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Fast drei Jahre hat Ophelia Thorn nicht mehr gesehen. Nach seinem plötzlichen Verschwinden musste sie den Pol verlassen und nach Anima zurückkehren. Doch eines Tages macht sie sich heimlich auf den Weg zur Arche Babel, um mehr über Gott herauszufinden und sich auf die Suche nach Thorn zu begeben. In Babel angekommen, einer Arche mit strikten Vorschriften und argwöhnischen Bewohnern, die Robotern mehr gleichen als Menschen, muss Ophelia sich als »Lehrling« am Konservatorium der Guten Familie beweisen. Als in dem Secretarium der Arche eine Zensorin tot aufgefunden wird, die kurz vor ihrem Tod die Werke eines Kinderbuchautors verbrannt hat, erkennt Ophelia fassungslos, wie sehr sie selbst in diese tödliche Geschichte verstrickt ist.
Auf einer Arche, die aus tausend Inseln besteht und wo Menschen mechanisch absurden Gesetzen folgen, muss sich Ophelia allein durch ein immer bedrohlicheres Geflecht aus Lügen kämpfen – und kommt auf ihrer Suche nach Thorn der »letzten Wahrheit« riskant nah.
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Seitenzahl: 595
Veröffentlichungsjahr: 2019
Christelle Dabos
Das Gedächtnis von Babel
Band 3 der Spiegelreisenden-Saga Roman
Aus dem Französischen von Amelie Thoma
Insel Verlag
Was im zweiten Buch geschah
Der Abwesende
Das Fest
Die Abkürzung
Das Reiseziel
Die Trennung
Das Rad-schi
Die Erinnerung
Die Virtuosen
Die Bewerbung
Die Tradition
Das Gerücht
Reise
Die Handschuhe
Der Leser
Der Unglücksrabe
Die Willkommene
Überraschung
Die Sklavin
Die Verbote
Die Raubkatze
Der Kompass
Die Schreckgestalt
Der Wiedergefundene
Das Misstrauen
Der Automat
Der Hausmeister
Das Ungesagte
Der Rückblick
Der Verrat
Schatten
Der Staub
Das Rot
Die Datierung
Die Vorladung
Das Dazwischen
Die Zeremonie
Die Worte
Die Schublade
Der Name
Das Entsetzen
Dummheit
Der Andere
Dank
Die Verschwundenen vom Mondscheinpalast
Aufgrund eines Missverständnisses wird Ophelia zur Vize-Erzählerin am Hofe Faruks, des Familiengeistes der Arche Pol, ernannt. Sie taucht in das Leben der Himmelsburg ein und sieht die Kehrseite ihrer glänzenden Fassaden: Unter dem Schleier prächtiger Illusionen sind die Seelen der Menschen verdorben. Das Verschwinden einiger Adliger bringt sie bald dazu – diesmal als Leserin –, die Spur eines Erpressers zu verfolgen, der behauptet, im Namen »Gottes« zu handeln. Dieser nimmt auch Ophelia ins Visier, als Faruk sich ihrer Fähigkeit bedienen will, um das Geheimnis seines Buches zu ergründen. Jeder Familiengeist besitzt ein solches unentzifferbares Manuskript als letzte Spur seiner vergessenen Kindheit. Von Ophelias Lektüre dieses Buches hängt schließlich Thorns Leben ab, der zur Höchststrafe, der Verstümmelung und Verbannung, verurteilt ist.
Was Ophelia herausfindet, übertrifft ihre kühnsten Vorstellungen. Gott existiert tatsächlich. Er ist der Schöpfer der Familiengeister, der Urahn all ihrer Nachkommen, Herr über deren Schicksal und Zensor des kollektiven Gedächtnisses!
Vor allem aber kann er das Aussehen und die Kräfte jedes Menschen annehmen, dem er einmal begegnet ist. Diese schmerzvolle Erfahrung machen Ophelia und Thorn, als Gott sie im Gefängnis besucht. Dort kündigt er ihnen auch an, dass das Schlimmste erst noch bevorsteht: Der »Andere« sei sehr viel gefährlicher als er selbst … und ausgerechnet Ophelia habe diesen Anderen bei ihrer allerersten Spiegelreise befreit, ohne es zu wissen.
Thorn, der durch die Hochzeit selbst zum Spiegelgänger geworden ist, nutzt seine neue Kraft, um aus dem Gefängnis zu entkommen.
Ophelia wird von den Doyennen gezwungen, den Pol zu verlassen und nach Anima zurückzukehren, wo sie sich allein mit all ihren Fragen wiederfindet. Wer ist der Andere? Hat wirklich er den Riss verursacht? Warum will er die Archen zum Einsturz bringen? Wird tatsächlich sie es sein, die Gott zu ihm führt?
Doch eine Frage quält sie am allermeisten.
Wo ist Thorn?
I.
Anima, die Arche von Artemis (Beherrscherin der Dinge)
II.
Der Pol, die Arche Faruks (Herr über den menschlichen Geist)
III.
Totem, die Arche der Venus (Herrin der Tiere)
IV.
Zyklop, die Arche des Uranus (Beherrscher der Schwerkraft)
V.
Flora, die Arche Belisamas (Herrin über die Pflanzenwelt)
VI.
Plombor, die Arche des Midas (Meister der Transmutation)
VII.
Pharos, die Arche des Horus (Meister der Verführung)
VIII.
Serenissima, die Arche Famas (Meisterin der Weissagung)
IX.
Heliopolis, die Arche Luzifers (Beherrscher der Blitze)
X.
Babel, die Arche der Zwillinge Pollux und Helene (Meister der Sinne)
XI.
Die Wüste, die Arche Dschinns (Beherrscher der Wasser)
XII.
Tatar, die Arche Gaias (Beherrscherin der Erdkräfte)
XIII.
Zephir, die Arche Olymps (Beherrscher des Windes)
XIV.
Titan, die Arche Yins (Beherrscherin der Masse)
XV.
Korpolis, die Arche des Zeus (Meister des Gestaltwandels)
XVI.
Síd, die Arche Persephones (Beherrscherin der Temperatur)
XVII.
Selene, die Arche von Morpheus (Beherrscher der Träume)
XVIII.
Vesperal, die Arche Wiraquchas (Meister der Phantomisierung)
XIX.
Al-Ondalus, die Arche von Re (Meister der Empathie)
XX.
Stern, neutrale Arche (Sitz der interfamiliären Institutionen)
Es wird einmal
in nicht allzu ferner Zeit
die Welt endlich in Frieden leben.
In jenen Tagen
wird es neue Männer geben
und es wird neue Frauen geben.
Dies wird das Zeitalter der Wunder sein.
Die Uhr näherte sich in beachtlichem Tempo. Es war eine riesige Burgunder Uhr auf Rollen mit einem Pendel, das laut die Sekunden schlug. Ophelia sah nicht alle Tage ein Möbel von solcher Statur auf sich zurasen.
»Bitte entschuldigt, liebe Cousine«, rief ein junges Mädchen, das die Leine der Uhr mit aller Kraft umklammert hielt. »Sie ist normalerweise nicht so aufdringlich. Zu ihrer Entschuldigung sei gesagt, dass Mama sie nicht oft spazieren führt. Dürfte ich eine Waffel haben?«
Ophelia beäugte argwöhnisch das gute Stück, dessen Rollen weiter über die Steinplatten schrammten, und angelte eine Waffel von der Auslage.
»Möchtet Ihr auch etwas Ahornsirup?«
»Auf keinen Fall! Fröhliches Uhrenfest!«
»Fröhliches Uhrenfest«, antwortete Ophelia ohne große Überzeugung, während sie dem Mädchen hinterhersah, das mit seiner Uhr in der Menge verschwand. Wenn es eine Feierlichkeit gab, die sie sich gern erspart hätte, dann diese hier. An den Waffelstand auf dem Kunsthandwerksmarkt von Anima verdonnert, sah sie in einem fort Kuckucksuhren und Wecker an sich vorbeiziehen. Die ununterbrochene Kakofonie all der Tick-Tacks und »Fröhliches Uhrenfest!« echote von den großen Glasfenstern der Halle wider. Ophelia kam es so vor, als drehten sich sämtliche Zeiger nur, um ihr ins Gedächtnis zu rufen, was sie viel lieber verdrängt hätte.
»Zwei Jahre und sieben Monate.«
Ophelia sah Tante Roseline an, die diese Worte zugleich mit den dampfenden Waffeln auf die Servierplatte geworfen hatte. Auch in ihr weckte das Uhrenfest düstere Gedanken.
»Meinst du, Madame würde auf unsere Briefe antworten?«, zischte Tante Roseline und fuchtelte dabei mit dem Teigspatel in der Luft herum. »Ach, i wo! Madame hat Besseres zu tun, nehme ich an.«
»Ihr seid ungerecht«, erwiderte Ophelia. »Berenilde hat sicher versucht, uns zu kontaktieren.«
Tante Roseline legte den Spatel auf das Waffeleisen und wischte sich die Hände an der Schürze ab.
»Natürlich bin ich ungerecht. Nach allem, was am Pol geschehen ist, würde es mich nicht wundern, wenn die Doyennen unsere Briefe abfangen würden. Ach, was beklage ich mich überhaupt. Du hast unter dem Schweigen dieser zwei Jahre und sieben Monate ganz bestimmt mehr gelitten als ich.«
Ophelia wollte nicht darüber sprechen. Wenn sie nur daran dachte, fühlte es sich schon an, als hätte sie die Zeiger einer Uhr verschluckt. Eilends bediente sie einen Juwelier, der seine schönsten Zeitmesser zur Schau stellte.
»Also bitte!«, schimpfte er, als sie alle wie verrückt mit den Deckeln zu klappern begannen. »Wo sind denn eure guten Manieren, meine Damen? Wollt ihr, dass ich euch in den Laden zurückbringe?«
»Tadelt sie nicht«, sagte Ophelia, »es liegt an mir. Sirup?«
»Die Waffel genügt, danke. Fröhliches Uhrenfest!«
Ophelia sah dem Juwelier hinterher und stellte die Sirupflasche, die sie beinahe umgeworfen hätte, auf den Tresen.
