Die Spiele des Jahrhunderts - Roman Deininger - E-Book

Die Spiele des Jahrhunderts E-Book

Roman Deininger

0,0
14,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
  • Herausgeber: dtv
  • Kategorie: Lebensstil
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2021
Beschreibung

Schillerndes Panorama einer ganzen Epoche, glänzend erzählt Raus aus den Schatten der NS-Zeit, den Wiederaufbau geschafft - 1972 reißt Deutschland die Fenster auf. Es herrscht Aufbruchsstimmung und die Olympischen Spiele sollen der Welt das neue, lässige Deutschland zeigen. Als ein Fest der Demokratie, als Gegenentwurf zur martialischen Propaganda 1936 in Berlin. Unter dem verwegenen Zeltdach verkörpern Mark Spitz, die junge Gold-Springerin Ulrike Meyfarth und die Sprinterin Heide Rosendahl mitten im Kalten Krieg den Traum vom friedlichen Miteinander. Doch dann setzt palästinensischer Terror alledem ein grausames Ende. Die preisgekrönten Journalisten Ritzer und Deininger erzählen eine große Geschichte, die beinahe 100 Jahre umfasst und sich in den beiden Wochen der Olympischen Spiele verdichtet.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 1048

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Über das Buch

27 Jahre nach Kriegsende blickt die Welt endlich wieder freundlich nach Deutschland. München ist Gastgeber der Olympischen Spiele 1972. Die Westdeutschen wollen zeigen, wie geläutert und demokratisch, wie offen, bunt und fröhlich sie sind. 1972 soll ganz anders werden als die Hitler-Spiele 1936, frei von Pathos und Militarismus. Dafür stehen auch die atemraubende Stadionarchitektur und das farbenfrohe Design. Und wirklich: Die Jugend der Welt verliebt sich in das leuchtende München und seine »heiteren Spiele«.

Doch die Spiele sind ein Fest am Abgrund. Der Kalte Krieg macht aus dem Wettbewerb von Athleten einen Wettkampf der Systeme: USA gegen Sowjetunion, Bundesrepublik gegen DDR. Dann ertränkt der Anschlag palästinensischer Terroristen auf die israelische Mannschaft Olympia im Blut. Der Traum von den »heiteren Spielen« entpuppt sich als naiv. Das Sicherheitskonzept ist fahrlässig, zahlreiche Warnungen wurden ignoriert. Polizei und Behörden versagen auf ganzer Linie. Zwölf Menschen sterben, die Verantwortlichen werden nicht zur Rechenschaft gezogen. Deutschland will so schnell wie möglich zur Tagesordnung übergehen.

Der internationale Terrorismus ist von nun an schrecklicher Alltag. 1972 öffnen sich bei Olympia überall Fenster in die Zukunft: Beim Marathonlauf rollt ein Elektroauto über die Straßen, die Journalisten erhalten ihre Informationen aus einem Supercomputer. Die Spiele werden zum großen Geschäft, Doping wächst zur Geißel des Sports heran. Das Fernsehen wird farbig, Livebilder erreichen die entlegensten Winkel des Erdballs, die Welt rückt zusammen. In der Bundesrepublik riecht es nach Aufbruch und Abenteuer. Mitten in den politischen Schlachten um seine Ostpolitik stellt sich Bundeskanzler Willy Brandt zur Wiederwahl.

Die jahrelangen Recherchen der preisgekrönten Journalisten Roman Deininger und Uwe Ritzer verflechten die kleinen Begebenheiten mit den großen Ereignissen der Zeit.

Anschaulich, verblüffend und dramatisch erzählen Deininger und Ritzer die Geschichte der Spiele von München – und nebenbei auch fast ein ganzes Jahrhundert deutscher Geschichte und Weltgeschichte.

Roman Deininger / Uwe Ritzer

Die Spiele des Jahrhunderts

Olympia 1972, der Terror und das neue Deutschland

Inhaltsverzeichnis

Widmung

Prolog: 4. September 1972 – Der letzte Tag des Glücks

Kapitel 1: Hitlers Spiele – Berlin 1936

Kapitel 2: Auf den Trümmern wächst die Hoffnung – Die Nachkriegsjahre

Kapitel 3: »… dann geht’s wuid auf.« – München erhält die Spiele 1972

Kapitel 4: Frühlingsgefühle – Die Welt läuft sich warm

Kapitel 5: »Ich bin so glücklich, dass die anderen gewonnen haben.« – Die heiteren Spiele

