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Ophelia lebt auf der friedlichen Arche Anima. Am liebsten versteckt sie sich hinter ihrer Brille und einem langen Schal. Dabei hat die junge Frau ganz besondere Talente: Sie kann Gegenstände lesen und durch Spiegel reisen. Eines Tages wird ihr Unheilvolles verkündet: Sie soll auf den eisigen Pol ziehen und den Adligen Thorn heiraten. Ohne zu wissen, was sie erwartet, macht sich Ophelia auf den Weg in ihr neues, blitzgefährliches Zuhause – und so beginnt ihr Abenteuer, das sie an den glamourösen Hof der Himmelsburg bis ins abgründige Universum der Sanduhren führen wird, zu den Archen Pol, Babel und Anima. Mit ihrem Mann Thorn muss Ophelia sich schließlich den Echos der Vergangenheit und der Gegenwart stellen – um in einem fulminanten Finale den Schlüssel aller Rätsel zu finden.
Eine unvergessliche Heldin, eine atemberaubende Fantasiewelt und eine Geschichte, wie sie noch nicht erzählt wurde – Christelle Dabos hat mit ihrer Serie ein Universum geschaffen, in dem man ewig verweilen möchte.
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Seitenzahl: 2588
Christelle Dabos
Die Spiegelreisende
Band 1 bis Band 4 der Spiegelreisenden-Saga
Roman
Aus dem Französischen von Amelie Thoma
Insel Verlag
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eBook Insel Verlag Berlin 2024
Der Inhalt dieses eBooks ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.
Umschlaggestaltung: Rothfos & Gabler, Hamburg
eISBN 978-3-458-78187-5
www.insel-verlag.de
Cover
Titel
Impressum
Inhalt
Cover
Titel
Impressum
Inhalt
Band 1: Die Verlobten des Winters
Band 2: Die Verschwundenen vom Mondscheinpalast
Band 3: Das Gedächtnis von Babel
Band 4: Im Sturm der Echos
Die Originalausgabe erschien 2013 unter dem Titel
Les Fiancés de l'hiver (La Passe-Miroir, Livre I)
bei Éditions Gallimard Jeunesse, Paris.
Dieses Buch erscheint im Rahmen des Förderprogramms des französischen Außenministeriums, vertreten durch die Kulturabteilung der französischen Botschaft in Berlin.
eBook Insel Verlag Berlin 2024
Der vorliegende Text folgt der deutschen Erstausgabe, 2019.
© der deutschsprachigen Ausgabe Insel Verlag Anton Kippenberg GmbH & Co. KG, Berlin, 2019
© Gallimard Jeunesse, 2013
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Umschlaggestaltung: Rothfos & Gabler, Hamburg, unter Verwendung des Originalumschlags von Laurent Gapaillard, © Gallimard Jeunesse
eISBN 978-3-458-76600-1
www.insel-verlag.de
Fragment
Die Verlobten
Der Archivar
Der Riss
Das Tagebuch
Der Bär
Die Sternwarte
Die Küche
Die Medaille
Die Warnung
Der Wildhüter
Die Himmelsburg
Die Drachen
Das Zimmer
Der Ausflug
Der Garten
Die Schwester
Die Krallen
Das Ohr
Mimo
Im Mondscheinpalast
Der Schlüssel
Reineke
Das Kind
Die Bibliothek
Der Besuch
Die Intendanz
Die Orange
Das Verlies
Die Nihilistin
Das Vertrauen
Die Drohung
Die Oper
Der Bahnhof
Die Illusionen
Die Kammerzofe
Die Würfel
Der Engel
Die Spiegelreisende
Fragment, Postskriptum
Am Anfang waren wir eins.Aber Gott befand, dass wir ihm so nicht genügten, also machte Er sich daran, uns zu trennen. Gott amüsierte sich köstlich mit uns, bis Er unser überdrüssig wurde und uns vergaß. Er konnte so grausam sein in seiner Gleichgültigkeit, dass Er mir Furcht einflößte. Dann wieder zeigte Er sich freundlich, und ich liebte Ihn, wie ich niemanden je geliebt habe.
Ich glaube, wir hätten alle irgendwie glücklich sein können, Gott, ich und die anderen, ohne dieses vermaledeite Buch. Ich verabscheute es. Von dem Band, das mich auf die widerwärtigste Art und Weise daran kettete, wusste ich, doch dieses Grauen kam erst später, viel später. Ich habe es nicht gleich verstanden, ich war zu unwissend.
Ja, ich liebte Gott, aber ich hasste dieses Buch, das Er wegen der geringsten Kleinigkeit aufschlug. Er jedoch hatte sein Vergnügen damit! Wenn Gott zufrieden war, schrieb Er. Wenn Gott erzürnt war, schrieb Er. Und eines Tages, als Er äußerst verstimmt war, beging Er eine ungeheure Torheit.
Gott brach die Welt in Stücke.
Es heißt oft, alte Behausungen hätten eine Seele. Auf der Arche Anima, wo Dinge ein Eigenleben führen, neigen die alten Häuser vor allem dazu, furchtbar schrullig zu werden.
Das Gebäude des Familienarchivs, zum Beispiel, war stets übler Laune. Immerzu ächzte es, knarzte, tropfte und schnaubte, um seine Unzufriedenheit kundzutun. Es konnte die Zugluft nicht ausstehen, die im Sommer die Türen knallen ließ, und den Regen, der im Herbst die Dachrinne verstopfte. Es hasste die Feuchtigkeit, die ihm während des Winters in die Mauern kroch, ebenso sehr wie das Unkraut, das jedes Frühjahr wieder in seinem Hof zu sprießen begann.
Mehr als alles andere aber verabscheute das Gebäude Besucher, die sich nicht an die Öffnungszeiten hielten.
Sicherlich war das der Grund, warum es an diesem Septembermorgen noch mehr ächzte und knarzte, tropfte und schnaubte als sonst. Es spürte, dass jemand kam, obwohl es noch viel zu früh dafür war. Obendrein stand dieser Gast nicht mal draußen vor der Tür, wie es sich gehörte. Nein, er verschaffte sich Zutritt wie ein Dieb, direkt durch die Garderobe.
Dort wuchs plötzlich eine Nase mitten aus einem Spiegelschrank.
Sie schob sich weiter vor, und bald folgten ihr eine Brille, eine geschwungene Augenbraue, Stirn, Mund, Kinn, Wangen, Augen, Haare, ein Hals und Ohren. Bis zu den Schultern aus dem Spiegel ragend, blickte der Eindringling erst nach rechts, dann nach links. Nun tauchte etwas weiter unten ein Knie auf, und schließlich stieg die ganze Gestalt aus dem Glas hervor wie aus einer Badewanne. Einmal herausgeschlüpft, sah man von ihr nichts weiter als einen abgetragenen Mantel, eine Brille und einen langen, dreifarbigen Schal.
Unter all diesen Schichten verborgen befand sich Ophelia.
Um sie herum protestierte nun die gesamte Garderobe, empört über den Störenfried, der die Archivordnung derart missachtete. Die Schränke quietschten in den Angeln und stampften mit den Füßen, während die Kleiderbügel laut klappernd aneinanderstießen, als würde ein Poltergeist zwischen ihnen sein Unwesen treiben.
Dieser Wutausbruch beeindruckte Ophelia nicht im Geringsten. Sie war die Launen des alten Gemäuers gewohnt.
»Schsch«, flüsterte sie. »Ganz ruhig.«
Sofort hörten die Möbel auf zu rumoren, und die Kleiderbügel verstummten. Das Archivgebäude hatte sie erkannt.
Durch eine Tür mit der Aufschrift ACHTUNG, GEKÜHLTE RÄUME, NUR MIT MANTEL BETRETEN verließ Ophelia die Garderobe und ging, die Hände in den Taschen, ihren Schal im Schlepptau, an einer endlosen Reihe beschrifteter Aktenschränke entlang: »Geburtenregister«, »Sterberegister«, »Register der Genehmigungen von Verwandtenheirat« und so weiter. Leise öffnete sie die Tür zum Lesesaal, der still und verlassen dalag. Morgenlicht sickerte schräg durch die geschlossenen Fensterläden und ließ im Halbdunkel eine Reihe von Schreibpulten erkennen. Der Gesang einer Amsel im Hof lieferte die passende Untermalung. Im Archiv war es so kalt, dass man Lust bekam, alle Fenster aufzureißen, um die warme Luft von draußen hereinzulassen.
Ophelia blieb eine Weile reglos auf der Schwelle stehen und beobachtete, wie die Sonnenstrahlen übers Parkett wanderten, während allmählich der Tag anbrach. Sie atmete tief den Geruch der alten Möbel und des kalten Papiers ein.
Diesen Geruch, der ihre Kindheit begleitet hatte und von dem sie sich bald würde verabschieden müssen.
Langsam ging sie zur Wohnung des Archivars, dessen privater Bereich durch einen einfachen Vorhang vom Lesesaal abgeteilt war. Trotz der frühen Stunde erfüllte ihn bereits ein intensiver Kaffeeduft. Ophelia hustete in ihren Schal, um sich anzukündigen, doch eine Opernarie übertönte sie. In dem einzigen Raum, der zugleich als Küche, Wohn-, Schlaf- und Lesezimmer diente, musste sie nicht lange nach dem Archivar suchen.
Eine Zeitung vor der Nase, saß der alte Mann mit dem struppigen weißen Haar auf dem Bett. Er trug Handschuhe, ein zerknittertes Hemd unter seiner Jacke und hatte sich ein Vergrößerungsglas unter die Braue geklemmt, das sein Auge riesenhaft verzerrte.
Ophelia hustete noch einmal, doch es half nichts. Völlig in seine Lektüre vertieft, begleitete er die Arie aus dem Grammofon mit ziemlich schiefem Gebrumm. Ganz zu schweigen vom Gluckern des Kaffeekochers, dem Bullern des Ofens und sämtlichen anderen Geräuschen, die das Gebäude so von sich gab.