»Die Doyennen hätten mir keinen Feststand anvertrauen dürfen. Ich verteile hier nur Waffeln, die ich nicht mal selbst backen kann, und habe obendrein schon ein halbes Dutzend davon auf den Boden fallen lassen.«
Jeder in der Familie kannte Ophelias krankhafte Tollpatschigkeit. Niemand hätte es gewagt, sie um Ahornsirup zu bitten, bei all den empfindlichen Uhrwerken rundherum.
»Ich sage das nur ungern, aber ausnahmsweise muss ich den Doyennen einmal recht geben. Du siehst furchtbar aus, und es ist gut, wenn du deine Hände ein wenig beschäftigst.«
Tante Roseline musterte ihre Nichte streng, ihr blasses Gesicht, die farblose Brille und den Zopf, der so verstrubbelt war, dass keine Bürste mehr durchkam.
»Es geht mir gut.«
»Nein, es geht dir nicht gut. Du verlässt das Haus nicht mehr, isst nichts Vernünftiges, schläfst zu den unmöglichsten Zeiten. Selbst im Museum bist du nie wieder gewesen«, fügte Tante Roseline ernst hinzu, als wäre das der beunruhigendste Umstand von allen.
»Doch, ich war dort«, widersprach Ophelia.
Nach ihrer Rückkehr vom Pol war sie, kaum dass sie aus dem Zeppelin gestiegen war, direkt dorthin geeilt. Sie wollte mit eigenen Augen die Schaukästen ohne Waffensammlung, die Rotunde ohne Militärflugzeuge, die Wände ohne kaiserliche Standarten und die Nischen ohne Paradeuniformen sehen.
Am Boden zerstört war sie wieder herausgekommen und hatte das Museum seitdem nicht noch einmal betreten.
»Das ist kein Museum mehr«, nuschelte sie zwischen den Zähnen. »Von der Vergangenheit zu erzählen, ohne den Krieg zu erwähnen, heißt lügen.«
»Du bist eine Leserin«, schimpfte Roseline sie. »Du wirst ja wohl nicht die Hände in den Schoß legen, bis … bis … Kurz, du musst auf andere Gedanken kommen.«
Ophelia verkniff sich die Erwiderung, dass sie weder die Hände in den Schoß legte noch daran interessiert war, auf andere Gedanken zu kommen. Sie hatte in den letzten Monaten ihr Bett zwar kaum verlassen, aber dennoch viel recherchiert, die Nase in Geografiebüchern vergraben. Sie wollte vor allem hier wegkommen, nur dass das nicht möglich war. Nicht, solange die Doyennen sie überwachten.
Nicht, solange Gott sie überwachte.
»Du hättest deine Uhr während des Festes lieber zu Hause lassen sollen«, bemerkte Tante Roseline plötzlich. »Sie macht alle anderen ganz verrückt.«
Tatsächlich hatte sich ein Trupp Zeitmesser vor dem Waffelstand versammelt. Ophelia legte instinktiv die Hand auf ihre Tasche, dann bedeutete sie den Zeigern, sie sollten anderswo weiterticken.
»Typisch Anima. Man kann keine aus dem Takt geratene Uhr bei sich tragen, ohne das Missfallen aller anderen um sich herum zu erregen.«
»Du solltest sie von einem Uhrmacher untersuchen lassen.«
»Das habe ich schon getan. Sie ist nicht kaputt, nur sehr durcheinander. Fröhliches Uhrenfest, Onkel.«
In seinen alten Wintermantel gehüllt, den Schnurrbart triefend von geschmolzenem Schnee, war Ophelias Großonkel gerade aus der Menge aufgetaucht.
»Jawoll, jawoll, frohes Fest, ihr Ticktacks und Konsorten«, knurrte er, während er direkt hinter den Stand trat und sich selbst eine heiße Waffel nahm. »Das wird langsam lächerlich hier, dieser Kokolores! Tafelsilberfest, Musikinstrumentenfest, Stiefelfest, Hütefest … Jedes Jahr gibt es eine neue Kirmes im Kalender! Wartet nur ab, bald werden wir noch die Pinkelpötte feiern. Zu meiner Zeit, da hat man den Plunder nicht so verhätschelt wie heut, und hinterher wundern sich alle, dass er uns auf der Nase rumtanzt. Schnell, steck das ein«, flüsterte er Ophelia unvermittelt zu und hielt ihr einen Umschlag hin.
»Habt Ihr noch eine gefunden?«
Während sie das Kuvert in ihrer Schürzentasche verschwinden ließ, übertönte Ophelias Herzklopfen das Ticken sämtlicher Uhren des Volksfestes.
»Und nicht irgendeine, mein Mädelchen. Sie aufzutreiben ist nicht so schwierig, aber zu verhindern, dass die Doyennen davon Wind bekommen, ist etwas ganz anderes. Die haben mich beinahe genauso im Visier wie dich. Obacht, übrigens«, brummelte der Großonkel und schnaubte in seinen Schnurrbart, »ich hab die Kundschafterin und ihren vermaledeiten Piepmatz hier rumschleichen sehen.«
Tante Roseline presste die langen Pferdezähne aufeinander, während sie den beiden zuhörte. Sie wusste bestens Bescheid über ihre kleinen Machenschaften, und wenn sie sie auch nicht guthieß, da sie fürchtete, Ophelia würde sich dadurch weiteren Ärger einhandeln, so war sie doch oft ihre heimliche Komplizin.
»Mir geht langsam der Waffelteig aus«, sagte sie daher auch diesmal ruppig. »Hol mir ein bisschen Nachschub, ja?«
Ophelia ließ sich nicht zweimal bitten und schlüpfte rasch in den Vorratsraum. Hier war es eiskalt, aber sie war vor unerwünschten Blicken geschützt. Sie beruhigte ihren Schal, der an seinem Kleiderhaken ungeduldig zappelte, vergewisserte sich, ob sie auch wirklich allein war, und öffnete dann den Umschlag des Großonkels.
Er enthielt eine Postkarte.
Die Bildunterschrift lautete: XXII. Interfamiliäre Weltausstellung, und der Poststempel war über sechzig Jahre alt. Als würdiger Familienarchivar hatte der Großonkel bestimmt seine Beziehungen spielen lassen, um sich diese Karte zu beschaffen. Was Ophelia daran interessierte, war das Motiv. Die hie und da in grellen Farben nachkolorierte Schwarzweißfotografie zeigte die Ausstellungsstände mit ihren exotischen Kuriositäten im Atrium eines riesigen Gebäudes. Es ähnelte der großen Markthalle von Anima, war aber hundertmal imposanter. Die junge Frau schob ihre Brille auf der Nase hoch und hielt die Postkarte näher ans Licht. Endlich fand sie, was sie suchte: Durch die Fensterfront des Gebäudes erkannte man undeutlich im Nebel draußen eine kopflose Statue.
Zum ersten Mal seit Langem bekamen Ophelias Brillengläser ein wenig Farbe. Der Großonkel hatte soeben all ihre Vermutungen bestätigt.
»Ophelia!«, rief Tante Roseline. »Deine Mutter will dich sprechen!«
Hastig steckte sie die Postkarte zurück in die Schürzentasche. Die freudige Aufregung, die sie kurz erfüllt hatte, ebbte sofort wieder ab, um einem Gefühl der Frustration zu weichen. Es war sogar noch weit mehr als das. Das Warten, dieses ewige Warten, höhlte sie innerlich aus. Jeder neue Tag, jede weitere Woche, jeder zusätzliche Monat vergrößerte die klaffende Leere in ihr. Manchmal fragte Ophelia sich, ob sie nicht am Ende selbst darin versinken würde.
Sie holte die Taschenuhr heraus und öffnete behutsam den Deckel. Dieses arme Räderwerk war schon angegriffen genug, sie durfte nicht auch noch ruppig damit umgehen. Seit Ophelia die Uhr unmittelbar vor ihrer erzwungenen Rückkehr nach Anima aus Thorns Habseligkeiten an sich genommen hatte, hatte sie noch nie die Zeit angezeigt. Oder zumindest nicht die korrekte Zeit. Sämtliche Zeiger deuteten mal in die eine, mal in die andere Richtung, ohne erkennbare Logik: vier Uhr zweiundzwanzig, sieben Uhr siebenunddreißig, ein Uhr fünf …, und nicht das leiseste Ticken war zu vernehmen.
Zwei Jahre und sieben Monate Stille.
Seit Thorns Flucht hatte Ophelia keinerlei Nachricht von ihm erhalten. Nicht ein einziges Telegramm, nicht einen einzigen Brief. Sie mochte sich noch so oft sagen, dass es zu riskant für ihn war, von sich hören zu lassen, da er ein von der Justiz, ja, vielleicht von Gott persönlich gesuchter Mann war – sie verzehrte sich dennoch innerlich nach einem Lebenszeichen von ihm.
»Ophelia!«
»Ich komme.«
Sie schnappte sich eine Schüssel Waffelteig und trat aus dem Vorratsraum. Vor dem Tresen stand ihre Mutter, voluminös wie immer, in einem bauschigen Kleid.
»Sieh an, meine Tochter hat endlich geruht, ihr Bett zu verlassen! Das war aber auch höchste Zeit, es fehlte nicht viel, und du hättest dich in einen Nachttisch verwandelt. Fröhliches Uhrenfest, mein Schatz. Kannst du den Kleinen ein paar Waffeln geben?«
Ihre Mutter zeigte auf die lange Schlange von Kindern, die sie im Schlepptau hatte. Ophelia bemerkte darunter ihren Bruder, ihre Schwestern, ihre Neffen und Großcousins sowie die Pendeluhr aus dem Wohnzimmer. Von ihrer Warte aus waren sie gar nicht so klein. Hektor hatte in den letzten Monaten einen derartigen Wachstumsschub gemacht, dass er sie nun auch überragte. Wenn Ophelia sie alle so beisammen sah, groß, rothaarig und sommersprossig, fragte sie sich manchmal, ob sie wirklich zur selben Familie gehörte.