Kapitel 6: »Sie sind alle tot.« – Der 5. September 1972

Kapitel 7: »The Games must go on.« – Die Tage danach

Kapitel 8: »Was bleibt?« – Vergessen ist nichts

Epilog: »An dieser Katastrophe tragen auch wir bis heute schwer.« – Die 50 Jahre danach

Dank

Bildnachweis

Quellen und Literatur

Interviewpartnerinnen und -partner

Benutzte Archive, Datenbanken und Museen

Genutzte Periodika und Online-Publikationen

Genutzte Audio- und Video-Archive

Anmerkung zur verwendeten Literatur

Literatur

Personenregister

Für Irene und Rainer Deininger

Für Holly Victoria

Prolog:4. September 1972 – Der letzte Tag des Glücks

Verordnete Heiterkeit: Die olympischen Hostessen in ihren bayerischen Dirndln nachempfundenen Phantasie-Uniformen sollen den fröhlichen Charakter der Spiele 1972 verkörpern.

Der Star der Spiele: Mit sieben Goldmedaillen schwingt sich der US-Schwimmer Mark Spitz zum erfolgreichsten Olympioniken der Geschichte auf.

Die Sensation: Die deutsche Hochspringerin Ulrike Meyfarth ist erst 16 Jahre alt, als sie mit neuem Weltrekord die Goldmedaille gewinnt.

Trügerische Ausgelassenheit: Wenige Stunden vor der Katastrophe feiern israelische Teammitglieder nach einer »Anatevka«-Aufführung im Deutschen Theater mit Hauptdarsteller Shmuel Rodensky.

Nach dem Sprung lässt sich Ulrike Meyfarth von der Matte gleiten, federt über den Boden, das dunkle Haar wippt im Takt. Sie strahlt, wie nur ein 16 Jahre altes Mädchen strahlen kann, das gerade Olympiasiegerin geworden ist. 80000 Menschen haben sich für sie erhoben, ein Orkan des Jubels fegt durch das Stadion. Das Mädchen Ulrike hält sich die Hände vor die Augen und zieht sie wieder weg, als wolle sie ganz sichergehen, dass das hier wahr ist und kein Traum.

Als der Hochsprungwettbewerb am frühen Nachmittag begann, war Ulrike Meyfarth eine Gymnasiastin aus Wesseling bei Köln, die dankbar sein durfte, bei den Spielen dabei zu sein. Jetzt, da gleißendes Flutlicht das Münchner Olympiastadion erfüllt, ist sie die Goldmedaillengewinnerin und Weltrekordlerin ihres Sports und der Liebling nicht nur der eigenen Nation. Wenn ein Moment die Spiele von München aufs Schönste verdichtet, dann ist es dieser: das pure, das unschuldige Glück. Man müsste ein Herz aus Stein haben, um sich nicht mit Ulrike Meyfarth zu freuen.

Der 4. September 1972 ist ein Tag für die Geschichtsbücher. In der Olympiaschwimmhalle gleich neben dem Stadion gewinnt der trotz Schnauzbarts unfassbar gutaussehende Mark Spitz seine siebte Goldmedaille in sieben Tagen. Der Amerikaner steigt auf zum bis dahin erfolgreichsten Athleten der olympischen Geschichte. Im Ostblock nimmt man das für heute gelassen zur Kenntnis, denn der sowjetische Wundersprinter Walerij Borsow, der »weiße Blitz aus Kiew«, fliegt nach den 100 Metern auch über die 200 Meter als Erster durchs Ziel. Die bundesdeutschen Zeitungen sind an diesem Montag voll von Fotos und Berichten über die große Windjammerparade tags zuvor in Kiel, wo die Segelwettbewerbe der Münchner Spiele stattfinden. Bundespräsident Gustav Heinemann, der nicht zu Gefühlsausbrüchen neigt, hat sich dort zu dem Satz hinreißen lassen: »So etwas Schönes habe ich noch nie gesehen.«

Die Jugend der Welt ist verliebt in München und seine Spiele. In die tänzerische Leichtigkeit dieser Tage, in die Begeisterung und die Fairness des Publikums, das auch Sportlern aus der DDR bereitwillig Beifall spendet, verliebt in die Wärme und die Neugier, mit der nur ein Millionendorf auf dem Sprung zur Weltstadt seinen Gästen begegnen kann. Verliebt in den freundlichen quergestreiften Dackel Waldi, das Maskottchen der Spiele, in die noch freundlicheren Hostessen in ihren Dirndln und in die Spielstraße im Olympiapark, auf der Künstler verrückte Sachen machen, als gehörten Sport und Kultur irgendwie zusammen. In das magisch geschwungene Glasdach des Olympiastadions und in das elegante Alltagsdesign Otl Aichers, das Hinweisschilder in Kunst verwandelt – Kunst in sanftem Himmelblau, Grün und Orange, doch niemals in Rot oder Schwarz, den Farben der Diktaturen dieses Jahrhunderts. »Es kommt weniger darauf an, zu erklären, dass es ein anderes Deutschland gibt, als es zu zeigen« ist die Leitlinie des Gestalters Aicher.