Mit allen Sinnen nahm Ophelia die besondere Atmosphäre des Raumes in sich auf: die falschen Töne des Alten, das Rascheln der behutsam umgeblätterten Seiten, das durch die Vorhänge gefilterte Licht des heraufziehenden Morgens, den Kaffeeduft und, darunter versteckt, den Naphthalin-Geruch einer Gasflamme. In einer Ecke stand ein Damebrett, dessen Steine sich ganz von selbst bewegten, als würden zwei unsichtbare Spieler gegeneinander antreten. Ophelia hätte am liebsten gar nicht an alldem gerührt und stillschweigend kehrtgemacht, aus Angst, das vertraute Bild zu zerstören.
Doch es blieb ihr nichts anderes übrig, als den Zauber zu brechen. Sie trat ans Bett und tippte dem Archivar auf die Schulter.
»Grundgütiger!«, rief der alte Herr zu Tode erschrocken aus. »Könntest du nicht eine kleine Vorwarnung geben, ehe du einfach so hereinplatzt?«
»Das habe ich versucht«, entschuldigte sich Ophelia.
Sie hob das Vergrößerungsglas auf, das auf den Teppich gerollt war, und reichte es ihm. Dann zog sie den Mantel aus, der sie vom Kopf bis zu den Füßen umhüllte, wickelte ihren endlos langen Schal ab und legte alles über eine Stuhllehne. Zum Vorschein kam ein zierliches Persönchen mit dicken, lose zusammengebundenen Locken, einer rechteckigen Brille und einem Kleid, das besser zu einer älteren Dame gepasst hätte.
»Bist wohl wieder über die Garderobe hereingeschlüpft?«, grummelte der Archivar, während er seine Lupe mit dem Ärmel blank rieb. »Diese Marotte, zu den unmöglichsten Zeiten durch Spiegel zu gehen! Du weißt genau, dass meine alte Bruchbude Überraschungsbesuche nicht ausstehen kann. Früher oder später wirst du einen Balken auf den Kopf bekommen, aber du willst ja partout nicht hören.«
Seine polternde Stimme ließ einen prachtvollen Schnurrbart erzittern, dessen Enden bis zu den Ohren reichten. Mühsam erhob er sich vom Bett und griff nach der Kaffeekanne. Dabei murmelte er in einem antiquierten Dialekt vor sich hin, den außer ihm niemand auf Anima mehr sprach. Durch seine Arbeit im Archiv lebte der alte Mann ganz und gar in der Vergangenheit. Selbst die Zeitung, die er gerade durchgeblättert hatte, war aus dem letzten Jahrhundert.
»Einen Napf Kaffee, Mädelchen?«
Der Archivar war kein besonders umgänglicher Mann, doch jedes Mal, wenn er Ophelia ansah, begannen seine goldbraunen Augen zu sprühen wie Apfelwein. Für diese Großnichte hatte er schon immer eine spezielle Vorliebe gehabt, sicher weil sie ihm von allen aus der Familie am ähnlichsten war: ebenso aus der Zeit gefallen, ebenso ungesellig und zurückhaltend.
Ophelia nickte nur. Ihre Kehle war wie zugeschnürt, und sie brachte keinen Ton heraus.
Der Großonkel schenkte zwei große, dampfende Tassen voll.
»Gestern Abend hatte ich deine Mutter am Apparat«, nuschelte er in seinen Bart. »Sie war so aufgeregt, dass ich nicht mal die Hälfte von ihrem Geschnatter verstanden habe. Nun ja, das Wichtigste hab ich wohl begriffen: Wie's scheint, kommst du endlich unter die Haube.«
Als Ophelia wieder nur stumm nickte, runzelte ihr Großonkel die buschigen Brauen.
»Nun mach nicht so ein Gesicht, Kind. Deine Mutter hat einen tüchtigen jungen Mann für dich gefunden, dagegen ist nichts einzuwenden.«
Er reichte ihr die Tasse und ließ sich so schwer wieder aufs Bett sinken, dass alle Federn quietschten.
»Komm, setz dich zu mir. Wir beide müssen mal ein ernstes Wörtchen miteinander reden, von Patenonkel zu Patentochter.«
Ophelia zog einen Stuhl ans Bett. Dabei betrachtete sie ihren Großonkel mit einem zunehmenden Gefühl der Verlorenheit. Ihr war, als sähe sie in ihm eine Seite ihres Lebens, die unmittelbar vor ihren Augen zerrissen wurde.
»Ich kann mir schon denken, warum du mich so ansiehst«, erklärte er, »nur dass ich dich diesmal enttäuschen muss. Deine hängenden Schultern, die griesgrämige Brille, die Seufzer zum Steinerweichen kannst du dir sparen.« Er spreizte Daumen und Zeigefinger ab. »Zwei Vettern hast du schon abgewiesen! Sie waren hässlich wie Pfeffermühlen und unflätig wie Pinkelpötte, das gebe ich zu, aber trotzdem hast du mit jedem abgelehnten Antrag die gesamte Familie vor den Kopf gestoßen. Und ich habe dir auch noch Schützenhilfe geleistet.« Er schnaubte in sein Taschentuch. »Ich kenne dich besser als mich selbst. Du bist weich wie Butter, nie ein lautes Wort, nie eine Grille, doch sobald es ums Heiraten geht, beißt man bei dir auf Granit! Dabei wird es höchste Zeit, ganz gleich, ob dir der Auserwählte nun gefällt oder nicht. Wenn du dich nicht dreinschickst, wirst du von der Familie geächtet, und das will ich auf keinen Fall riskieren.«
Ophelia hob den Blick von ihrer Tasse. Sie musste nun endlich etwas sagen.
»Ihr braucht Euch nicht zu sorgen, lieber Onkel. Ich bin nicht gekommen, um Euch zu bitten, dass Ihr Euch gegen diese Heirat stellt.«
Genau in dem Moment blieb die Nadel des Grammofons in einer Rille hängen, und die Sopranistin wiederholte unermüdlich: »… und wenn … und wenn … und wenn … und wenn … und wenn …«
Doch der Großonkel war viel zu verblüfft, um es zu bemerken.
»Was erzählst du mir da? Du willst nicht, dass ich eingreife?«
»Nein. Das Einzige, worum ich Euch heute bitte, ist, mir Zugang zum Archiv zu gewähren.«
»Zu meinem Archiv?«
»Heute.«
»… und wenn … und wenn … und wenn …«, leierte die Schallplatte.
Der Großonkel hob misstrauisch eine Augenbraue, während er seinen Schnurrbart kraulte.
»Du verlangst nicht von mir, dass ich bei deiner Mutter ein gutes Wort für dich einlege?«
»Es wäre vergeblich.«
»Und auch nicht, dass ich deinem Pantoffelhelden von einem Vater ins Gewissen rede?«
»Ich werde den Mann heiraten, den man für mich bestimmt hat. Ganz einfach.«
Endlich sprang die Nadel eine Rille weiter, und die Sopranistin schmetterte triumphierend: »… und wenn ich lieb, nimm dich in Acht!«
Ophelia schob die Brille hoch und hielt, ohne zu zwinkern, dem Blick ihres Paten stand.
»Dass ich das noch erleben darf!«, seufzte der alte Herr erleichtert. »Ich gestehe, ich dachte schon, ich würde diese Worte niemals von dir hören. Der muss dir ja mächtig gefallen, der Knabe. Nun spuck's schon aus, wer ist es?«
Ophelia stand auf, um ihre Tassen wegzustellen. Der Spülstein war bereits randvoll mit schmutzigen Tellern. Normalerweise mochte Ophelia keine Hausarbeit, doch an diesem Morgen streifte sie ihre Handschuhe ab, krempelte die Ärmel hoch und begann das Geschirr abzuwaschen.
»Ihr kennt ihn nicht«, flüsterte sie schließlich so leise, dass es im Geplätscher unterging. Der Großonkel brachte das Grammofon zum Schweigen und näherte sich seiner Nichte.
»Was hast du gesagt, Mädelchen?«
Ophelia drehte den Wasserhahn zu. Sie hatte die Angewohnheit, so leise und undeutlich zu sprechen, dass sie häufig ihre Sätze wiederholen musste.
»Ihr kennt ihn nicht.«
»Du vergisst wohl, wen du vor dir hast!«, entrüstete sich der Onkel lächelnd und mit vor der Brust verschränkten Armen. »Ich setze vielleicht nie einen Fuß vor die Tür meines Archivs, aber ich kenne unseren Stammbaum besser als irgendwer sonst. Vom Tal bis zu den Großen Seen gibt es keinen noch so entfernten Vetter, der mir nicht bekannt wäre.«
»Ihr kennt ihn nicht«, beharrte Ophelia.
Den Blick ins Leere gerichtet, schrubbte sie einen Teller. All das Geschirr ohne Handschuhe anzufassen ließ sie unwillkürlich in der Zeit zurückreisen. Sie hätte bis ins kleinste Detail alles beschreiben können, was ihr Großonkel von diesen Tellern gegessen hatte, seit er sie besaß. Professionell, wie sie war, berührte Ophelia die Dinge anderer Leute üblicherweise nie ohne ihre Handschuhe. Doch hier, in dieser Wohnung hatte der Großonkel ihr das Lesen beigebracht, und sie kannte jeden einzelnen Gegenstand darin in- und auswendig.
»Dieser Mann ist nicht aus unserer Familie«, klärte sie ihn endlich auf. »Er kommt vom Pol.«
Es folgte eine lange Stille, die nur vom Gluckern des Abflusses unterbrochen wurde. Ophelia wischte sich die Hände am Kleid ab und sah ihren Paten ruhig an. Er war in sich zusammengesunken, als wäre er plötzlich um zwanzig Jahre gealtert. Die Enden seines Schnurrbarts hingen herab wie Flaggen auf Halbmast.