»Ich habe mit Agathe über dich gesprochen«, sagte ihre Mutter, wobei sie sich mit ihrem ganzen Oberkörper über den Stand lehnte. »Deine Schwester ist der gleichen Ansicht wie ich: Du musst eine Beschäftigung finden. Sie hat mit Karl geredet, du könntest in der Fabrik arbeiten. Sieh dich doch nur mal an, Kind! So kann es nicht weitergehen. Du bist noch so jung! Nichts bindet dich mehr an … du weißt schon …« Ihn.
Ophelias Mutter hatte das letzte Wort mit den Lippen geformt, ohne es auszusprechen. Niemand in ihrer Familie erwähnte Thorn je. Als müsse man sich seiner schämen. Überhaupt erwähnte auch niemand jemals den Pol. An manchen Tagen fragte Ophelia sich, ob all das, was sie dort erlebt hatte, wirklich passiert war, oder ob sie vielleicht gar nie Page, Vize-Erzählerin und Oberste Familien-Leserin gewesen war.
»Sagt Agathe und Karl herzlichen Dank von mir, Mama, aber meine Antwort ist nein. Ich sehe mich wirklich keine Spitzen klöppeln.«
»Sie kann mit mir ins Archiv kommen«, brummte der Großonkel in seinen Schnurrbart.
Ophelias Mutter kniff so fest die Lippen zusammen, dass sich ihr Gesicht in Falten legte wie eine Ziehharmonika.
»Ihr habt einen furchtbar schlechten Einfluss auf sie, lieber Onkel. Vergangenheit, Vergangenheit, immer nur die Vergangenheit! Meine Tochter soll an ihre Zukunft denken.«
»Ach ja!«, gab er höhnisch zurück. »Du wünschst sie dir so angepasst wie die Büchlein in der Bibliothek, wie? Dann schick sie doch gleich in die Walachei, dein Mädel.«
»Ich wünschte vor allem, sie würde zur Abwechslung einmal bei den Doyennen und Artemis einen guten Eindruck machen.«
Ophelia war so aufgebracht, dass sie versehentlich der Pendeluhr eine Waffel reichte.
Es half alles nichts: So oft sie ihrer Familie auch sagte, dass man den Doyennen nicht trauen durfte, sie hörten einfach nicht auf sie. Sie hätte sie gerne noch vor so vielen anderen Dingen gewarnt! Besonders vor Gott. Doch sie hatte niemandem von ihm erzählt: weder ihren Eltern, die sie andauernd löcherten, noch Tante Roseline, die von ihrem verstockten Schweigen beunruhigt war, ja, nicht mal dem Großonkel, obwohl er sie nach Kräften bei ihren Nachforschungen unterstützte. Ihre gesamte Familie wusste, dass in Thorns Gefängniszelle etwas geschehen war – die am schlechtesten Informierten glaubten, es wäre Ophelia gewesen, die man eingesperrt hatte –, aber keiner hatte je ein Sterbenswörtchen von ihr darüber erfahren. Sie konnte es niemandem sagen, nicht nach dem, was sie über Gott herausgefunden hatte.
Mutter Hildegard hatte sich wegen ihm umgebracht.
Baron Melchior hatte andere für ihn umgebracht.
Thorn wäre beinahe von ihm umgebracht worden.
Allein von Gottes Existenz zu wissen war gefährlich. Ophelia würde dieses Geheimnis hüten, solange es nötig war.
»Ich weiß, dass Ihr Euch alle Sorgen um mich macht«, erklärte sie schließlich, »aber hier geht es um mein Leben. Darüber bin ich niemandem Rechenschaft schuldig, nicht einmal Artemis. Und was die Doyennen denken, ist mir vollkommen gleichgültig.«
»Wie schön für dich, mein gutes Kind!«
Ophelia erstarrte, als sie die Frau mittleren Alters sah, die sich verstohlen dem Stand näherte. Sie führte keine Uhr spazieren, doch dafür war sie mit einem unsäglichen Hut ausstaffiert, auf dem eine Wetterfahne in Form eines Storches blitzschnell um sich selbst kreiselte. Eine Brille mit Goldrand ließ ihre ohnehin schon hervorquellenden Augen noch glupschiger wirken, mit denen sie das Treiben sämtlicher Animisten im Allgemeinen und Ophelias im Besonderen verfolgte.
Wenn die Doyennen Gottes Helfershelfer waren, so war die Kundschafterin die Helfershelferin der Doyennen.
»Deine Tochter ist ein Freigeist, meine kleine Sophie«, wandte sie sich mit wohlmeinendem Lächeln an Ophelias Mutter. »Die muss es in jeder Familie geben! Sie möchte ihre Arbeit im Museum nicht wieder aufnehmen? Respektieren wir ihre Entscheidung. Sie möchte keine Spitze klöppeln? Zwingen wir sie nicht. Lasst sie ihren eigenen Weg gehen … Vielleicht braucht sie eine kleine Luftveränderung?«
Der Wetterstorch und der Blick der Kundschafterin richteten sich gleichzeitig auf Ophelia. Die musste sich beherrschen, um nicht zu überprüfen, ob die Postkarte auch ja nicht aus ihrer Schürzentasche ragte.
»Ihr legt mir nahe, Anima zu verlassen?«, fragte sie misstrauisch.
»Oh, wir legen dir gar nichts nahe!«, kam die Kundschafterin Ophelias Mutter zuvor, die die Lippen bereits gespitzt hatte. »Du bist jetzt ein großes Mädchen. Es steht dir frei zu gehen, wohin du willst.«
Dieser Frau fehlte es definitiv an jeglichem Fingerspitzengefühl; das war auch der Grund, warum sie niemals Doyenne werden würde. Ophelia wusste ganz genau, dass man ihr, sobald sie in einen Zeppelin stieg, folgen und sie im Auge behalten würde. Ja, sie wollte Thorn wiederfinden, aber sie hatte nicht die Absicht, Gott zu ihm zu führen. In solchen Momenten bedauerte sie mehr denn je, dass sie Anima nicht durch einen Spiegel verlassen konnte: Diese besondere Gabe hatte leider ihre Grenzen.
»Ich danke Euch«, sagte sie schließlich, nachdem sie alle Kinder mit Waffeln versorgt hatte. »Ich glaube, mein Zimmer ist mir doch lieber. Frohes Uhrenfest, Madame.«
Das Lächeln der Kundschafterin verrutschte.
»Unsere hochgeschätzten Mütter erweisen dir eine ungeheure Ehre – eine ungeheure Ehre, verstehst du? –, indem sie sich um dich unbedeutende kleine Person sorgen. Also hör endlich auf mit der Heimlichtuerei und vertrau dich ihnen an. Sie könnten dir helfen, und zwar weit mehr, als du denkst.«
»Frohes Uhrenfest«, wiederholte Ophelia schroff.
Die Kundschafterin zuckte zurück, als hätte sie einen Stromschlag bekommen. Sie sah Ophelia erst verblüfft, dann entrüstet an, ehe sie auf dem Absatz kehrtmachte, um sich einem Gefolge alter Damen in der Uhrenprozession anzuschließen. Doyennen. Während die Kundschafterin ihnen Bericht erstattete, nickten sie nur, doch die Blicke, die sie Ophelia von Weitem zuwarfen, waren eisig.
»Du hast es getan!«, rief Ophelias Mutter erbost aus. »Du hast diese abscheuliche Kraft eingesetzt! Gegen die Kundschafterin höchstpersönlich!«
»Nicht absichtlich. Hätten mich die Doyennen nicht gezwungen, den Pol zu verlassen, dann hätte Berenilde mich lehren können, meine Krallen zu beherrschen«, murmelte Ophelia und wischte dabei gereizt mit einem Lappen über den Verkaufstresen.
Sie konnte sich einfach nicht an diese neue Gabe gewöhnen. Bisher hatte sie niemanden verletzt – keine Nase und keinen Finger abgeschnitten –, aber wenn jemand ihr allzu unsympathisch war, dann geschah immer dasselbe: Etwas in ihr regte sich und stieß ihn zurück. Sicher war das nicht die beste Art, eine Meinungsverschiedenheit beizulegen.
»So leicht kommst du mir nicht davon«, zischte Ophelias Mutter mit drohend vorgerecktem, rot lackiertem Zeigefinger. »Mir steht es bis hier, wie du die ganze Zeit im Bett herumlümmelst und unsere hochgeschätzten Mütter provozierst. Morgen früh gehst du in die Fabrik deiner Schwester, Schluss aus!«
Ophelia wartete, bis ihre Mutter und die Kinder abgerauscht waren, ehe sie sich mit beiden Händen auf den Tresen stützte und tief durchatmete. Das Loch, das sie in ihrem Innern zu spüren meinte, war gerade noch ein wenig weiter aufgerissen.
»Soll deine Mutter doch sagen, was sie will«, grummelte der Großonkel. »Du kannst mit mir im Archiv arbeiten.«
»Oder mit mir im Restaurationsatelier«, fügte Tante Roseline aufmunternd hinzu. »Es gibt nichts Befriedigenderes, als ein altes Papier von seinen Würmern und Stockflecken zu befreien.«
Ophelia antwortete ihnen nicht. Sie hatte weder Lust, in die Spitzenfabrik zu gehen noch ins Familienarchiv oder ins Restaurationsatelier. Was sie sich aus tiefstem Herzen wünschte, war, der Wachsamkeit der Doyennen zu entfliehen, um sich an den Ort zu begeben, der auf der Postkarte abgebildet war.
Dorthin, wo auch Thorn vielleicht gerade war.
›Erstes Zwischengeschoss.‹
›Herrentoilette.‹
›Vergesst Euren Schal nicht: Ihr reist ab.‹
Ophelia richtete sich so ruckartig auf, dass sie die Flasche Ahornsirup über den Stand kippte. Mit glühenden Wangen suchte sie inmitten der Küchenwecker und astronomischen Uhren die Person, die ihr diese drei Gedanken eingegeben hatte. Aber sie war schon in der Menge verschwunden.
»Welche Hutnadel hat dich denn gestochen?«, wunderte sich Tante Roseline, als Ophelia hastig ihren Mantel über die Schürze zog.