München 1972 sollte anders sein als Berlin 1936. Und es ist anders geworden, ganz anders. Nicht so formell, nicht so steif, nicht so dramatisch, nicht militärisch. Swing und Pop statt Marschmusik und Wagner. In Berlin prägten die Uniformen von Polizei, Wehrmacht und SS das Bild der Stadt, in München tragen die Sicherheitskräfte azurblaue Sakkos und nur sehr selten Waffen.

All die kühnen Hoffnungen der Organisatoren scheinen sich zu erfüllen. »Widerlegen wir die These«, hat Bundeskanzler Willy Brandt bei der Einweihung des Olympiaparks gesagt, »dass es den freundlichen Deutschen nur in Ausnahmefällen gebe.« Und so setzt sich alles zusammen zu einem Mosaik des neuen, lässigen Deutschland. Der Bundeskanzler selbst verkörpert diesen Zeitgeist, den Abschied von martialischem Auftreten, autoritärer Führung und bigotter Moral.

Vor den Augen der Welt tritt die Bundesrepublik in München aus dem langen Schatten der Nazizeit. Die Besucher sind überrascht, und wenn sie bei ihren deutschen Gastgebern überhaupt irgendetwas zu bemerken haben, dann höchstens, dass selbst der Frohsinn mit landestypischer Gründlichkeit organisiert ist. »Die erste Goldmedaille für die Deutschen!«, hat die Zeitung ›L’Aurore‹ aus Paris nach der Eröffnungsfeier gefordert. »Ja, sie würden sie verdienen, weil sie uns das wunderbarste Schauspiel gezeigt haben, von dem man träumen kann.« Und der ›Corriere della Sera‹ aus Mailand schrieb: »Hätte es noch eines Beweises bedurft, dass die Deutschen sich gewandelt haben, das Stadion in München hat ihn geliefert.«

In der Bundesrepublik riecht es 1972 nach Aufbruch, nach Freiheit und Abenteuer und für manche sogar ein ganz kleines bisschen nach Revolution. Der Aufbruch von 1967/68 lebt weiter in der bundesrepublikanischen Umwelt-, Friedens- und Frauenbewegung, aber grenzenlos übersteigert mündet er auch im mörderischen Terrorismus der Roten ArmeeFraktion. Deren Köpfe Andreas Baader und Ulrike Meinhof sind im Olympiasommer nach Bombenanschlägen und Schusswechseln in Haft, es herrscht seit wenigen Wochen Ruhe in Deutschland. Und noch weiß niemand, dass diese Ruhe trügerisch ist.

’72, das sind weite Schlaghosen und enge Hemden mit Riesenkrägen, das sind dicke Koteletten und wallende Locken, Blumenkleider und Lederwesten, Schlager und Disco. Wer bei der Bundespost einen Telefonanschluss bestellt, bekommt nicht mehr automatisch das graue Wählscheibentelefon geliefert. Man kann jetzt wählen zwischen Grün, Rot, Orange und Gelb. ’72 ist ein Lebensgefühl, das sich in den »heiteren Spielen« Bahn bricht, die der deutsche Olympiachef Willi Daume, der Oberbürgermeister Hans-Jochen Vogel und Otl Aicher bis ins kleinste Detail geplant haben.

Beinahe ein Vierteljahrhundert hat es gedauert, bis die Bundesrepublik eine liberale Demokratie im umfassenden Sinne wurde – nicht nur rechtlich, sondern auch politisch und vor allem gesellschaftlich, ein Gemeinwesen, das sich den Geistern der Vergangenheit stellt und sein Grundgesetz als Antwort auf den Horror des Nationalsozialismus versteht. Knapp zwei Jahre vor den Spielen war Brandt im ehemaligen Warschauer Ghetto auf die Knie gesunken. Es war zugleich das Eingeständnis von Schuld und die Bitte um Vergebung, eine ikonische Geste von einem, der selbst nicht hätte knien müssen. Ende April 1972 hat Brandt im Bundestag ein Misstrauensvotum überstanden, es war ein großes Drama, aber auch die große Bestätigung, die der Kanzler für seinen Kurs brauchte.