»Was ist das denn für ein Kokolores?«, stieß er tonlos hervor.
»Mehr weiß ich auch nicht«, erwiderte Ophelia leise, »weder, wie er heißt, noch, wie er aussieht, nur, dass er Mama zufolge eine gute Partie sein soll.«
Der Großonkel holte seine Schnupftabakdose unter dem Kopfkissen hervor, stopfte eine Prise in jedes Nasenloch und nieste kräftig in sein Taschentuch.
»Das muss ein Irrtum sein …«
»Daran würde ich auch zu gerne glauben, aber es sieht nicht danach aus.«
Ein Teller glitt ihr aus der Hand und brach entzwei. Wortlos hielt sie dem alten Mann die Bruchstücke hin. Der drückte sie aneinander, und sofort fügten sie sich wieder zu einem Teil zusammen, das er aufs Abtropfgitter stellte.
Der Großonkel war ein hervorragender Animist. Er vermochte absolut alles mit seinen Händen wieder heil zu machen, und die unmöglichsten Dinge parierten bei ihm wie Schoßhündchen.
»Ganz bestimmt ist es ein Irrtum«, sagte er. »In meinem gesamten Leben als Archivar habe ich noch nicht von einer so widernatürlichen Verbindung gehört. Je weniger wir Animisten mit diesen Fremden zu schaffen haben, desto besser. Punkt aus.«
»Und dennoch wird die Hochzeit stattfinden«, hauchte Ophelia, ehe sie sich wieder dem Geschirr zuwandte.
»Was ist denn bloß in dich und deine Mutter gefahren?«, rief der Großonkel verstört aus. »Von sämtlichen Archen behauptet der Pol hartnäckig den schlimmsten Ruf. Sie haben Kräfte, die einem den Verstand rauben. Obendrein sind sie nicht mal eine richtige Familie, sondern eine Meute, die sich gegenseitig zerfleischt! Weißt du, was man sich alles über sie erzählt?«
Ophelia zerbrach einen weiteren Teller. Der Großonkel war so außer sich, dass er überhaupt nicht bemerkte, welche Wirkung seine Worte auf Ophelia hatten. Wie sollte er auch. Ophelia hatte ein unergründliches Gesicht, das selten ihre Gefühle zeigte.
»Nein«, sagte sie nur, »ich weiß nicht, was man sich über sie erzählt, und es interessiert mich auch nicht. Ich brauche verlässliche Informationen. Das Einzige, worum ich Euch daher bitte, wenn Ihr gestattet, ist das Archiv konsultieren zu dürfen.«
Der Großonkel fügte den Teller wieder zusammen und stellte ihn aufs Abtropfgitter, während das Zimmer zu knarren und mit den Balken zu knirschen begann: Die düstere Stimmung des Archivars übertrug sich auf das gesamte Gebäude.
»Ich erkenne dich nicht wieder! Bei deinen Vettern hast du dich wer weiß wie geziert und jetzt, da man dir einen solchen Barbaren vor die Nase setzt, ergibst du dich einfach so in dein Schicksal!«
Den Lappen in der einen, eine Tasse in der anderen Hand, hielt Ophelia mitten in ihrer Bewegung inne. Sie schloss für einen Moment die Augen und horchte in sich hinein.
Sich ergeben? Um sich zu ergeben, musste man eine Situation akzeptieren, und um eine Situation zu akzeptieren, musste man sie verstehen. Doch Ophelia verstand rein gar nichts. Ein paar Stunden zuvor hatte sie noch nicht einmal gewusst, dass sie verlobt war. Nun hatte sie das Gefühl, unerbittlich auf einen Abgrund zuzusteuern und nicht mehr über sich selbst bestimmen zu können. Sobald sie es wagte, einen Gedanken in die Zukunft zu richten, war da weit und breit nur unbekanntes Terrain. Fassungslos, ungläubig, verwirrt, ja, das war sie. Wie eine Patientin, der man eben eröffnet hatte, dass sie unheilbar krank sei. Doch ergeben hatte sie sich nicht.
»Nein, wirklich«, fing der Großonkel wieder an, »ich begreife das nicht. Was sollte dieser Fremde hier wollen? Welchen Nutzen könnte er aus der Verbindung ziehen? Bei allem Respekt, Mädelchen, du bist nicht das verlockendste Blatt an unserem Stammbaum. Ich meine, du leitest ein Museum, keine Goldschmiede!«
Ophelia ließ eine Tasse fallen. Es war weder böser Wille noch lag es diesmal an ihrer Aufgewühltheit, sie war einfach unsagbar schusselig. Die Dinge glitten ihr andauernd aus den Händen, und ihr Großonkel war es gewohnt, hinter ihr alles wieder zusammenzuflicken.
»Ich glaube, Ihr habt nicht ganz verstanden«, sagte Ophelia zögernd. »Nicht dieser Mann wird hier auf Anima leben, sondern ich bin es, die ihm zum Pol folgen soll.«
Dieses Mal zerbrach der Großonkel den Teller, den er gerade in den Schrank räumen wollte. Er fluchte in seinem antiquierten Kauderwelsch.
Inzwischen flutete helles Tageslicht durchs Fenster der Archivarsstube und tupfte kleine Glanzpunkte auf das Bettgestell, eine Glaskaraffe und den Trichter des Grammofons. Ophelia verstand nicht, was all diese Sonne hier zu suchen hatte. Ihre warmen Strahlen ließen das Eis und den Schnee des Pols so fern und unwirklich erscheinen, dass Ophelia selbst schon nicht mehr daran glaubte.
Sie nahm die Brille ab, rieb sie an ihrer Schürze sauber und setzte sie wieder auf, als ob ihr das helfen könnte, klarer zu sehen. Die Gläser, die ganz durchsichtig geworden waren, sobald sie sie abgesetzt hatte, verfärbten sich erneut grau. Diese alte Brille war wie ein Teil von Ophelia, und ihre Farbe passte sich der Stimmung ihrer Besitzerin an.
»Offenbar hat Mama vergessen, Euch das Wichtigste mitzuteilen. Die Doyennen haben mich diesem Mann versprochen. Nur sie kennen bisher die Details des Ehevertrags.«
»Die Doyennen?«
Dem Großonkel fiel das Gesicht mitsamt allen Falten herunter. Endlich wurde ihm bewusst, in was für ein Räderwerk seine Nichte da geraten war.
»Eine Hochzeit aus politischen Interessen«, flüsterte er. »Armes Ding …«
Er schob sich zwei weitere Prisen Schnupftabak in die Nase und nieste so heftig, dass er danach sein Gebiss zurechtrücken musste.
»Du Unglückliche, wenn die Doyennen ihre Finger im Spiel haben, dann gibt es keinen Ausweg. Aber wieso?«, fragte er sich und raufte dabei seinen Schnurrbart. »Wieso du? Wieso dorthin?«
Ophelia spülte sich die Hände ab und zog ihre Handschuhe wieder an. Für heute hatte sie genug Porzellan zerschlagen.
»Es scheint, als habe sich die Familie dieses Mannes direkt an die Doyennen gewandt, um die Ehe zu arrangieren. Ich habe nicht die leiseste Ahnung, weshalb ihre Wahl ausgerechnet auf mich gefallen ist. Ich wünschte wirklich, es wäre ein Missverständnis.«
»Und deine Mutter?«
»Sie ist hocherfreut«, flüsterte Ophelia bitter. »Man hat ihr eine gute Partie für mich versprochen, das ist weit mehr, als sie sich jemals erhofft hätte. Es steht mir nicht zu, diesen Antrag abzulehnen. Ich werde meinem zukünftigen Gemahl so weit folgen, wie meine Pflicht es mir gebietet. Weiter jedoch nicht«, fügte sie entschlossen hinzu. »Diese Ehe wird wohl kaum vollzogen werden.«
Der Großonkel warf ihr einen bekümmerten Blick zu.
»Vergiss das besser, Mädelchen. Sieh dich doch nur an … Du bist kaum drei Käse hoch und leicht wie eine Feder. Was immer du von ihm hältst, ich rate dir, dich dem Willen deines Mannes niemals zu widersetzen. Du würdest nur den Kürzeren ziehen.«
Ophelia drehte an der Kurbel des Grammofons und setzte die Nadel ungeschickt in die erste Rille der Schallplatte. Wieder erklang die Arie aus dem Trichter.
Sie betrachtete ihn geistesabwesend, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, und sagte nichts mehr.
Das war typisch für sie. In Situationen, in denen jedes andere junge Mädchen geweint, gejammert und gefleht hätte, begnügte sie sich im Allgemeinen damit, still zu beobachten. Ihre Cousins und Cousinen behaupteten daher gerne, sie sei nicht besonders helle.
»Hör zu«, riss sie der Großonkel schließlich aus ihren Gedanken, »wir wollen mal die Kirche auf dem Anger lassen. Ich habe sicher ein wenig übertrieben, als ich dir vorhin von dieser Familie erzählte. Wer weiß, vielleicht wird dir der Bursche ja gefallen.«
Ophelia sah ihren Großonkel aufmerksam an. Das Sonnenlicht ließ seine Züge scharf hervortreten und grub jede einzelne Falte noch tiefer ein. Es versetzte ihr einen Stich, als ihr bewusst wurde, dass dieser Mann, der ihr immer unverwüstlich und standhaft wie ein Fels erschienen war, inzwischen ein müder Greis war. Und sie selbst hatte, ohne es zu wollen, noch dazu beigetragen.
Sie zwang sich zu einem Lächeln.
»Was ich brauche, sind verlässliche Informationen.«
Die Augen des Großonkels gewannen ein wenig von ihrem Glanz zurück.