»Ich muss zur Toilette.«
»Fühlst du dich nicht wohl?«
»Mir ging es noch nie besser«, sagte Ophelia mit einem breiten Lächeln. »Archibald ist gekommen, um mich zu holen.«
Tatsächlich hatte Ophelia, als sie zusammen mit Tante Roseline, dem Großonkel und ihrem Schal die Treppe hochging, keine Ahnung, wie Archibald hier, mitten auf dem animistischen Fest, gelandet war und warum er sie in der Toilette treffen wollte. ›Ihr reist ab‹, hatte er ihr angekündigt. Wenn er beabsichtigte, sie von der Arche fortzubringen, wäre es dann nicht besser gewesen, sich irgendwo draußen zu verabreden, möglichst weit entfernt von all dem Trubel und den Doyennen?
»Ihr hättet am Stand bleiben sollen«, flüsterte Ophelia. »Sobald ihnen auffällt, dass niemand mehr bei den Waffeln ist, werden sie uns suchen.«
Tante Roseline, an die diese Worte gerichtet waren, schleppte alles mit sich, was sie in der Eile hatte zusammenraffen können.
»Du machst wohl Witze«, empörte sie sich. »Wenn auch nur die leiseste Aussicht besteht, an den Pol zurückzukehren, dann komme ich natürlich mit!«
»Und Eure Arbeit im Atelier? Was wird aus den Würmern und Stockflecken?«
»Berenilde muss seit unserer Abreise Schlangen und Halunken die Stirn bieten. Und sie bedeutet mir doch etwas mehr als ein Haufen Papier.«
Ophelias Herz machte einen Sprung, als sie Archibald am anderen Ende der Galerie stehen sah. In einen alten, geflickten Umhang gehüllt, seinen Zylinder schief auf dem Kopf, wartete er seelenruhig vor der Tür zu den Toiletten. Er versuchte nicht einmal, sich zu verbergen, was jedoch keine übertriebene Vorsichtsmaßnahme gewesen wäre: Selbst angezogen wie ein Landstreicher, war er der Typ Mann, der alle Blicke auf sich zog, insbesondere die der Damen.
»Das wird doch wohl keine Falle sein?«, brummte der Großonkel und hielt Ophelia an der Schulter zurück. »Kann man dem Knaben da trauen?«
Dazu wollte sie sich lieber nicht äußern. Sie vertraute Archibald bis zu einem gewissen Grad, aber er war sicher nicht der tugendhafteste Mensch, den sie kannte. Während sie auf ihn zuging, versuchte sie, sich von der Balustrade fernzuhalten. Von hier aus gesehen, war die Feier ein wogendes Meer aus Hüten und Zifferblättern; man zeigte einander die Zeit an, zog sein Uhrwerk auf, wünschte sich gegenseitig »Fröhliches Uhrenfest«.
»Ich hatte Euch gewarnt, Frau Thorn«, sagte Archibald statt einer Begrüßung. »Wenn Ihr nicht zum Pol kommt, dann kommt der Pol eben zu Euch.«
Er öffnete die Tür zu den Toiletten, als wäre es der Wagenschlag einer Kutsche, und forderte sie alle mit einer galanten Geste auf, einzutreten.
»Was geht hier vor? Wer ist diese Person?«
Atemlos, den Schnabel ihres Wetterstorchs auf Archibald gerichtet, war die Kundschafterin oben an der Treppe erschienen.
»Rein mit Euch, schnell!«
Archibald schob Ophelia durch die Tür. Tante Roseline und der Großonkel stürzten hinterher, schlidderten über die Fliesen, sahen sich nach einem zweiten Ausgang um, doch es gab nur Pissoirs. Ophelia hätte Archibald gern gefragt, wie sie hier wieder herauskommen sollten, aber der war zu sehr damit beschäftigt, die Kundschafterin ihrerseits am Hereinkommen zu hindern. Es war ihr gelungen, blitzschnell einen Fuß in die Tür zu schieben.
»Hochgeschätzte Mütter!«, rief sie mit schriller Stimme. »Sie versucht zu fliehen! Tut etwas!«
Diese Worte lösten im Innern der Toilette augenblicklich die Sintflut aus. Die Pissoirs, Kloschüsseln und Waschbecken spien unter furchtbarem Gurgeln ihr Wasser hervor. Der Animismus der Doyennen war bereits am Werk: Alle öffentlichen Einrichtungen – und dazu gehörte auch die Halle, in der der Kunsthandwerksmarkt abgehalten wurde – gehorchten ihrem Willen.
»Hier können wir nicht bleiben«, rief Ophelia Archibald über das Wasserrauschen hinweg zu. »Was habt Ihr vor?«
»Diese Tür schließen«, antwortete er, immer noch lächelnd, als wäre all das nur ein läppischer kleiner Zwischenfall.
»Und dann?«
»Dann seid Ihr frei.«
Ophelia verstand nichts. Sie starrte auf die Hand der Kundschafterin, die sich gerade in den Türspalt geschoben hatte. Sie kannte Archibald gut genug, um zu wissen, dass er niemals einer Dame die Finger brechen würde.
»Geh zur Seite, Bürschchen!«, knurrte der Großonkel. »Ich kümmer mich um die Nervensäge, hilf du der Kleinen, von hier zu verschwinden.«
Mit diesen Worten stürmte er in den Flur hinaus und riss die Kundschafterin mit sich.
Archibald warf die Tür zu, und alles wurde still. Unnatürlich, unbegreiflich still. Das Wasser lief nicht mehr aus sämtlichen Rohren. Die Schreie der Kundschafterin waren ebenso verstummt wie das Geticke und Getacke des Festes. Ophelia fragte sich schon, ob Archibald vielleicht die Zeit angehalten hatte. Als sie die Tür wieder öffneten, waren davor kein Zwischengeschoss mehr und keine Halle, kein Großonkel und auch keine Kundschafterin. Stattdessen erahnten sie die leeren Regale eines verlassenen Ladens. Dem muffigen Geruch nach zu urteilen, wurde hier schon lange nichts mehr verkauft.
»Gebt auf die Stufe Acht«, warnte Archibald sie.
Vorsichtig verließen Ophelia und Tante Roseline den Toilettenraum, der etwas höher lag als der Boden des Geschäftes. Den Grund dafür verstanden sie erst, als sie sich umdrehten: Sie waren gerade aus einem Schrank gestiegen.
»Wie ist Euch denn dieses Kunststück gelungen?«
»Ich habe eine Abkürzung beschworen«, antwortete Archibald, als wäre das selbstverständlich. »Kein Meisterwerk, nur etwas Vorübergehendes. Seht selbst.«
Er schloss die Schranktür und öffnete sie wieder. Alter Plunder war an die Stelle der Herrentoilette getreten. Es war nicht recht zu begreifen, wie drei Leute aus einem so engen Möbel gekommen sein konnten.
»Die Halle hat ihre Toiletten wieder«, bemerkte Archibald vergnügt. »Stellt Euch nur das Gesicht der Dame mit dem Wetterstorch vor, wenn sie uns nicht darin findet.«
Ophelia wrang ihren triefnassen Schal aus und schob den Vorhang am Schaufenster ein wenig zur Seite. Die Scheibe war beschlagen, aber sie konnte draußen eine Gasse erkennen. Eingemummelte Passanten bemühten sich, nicht auf dem verschneiten Pflaster auszurutschen. Weiter hinten glitt ein Frachtkahn langsam durch einen halb zugefrorenen Kanal.
»Ich kenne diesen Ort«, sagte Tante Roseline über ihre Schulter hinweg. »Wir sind ganz in der Nähe der Großen Seen.«
Ophelia war ein wenig enttäuscht. Einen Moment lang hatte sie gehofft, ihre wundersame Flucht hätte sie schon von Anima weggeführt.
»Wie habt Ihr das gemacht?«, fragte sie wieder.
Archibald hatte viele Fähigkeiten. Er konnte sich in den Kopf der Leute ebenso einschleichen wie in die Herzen der Damen, aber das hier überstieg ihr Begriffsvermögen.
»Ach, das ist eine lange Geschichte«, sagte er, während er in den löchrigen Taschen seines Umhangs kramte. »Stellt Euch vor, ich habe neue Möglichkeiten, neue Ziele und eine neue Liebe für mich entdeckt!«
Bei diesen Worten holte er triumphierend ein Schlüsselbund hervor. Ophelia betrachtete ihn im Dämmerlicht. Das letzte Mal, als sie ihn auf dem Zeppelinlandeplatz gesehen hatte, war er nur noch ein Schatten seiner selbst gewesen. Heute schien im blauen Himmel seiner Augen wieder die Sonne zu strahlen, und dieses Leuchten war etwas ganz anderes als die bittersüße Ungeniertheit, die ihn früher charakterisiert hatte.
Ophelia verkrampfte sich unwillkürlich. War es wirklich Archibald, dem sie da so unüberlegt folgte? Seit ihrer Konfrontation in Thorns Gefängniszelle war sie Gott nicht mehr begegnet, aber sie hatte nicht vergessen, dass er jedwede Gestalt annehmen konnte.
»Woher wusstet Ihr, wo ich bin?«
»Ich wusste es nicht«, erwiderte Archibald. »Ich habe zwei Stunden in einer eiskalten Fähre zugebracht und eine weitere damit, in Eurem kleinen Tal nach dem Weg zu fragen. Als ich das Haus Eurer Eltern endlich gefunden hatte, wart Ihr nicht da. Ich kann nur zwischen zwei Orten, an denen ich schon einmal war, Abkürzungen schaffen, Ihr habt es mir also nicht gerade leicht gemacht! Wenn die Damen mir bitte folgen möchten«, fuhr er fort, indem er auf das Hinterzimmer des Ladens zusteuerte.
Doch Ophelia hatte es plötzlich nicht mehr so eilig.
»Warum habt Ihr uns hierhergeführt?«
»Ist Berenilde bei Euch?«, wollte Tante Roseline wissen.
»Und Thorn?«, konnte Ophelia sich nicht verkneifen hinzuzufügen.