Das gereifte, geläuterte Deutschland präsentiert sich nun auch in München der Welt, und nur die halsstarrigsten DDR-Funktionäre können diese Bundesrepublik noch mit voller Überzeugung als Hort von Faschismus, Kapitalismus und Reaktion geißeln. Die Deutschen aus dem Osten haben selbst allen Grund zum Stolz: 1972 tritt die DDR erstmals mit eigener Hymne und unter eigener Fahne an. »Der Kapellmeister in München sollte unsere Hymne lieber gut einstudieren«, hat der Chefkommentator des DDR-Fernsehens, Karl-Eduard von Schnitzler, vorhergesagt, »denn er wird sie oft spielen müssen.« Und so ist es gekommen: Es regnet Goldmedaillen für die Ostdeutschen.

Auch in der DDR, in der Erich Honecker im Juni 1971 der Erste Sekretär des Zentralkomitees der SED geworden ist, spüren die Menschen Anfang der Siebziger einen Aufschwung, zumindest im Lebensstandard. Das ist die Ausgangslage, in der sich der Eiserne Vorhang zumindest ein ganz klein wenig bewegt. Der Moskauer und der Warschauer Vertrag sind im Juni 1972 in Kraft getreten, ebenso das Berlin-Abkommen, das Reisen und Telefonieren zwischen Ost und West erleichtert. Und am 16. August, eine gute Woche vor Eröffnung der Spiele, haben Bundesrepublik und DDR mit den Verhandlungen über einen Grundlagenvertrag begonnen.

Olympische Spiele sind immer ein Brennglas, durch das man die Welt betrachtet. Nirgendwo sind so viele Nationen auf so engem Raum versammelt, nirgendwo treten ihre Eigenschaften, die guten wie die schlechten, so unvermeidlich zutage. Deshalb ist Olympia 1972 nicht nur ein Wettstreit von Athleten, sondern bei aller Entspannung auch ein Wettkampf der Systeme. Die Spiele von München werden noch ein packendes deutsch-deutsches Staffelduell erleben und ein amerikanisch-sowjetisches Basketballfinale für die Ewigkeit.

In vielen Dingen sind die Spiele auch der Spiegel eines neuen Selbstbewusstseins. Die Leichtathletin Heide Rosendahl, die ihre Mitbürgerinnen und Mitbürger mit dem ersten Gold für die Bundesrepublik erlöste, ist eine junge Frau, die es sich erlaubt, älteren Fernsehmoderatoren zu widersprechen. Schwarze amerikanische Athleten demonstrieren in München gegen die anhaltende Diskriminierung zu Hause. Die jungen Nationen der Dritten Welt fordern ihren Platz auf der globalen Bühne des Sports. Im Olympiastadion hat der Ugander John Akii-Bua die Ehrenrunde erfunden, weil er nach seinem Sieg über 400 Meter Hürden einfach nicht aufhören wollte zu laufen.

1972 ist das Jahr, in dem sich überall kleine Fenster in die Zukunft öffnen. Im deutschen Fernsehen hat ›Raumschiff Enterprise‹ Premiere, der erste 8-Bit-Mikroprozessor wird vorgestellt, der erste Taschenrechner kommt auf den Markt. In München werden die alten Stoppuhren von der elektronischen Zeitmessung abgelöst; die akkreditierten Journalisten erhalten ihre Informationen aus einem Supercomputer. Über die Straßen von München rollt das erste Elektro-Auto von BMW, für die Spiele eigens entwickelt.

Olympia wird allmählich zum großen Geschäft und das Internationale Olympische Komitee (IOC) zur Geldmaschine. Werbung ist den Athletinnen und Athleten noch strikt verboten, doch Mark Spitz, der natürlich barfuß schwimmt, reckt nach einem seiner Siege seine Adidas-Schuhe in die Kameras, angeblich aus Versehen. Doping wächst zur Geißel des Sports heran, zum ersten Mal wird in München eine Goldmedaille deshalb aberkannt. Das Fernsehen wird unmittelbar und farbig, es ist, als hätte die Menschheit bislang salzig gegessen und bisse plötzlich in etwas unbeschreiblich Süßes. Satelliten senden Hunderte Stunden Live-Bilder in die entlegensten Winkel des Erdballs. Was immer bei den Spielen passiert: Es ist ein globales Ereignis.