»Zieh deinen Mantel an, Mädelchen, wir gehen in den Keller!«
Der Großonkel begann eine steile Treppe hinabzusteigen, die nur schwach von ein paar Nachtleuchten erhellt wurde. Ophelia folgte ihm, die Hände tief in den Manteltaschen, die Nase in ihrem Schal vergraben. Die Temperatur sank mit jeder Stufe, während Ophelias Augen noch vom Sonnenlicht geblendet waren. Sie hatte das Gefühl, in eiskaltem, schwarzem Wasser zu versinken.
Sie zuckte zusammen, als die polternde Stimme des Onkels von den Wänden widerhallte.
»Ich kann mich einfach nicht mit dem Gedanken abfinden, dass du fortgehen sollst. Der Pol ist wahrlich am andern Ende der Welt.«
Er blieb stehen und drehte sich zu Ophelia um, die sich noch nicht an das Halbdunkel gewöhnt hatte und prompt mit ihm zusammenstieß.
»Sag, du bist doch so geschickt darin, durch Spiegel zu wandeln. Könntest du nicht ab und zu mal vom Pol hierherreisen?«
»Leider nicht, Onkel. Das ist nur über kurze Distanzen möglich. Die Leere zwischen zwei Archen ist auf diese Weise nicht zu überwinden.«
Der Großonkel gab eine altmodische Verwünschung von sich und setzte seinen Abstieg fort. Ophelia fühlte sich schuldig, weil sie nicht so fähig war, wie er glaubte.
»Ich werde Euch so oft es geht besuchen«, versprach sie zaghaft.
»Wann genau reist du ab?«
»Den Doyennen zufolge im Dezember.«
Der Großonkel fluchte erneut, und Ophelia war froh, dass sie seine Worte nicht verstand.
»Aber wer soll deine Nachfolge im Museum antreten?«, murrte er. »Niemand ist so kundig wie du, wenn es um die Begutachtung antiker Gegenstände geht.«
Ophelia brachte keine Antwort über die Lippen. Es war schon schlimm genug, dass sie von ihrer Familie fortgerissen wurde, doch ihr Museum aufzugeben, den einzigen Ort, an dem sie ganz sie selbst war, kam dem Verlust ihrer Identität gleich. Lesen war das Einzige, worauf Ophelia sich verstand. Nahm man ihr das, war sie nur noch ein hoffnungsloser Tollpatsch. Sie konnte weder einen Haushalt führen noch Konversation treiben oder irgendeine Handarbeit erledigen, ohne sich zu verletzen.
»Anscheinend bin ich nicht so unersetzlich, wie Ihr meint«, nuschelte sie in ihren Schal.
Im ersten Untergeschoss tauschte der Großonkel seine üblichen Handschuhe gegen ein sauberes Paar. Dann zog er diverse Schubfächer heraus, um im schwachen Schein der Nachtlichter die Dokumente zu durchforsten, die hier Generation um Generation im kalten Kellergewölbe archiviert worden waren. Sein Atem kondensierte in kleinen Wolken über dem Schnurrbart.
»Nun, es ist nur ein Familienarchiv, erwarte also keine Wunder. Ich weiß, dass ein oder zwei unserer Vorfahren schon einmal im hohen Norden waren, doch das war anno dazumal.«
Ophelia wischte sich einen Tropfen von der Nase. Hier herrschten allerhöchstens zehn Grad. Unwillkürlich fragte sie sich, ob das Haus ihres zukünftigen Ehemannes wohl noch kälter war als dieser Saal.
»Ich würde mir gern Augustus ansehen«, sagte sie.
Augustus war der große Forschungsreisende der Familie gewesen, eine wahre Legende. In den Schulen unterrichtete man Geografie auf der Grundlage seiner Reisetagebücher. Zwar hatte er, der des Schreibens nicht mächtig war, keine einzige Zeile hinterlassen, dafür waren seine Zeichnungen ein unerschöpflicher Fundus an Informationen.
Da der Großonkel, ganz in seine Register vertieft, nicht reagierte, dachte Ophelia, er hätte sie nicht gehört. Also zog sie den Schal herunter, der ihren Mund bedeckte, und sagte etwas lauter:
»Ich würde mir gern Augustus ansehen.«
»Augustus?«, brummte er, ohne hochzuschauen. »Uninteressant. Nicht der Rede wert. Nur olles Gekritzel.«
Ophelia hob erstaunt die Augenbrauen. Der Großonkel redete niemals schlecht über sein Archiv.
»Oh«, schlussfolgerte sie, »ist es so furchterregend?«
Mit einem Seufzer richtete der Alte sich auf.
»Reihe vier, zu deiner Linken, unteres Regal. Sei um Himmels willen vorsichtig und zieh dir saubere Handschuhe an.«
Ophelia ging an den Regalen entlang bis zu der bezeichneten Stelle. Dort standen, nach Archen sortiert, die Originale aller Skizzenbücher des großen Augustus. Sie fand drei unter »Al-Ondalus«, sieben unter »Metropolis« und nahezu zwanzig unter »Serenissima«. Zum »Pol« gab es nur ein einziges. Vorsichtig legte sie es auf ein Lesepult – mit derart wertvollen Dokumenten durfte Ophelia sich ihre übliche Schusseligkeit nicht erlauben – und wendete behutsam die Seiten.
Kahle, felsige Ebenen, ein zu Eis erstarrter Fjord, riesige Tannenwälder, im Schnee versunkene Häuser … Sicher, diese Landschaften waren recht karg, doch weit weniger abschreckend, als Ophelia sich den Pol vorgestellt hatte. Sie fand sie auf ihre Art sogar ziemlich schön. Wo ihr Verlobter wohl wohnen mochte, in all diesem Weiß? An dem von Steinen gesäumten Fluss? In dem kleinen Fischerdorf unter einem unendlichen Nachthimmel? Auf der baumlosen Steppe, die sich weithin erstreckte? Diese Arche wirkte so arm, so wild! Wie konnte ihr Verlobter da eine derart gute Partie sein, wie Mama meinte?
Ophelia entdeckte eine Zeichnung, die sie nicht verstand: etwas, das aussah, wie ein riesiger, am Himmel schwebender Bienenstock. Vielleicht nur ein Entwurf.
Einige Seiten weiter stieß sie auf eine Jagdszene. Die Fäuste in die Hüften gestemmt, posierte ein Mann stolz vor einem großen Haufen Felle. Seine aufgekrempelten Ärmel entblößten muskulöse, bis zum Ellbogen mit Tätowierungen bedeckte Arme. Er hatte helles Haar und einen harten Blick.
Ophelias Brillengläser färbten sich blau vor Entsetzen, als sie begriff, dass der Fellhaufen hinter ihm in Wahrheit nur ein einziges Fell war: das eines toten Wolfs, groß wie ein Bär. Auf der nächsten Seite stand der Jäger inmitten einer Gruppe, hinter ihnen ein Stapel Geweihe. Offenbar Elchgeweihe, nur dass jedes davon so groß war wie ein Mann. Die Jäger hatten alle den gleichen unbarmherzigen Blick, das gleiche helle Haar, die gleichen Tätowierungen auf den Armen, doch sie trugen keine Waffen, als hätten sie die Tiere mit ihren bloßen Händen erlegt.
Ophelia blätterte weiter und fand ihre Jäger vor anderen Kadavern posierend: gigantischen Walrössern, Mammuts und Bären.
Langsam klappte sie den Band wieder zu und stellte ihn zurück an seinen Platz. Was für Bestien … In Kinderbüchern hatte sie schon solche riesenhaften Kreaturen gesehen, doch die hatten nichts gemein mit den Skizzen des Augustus. Auf dieses Leben hatte ihr kleines Museum sie nicht vorbereitet. Was sie jedoch am meisten erschreckte, war der Blick der Jäger. Ein brutaler, überheblicher, an Blut gewöhnter Blick. Ophelia hoffte, dass ihr Verlobter nicht auch diesen Blick hatte.
»Nun?«, fragte der Großonkel, als sie zu ihm zurückkam.
»Ich verstehe Eure Bedenken jetzt besser«, antwortete sie.
Entschlossen wandte er sich wieder seinen Karteikarten zu und murmelte:
»Ich finde noch etwas anderes für dich. Diese Zeichnungen sind immerhin hundertfünfzig Jahre alt. Außerdem zeigen sie nicht alles.«
Genau das war es ja, was Ophelia beunruhigte. Aber sie sagte nichts, sondern zuckte nur mit den Schultern. Jeder außer ihrem Großonkel hätte dieses scheinbare Desinteresse als ein Zeichen von Charakterschwäche missdeutet. Mit den halb geschlossenen Lidern hinter ihrer rechteckigen Brille wirkte sie so teilnahmslos, dass man unmöglich erkennen konnte, wie aufgewühlt sie in Wirklichkeit war.
Die Jagdszenen hatten ihr Angst gemacht. Ophelia fragte sich, ob es wirklich das war, was sie hier im Archiv gesucht hatte.
Da streifte ein Luftzug ihre Knöchel und bewegte sacht den Saum ihres Kleides. Er kam aus dem Treppenschacht, der ins zweite Untergeschoss führte. Ophelia starrte auf die Kette, die den Durchgang versperrte, und das daran hängende Schild:
KEIN ZUTRITT FÜR BESUCHER
In den Räumen des Archivs zog es immer ein wenig, doch diesen Lufthauch musste Ophelia einfach als Aufforderung verstehen. Das zweite Untergeschoss rief sie zu sich, jetzt.
Sie zupfte den Großonkel, der sich auf seinem Fußschemel in einen Bericht vertieft hatte, am Mantel.