»Immer hübsch langsam«, lachte Archibald. »Ich habe euch an diesen Ort geführt, weil ich hier angekommen bin. Meine Fähigkeit, Abkürzungen zu beschwören, hat, wie gesagt, ihre Grenzen. Die gute Berenilde ist nicht bei mir, nein. Sie weiß nicht mal, dass ich hier bin … und sie wird mich in kleine Scheibchen schneiden, wenn ich nicht bald zum Pol zurückkehre«, fügte er nach einem Blick auf seine Uhr hinzu. »Was den ungreifbaren Herrn Thorn angeht, so haben wir seit seiner Flucht nichts mehr von ihm gehört.«
Die Hoffnung, die bei Archibalds Anblick in Ophelia aufgekeimt war, fiel in sich zusammen wie ein Soufflé. Einen verrückten Moment lang hatte sie geglaubt, Thorn selbst hätte diese Entführung veranlasst. Zögernd beäugte sie das Hinterzimmer des Ladens, das Archibald soeben betreten hatte: Es wirkte noch verwahrloster als der ehemalige Verkaufsraum.
»Hier seid Ihr angekommen? Ich verstehe nicht.«
Archibald probierte mehrere Schlüssel, ehe das Schloss einer weiteren Tür mit lautem Klicken aufsprang.
»Nach Euch, meine Damen!«
Anders als Ophelia erwartet hatte, führte die Tür nicht in einen Keller, sondern in einen Rundbau, groß wie eine Bahnhofshalle. Durch die hohe Glaskuppel sickerte milchiges, beinahe unwirkliches Licht. Der gesamte Fußboden bestand aus einem riesigen Mosaik. Es zeigte einen Stern, dessen acht Spitzen auf ebenso viele, in den Himmelsrichtungen platzierte Türen deuteten. So schäbig der Laden nebenan gewesen war, so grandios war dagegen dieser Raum.
Auf mehreren Schildern aus getriebenem Silber war derselbe Spruch zu lesen:
WIRWÜNSCHENIHNENEINENBEQUEMENÜBERGANG
»Eine Windrose«, murmelte Ophelia.
Und ihrer Größe nach zu urteilen, sogar eine interfamiliäre Windrose. Es war das erste Mal, dass Ophelia eine betrat. Sie wünschte nur, sie wäre nicht gerade eben mit Toilettenspülwasser begossen worden, denn sie machte bei jedem Schritt unangenehm schmatzende Geräusche.
»Ich hatte gehört, dass es auf Anima welche geben soll, aber ich habe nicht wirklich daran geglaubt.«
Obwohl Ophelia leise gesprochen hatte, ließen das Mosaik und die Glaskuppel ihre Stimme durch den gesamten Raum hallen.
»Es gibt nur eine einzige«, korrigierte Archibald sie, während er die Tür hinter sich wieder verschloss. »Und wie es sich für eine Windrose gehört, ist ihre Lage geheim. Mir wäre allerdings recht gewesen, sie hätte sich eine Spur näher an Eurem Zuhause befunden.«
Im Zentrum der Rotunde stand eine Art Schaltertisch, auf dem Ophelia zu ihrer Verwunderung ein kleines Mädchen sah. Es lag auf dem Bauch und zeichnete hoch konzentriert und so still, dass man es beinahe nicht bemerkte.
»Verehrte Damen, hier seht Ihr meine neuen Möglichkeiten und Ziele«, erklärte Archibald, wobei er mit einer großspurigen Geste den gesamten Raum einschloss. »Und das hier ist meine neue Liebe!« Er hob das Mädchen vom Tisch und hielt sie hoch wie eine Trophäe. »Meine kleine Viktoria, erlaubt mir, Euch Eure Patentante und die Patentante Eurer Patentante vorzustellen.«
Vor lauter Überraschung ließ Tante Roseline alles fallen, was sie in der Eile mitgenommen hatte: Regenschirm, Muff, Umschlagtuch und Teigspatel.
»Heiliger Kinderwagen, Berenildes Kleine! Sie ist ihr wie aus dem Gesicht geschnitten.«
Gerührt und auch etwas befangen betrachtete Ophelia das Mädchen, das sie aus weit aufgerissenen, hellen Augen ansah. Berenildes Augen. Ansonsten ähnelte Viktoria mehr ihrem Vater. Ihr Gesicht war von feenhafter Blässe, und das für ihr Alter ungewöhnlich lange Haar wirkte eher weiß als blond. Zudem hatte sie die gleiche seltsame Art, ihre Lippen leicht zu öffnen, ohne einen Mucks zu machen, die an Faruks endloses Schweigen zwischen seinen Sätzen erinnerte.
»Bis jetzt kann sie weder reden noch laufen«, teilte Archibald ihnen mit und schüttelte Viktoria dabei wie eine kaputte sprechende Puppe. »Auch ihre Familienkraft ist noch nicht erwacht. Aber haltet sie nur nicht für dumm, sie begreift schon mehr als all meine Ex-Schwestern zusammen.«
Tante Roseline runzelte argwöhnisch die Brauen.
»Weiß Berenilde überhaupt, dass ihre Tochter hier ist? Ihr seid noch genauso ein Hallodri wie eh und je!«, fügte sie entrüstet hinzu, als Archibalds Lächeln breiter wurde. »Das Kind eines Familiengeistes! Wollt Ihr einen diplomatischen Zwischenfall heraufbeschwören? Ihr seid als Botschafter wirklich keine Reißzwecke wert.«
»Ich bin nicht mehr Botschafter. Meine Ex-Schwester Geduld bekleidet dieses Amt nun. Mein Klan hat mich von der Liste der Lebenden gestrichen, seit – Ihr wisst schon.« Er mimte mit zwei Fingern eine Schere. »Urteilt nicht zu streng über mich, Madame Roseline. Viktoria hat eine Mutter, die sie am liebsten in der Wiege behalten würde, und einen Vater, der andauernd ihren Namen vergisst. Es ist meine Aufgabe als Pate, ihr ein etwas anregenderes Leben zu bieten … Und Ihr, junge Dame, hört nicht auf die bösen Zungen, die Euch als zurückgeblieben bezeichnen!«, erklärte er, wobei er Viktoria seinen alten Zylinder über den Kopf stülpte. »Ich sage Euch voraus, dass Ihr Großes vollbringen werdet.«
Ophelia überlief es heiß. Das waren zwar nicht genau die gleichen Worte wie die des Großonkels damals anlässlich ihrer Verlobung, doch sie ähnelten ihnen sehr. Plötzlich dachte sie, dass sie, ohne die Einmischung der Doyennen, Viktoria hätte heranwachsen sehen und ihr eine echte Patentante hätte sein können. Vielleicht hätte sie sogar Thorn inzwischen schon gefunden. Jedenfalls hätte sie nicht über zwei Jahre in ihrem Zimmer gehockt, während alle anderen draußen ihr Leben weiterlebten.
»Wie funktioniert diese Windrose und bis wohin kann sie uns bringen? Ich möchte eine so große Entfernung wie nur möglich zwischen die Doyennen und …«
Der Rest des Satzes blieb Ophelia im Hals stecken. Mit einer theatralischen Geste hatte Archibald soeben einen Vorhang hinter dem Schalter zur Seite gezogen, der einen großen runden Tisch verbarg. Darüber gebeugt standen Gwenael und Reineke. Beide trugen Uschankas und Lupenbrillen, unter denen sie kaum zu erkennen waren, und machten sich konzentriert Notizen. Eine dicke rote Katze – Dussel, vermutete Ophelia – strich Aufmerksamkeit heischend um ihre Beine, doch abgesehen von ihren Aufzeichnungen schienen sie nichts wahrzunehmen.
Zumindest glaubte Ophelia dies, bis Reineke zwischen zwei Notizen den Kopf hob und ihr zuzwinkerte. Mit seiner athletischen Statur, den struppigen Brauen und buschigen roten Koteletten erinnerte er mehr denn je an einen lodernden Kamin.
»Grüß Euch, Herrin. Wir beenden nur rasch die Berechnung, dann sind wir für Euch da. Wenn wir mittendrin aufhören, müssen wir den ganzen Weg noch mal von vorn abklappern, und dann kriegt meine andre Herrin schlechte Laune.«
»Hör auf mit dem ewigen ›Herrin‹«, knurrte Gwenael. »Du bist ein Gewerkschafter, also rede auch wie einer.«
»Ja, Herrin.«
Je weiter dieser Tag fortschritt, desto mehr fragte Ophelia sich, ob sie nicht vielleicht an ihrem Waffelstand eingeschlafen war und träumte.
»Meine Reisegefährten!«, erläuterte Archibald, der noch immer die kleine Viktoria auf einem Arm balancierte. »Wir können einander nicht ausstehen, aber davon einmal abgesehen, sind wir ein gutes Team. Ich spüre die Windrosen auf, und die beiden entschlüsseln sie. Sieben der acht Türen hier führen zu anderen Archen, wo sich weitere Zugänge befinden. Jede Windrose sieht exakt so aus wie diese: acht Türen, ein Schalter, eine Streckentafel. Ihr könnt Euch nicht vorstellen, wie viele Übergänge wir passieren mussten, nur um vom Pol nach Anima zu gelangen, von den unfreiwilligen Umwegen ganz zu schweigen.«
Ophelia betrachtete den runden Tisch genauer und stellte fest, dass die gesamte marmorne Oberfläche übersät war mit eingravierten Zahlen, Symbolen und Linien. Die Karte des Windrosennetzes glich einem Rätsel, über dem man sich bestens den Kopf zerbrechen konnte. Reineke und Gwenael deuteten auf bestimmte Linien, legten Messinstrumente an und kritzelten Hinweise aufs Papier. Sie berührten einander nicht, sahen sich nicht an, sagten kein Wort. Und dennoch wusste Ophelia es allein aufgrund der Art, wie sie dort dicht zusammenstanden. Sie wandte den Blick ab, plötzlich beschämt, ihnen so zuzusehen, als würde sie damit in ihre Intimsphäre eindringen. Schließlich streichelte sie Dussel, der bei ihr suchte, was er anderswo nicht bekam, aber auch er war furchtbar groß geworden, stellte sie enttäuscht fest.