Die Welt rückt näher zusammen. 1972 reist Richard Nixon als erster US-Präsident zum Staatsbesuch nach China. Der »Club of Rome« veröffentlicht seinen Bericht zu den »Grenzen des Wachstums«: Wenn der Planet überleben soll, sind Industrie- und Entwicklungsländer schicksalhaft aneinandergekettet. Kurz vor den Spielen ist die deutsche Erstausgabe des »Playboy« erschienen, und in der Olympiastadt München hat die erste deutsche Filiale einer US-Schnellrestaurantkette eröffnet. Sie nennt sich »McDonald’s«. In Heidelberg und Hamburg verüben radikale Palästinenser Anschläge auf deutschem Boden. Kaum ein Einheimischer versteht, was das soll.

Es ist ein glorreicher Sommerabend an diesem 4. September, alles bunt, alles cool, so wie in eigentlich jedem Moment, seit am 26. August der Vorhang der Spiele von München aufging wie ein schimmernder Regenbogen. Die Leute sitzen auf den grünen Hängen des Olympiaparks und bewundern im Abendrot das Dach des Stadions. Von der Spielstraße dringt Musik herüber. Als Mark Spitz gegen 21 Uhr im noblen Restaurant »Käfer« in der Prinzregentenstraße auftaucht, stehen alle Gäste auf und spenden Applaus. Im »Hofbräuhaus« zieht der US-Ringer Chris Taylor alle Blicke auf sich, weil er – mit seinen vier Zentnern vermutlich der schwerste Olympiateilnehmer – Brotzeitteller um Brotzeitteller verdrückt. Im Olympiapressezentrum hat sich eine Gruppe Kanadier versammelt, um allen Ernstes eine Eishockeyübertragung aus Toronto anzuschauen.

In der Oper gastiert die Mailänder Scala mit Verdis ›Aida‹. Placido Domingo singt vor der internationalen Prominenz wie dem britischen Premierminister Edward Heath. Der Applaus könnte ekstatischer nur sein, wenn Ulrike Meyfarth auf die Bühne käme. Nach der Aufführung lädt der italienische Botschafter Staatschefs und gekrönte Häupter zum Galaempfang. Die Party für die Schickeria schmeißt Johannes von Thurn und Taxis, der Fürst des deutschen Jetsets. Und Avery Brundage, der IOC-Präsident, ohne dessen ausnehmend gute Erinnerung an Berlin 1936 es München 1972 nicht gäbe, speist fürstlich im Hotel »Vier Jahreszeiten«.

Sechs Mitglieder der israelischen Olympiamannschaft sehen sich im »Deutschen Theater« ›Anatevka‹ an, das jüdische Musical über den Milchmann Tevje, der immer noch lachen kann, gleich welche Demütigung ihm das Leben zumutet. Tevjes Geschichte, angesiedelt im untergehenden russischen Zarenreich, hat zuerst den Broadway erobert und verzaubert nun in der Bundesrepublik genau wie in der DDR das Publikum. Das Lied »Wenn ich einmal reich wär’« singt fast der ganze Saal mit. Nach der Aufführung feiern die Israelis mit den Schauspielern. Der Ringer-Kampfrichter Yossef Gutfreund nimmt für ein Foto den Hauptdarsteller Shmuel Rodensky in den Arm, es wird ein sehr witziges Bild, weil Gutfreund einen Kopf größer und doppelt so breit ist wie Rodensky. Es wird schallend gelacht, auch hier pures Glück. Während sich die Israelis amüsieren, trifft sich in einer Gaststätte am Hauptbahnhof eine Gruppe junger Männer. Dann kommt die Nacht über München.

Kapitel 1:Hitlers Spiele – Berlin 1936

Brundage verpasst Olympia // Heinemann fliegt aus der Bierhalle // München wird Hauptstadt der Bewegung // Weimar schenkt Hitler eine Bühne // Riefenstahl vergöttlicht den arischen Menschen // die Nazis erfinden den Fackellauf // eine Jüdin als Alibi-Starterin // Hans-Jochen Vogel geht gern zur HJ // Willi Daume muss Basketball spielen // das Olympische Dorf ist eine Kaserne // Jesse Owens und sein deutscher Freund führen Hitler vor // die Weiße Rose rettet Münchens Ansehen // Diem schickt die Jungen in den Opfertod

Lange fremdeln Adolf Hitler und die Nationalsozialisten mit Olympia. Dann aber erkennen sie das propagandistische Potenzial der Spiele und missbrauchen sie 1936 in Berlin schamlos für ihre Zwecke.