»Gestattet Ihr mir, hinunterzugehen?«
»Du weißt genau, dass ich das eigentlich nicht darf«, grummelte er in seinen Bart. »Das ist Artemis' private Sammlung, nur die Archivare haben Zutritt. Sie ehrt uns mit ihrem Vertrauen, wir sollten es nicht missbrauchen.«
»Seid ganz beruhigt, ich habe nicht vor, mit bloßen Händen zu lesen«, versprach Ophelia. »Außerdem bitte ich Euch nicht als Eure Nichte um die Erlaubnis, sondern als Leiterin des Familienmuseums.«
»Ja, ja, immer die alte Leier!«, seufzte er. »Aber ich bin ja selbst schuld, ich hatte einen schlechten Einfluss auf dich.«
Ophelia hakte die Kette aus und ging die ersten Stufen hinunter, doch es blieb dunkel.
»Könnte ich vielleicht etwas Licht haben?«, bat sie inmitten der Finsternis.
Sie musste es mehrmals wiederholen: Das Archivgebäude missbilligte ganz offenbar diesen erneuten Regelverstoß. Widerwillig schaltete es schließlich eine flackernde Notbeleuchtung ein, mit der Ophelia sich wohl oder übel zufriedengab.
Die Stimme des Großonkels folgte ihr durch den Treppenschacht bis hinunter ins Untergeschoss:
»Dass du mir ja nichts anfasst! Deine Ungeschicklichkeit richtet mehr Schaden an als jedes Erdbeben!«
Ehrfürchtig betrat Ophelia den großen Saal mit seinem Spitzbogengewölbe. In ein Giebelfeld war die Devise der Archivare eingemeißelt: Artemis, wir sind die treuen Hüter deines Gedächtnisses. Der ganze Raum war voller Reliquien, die gut geschützt unter Glasglocken standen, wohin man auch blickte.
Mit ihren ungebändigten Haaren, der chronischen Tollpatschigkeit und Scheu wirkte Ophelia oft wie ein nie erwachsen gewordener Backfisch, doch sobald sie mit Geschichte in Berührung kam, machte sie eine erstaunliche Verwandlung durch. Während all ihre Cousinen Kaffeekränzchen, Spaziergänge am Fluss, Zoobesuche und Einladungen zum Tanztee liebten, gab es für Ophelia keinen schöneren Ort auf der Welt als das zweite Untergeschoss des Archivs. Hier wurde das gemeinsame Erbe der Familie sorgfältig verwahrt. Hier lagerten die Zeugnisse der allerersten Generation der Arche, waren die ersten Tage des Jahres null dokumentiert. Hier kam Ophelia dem Riss so nah, wie es nur irgend möglich war.
Der Riss war ihre berufliche Obsession. Manchmal träumte sie, dass sie auf einen Horizont zulief, der sich ihr ein ums andere Mal entzog. Nacht für Nacht rannte sie immer weiter und weiter, doch diese Welt war endlos, ohne Bruch, rund und glatt wie ein Apfel. Diese frühere Welt, deren Objekte sie in ihrem Museum sammelte: Nähmaschinen, Explosionsmotoren, Zylinderdruckpressen, Metronome … Ophelia fühlte sich nicht zu den Jungen in ihrem Alter hingezogen, aber sie konnte Stunden allein mit einem Barometer aus der alten Welt verbringen.
Vor einem vergilbten Pergament hinter Glas blieb sie andächtig stehen. Es war der Gründungstext der Arche, jener, der Artemis und ihre Nachkommenschaft an Anima gebunden hatte. Der folgende Schrein barg den ersten Entwurf ihrer Gesetzesgrundlagen. Er enthielt bereits die Artikel, die den Müttern und Matriarchinnen maßgebliche Gewalt über die gesamte Gemeinschaft übertrugen. Unter einer dritten Glasglocke führte ein Kodex die Verpflichtungen der Stammesmutter Artemis auf: Sie musste dafür sorgen, dass jeder ihrer Nachkommen genug zu essen sowie ein Dach über dem Kopf hatte, eine Ausbildung erhielt und lernte, seine Kraft sinnvoll einzusetzen. Eine Klausel in Großbuchstaben legte fest, dass sie weder ihre Familie noch die Arche je verlassen durfte. Hatte Artemis selbst sich dieses Gebot diktiert, um in all den Jahrhunderten niemals zu erlahmen?
So wandelte Ophelia von Schrein zu Schrein. Je tiefer sie in die Vergangenheit eintauchte, desto ruhiger wurde sie. Die Zukunft verlor an Bedeutung, sie vergaß, dass sie gegen ihren Willen verheiratet werden sollte, vergaß den Blick der Jäger und dass man sie bald weit fort von allem bringen würde, was ihr lieb und teuer war.
Die meisten der Reliquien waren kostbare Handschriften, wie die Landkarten der neuen Welt oder die Geburtsurkunde von Artemis' erstem Kind, dem Ältesten aller Animisten. Es gab jedoch auch gewöhnliche Alltagsdinge: eine Haarschere, die ganz von selbst vor sich hin klapperte; eine plumpe Brille mit wechselnden Farben; ein kleines Märchenbuch, dessen Seiten sich von alleine umblätterten. Sie stammten nicht aus derselben Epoche, aber für Artemis hatten sie einen symbolischen Wert und sollten daher Teil ihrer Sammlung bleiben. Symbolisch wofür? Selbst sie vermochte es nicht mehr zu sagen.
Ophelias Schritte führten sie instinktiv zu einer Glasglocke, die sie ehrfürchtig berührte. Darin zerfiel allmählich ein Register, die Tinte war mit der Zeit verblasst. Es listete die Männer und Frauen auf, die sich dem Familiengeist angeschlossen hatten, um eine neue Gemeinschaft zu gründen. Zwar war es nur eine nüchterne Abfolge von Namen und Zahlen, allerdings nicht irgendwelcher Namen: Es waren die Namen all jener, die den Riss überlebt hatten. Diese Menschen hatten die alte Welt untergehen sehen.
Da begriff Ophelia mit einem Mal, was sie so unwiderstehlich ins Archiv ihres Großonkels gelockt hatte, hinunter ins zweite Untergeschoss, vor dieses antike Register. Es war nicht die Suche nach Informationen gewesen, sondern der Wunsch, zu den Ursprüngen zurückzukehren. Ophelias Vorfahren hatten mit ansehen müssen, wie ihre Welt zerbrach. Doch hatten sie deswegen die Hoffnung verloren? Nein, sie hatten sich ein neues Leben aufgebaut.
Ophelia schob sich ein paar widerspenstige Locken hinters Ohr. Ihre Brillengläser hellten sich auf, verscheuchten das Grau, das sich dort seit einigen Stunden eingenistet hatte. Sie erlebte gerade ihren eigenen Riss. Sie hatte noch immer große Angst, aber nun wusste sie, was zu tun war. Sie musste die Herausforderung annehmen.
Der Schal auf ihren Schultern regte sich.
»Wachst du endlich auf?«, neckte Ophelia ihn.
Er glitt träge über ihren Mantel, fand eine neue Position, schmiegte seine Windungen wieder eng um ihren Hals und rührte sich dann nicht mehr. Es war ein sehr alter Schal, der die meiste Zeit schlief.
»Wir gehen wieder nach oben«, sagte Ophelia zu ihm. »Ich habe gefunden, was ich gesucht habe.«
Als sie gerade umkehren wollte, fiel ihr Bick auf das staubigste, mysteriöseste und unheimlichste Objekt der ganzen Sammlung. Sie konnte unmöglich fortgehen, ohne ihm auf Wiedersehen gesagt zu haben. Ein Hebel ließ die beiden Hälften der Schutzglocke zur Seite gleiten, und Ophelia legte ihre Handfläche auf den Einband eines Buches, des Buches. Es war dieselbe Enttäuschung wie beim ersten Mal: Sie konnte nicht die Spur eines Gefühls, eines Gedankens, einer Absicht lesen. Und das lag nicht nur an ihren Handschuhen, deren spezieller Schussfaden eine Barriere zwischen der Welt der Dinge und ihren Gaben einer Leserin schuf. Nein, Ophelia hatte das Buch schon einmal mit bloßen Händen berührt, so wie andere Leserinnen vor ihr, doch es offenbarte sich nicht, es verweigerte sich einfach.
Sie nahm es aus dem Schrein, streichelte den Einband, ließ die geschmeidigen Seiten durch ihre Finger gleiten. Sie waren über und über mit den merkwürdigen Arabesken einer längst vergessenen Schrift bedeckt. Niemals hatte Ophelia ein vergleichbares Objekt in Händen gehalten. War es letztendlich überhaupt ein Buch? Die Seiten fühlten sich weder wie Pergament an noch wie Papier. Der Gedanke war entsetzlich, aber sie erinnerten an menschliche Haut. Eine außergewöhnlich beständige Haut.
Ophelia gingen die üblichen Fragen durch den Kopf, wie zahlreichen Generationen von Archivaren vor ihr. Welche Geschichte erzählte dieses sonderbare Dokument? Warum wollte Artemis, dass es Teil ihrer privaten Sammlung war? Und was hatte die in den Sockel des Schreins gravierte Botschaft zu bedeuten: Versucht unter keinen Umständen, dieses Buch zu zerstören?
Sie würde all diese Fragen mit ans andere Ende der Welt nehmen, dorthin, wo es weder ein Archiv noch ein Museum gab, noch die Pflicht zur Erinnerung. Zumindest nicht für sie.
Die Stimme des Großonkels erscholl aus dem Treppenschacht und hallte in einem gespenstischen Echo von den Kellergewölben wider:
»Komm hoch, Mädelchen! Ich hab da was Hübsches für dich ausgegraben!«
Ophelia legte ein letztes Mal ihre Hand auf das Buch und schloss dann die Glasglocke wieder. Sie hatte sich in gebührender Form von der Vergangenheit verabschiedet.
Nun war sie bereit für die Zukunft.