Sie wurde das unangenehme Gefühl nicht los, eine Stufe verfehlt zu haben. Oder eher einen ganzen Treppenabsatz.
»Was ist ein Gewerkschafter?«, fragte sie Archibald.
Er hatte Viktoria wieder auf dem Schaltertisch abgesetzt, wo sie ungerührt weitermalte.
»Ach, das ist so eine neue Mode bei uns. Sie kämpfen für Ausgleichsurlaub, Lohnerhöhung, Arbeitszeitverkürzung – es ist, als wäre die gute alte Hildegard lebendiger denn je und würde den Bediensteten ihre verrückten Ideen einflüstern. Seit Eurer Abreise hat sich einiges geändert.«
»Ihr habt Euch auch verändert«, bemerkte Ophelia. »Erklärt Ihr mir, wie es Euch gelingt, Abkürzungen zu beschwören und Windrosen aufzuspüren? Ich dachte, nur die Bewohner von Erdenbogen wären dazu in der Lage.«
Archibald angelte sich den Zylinder von Viktorias Kopf und ließ ihn um seinen Zeigefinger kreisen.
»Ich hatte Euch doch von Augustin erzählt, meinem Urgroßvater. Und von der kleinen Liebelei, die er mit der alten Hildegard hatte. Erinnert Ihr Euch?«
Ophelia stierte Archibald verblüfft an. Die Hand mitten im Streicheln erstarrt, hockte sie noch immer vor der Katze, ohne zu merken, dass sich das Tier inzwischen mit ihrem Schal balgte.
»Ihr und Madame Hildegard? Dann wärt Ihr also ihr …«
»Urenkel, genau«, amüsierte sich Archibald. »Natürlich war das damals ein Skandal, der sorgfältig vertuscht wurde. Ich selbst hätte nie davon erfahren, wenn ich nicht plötzlich, ohne es zu wollen, verschiedene kleine Tricks vollbracht hätte. Letztes Jahr ging es los, eines Nachmittags, an dem ich nach einer Hochzeit, deren Details ich Euch erspare, furchtbar verkatert aufgewacht bin. Ich wollte in mein Badezimmer gehen und bin stattdessen in den Kurtisanenbädern gelandet. Einfach so«, er schnipste mit den Fingern, »von einem Ende der Himmelsburg zum anderen. Dann passierte es wieder, und schließlich habe ich immer öfter Übergänge geschaffen. Gebt mir eine Tür, einen geschlossenen Raum, und ich bastle Euch eine Abkürzung. Eines Tages bin ich dann auf eine echte Windrose gestoßen. Sie war in einer Raumkrümmung verborgen, und ich … es ist schwer zu beschreiben … ich habe gespürt, dass sie da war, versteht Ihr? Fragt mich nicht, wie das funktioniert, aber wenn ich in der Nähe einer Windrose einen Schlüssel in einem Türschloss drehe, Hokuspokus, sind wir da! Egal welchen Schlüssel in egal welcher Tür. Das ist wirklich eine ziemlich verrückte Gabe, die Mutter Hildegard mir da vererbt hat, aber ich liebe sie!«
Während Ophelia versuchte, ihren Schal aus den Klauen der Katze zu befreien, wollte es ihr einfach nicht gelingen, ihre Erinnerung an Mutter Hildegard mit dem Mann, der hier vor ihr stand, in Einklang zu bringen.
»Und das ist Euch vorher nie aufgefallen, obwohl es so offensichtlich war?«, mischte Tante Roseline sich mit dem ihr eigenen Pragmatismus ein.
Archibald tippte sich auf die Tätowierung in Form einer Träne zwischen seinen Augenbrauen.
»Erst durch meine Trennung vom Gespinst konnte die andere Familienkraft sich entfalten. Sie schlummerte in mir und wartete geduldig auf ihre Stunde. Und Ihr, Frau Thorn?«, fragte er unvermittelt, »was habt Ihr in den letzten zwei Jahren so getrieben?«
Ophelia öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Archibald hatte gelernt, eine neue Familienkraft zu beherrschen, Reineke war Gewerkschafter geworden. Und sie, womit hatte sie ihre Zeit verbracht? Sie war in einer endlosen Klammer gefangen gewesen. Nein. Es war sogar noch schlimmer als das. Sie hatte einen Schritt zurück gemacht, indem sie wieder in die Haut eines ungeselligen Mädchens geschlüpft war. Und obendrein hatte sie auch noch ein paar überflüssige Kilo zugenommen.
»Ich habe geschmökert«, antwortete sie schließlich.
»Gut, Schluss jetzt mit dem sinnlosen Gequatsche«, unterbrach Gwenael sie schroff. »Es gibt eine sehr viel dringendere Frage zu klären.«
Endlich hob sie die Nase von der Wegetafel und pustete sich die dunklen Locken aus dem Gesicht. Ihre zweifarbigen Augen, das eine schwarz wie die Nacht, das andere blau wie der Tag, wirkten durch die doppelte Lupe riesenhaft verzerrt. So verschieden sie aussahen, lag in ihnen doch dieselbe kalte Wut, als Gwenael ihren Blick in Ophelias Brillengläser bohrte.
»Gibt es Gott?«
Es war, als hätte die Zeit in der Windrose die Luft angehalten. Während Ophelia immer noch an ihrem Schal zog, um ihn Dussel zu entreißen, sah sie nacheinander Gwenael, Reineke, Archibald und Tante Roseline an, die plötzlich von ihr die Antwort auf all ihre existentiellen Fragen zu erwarten schienen.
»Zuerst einmal«, sagte Archibald und setzte sich lässig auf den Tisch mit den Windrosenverbindungen, »solltet Ihr wissen, was uns hier zusammengeführt hat. Wir stellen Nachforschungen zum Tod der alten Hildegard an. Ihr seid, gemeinsam mit Thorn, die einzige noch lebende Person, die in ihren letzten Momenten bei ihr war. Außerdem seid Ihr die Einzige, die weiß, was wirklich hinter dieser Geschichte der Briefe von Gott steckt, in die sie verwickelt war.«
Wie in einer alten Kathedrale hallte das Wort »Gott« durch die Windrose. Sofort hatte Ophelia alles wieder glasklar vor Augen: Baron Melchior und seine mörderische Erpressung, Mutter Hildegard, wie sie in die Tasche ihres Kleides gesogen wurde, die Leichen im Imaginationshaus, die von Thorns Krallen abgetrennten Finger.
O ja, sie wusste nur zu gut, worum es hier ging. Sie hatte noch immer Albträume davon.
»Und dann war da Faruks Krise.« Archibalds Stimme klang heiter, als erzähle er einen guten Witz. »Der gesamte Hof wurde Zeuge seines unerklärlichen Verhaltens und davon, wie Ihr ihn wieder zur Vernunft brachtet. Ihr allein. Mit nichts als ein paar Worten.«
›Dein Buch ist nur der Anfang deiner Geschichte, Odin. Dir allein steht es zu, ihr Ende zu schreiben.‹ Auch daran erinnerte Ophelia sich genau. Nur dass dies nicht ihre Worte gewesen waren. Sondern die Worte Gottes, die dieser vor sehr langer Zeit gesagt hatte.
»Faruk ist seitdem nicht mehr derselbe«, fuhr Archibald fort. »Zwar ist er nach wie vor zerstreut und ein Drückeberger, aber sobald es um seine Familie geht, zeigt er sich beinahe … wie soll ich sagen? Beinahe bemüht.«
»Jetzt reden wir aber über Mutter Hildegard«, warf Gwenael ungeduldig ein.
Sie kam um den Tisch herum und presste ihre Lupengläser an Ophelias Brille. Die bemerkte, dass Gwenael sich – ziemlich schlampig – ein Orangenemblem auf die Fellmütze genäht hatte. Die Orange war Mutter Hildegards Symbol gewesen.
»Hör mir gut zu, Kleine. Die Mutter wusste, dass ihre Zeit abgelaufen war. Und sie wusste, dass es da noch etwas anderes gibt, etwas nicht so Nettes, etwas, was größer ist als die Familiengeister und was es hierauf abgesehen hat.« Mit dem Daumen deutete Gwenael hinter sich auf die Windrose. »Die Mutter hat versucht, mit mir darüber zu reden, mich vorzubereiten, aber ich, ich hab nicht auf sie gehört. Ich wollte nur in meinem Winkel versteckt bleiben. Ich hatte Schiss, so zu enden wie der Rest meines Klans.«
Totenstille senkte sich über den Raum, bevölkert von den Seelen all der getöteten Nihilisten. Ophelia hatte sich schon manches Mal gefragt, warum Gwenael anscheinend so wütend auf sie war, doch jetzt begriff sie, dass sich der Zorn der jungen Frau in Wahrheit gegen sie selbst richtete.
»Du hast mein Monokel kaputt gemacht«, brummte sie. »Ich erwarte eine Entschuldigung von dir. Und ich danke dir dafür. Ohne das Monokel konnte ich vor den anderen nicht länger verbergen, was ich wirklich bin. Das war der Tritt in den Hintern, den ich gebraucht habe. Die Mutter war wie eine Familie für mich, aber jetzt ist Schluss damit, die kleine Rotzgöre zu spielen. Sag es mir, klipp und klar: Existiert Gott, und ist Mutter Hildegard wegen ihm gestorben?«
»Ja.«
Ophelias Antwort verfehlte ihre Wirkung nicht. Gwenael ließ einen Schwall Flüche vom Stapel, Reineke schob die Lupe hoch auf seine Stirn, Archibald brach in Gelächter aus, und Tante Roseline kniff die Lippen zusammen. Nur Viktoria kratzte weiter unbeirrt mit dem Buntstift über ihre Zeichnung.
Ophelia rückte ihre Brille wieder gerade, die Gwenael aus dem Lot gebracht hatte. Bevor Thorn verschwunden war, hatte er ihr eingeschärft, niemandem zu erzählen, was sie wusste, doch sie durfte nicht länger schweigen.