Zum Leidwesen der NS-Gastgeber wird der schwarze US-Sprinter Jesse Owens in Berlin zum Superstar.

Filmemacherin Leni Riefenstahl visualisiert die Spiele als heroisches Epos im Sinne ihres Förderers Adolf Hitler.

In Reih’ und Glied: Fünf junge Tänzerinnen präsentieren 1936 in Berlin die olympischen Ringe.

Der Student Gustav Heinemann kommt im Frühjahr 1920 nicht freiwillig nach München. In Marburg ist es für ihn zu gefährlich geworden. Die junge Weimarer Republik hatte gerade ihre erste große Prüfung bestanden, den Kapp-Putsch im März. Aber die Erschütterungen hören nicht mehr auf. Heinemann, geboren 1899, Sohn Essener Großbürger, gehört an der Universität Marburg zu einem Häuflein republikanisch gesinnter Studenten. Als rechtsgerichtete Kommilitonen sie mit dem Tode bedrohen, beschließt er, das Sommersemester im sicheren München zu verbringen.

Für ihn ist die Verteidigung der ersten deutschen Demokratie auch eine familiäre Verpflichtung. In seinem Tagebuch notiert er, wie sehr ihn Briefe der Märzrevolutionäre von 1848 beeindruckt haben. Zu den Aufständischen hatten sein Urgroßvater und zwei seiner Brüder gehört. »Für Einheit und Freiheit, für Republik und Demokratie!«, schreibt Heinemann. »Ich werde an Euch denken!« Seinen zweiten Vornamen Walter trägt er nach seinem Urgroßonkel, der Teil der Badischen Revolution gewesen war.

Heinemann genießt jeden Tag seiner vier Monate in München, vielleicht ist es der Sommer seines Lebens. Immer wieder streift er durch die Gemäldesammlung der Pinakotheken, er ist fasziniert von der strahlenden Dramatik des Peter Paul Rubens. Im Theater sieht er Shakespeares ›Ein Sommernachtstraum‹ und ›Der Widerspenstigen Zähmung‹. An der Uni – er studiert Jura und Ökonomie – hört er kurz vor dessen Tod Vorlesungen bei Max Weber, den er für »die wunderbare Klarheit und Fülle der Gedanken« bewundert. »München! Herrliche Stadt!«, schwärmt Heinemann. »Hier hat der Reichtum vergangener Tage die Kunst großzügig auf die Straße getragen. Hier kann das Leben schön sein. Sorglos muss hier der Mensch sein und Geld haben.«

Genau diese unwiderstehliche Kunstmetropole an der Isar war es, über die Thomas Mann1902 schrieb: »München leuchtete«. Doch 18 Jahre später hat die leuchtende Stadt ihren langen Weg in die Dämmerung schon angetreten. Gustav Heinemann hat noch ein weiteres Vorhaben für seinen Münchner Sommer. Es ist Reichstagswahlkampf, und er will sich einen Überblick über die Parteien verschaffen. Also zieht er von Kundgebung zu Kundgebung, von Bierkeller zu Bierkeller, von der USPD zur KPD, von der DDP zur DVP. Und am 19. Mai 1920 besucht er im »Hofbräuhaus« eine Veranstaltung der NSDAP.

Der Redner ist ein 31-jähriger Kriegsheimkehrer und vormaliger Kunstmaler, Adolf Hitler. Heinemann ist entsetzt von dem, was er hört. »Ich flog bald wieder raus, weil ich Zwischenrufe machte«, erinnert er sich später. Zwei kräftige Ordner werfen ihn aus dem Lokal. »Ein trauriges Bild der Geistesverfassung und politischen Unbildung unseres Volkes!«, schreibt er. »Ein nahezu uferloser Antisemitismus. An allem und jedem sind nur die Juden schuld.« Doch Gustav Walter Heinemann ist zuversichtlich, dass von der NSDAP keine große Gefahr ausgeht: »Die Partei wird an der inneren Inkonsequenz ihres Programmes scheitern.«

 

Chicago erlebt Anfang der Zwanzigerjahre einen nie dagewesenen Bauboom. Die Stadt wächst explosionsartig und mit ihr Avery Brundages Wohlstand. Der Emporkömmling hat eine Baufirma gegründet, die nun einen Wolkenkratzer nach dem anderen in den Himmel schiebt. Doch Brundages wahrer Ehrgeiz gilt dem Sport. Er mag kein großer Athlet gewesen sein, aber er hat sich geschworen, ein großer Funktionär zu werden. Zunächst steigt er zum Präsidenten des amerikanischen Leichtathletikverbands auf, und dann, 1928, zum Präsidenten des Nationalen Olympischen Komitees (NOK) der USA.