Samstag, 19. Juni. Rudolf und ich sind wohlbehalten angelangt. Der Pol erweist sich als recht verschieden von allem, was ich erwartet hatte. In meinem ganzen Leben war mir wohl noch nie derart schwindlig. Die gnädige Frau Botschafterin hat uns in ihrem Anwesen aufs Liebenswürdigste empfangen. Es herrscht dort eine ewige Sommernacht. Ich bin ganz geblendet von all den Wunderdingen! Die Menschen hier sind höflich, äußerst zuvorkommend, und ihre Kräfte übersteigen jegliche Vorstellung.
»Dürfte ich Euch in Eurer Beschäftigung unterbrechen, werte Cousine?«
Ophelia zuckte zusammen und ihre Brille mit ihr. Sie war so vertieft ins Reisetagebuch ihrer Urahnin Adelheid gewesen, dass sie das Bürschchen mit seiner Melone unterm Arm und dem breiten Grinsen von einem Segelohr zum anderen gar nicht bemerkt hatte. Er konnte höchstens fünfzehn Jahre alt sein. Mit einem übertriebenen Kratzfuß deutete er auf eine Bande ausgelassener Schlingel, die sich vor einer alten Schreibmaschine halb totlachen wollten.
»Meine Cousins und ich haben uns gefragt, ob Ihr uns wohl gestatten würdet, etwas von dem Kram in Eurem ehrwürdigen Museum zu lesen.«
Ophelia runzelte unwillkürlich die Stirn. Sie konnte nicht behaupten, jedes Familienmitglied zu kennen, das seinen Fuß über die Schwelle des Museums für Ur- und Frühgeschichte setzte, doch sie war sich sicher, dass sie mit diesen Früchtchen noch nie etwas zu tun gehabt hatte. Zu welchem Zweig des Stammbaums gehörten sie wohl? Zur Gilde der Hutmacher? Dem Stand der Schneider oder der Zuckerbäcker? In jedem Fall rochen sie zehn Meter gegen den Wind nach Scherereien.
»Ich bin sofort für Euch da«, sagte sie dennoch höflich und stellte ihre Tasse ab.
Ihre Befürchtung bestätigte sich, als sie sich der grinsenden Gefolgschaft von Monsieur Melonen-Hut gegenüberfand.
»Und hier das Herzstück des Museums!«, gurrte einer von ihnen mit einem vielsagenden Blick auf Ophelia.
Ziemlich billiger Scherz, fand sie. Natürlich wusste sie, dass sie mit ihrem halb aufgelösten Zopf, dem herabbaumelnden Schal und den zwei verschiedenen Stiefeletten nicht besonders anziehend wirkte. Sie hatte sich seit einer Woche die Haare nicht gewaschen und war am Morgen in irgendwelche Kleidungsstücke geschlüpft, die ihr gerade in die Hände fielen, ohne sich darum zu scheren, ob sie zusammenpassten.
An diesem Abend würde sie zum ersten Mal ihren zukünftigen Gemahl treffen, der extra vom Pol anreiste, um sich der Familie vorzustellen. Er sollte einige Wochen bleiben und Ophelia dann mit in den hohen Norden nehmen. Mit ein wenig Glück würde er sie derart grauslich finden, dass er die Verlobung auf der Stelle löste.
»Fasst das nicht an«, ermahnte sie einen großen Schlaks, der die Finger nach einem Ballistischen Galvanometer ausstreckte.
»Was flüstert Ihr, Cousine?«, lachte der frech. »Sprecht lauter, ich habe Euch nicht verstanden.«
»Fasst dieses Galvanometer nicht an«, wiederholte sie etwas deutlicher. »Ich werde Euch ein paar für die Lektüre vorgesehene Muster geben.«
Der Schlaks zuckte mit den Schultern.
»Och, ich wollte nur sehen, wie der Plunder funktioniert. Ich kann sowieso nicht lesen.«
Alles andere hätte Ophelia auch gewundert. Die Fähigkeit, zu lesen, war nicht besonders verbreitet unter den Animisten. Sie zeigte sich manchmal während der Pubertät in Form vager Empfindungen in den Fingerspitzen, doch bildete sie sich innerhalb weniger Monate zurück, wenn sie nicht rasch von einem Lehrer trainiert wurde. Bei Ophelia hatte dies der Großonkel übernommen, denn schließlich war ihr Zweig mit der Bewahrung des Familienerbes betraut. Beim geringsten Kontakt mit einem Gegenstand dessen ganze Vergangenheit wahrnehmen? Kaum ein Animist legte Wert darauf, sich eine solche Bürde aufzuladen, wenn es nicht gerade sein Fachgebiet war.
Ophelia warf einen kurzen Blick auf Melonen-Hut, der grinsend die Gehröcke seiner Kameraden berührte. Er konnte lesen, wenn auch vielleicht nicht mehr sehr lange. Offenbar wollte er es ausnutzen, solange es noch ging.
»Das ist nicht das Problem, Cousin«, bemerkte Ophelia ruhig an den großen Schlaksigen gewandt. »Auch wenn Ihr die Ausstellungsobjekte lediglich anfassen möchtet, müsst Ihr ebensolche Handschuhe tragen wie ich.«
Seit dem letzten Dekret zum Erhalt des Familienerbes war es verboten, sich Archivmaterialien oder Ausstellungsstücken mit bloßen Händen zu nähern. Ein Objekt zu berühren hieß automatisch, die eigenen Empfindungen darauf zu hinterlassen, seiner Biographie eine weitere Schicht hinzuzufügen. Zu viele Leute hatten seltene Exemplare mit ihren Gefühlen und Gedanken verunreinigt.
Ophelia ging zur Schlüsselschublade, zog sie jedoch zu weit heraus, und der ganze Inhalt fiel mit großem Radau zu Boden. Während sie sich bückte, um die Schlüssel aufzusammeln, hörte sie die Bengel in ihrem Rücken lachen. Melonen-Hut verteidigte sie mit spöttischem Lächeln:
»Macht euch nicht lustig über unsere geschätzte Cousine. Sie wird mir zu meiner Bildung ein wenig Lektüre zur Verfügung stellen.« Dann fletschte er die Zähne und sagte, an Ophelia gewandt: »Ich hätte gerne etwas Handfestes. Eine Waffe vielleicht. Irgendwas aus dem Krieg, wisst Ihr.«
Ophelia setzte die Schublade wieder an ihren Platz und nahm den Schlüssel, den sie gesucht hatte. Viele Jugendliche, die nichts anderes kannten als harmlose Familienquerelen, schwärmten für die Kriege der alten Welt. Diese Grünschnäbel hier wollten nur ihren Spaß haben. Dass sie sich dabei über Ophelias kuriose Erscheinung lustig machten, war ihr vollkommen gleichgültig, aber sie konnte es nicht ertragen, wenn man ihrem Museum so wenig Achtung entgegenbrachte. Vor allem heute nicht.
Dennoch war sie entschlossen, sich nichts anmerken zu lassen.
»Folgt mir bitte.«
»Offenbart mir Eure Schätze«, trällerte Melonen-Hut mit einer affektierten Verbeugung.
Sie führte das Grüppchen zur Rotunde mit den Flugmaschinen der früheren Welt, dem beliebtesten Teil ihrer Sammlung. Ornithopter, Gleitflugzeuge, Helikopter mit Dampfmaschinenantrieb, Doppeldecker und Wasserflugzeuge schwebten dort an Seilen unter der Decke wie riesige Libellen. Die Jungen prusteten vor Lachen beim Anblick dieser Antiquitäten und schlugen mit den Armen wie Gänse. Melonen-Hut, der schon seit einer Weile auf einem Kaugummi herumkaute, klebte ihn auf den Rumpf eines Flugzeuges.
Ophelia sah im dabei zu, ohne mit der Wimper zu zucken. Jetzt hatte er den Bogen überspannt. Er wollte sein Publikum unterhalten? Nun, es sollte auf seine Kosten kommen!
Sie ging ihnen voran eine Treppe hinauf in ein Zwischengeschoss und an einer langen Reihe von Vitrinenschränken vorbei. Dann schloss sie eine der Glastüren auf, nahm mit einem Stofftaschentuch eine winzige Bleikugel aus dem Regal und reichte sie Melonen-Hut.
»Das ist genau der richtige Einstieg, wenn man sich über die Kriege der alten Welt belesen möchte«, versicherte sie ihm mit ausdrucksloser Miene.
»Was reicht Ihr mir da? Einen Automatenköttel?«, feixte er, indem er seine bloße Hand danach ausstreckte.
Sein Grinsen erlosch, je weiter er über seine Fingerspitzen in die Vergangenheit des Objektes vordrang. Er wurde bleich und erstarrte, als wäre die Zeit um ihn herum geronnen. Seine Kameraden stießen ihm zuerst lachend die Ellbogen in die Seite, doch als er nicht reagierte, bekamen sie es mit der Angst zu tun.
»Was habt Ihr ihm da für eine Sauerei untergejubelt?«, rief einer von ihnen aus.
»Ein unter Historikern sehr gefragtes Exponat«, gab sie in professionellem Ton zurück.
Melonen-Huts Teint wechselte von Weiß zu Grau.
»Das ist nicht … worum ich … gebeten hatte«, brachte er schließlich mühsam hervor.
Mit dem Taschentuch nahm Ophelia ihm die Kugel wieder aus der Hand und legte sie zurück auf das kleine rote Kissen.
»Ihr wolltet eine Waffe, oder nicht? Dieses Geschoss hat zu seiner Zeit den Bauch eines Soldaten durchbohrt. Das war der Krieg«, schloss sie und schob dabei ihre Brille hoch: »Männer, die töteten, und Männer, die getötet wurden.«
Als sie sah, wie Melonen-Hut sich mit vor Abscheu und Entsetzen verzerrtem Gesicht den Magen hielt, empfand sie etwas Mitleid. Die Lektion war hart gewesen, das wusste sie. Dieser Junge war mit heroischen Fantasien im Kopf hergekommen, doch eine Waffe zu lesen war, als würde man dem eigenen Tod ins Auge sehen.