»Erinnert Ihr euch an die Karnevals-Karawane?«
»Die Zirkustruppe, die wir mit Eurem kleinen Bruder besucht haben?«, erwiderte Reineke erstaunt.
»Gott reiste mit ihnen und gab sich als Gestaltwandler aus.«
Ophelia räusperte sich. Wenn sie daran dachte, was sie in jener Nacht in Thorns Gefängniszelle erlebt hatte, fühlte es sich immer an, als hätte sie Sand verschluckt.
»Er ist sehr viel mehr als ein Gestaltwandler. Gott kann das Aussehen, die Stimme und die Familienkraft aller Menschen annehmen, denen er sich schon einmal genähert hat. Das ist der Grund, warum er so erpicht auf ein Treffen mit Mutter Hildegard war: Er will den Raum beherrschen wie sie. Darum hatte sie sich an einem Nicht-Ort, hinter einer Absperrung verschanzt. Sie wusste, dass derjenige, der versuchen würde, diese Linie zu übertreten, durch sie noch gefährlicher werden würde. Aber das ist noch nicht alles«, fuhr sie nach einem erneuten Räuspern fort. »Gott ist der Schöpfer der Familiengeister und betrachtet sich daher als unser aller Urvater. Ohne unser Wissen, doch mit der Unterstützung von Männern und Frauen, die er ›Tutoren‹ nennt, zwingt er uns seine Gesetze auf. Ach, und noch ein interessantes Detail«, fügte sie mit einem nervösen Lächeln hinzu, »Thorns Krallen konnten ihm nichts anhaben.«
Sie hielt inne, um zu sehen, wie ihre Zuhörer auf diese Worte reagierten. Um sie herum waren alle vor Verblüffung wie versteinert. Selbst Archibald, der sich erwartungsvoll die Hände gerieben hatte, war mitten in der Bewegung erstarrt.
»Allein indem ich mit euch darüber spreche, bringe ich euch schon in Gefahr«, fuhr Ophelia fort. »Ich weiß nicht, was genau ihr vorhabt, aber seid extrem vorsichtig. Die Tutoren sind die Augen und Ohren Gottes auf sämtlichen Archen. Es ist unmöglich, mit Gewissheit zu sagen, wer ihm dient und wer nicht. Ich erzähle euch diese Dinge, weil ihr die Menschen seid, denen ich am meisten vertraue.«
Tante Roseline erwachte als Erste aus der allgemeinen Lähmung. Das Klappern ihrer Absätze hallte unter der Kuppel wider, während sie ein paar energische Schritte durch den Raum machte, um sich zu beruhigen. Dann rieb sie sich seufzend die Stirn.
»Das ist doch mal wieder typisch für dich. Wenn du dich in den Schlamassel reitest, dann richtig. Da gibt es keine halben Sachen.«
Ophelia presste die Kiefer zusammen. Ihre Patentante wusste nicht, wie recht sie hatte. Falls Gott die Wahrheit gesagt hatte, dann war er in der ganzen Angelegenheit nicht einmal der, den man am meisten fürchten musste. Denn es gab noch den Anderen. Dieses nicht näher definierte Wesen, das sie selbst angeblich aus dem Spiegel befreit hatte. Diesen Engel der Apokalypse, der, laut der Aussage Gottes, die Welt zerbrochen haben sollte und sein Werk bald vollenden würde.
›Früher oder später, ob du willst oder nicht, wirst du mich zu ihm führen.‹
War sie wirklich mit dem Anderen verbunden? Die einzige Erinnerung, die sie diesbezüglich hatte – eine ferne und verschwommene Erinnerung –, war die an ihr eigenes Ebenbild im Spiegel des Kinderzimmers in der Nacht ihrer ersten Spiegelreise. Seitdem war, entgegen Gottes Behauptung, keine Arche zerstört worden. Sicher, manchmal stürzten größere Brocken Erde ins Nichts, doch das konnte auch die Folge natürlicher Erosion sein. Nein, wirklich, je mehr Ophelia darüber nachdachte, desto weniger angebracht erschien es ihr, alle Welt mit einer so nebulösen Geschichte wie der dieses Anderen kirre zu machen.
Plötzlich bemerkte sie an Archibalds schief gelegtem Kopf und erwartungsvollem Blick, dass er ihr eine Frage gestellt hatte.
»Wie bitte? Was habt Ihr gesagt?«
»Dass es recht seltsam ist. Einerseits meint Ihr, Gott hätte die Familiengeister erschaffen. Andererseits soll er ihre Kräfte begehren. Das erscheint mir doch ein wenig verworren.«
»Da ist vieles, was ich selbst nicht verstehe«, gab Ophelia zu. »Warum, zum Beispiel, hat Gott früher einmal zu den Familiengeistern gesagt, sie könnten frei über ihr Leben entscheiden, wenn er sie nun zu seinen Marionetten macht? Aus irgendeinem Grund müssen sich seine Pläne geändert haben.«
Archibald nickte nur. Er saß entspannt im Schneidersitz auf dem Tisch mit den Windrosenverbindungen, als würden sie über das Wetter plaudern.
»Und was hat Gott für ein Gesicht, wenn er nicht gerade die Gestalt irgendeines Sterblichen annimmt?«
»Ich habe keine Ahnung«, antwortete Ophelia. »Ich kann Euch nicht einmal sagen, ob er überhaupt eines hat. Was ich allerdings weiß, ist, dass er kein Spiegelbild hat. Und dass er sich recht häufig verspricht«, fügte sie hinzu. »Doch ob das nun ein verlässliches Erkennungsmerkmal ist …«
Archibald sprang vom Tisch und tauschte einvernehmliche Blicke mit Gwenael und Reineke, ehe er sich wieder an Ophelia wandte.
»Wollt Ihr mit uns Erdenbogen suchen?«
»Erdenbogen?«
»Die Heimatarche der guten alten Hildegard.«
»Ich weiß, aber warum Erdenbogen?«
»Wenn Hildegard über Gott Bescheid wusste, dann kann man darauf wetten, dass ihre Familie ebenfalls im Bilde ist. Die Bogianer betreiben interfamiliäre Windrosen auf jeder Arche. Seit Generationen beobachten sie alles, was auf der ganzen Welt geschieht. Ich schätze, sie sind bestens informiert. Das Problem ist nur, dass die Bogianer sämtliche Windrosen verlassen haben. Wir sind keinem einzigen von ihnen begegnet.« Nonchalant zog Archibald eine beliebige Schublade des Schaltertisches auf und holte alle möglichen Formulare daraus hervor – Ausweise, Pässe, Bescheinigungen –, als würden sie jetzt ihm gehören. »Aber das soll uns nicht abhalten. Wenn nötig, kommen wir eben bei ihnen zu Hause vorbei!«
»Und dafür habt Ihr auf mich gewartet?«, fragte Ophelia verwundert.
Archibald schüttelte den Kopf in einem Wirrwarr blonder Strähnen.
»Wir haben überhaupt nicht auf Euch gewartet. Tatsächlich suchen wir sie schon seit einer ganzen Weile. Oder besser, wir tasten uns vor, experimentieren, vagabundieren. So haben wir schließlich den Weg nach Anima gefunden. Wie genau das funktioniert, muss Euch jemand anders erklären.«
Archibald verbeugte sich leicht in Richtung Gwenael, die ihn unsanft zur Seite schubste und mit der flachen Hand auf den Tisch schlug.
»Seit Wochen studieren wir diese Verbindungen! Ein ganzer Haufen verflixter Türen zu den zwanzig Haupt- und über hundertachtzig Nebenarchen mit all den vermaledeiten Inselchen drum rum. Und nicht eine davon führt nach Erdenbogen«, polterte sie, wobei sie den Tisch böse anfunkelte. »Die Bogianer haben diesen Weg immer geheim gehalten. Und es ist unmöglich, mit dem Zeppelin dorthin zu gelangen.«
Ophelia nickte. Erdenbogen war auf keiner Karte verzeichnet. Man erzählte sich sogar, die gesamte Arche wäre in einer Raumschleife verborgen.
»Es gibt ganz sicher einen Zugang«, fuhr Gwenael fort und hämmerte dabei mit dem Zeigefinger auf die Marmorplatte, »doch wir werden viel Zeit brauchen und methodisch vorgehen müssen, um ihn aufzuspüren. Die Windrosen sind angelegt wie ein riesiges Eisenbahnnetz mit direkten Verbindungen und Hunderten von Anschlüssen. Wir müssen nur die richtig Route finden.«
»Aber wart Ihr nicht schon ein paarmal auf Erdenbogen?«, unterbrach Ophelia sie. »Ich erinnere mich, dass Ihr sogar Orangen von dort mitgebracht habt.«
»Diese Abkürzung ist verschwunden«, antwortete Archibald an Gwenaels Stelle. »Ich kann einen verschlossenen Durchgang erneut öffnen, aber nicht wiederherstellen, was zerstört wurde.«
Lange betrachtete Ophelia den Tisch mit seinen labyrinthischen Linien, seinem Kuddelmuddel aus Zahlen und Symbolen.
»Wozu?«, murmelte sie dann. »Wozu gebt Ihr Euch all diese Mühe?«
Archibalds Lächeln wurde breiter, und sein Blick strahlte eine Spur heller. Noch nie hatte Ophelia ihn so entschlossen gesehen.
»Das ist doch offensichtlich. Hildegard war eine alte Kratzbürste, die mir immer nur Scherereien bereitet hat, aber sie stand unter meinem Schutz. Sollte Gott für ihren Tod verantwortlich sein, dann muss er mir persönlich dafür Rechenschaft ablegen.«
Gwenael spuckte zustimmend auf den Boden, und Reineke zog mit routinierter Geste ein Taschentuch hervor, um ihr den Mund abzuwischen.