Avery Brundage wird viele Olympische Spiele erleben, fast ein halbes Jahrhundert lang wird er die olympische Bewegung prägen. 20 Jahre lang wird er, der Junge von der falschen Seite der Eisenbahnschienen in Chicago, der Herr der Ringe sein, wird seine Loge mit Staatspräsidenten und Königen teilen, nur zum Beispiel 1972 mit einem gewissen Gustav Heinemann. Aber die Olympischen Spiele, die Brundage niemals loslassen werden, sind die, die gar nicht stattgefunden haben.

Der junge Avery, geboren 1887, ist von Tanten und Onkeln großgezogen worden, nachdem der Vater die Mutter verlassen hatte. Der Sport war das Ventil seines Ehrgeizes, in der Werkstatt seiner Highschool schmiedete er selbst, was er an Geräten für die Leichtathletik brauchte. Den Hammer für den Hammerwurf zum Beispiel, eine Metallkugel an einem Stahldraht mit Griff. An der Universität von Illinois, wo er Bauingenieurswesen studierte, entwickelte er sich zu einem starken Mehrkämpfer, der drei US-Meisterschaften gewann.

1912 durfte Avery Brundage zu den Olympischen Spielen in Stockholm reisen, er wurde Sechster im Fünfkampf, 14. im Zehnkampf und 22. im Diskuswurf. Gold im Fünf- wie im Zehnkampf holte sein amerikanischer Teamkamerad Jim Thorpe, geboren als Wa-Tho-Huck im Indianer-Territorium. Einige Monate nach den Spielen wurden Thorpe die Medaillen aberkannt, weil er in einer halbprofessionellen Liga Baseball gespielt hatte. Olympioniken dürfen kein Geld mit dem Sport verdienen, weil das die Reinheit der Spiele verletzen würde – das ist das olympische Gesetz, das Avery Brundage in Stockholm verinnerlichte.

Beinahe der ganze Rest der Welt hatte weniger Verständnis für die Entscheidung gegen Thorpe, der aus allen Ergebnislisten getilgt wurde, als hätte es ihn nie gegeben. Der Schwede Hugo Wieslander, der auf den ersten Platz nachrückte, betonte zeitlebens, dass Thorpe ihn im fairen sportlichen Wettkampf besiegt hatte. Erst 70 Jahre später wird das IOC Jim Thorpe rehabilitieren – nachdem Avery Brundage, der Mann, der das immer verhindert hatte, gestorben ist. Über den IOC-Präsidenten Brundage wird man sagen, dass er einen Diskus dort hatte, wo bei anderen ein Herz schlägt.

Brundage ist ein Mann von Exzentrik und Härte, auch sich selbst gegenüber. In Chicago geht er noch als reicher Mann jeden Tag zu Fuß zur Arbeit, sieben Kilometer hin, sieben Kilometer zurück. Und jeden Tag um 15 Uhr isst er ein Spiegelei-Speck-Sandwich, dazu trinkt er ein Glas Milch. Seine Jobs in Sportverbänden macht er über Jahrzehnte unentgeltlich, aber dafür mürrisch und bis ins Lächerliche streng.

Mit besonders heiligem Ernst wacht Brundage über die Einhaltung der Amateurregeln im olympischen Sport. 1932, bei den Spielen von Los Angeles, reicht er als amtierender US-Olympia-Chef einen Essay im Literaturwettbewerb ein, Titel: ›Die Bedeutung des Amateursports‹. Zugleich gehört er zu den treibenden Kräften, die den Ausschluss des finnischen Wunderläufers Paavo Nurmi bewirken. Nurmis Sünde ist, dass er angeblich einmal zu hohe Reisekosten abgerechnet sowie im Parkhotel von Königsberg eine Tasse Kakao nicht selbst bezahlt hat. Brundage sagt: Nur die »mannhafte, dynamische Philosophie des Amateursports und sein Regelwerk von Fairness und Sportsgeist werden verhindern, dass wir eine weiche, richtungslose Ansammlung von faulen, Dollar-jagenden Vergnügungssuchern werden.«