»Das geht vorbei«, tröstete sie ihn. »Ich rate Euch, draußen ein wenig frische Luft zu schnappen.«
Das Grüppchen verzog sich, jedoch nicht, ohne ihr über die Schulter noch ein paar scheele Blicke zuzuwerfen. Einer murmelte im Vorbeigehen »Alte Vogelscheuche«, ein anderer schimpfte sie Brillenschlange. Ophelia hoffte, ihr Verlobter wäre derselben Ansicht.
Mit einem Spachtel bewaffnet, machte sie sich daran, den Kaugummi zu entfernen, den Melonen-Hut an das Flugzeug geklebt hatte.
»Das konnte ich ihm nicht einfach so durchgehen lassen«, flüsterte sie und streichelte zärtlich den Rumpf der Maschine, als wäre sie ein Pferd.
»Meine Liebe! Ich habe dich überall gesucht!«
Ophelia drehte sich um. Mit gerafften Röcken und klappernden Absätzen, den Sonnenschirm unterm Arm, eilte eine wunderschöne junge Frau auf sie zu. Es war Agathe, ihre große Schwester, die ebenso elegant und strahlend war wie die jüngere nachlässig und verschlossen.
»Was machst du denn noch hier?«
Ophelia versuchte sich von dem Kaugummi zu befreien, der inzwischen an ihren Händen klebte.
»Du weißt doch, dass ich bis um sechs im Museum arbeite.«
Agathe nahm theatralisch Ophelias Finger zwischen ihre eigenen. Gleich darauf verzog sie angewidert das Gesicht: Der Kaugummi pappte nun an ihrem schicken Handschuh.
»Aber jetzt doch nicht mehr, du Dummerchen!«, rief sie aus, während sie versuchte, das unselige Ding abzuschütteln. »Mama hat gesagt, du sollst nur noch an deine Vorbereitungen denken. Ach, Schwesterlein«, schluchzte sie dann unvermittelt und warf sich ihr an den Hals. »Du musst ja so furchtbar aufgeregt sein!«
»Ähm …«, machte Ophelia nur.
Agathe löste sich wieder von ihr und musterte sie von Kopf bis Fuß.
»Ach du liebes Lieschen, hast du mal in den Spiegel geschaut? So kannst du dich deinem Zukünftigen unmöglich präsentieren. Was soll er denn von uns denken?«
»Das ist meine geringste Sorge«, gab Ophelia zurück und ging zu ihrem Tisch hinter dem Schalter.
»Deine vielleicht, aber nicht die deiner Verwandten, du kleine Egoistin. Wir werden dem umgehend Abhilfe schaffen!«
Ophelia seufzte. Da blieb ihr wohl nichts anderes übrig, als das Museum zu schließen: Wenn ihre Schwester sich mit einer heiligen Mission betraut fühlte, würde sie sie ohnehin nicht mehr in Ruhe arbeiten lassen. Während Ophelia mit einem Stein im Magen so langsam wie möglich ihre persönlichen Dinge zusammensuchte und in ihren alten Beutel packte, saß Agathe auf dem Pult und wackelte ungeduldig mit ihren weißen Stiefeletten unter der langen Spitzenunterhose.
»Ich habe gute Neuigkeiten für dich! Dein geheimnisvoller Anwärter hat endlich einen Namen!«
Nun sah Ophelia doch von ihrer Tasche auf. Wenige Stunden vor dem offiziellen Kennenlernen wurde es aber auch Zeit! Ihre zukünftige Schwiegerfamilie musste die Doyennen ausdrücklich zu absoluter Diskretion ermahnt haben, denn die hatten den gesamten Herbst über nicht das kleinste Detail über ihren Verlobten durchsickern lassen. Es war schon beinahe lächerlich. Ophelias Mutter hingegen war tödlich beleidigt, dass man sie nicht ins Vertrauen zog, und hörte nicht auf, sich darüber zu empören.
»Und?«, wollte Ophelia wissen, als Agathe sie auf die Folter spannte.
»Monsieur Thorn!«
Ophelia erschauerte unter ihrem Schal. Thorn? Dieser Name war ihr bereits zuwider. Er fühlte sich hart an auf der Zunge. Schroff. Beinahe aggressiv. Der passende Name für einen Jäger.
»Ich weiß auch, dass der edle Herr nicht viel älter ist als du, Schwesterlein. Alles andere also als ein Tattergreis, der nicht mehr imstande ist, seine Braut zu beehren. Aber das Tollste kommt erst noch«, fuhr sie atemlos fort: »Du wirst nicht in irgendeinem verlorenen Nest landen, glaub mir, die Doyennen haben uns nicht zum Besten gehalten. Monsieur Thorn soll eine ebenso schöne wie einflussreiche Tante haben, der er eine hervorragende Position am Hofe des Pols verdankt. Du wirst das Leben einer Prinzessin führen!«
Agathes Augen blitzten triumphierend, während Ophelia vollkommen niedergeschmettert war. Thorn, ein Höfling? Da wäre ihr ein Jäger ja noch lieber gewesen. Je mehr sie über ihren zukünftigen Gatten erfuhr, desto mehr drängte es sie, die Flucht zu ergreifen.
»Und woher weißt du das alles?«
Agathe rückte kokett ihre Haube zurecht, unter der sich frech ein paar rote Löckchen hervorkringelten. Ihr Kirschmund verzog sich zu einem siegesgewissen Lächeln.
»Aus sicherer Quelle! Mein Schwager Gerard hat es von seiner Urgroßmutter erfahren, die es wiederum von einer engen Cousine weiß, die die Zwillingsschwester einer der Doyennen höchstpersönlich ist!« Sie klatschte in die Hände und sprang vom Pult. »Da hast du dir ein echtes Prachtstück geangelt, meine Liebe! Wer hätte je gedacht, dass ein Mann von diesem Rang und Namen um deine Hand anhalten würde? Los, pack deinen Trödel ein, uns bleibt nicht viel Zeit bis zur Ankunft von Monsieur Thorn, und wir müssen dich noch gebührend herausputzen.«
»Geh schon mal vor«, bat Ophelia sie. »Ich muss noch eine letzte Formalität erledigen.«
Ihre Schwester entfernte sich mit trippelnden Schritten.
»Ich rufe uns eine Kutsche.«
Ophelia verharrte lange reglos an ihrem Tisch. Die brutale Stille, die sich im Museum ausgebreitet hatte, nachdem Agathe hinausgegangen war, dröhnte ihr in den Ohren. Sie öffnete das Tagebuch ihrer Urahnin an einer beliebigen Stelle und überflog die mit zierlicher, energischer Schrift vor beinahe hundert Jahren hingeworfenen Zeilen, deren Inhalt sie inzwischen auswendig kannte.
Dienstag, 6. Juli. Ich sehe mich genötigt, meine anfängliche Begeisterung etwas zurückzunehmen. Die gnädige Frau Botschafterin ist abgereist und hat uns ihren zahllosen Gästen überlassen. Ich habe den Eindruck, dass man sich unser gar nicht mehr erinnert. Wir verbringen die Tage mit Kartenspielen und Spaziergängen im Park. Mein Bruder schickt sich leichter in dieses müßige Dasein als ich, er ist schon ganz in eine Herzogin vernarrt. Ich werde ihn zur Ordnung rufen müssen, schließlich sind wir zu rein geschäftlichen Zwecken hier.
Ophelia war völlig verwirrt. Diese Notizen und Agathes Neuigkeiten passten überhaupt nicht zu den Zeichnungen des Augustus. Sie ließen den Pol vielmehr als einen Ort äußerster Eleganz und Finesse erscheinen. Spielte Thorn Karten? Wenn er ein Höfling war, musste er sicherlich Karten spielen. Womöglich hatte er den ganzen Tag nichts anderes zu tun.
Ophelia schob das kleine Buch in eine Filzhülle und steckte es in ihre Tasche. Dann öffnete sie den Deckel eines Schreibpults und holte das Inventarverzeichnis daraus hervor.
Sie hatte so manches Mal die Schlüssel des Museums in der Tür stecken lassen, hatte wichtige Unterlagen verschlampert und sogar kostbare Ausstellungsstücke beschädigt, doch niemals hatte sie das Führen des Inventarverzeichnisses vernachlässigt.
Sie war eine hervorragende Leserin, eine der besten ihrer Generation. Schicht um Schicht, Jahrhundert für Jahrhundert vermochte sie den Lebenslauf einer Maschine freizulegen, all die Hände, die sie angefasst, benutzt, demoliert, wieder instand gesetzt hatten. Diese Fähigkeit hatte ihr erlaubt, die Beschreibung jedes Stücks der Sammlung mit einer bisher nie gekannten Liebe zum Detail zu ergänzen. Wo sich ihre Vorgänger damit begnügt hatten, die Geschichte eines oder höchstens zweier ehemaliger Besitzer zu ergründen, drang Ophelia vor bis zur Entstehung des Gegenstandes in den Händen seines Erbauers.
Dieses Inventarverzeichnis war so etwas wie ihr persönliches Vermächtnis. Die Tradition verlangte, dass sie es ihrem Nachfolger eigenhändig übergab – ein Ritual, von dem sie nie gedacht hätte, dass sie es so bald würde ausführen müssen –, doch bis jetzt hatte sich noch niemand auf die Ausschreibung der Stelle beworben. Daher schob Ophelia eine Notiz für diejenige oder denjenigen, der ihre Nachfolge antreten würde, unter den Einband, legte das Register zurück ins Schreibpult und verschloss dieses wieder.
