort, das erste Häuschen auf der rechten Seite.«

Damit entschwand sie durch einen blauen Vorhang hinter dem Empfangstresen.

Devine schnappte sich sein Gepäck, und fort war er: ein Fremder an einem Ort, der für Fremde nicht viel übrighatte.

Die Geschichte meines Lebens.

KAPITEL 6

Die Hütte war behaglich eingerichtet. Das dominante Möbelstück war ein Himmelbett mit einem Muster aus Meerespanoramen und Hummern nebst einer dazu passenden Daunendecke. Ein rußgeschwärzter, holzbefeuerter Kamin nahm zusammen mit einem schmiedeeisernen Behälter voller Zedernholzscheite und Anmachholz den größten Teil einer Wand ein.

Er packte seine Sachen weg und traf Vorkehrungen, legte gewissermaßen Fallstricke aus, die ihm verraten würden, ob jemand in seiner Abwesenheit sein Zimmer betreten hatte. Dann setzte er sich an den kleinen Schreibtisch am Fenster und ging die Einsatzdokumente auf seinem Handy durch.

Jenny Silkwell könnte sich durch ihre Arbeit zweifellos Feinde gemacht haben. Aber sollte keine fremde Regierung hinter ihrer Ermordung stecken, wer hätte dann ein Motiv?

Tja, um das herauszufinden, bist du ja hier. Also, an die Arbeit.