»Ich mochte die olle Eule nicht besonders«, seufzte er, »aber was meiner Herrin wichtig ist, ist auch mir wichtig.«
»So, ich muss dieses Fräulein nun zu seiner Mutter zurückbringen«, verkündete Archibald und streichelte Viktoria, die mittlerweile mit ihrem Buntstift in der Hand auf dem Schaltertisch eingeschlummert war, über die weißen Haare. »Ihr seid hier in einer Windrose, Frau Thorn, es ist an Euch, Euer Ziel zu wählen! Möchtet Ihr bei Eurer Familie auf Anima bleiben? Möchtet Ihr mit Eurer Patentochter zum Pol zurückkehren? Oder schließt Ihr Euch unserer Suche nach Erdenbogen an?«
»Zum Pol«, antwortete Tante Roseline, ohne das geringste Zögern. »Wir gehen zurück zu Berenilde, nicht wahr?«
Ophelia biss sich auf die Lippen. Es wäre ein Leichtes gewesen, Roselines oder Archibalds Aufforderung zu folgen. Sie hätte sich dafür entscheiden können, bei dem zu bleiben, was ihr vertraut war, aber das hätte ihren inneren Abgrund nur noch weiter aufgerissen. Sie wurde von einem Gefühlspotpourri übermannt, wie es einem in den Magen fährt, wenn man einen Zug besteigt, ohne das Ziel zu kennen oder zu wissen, ob man je wieder zurückkehren wird.
Ophelia ließ ihren Blick über die Marmorplatte schweifen, in die die Karte der Windrosen und der Archen, zu denen sie führten, eingraviert war.
ANIMA, die Arche von Artemis, Beherrscherin der Dinge.
DERPOL, die Arche Faruks, Herr über den menschlichen Geist.
TOTEM, die Arche der Venus, Herrin der Tiere.
ZYKLOP, die Arche des Uranus, Beherrscher der Schwerkraft.
FLORA, die Arche Belisamas, Herrin über die Pflanzenwelt.
PLOMBOR, die Arche des Midas, Meister der Transmutation.
PHAROS, die Arche des Horus, Meister der Verführung.
SERENISSIMA, die Arche Famas, Meisterin der Weissagung.
HELIOPOLIS, die Arche Luzifers, Beherrscher der Blitze.
BABEL, die Arche der Zwillinge Pollux und Helene, Meister der Sinne.
DIEWÜSTE, die Arche Dschinns, Beherrscher der Wasser.
TATAR, die Arche Gaias, Beherrscherin der Erdkräfte.
ZEPHIR, die Arche Olymps, Beherrscher des Windes.
TITAN, die Arche Yins, Beherrscherin der Masse.
KORPOLIS, die Arche des Zeus, Meister des Gestaltwandels.
SÍD, die Arche Persephones, Beherrscherin der Temperatur.
SELENE, die Arche von Morpheus, Beherrscher der Träume.
VESPERAL, die Arche Wiraquchas, Meister der Phantomisierung.
AL-ONDALUS, die Arche von Re, Meister der Empathie.
STERN, neutrale Arche, Sitz der interfamiliären Institutionen.
Und natürlich das eine Ziel, das auf dem Tisch nicht abgebildet war: Erdenbogen, die Arche des Janus, Beherrscher des Raums.
Ophelia hatte sie in ihrem viel zu engen Zimmer gründlich studiert, die einundzwanzig Hauptarchen. Und dennoch kam es ihr so vor, als hätte sie nichts dabei gelernt.
Sie zog die Postkarte ihres Großonkels aus der Tasche. Die Abbildung hatte unter dem Angriff der Toiletten gelitten, doch das majestätische Gebäude der XXII. Interfamiliären Weltausstellung war immer noch deutlich zu erkennen.
»Das hier ist mein Ziel«, verkündete sie endlich zur allgemeinen Überraschung. »Ich muss nach Babel. Und ich muss allein dort hingehen.«
Ophelia presste ihren Schal an sich, während sie auf die Tür vor ihrer Nase starrte. Kaum hatte Archibald sie mit einem letzten Augenzwinkern geschlossen, war alles Licht dahinter erloschen. Nicht der kleinste Schimmer drang mehr durch die Ritzen. Ophelia drückte die Klinke herunter und öffnete sie vorsichtig einen Spaltbreit. Eine im Dunkeln liegende Abstellkammer war an die Stelle des großzügigen Rundbaus der Windrose getreten. Der Übergang war geschlossen, endgültig.
›Ich bin allein‹, wurde Ophelia angesichts des düsteren Kabuffs plötzlich bewusst. Allein an einem unbekannten Ort, Tausende Kilometer von daheim entfernt und mit einer sechzig Jahre alten Postkarte als einzigem Anhaltspunkt. Zwei Jahre lang hatte sie von diesem Moment geträumt, und nun, da er gekommen war, wurde ihr schwindlig bei dem Gedanken.
Beherzt schloss Ophelia die Tür zu der Kammer wieder. Sie hatte Angst, ja, aber sie bereute nichts.
Sie sah sich in dem Raum um, an den die Windrose sie geführt hatte. Im fahlen Licht, das durch das trübe Glas einer Eingangstür fiel, zeichneten sich die Konturen von Schaufeln, Harken, Spaten und Tontöpfen ab. Anscheinend ein Gartenschuppen. Ophelia hatte keine Ahnung, wem er gehörte, aber es war in jedem Fall ratsam, seinem Besitzer nicht zu begegnen. Selbst auf ihrer Heimatarche Anima, wo man alles miteinander teilte, mochten die Leute es nicht, wenn man einfach so ohne Vorwarnung bei ihnen auftauchte.
Sie schlüpfte möglichst leise durch die Tür und blieb dann auf der Schwelle wie angewurzelt stehen: Draußen war nichts. Nichts als Weiß, ein unfassbares, undurchdringliches Weiß. Es war, als hätte ein riesiger Radiergummi die Welt ausgelöscht und nur ein leeres Blatt Papier hinterlassen.
Immer beunruhigter ließ Ophelia ihren Blick in alle Richtungen schweifen. Der Schuppen grenzte an kein Gebäude, sondern stand einfach nur mitten im Nirgendwo wie eine verlassene Hütte. Die Luft war so warm und feucht, dass Ophelia vor Hitze fast einging in dem dicken Mantel und ihre Brillengläser beschlugen. Was, wenn Gwenael und Reineke sich in ihren Berechnungen getäuscht hatten? Oder wenn Archibald seiner neuen Gabe zu sehr vertraut und das Ziel verfehlt hatte?
»Wo habt ihr mich hier nur hingebracht?«, murmelte Ophelia.
»POLLUX' BOTANISCHEGÄRTEN.«
Ophelia fuhr erschrocken herum. Die Stimme – eine seltsam körperlose Stimme – war von hinten gekommen, aus dem Innern des Schuppens.
»Verzeiht bitte«, stammelte Ophelia, wobei sie sich nach dem Sprecher umsah, »ich habe mich verirrt, ich …«
»DENBESUCHERNWIRDEMPFOHLEN, DIEBOTANISCHENGÄRTENBEIEBBEZUBESICHTIGEN«, fiel ihr die Stimme ins Wort. »AUFREGENFOLGTSONNENSCHEIN.«
Endlich entdeckte Ophelia, woher sie kam. Eine Gliederpuppe stand aufrecht an der Wand, so steif und schmal, dass sie zwischen den Schaufeln und Harken gar nicht weiter auffiel. Die Stimme erklang genau genommen aus ihrem Bauch, der von kleinen Löchern durchbohrt war. Ihr Kopf hatte weder Mund noch Nase oder Augen. Als Bekleidung trug sie lediglich eine Schirmmütze, ähnlich der eines Bahnhofsvorstehers, mit den aufgestickten Worten: GEFÜHRTEBESICHTIGUNG.
Ophelia hatte erst ein einziges Mal einen ähnlichen menschlichen Automaten gesehen: den mechanischen Butler des berühmten Archenbummlers Lazarus.
»Bei Ebbe?«, hakte sie nach.
Die Puppe antwortete nicht. Ophelia warf erneut einen Blick nach draußen und begriff, dass das, was sie da sah, ein unglaublich dichter Nebel war. Sie fühlte sich erleichtert. Wenn sie sich hier in Pollux' Botanischen Gärten befand, dann war sie am richtigen Ort gelandet. Pollux und Helene waren die Zwillingsfamiliengeister der Arche Babel.
»Wann wird wieder Ebbe sein?«, formulierte sie ihre Frage neu.
»POLLUX' BOTANISCHEGÄRTENSINDIMSOMMERTÄGLICHVONSONNENAUFGANGBISSONNENUNTERGANGGEÖFFNET«, antwortete der Automat, der immer noch stocksteif in seiner Ecke stand. »ALLESZUSEINERZEIT.«
War es gerade Sommer in Babel? Ophelia dachte, dass sie ihre Geografiebücher noch etwas gründlicher hätte studieren sollen. Sie holte die Postkarte heraus, die der Großonkel ihr gebracht hatte, und hielt sie der Puppe hin, ohne recht zu wissen, auf welcher Höhe, da diese ja nichts hatte, was Augen ähnelte.
»Vergessen wir die Ebbe. Ich suche den Ort, an dem die XXII. Interfamiliäre Weltausstellung stattgefunden hat. Die Fotografie ist schon etwas älter, aber ich nehme an, das Gebäude existiert noch. Könntet Ihr mir sagen, wo …«
»POLLUX' BOTANISCHEGÄRTEN«, antwortete die Puppe prompt.
Ophelia setzte sich auf einen Tontopf. Dieser Automat erinnerte sie wirklich sehr an Lazarus' mechanischen Butler: Auch er reagierte nur auf die simpelsten Anweisungen. Sie würde wohl warten müssen, bis sich der Nebel lichtete. Wenn sie wenigstens gewusst hätte, wie viel Uhr es war. Sie hatte Anima am späten Nachmittag verlassen, aber sicher gab es eine Zeitverschiebung zwischen Babel und ihrer Heimatarche.
Ophelias Blick fiel auf ihr Spiegelbild in einer zerbrochenen Scheibe, die an der Wand lehnte. Einen Moment lang betrachtete sie ihre bunten Brillengläser, ihren langen, verfilzten Zopf, den zappelnden Schal, bis ihr plötzlich bewusst wurde:
›Ich sehe mir viel zu ähnlich.‹