Dann stemmte sie sich wie in Zeitlupe mit beiden Händen vom Tisch hoch und zwang sich, tief durchzuatmen. Schließlich musste sie das Unvermeidliche annehmen. Diesmal war es wirklich vorbei. Morgen würde sie ihr Museum nicht wieder öffnen, wie sie es bisher jeden Tag getan hatte. Ab morgen würde sie für immer einem Mann angehören, dessen Namen sie tragen würde.
Frau Thorn. Besser, sie gewöhnte sich gleich daran.
Ophelia nahm ihre Tasche und betrachtete ein letztes Mal das Museum. Die Sonne fiel hell durch das Glasdach der Rotunde, umgab die antiken Objekte mit goldenem Glanz und warf ihre verzerrten Schatten auf den Fliesenboden. Noch nie war ihr dieser Ort so schön erschienen.
Sie hinterlegte die Schlüssel in der Portiersloge. Kaum war sie unters Vordach getreten, das von einer dicken Schicht Herbstlaub bedeckt war, rief ihre Schwester aus einer Kutsche:
»Los, steig ein, wir fahren in die Goldschmiedegasse!«
Der Kutscher ließ seine Peitsche knallen, obwohl vor dem Wagen gar keine Pferde angespannt waren. Die Räder setzten sich in Bewegung, und die Karosse sauste am Fluss entlang, angetrieben allein durch den Willen ihres Lenkers.
Durch die hintere Scheibe sah Ophelia die Straßen in einem neuen Licht. Dieses Tal, in dem sie geboren war, schien sich von ihr zu entfernen, während sie es in der Kutsche durchquerte. Seine Fachwerkfassaden und Marktplätze, seine hübschen kleinen Werkstätten waren schon dabei, ihr fremd zu werden. Die ganze Stadt vermittelte ihr das Gefühl, dass dies nicht mehr ihr Zuhause war. Im warmen Glanz des Herbstnachmittags gingen die Leute ihren ganz gewöhnlichen Alltagsbeschäftigungen nach. Eine Amme schob einen Kinderwagen und errötete unter den anerkennenden Pfiffen der Arbeiter auf einem Gerüst. Schüler naschten heiße Maronen auf dem Nachhauseweg. Ein Bote rannte mit einem Paket unter dem Arm den Bürgersteig hinunter. All diese Männer und Frauen waren Ophelias Familie, und sie kannte kaum die Hälfte von ihnen.
Eine Straßenbahn überholte sie schnaubend und bimmelnd. Als sie vorübergefahren war, betrachtete Ophelia den von Serpentinen durchzogenen Berg, der ihr Tal überragte. Dort oben fiel schon der erste Schnee, der Gipfel war unter einer grauen Haube verborgen. Selbst Artemis' Sternwarte war nicht mehr zu erkennen. Erdrückt von diesen kalten Fels- und Wolkenmassen, erdrückt vom Gebot einer ganzen Familie, hatte Ophelia sich noch nie so unbedeutend gefühlt.
Agathe schnipste vor ihrem Gesicht mit den Fingern.
»Also, Herzchen, hör mir gut zu. Wir müssen uns deine gesamte Aussteuer vorknöpfen. Du brauchst neue Kleider, Schuhe, Hüte, Unterwäsche, viel Unterwäsche …«
»Ich mag meine Kleider«, unterbrach Ophelia sie.
»Ach, Unsinn, du ziehst dich an wie unsere Großmutter! Bei meinen Lockenwicklern, sag nicht, dass du noch immer diese alten Fetzen trägst!« Agathe sah angewidert auf die Handschuhe ihrer Schwester. »Mama hat dir doch bei Julian eine ganze neue Ladung bestellt.«
»Am Pol werden keine Handschuhe für Leserinnen gefertigt, also muss ich sparsam damit umgehen.«
Doch auf dem Ohr war Agathe taub. Koketterie und Eleganz rechtfertigten in ihren Augen jegliche Verschwendung.
»Nun reiß dich mal am Riemen, zum Kuckuck! Den Rücken gerade, Brust raus, Bauch rein, etwas Puder auf die Nase, Rouge auf die Wangen, und ändere um Himmels willen die Farbe deiner Brille, dieses Grau ist ja schauderhaft! Was deine Haare betrifft …«, seufzte Agathe, während sie mit spitzen Fingern den braunen Zopf anhob. »Wenn es nach mir ginge, würde ich sie abschneiden und ganz von vorn anfangen, aber dazu fehlt uns leider die Zeit. Komm schnell, wir sind da.«
Ophelia schlurfte mit bleiernen Füßen hinter ihrer Schwester her. Zu jedem Rock, jeder Bluse, jedem Halsband, das man ihr vorführte, schüttelte sie nur den Kopf. Die Schneiderin, die die Stoffe mit ihren schlanken Animisten-Fingern ohne Nadel und Faden modellierte, weinte fast vor Wut. Zwei hysterische Anfälle und ein Dutzend Boutiquen später hatte Agathe Ophelia lediglich davon überzeugt, ihre ungleichen Schuhe durch ein neues Paar zu ersetzen.
Im Friseursalon zeigte die zukünftige Braut sich nicht weniger störrisch. Sie wollte nichts wissen von Puder oder Epilation, von Brennschere oder gar Schleifchen nach der neusten Mode.
»Du stellst meine Geduld wirklich auf eine harte Probe«, schimpfte Agathe, während sie versuchte, Ophelias Locken zu entwirren. »Meinst du, ich wüsste nicht, wie du dich fühlst? Ich war siebzehn, als man mich mit Karl verlobt hat, Mama sogar noch zwei Jahre jünger bei ihrer Hochzeit mit Papa. Und sieh, was aus uns geworden ist: strahlende Gattinnen, glückliche Mütter, erfüllte Frauen! Dich hat der Großonkel zu sehr verhätschelt, damit hat er dir keinen Gefallen getan.«
Mit verschwommenem Blick betrachtete Ophelia sich im Spiegel, während Agathe mit ihren Haarnestern kämpfte. Ohne widerspenstige Locken und ihre Brille, die auf dem Bürstentischchen lag, fühlte sie sich nackt.
Ihre Schwester sah sie nur als roten Schemen, der nun das Kinn auf ihren Kopf legte.
»Ophelia«, flüsterte Agathe sanft, »du könntest gefallen, mit ein bisschen gutem Willen.«
»Wozu? Wem gefallen?«
»Monsieur Thorn natürlich, Dummchen! Charme ist die beste Waffe der Frau, du musst dich ihrer ohne jegliche Skrupel bedienen. Es bedarf nur einer Kleinigkeit, eines eindringlichen Blicks, eines vielsagenden Lächelns, damit ein Mann dir zu Füßen liegt. Sieh dir Karl an, ich mache mit ihm, was ich will.«
Ophelia starrte auf ihr Spiegelbild. Ohne Brille konnte sie das melancholische Oval ihres Gesichts, die farblosen Wangen, die Kontur einer nichtssagenden Nase und diese zu schmalen Lippen, die sich nur ungern öffneten, bloß erahnen. Sie versuchte sich an einem schüchternen Lächeln, das jedoch so falsch wirkte, dass sie es direkt wieder hinunterschluckte. Hatte sie Charme? Woran merkte man das? Am Blick eines Mannes? War das der Blick, mit dem Thorn sie heute Abend ansehen würde?
Der Gedanke erschien ihr dermaßen grotesk, dass sie laut losgelacht hätte, wäre ihre Lage nicht so zum Heulen gewesen.
»Hast du mich nicht langsam genug gequält?«, fragte sie ihre Schwester, die weiter erbarmungslos an ihren Haaren zerrte.
»Einen Moment noch.«
Endlich wandte Agathe sich zur Betreiberin des Salons um und bat sie um ein paar Haarnadeln. Dieser kleine Moment der Unachtsamkeit genügte Ophelia. Sie schnappte sich ihre Brille und ihre Tasche und stürzte sich kopfüber in den Frisierspiegel, der gerade groß genug für sie war. Ein paar Straßen entfernt tauchte ihr Oberkörper aus dem Wandspiegel ihres Zimmers wieder auf, doch weiter kam sie nicht, denn Agathe hatte sie im Frisiersalon fest an den Knöcheln gepackt, um sie zurück in die Goldschmiedegasse zu zerren. Ophelia ließ ihre Tasche fallen, fand Halt an der tapezierten Wand links und rechts des Spiegels und stemmte sich mit aller Kraft gegen den Griff ihrer Schwester.
Schließlich purzelte sie ganz in ihr Zimmer, wobei sie einen Hocker und die daraufstehende Blumenvase umriss. Etwas benommen stierte sie auf den nur mit einem Strumpf bekleideten Fuß, der unter ihrem Kleid hervorlugte: Einer ihrer neuen Schuhe war bei Agathe in der Goldschmiedegasse geblieben. Ihre Schwester konnte nicht durch Spiegel gehen, das verschaffte ihr eine kleine Atempause.
Ophelia nahm ihre Tasche vom Teppich, hinkte zu einer massiven Holztruhe neben dem Stockbett und hockte sich darauf. Schließlich setzte sie ihre Brille wieder auf und ließ den Blick durch den mit Überseekoffern und Hutschachteln vollgestellten Raum schweifen. Das war nicht ihre gewohnte Unordnung. Dieses Zimmer, in dem sie aufgewachsen war, kündete schon von ihrer Abreise.
Vorsichtig zog sie das Tagebuch der Urahnin Adelheid aus der Tasche und blätterte gedankenverloren darin.
Sonntag, 18. Juli. Noch immer keine Nachricht von der gnädigen Frau Botschafterin. Die Damen hier sind reizend, und ich glaube, keine meiner Cousinen auf Anima kommt ihnen an Schönheit und Anmut gleich, doch bisweilen überfällt mich ein gewisses Unbehagen. Mir scheint, sie machen unentwegt Bemerkungen über meine Kleidung, meine Manieren und meine Art zu sprechen. Oder bilde ich mir das nur ein?
»Warum bist du schon zu Hause?«