Für den Zehnkämpfer Brundage wären die Spiele von Berlin 1916 die gewesen, bei denen er sich realistische Hoffnung auf eine Medaille hätte machen dürfen. Er war 28 Jahre alt, auf dem Höhepunkt seiner Leistungsfähigkeit, US-Meister im »All Around«, dem härtesten aller Mehrkämpfe, zehn Disziplinen an einem Tag. Doch die Spiele von Berlin sind Opfer des Ersten Weltkriegs. Die Händel der Politik, so sah Brundage das, hatten das Fest des Sports zerstört – und ihn und die anderen Athleten um die Chance ihres Lebens gebracht. Es ist eine persönliche Frustration, die später in eine beinahe besessene Überzeugung münden wird: dass die Spiele immer, immer weitergehen müssen.

 

Das München, das der junge Gustav Heinemann1920 erlebt, sieht die letzten Tage der Schwabinger Boheme. Ende des 19. Jahrhunderts hat sich die Stadt mit ihrem Universitätsviertel zum freigeistigsten, aufregendsten Ort des Deutschen Reiches entwickelt, ganz anders als das verstockte kaiserliche Berlin. Literaten und Künstler, Revolutionäre und Träumer lebten und liebten, tranken und stritten in der Kneipe »Simplicissimus«, im »Café Stephanie« oder im »Schelling-Salon«. Thomas Mann beendete hier 1901 seine ›Buddenbrooks‹, in die Wohnung neben dem Expressionisten Wassily Kandinsky zog der Dichter Rainer Maria Rilke ein, und in der Kaiserstraße 53 saß ein Herr Mayer an seinem Pamphlet ›Was tun?‹, das die Gründung einer zentralisierten Arbeiterpartei zur Voraussetzung für die russische Revolution erklärte. Wladimir Iljitsch Uljanow hieß dieser Mayer tatsächlich, bis er sich einen neuen Namen gab: Lenin.

Schon der Erste Weltkrieg hatte dem fröhlichen Schwabinger Treiben zugesetzt, doch nach dem Krieg war München für kurze Zeit noch einmal die Herzkammer deutscher Utopie. Erst rief der Sozialist Kurt Eisner den Freistaat Bayern aus, im festen Glauben, dass dieses Bayern das Modell für ein demokratisches, friedfertiges, besseres Deutschland sein würde. Am 21. Februar 1919 streckte ihn ein rechter Fanatiker mit zwei Schüssen in Rücken und Kopf nieder. Nach Eisners Tod proklamierten Schriftsteller wie Ernst Toller und Erich Mühsam die Räterepublik und ihr Ziel einer Gesellschaft der Gleichheit und Nächstenliebe. Es war ein noch viel verrückteres Wagnis, eine »Weltsekunde der Literatur an der Macht« (Volker Weidermann), ebenso blauäugig wie bewundernswert. Die Philosophenherrschaft zerbrach rasch – in einer nationalistischen Gegenrevolution, im blutigen Terror der Freikorps.

München, die Stadt, in der die Deutschen eine kurze Zeit die radikale Demokratie probten, wird Anfang der Zwanzigerjahre immer mehr zum Sammelbecken republikfeindlicher Kräfte. »Früher hatte die schöne, behagliche Stadt die besten Köpfe des Reiches angezogen«, schreibt der jüdische Schriftsteller Lion Feuchtwanger. »Wie kam es, dass die jetzt fort waren, dass an ihrer Stelle alles, was faul und schlecht war im Reich und sich anderswo nicht halten konnte, magisch angezogen nach München flüchtete?« Feuchtwanger geht, Rilke geht, Bertolt Brecht und Marieluise Fleißer gehen, Toller und Mühsam sitzen im Gefängnis. Stattdessen schwadronieren nun reaktionäre Autoren wie der Dramatiker Hanns Johst vom Nahen eines neuen Reichs. Als das neue Reich 1933 dann da ist, widmet Johst sein Stück ›Schlageter‹ Adolf Hitler, »in liebender Verehrung und unwandelbarer Treue«.

Der Österreicher Hitler war am 25. Mai 1913 aus der Wiener Obdachlosigkeit vor dem Militärdienst nach München geflohen, er war dort zunächst, was er schon in Wien gewesen war: ein strauchelnder Kunstmaler, der sich mit Ansichtskarten gerade so über Wasser hielt. Ein Deutschnationaler wie er hätte damals viel besser nach Berlin gepasst, und doch wurde das nähere München die Stadt, von der er später behauptete, an ihr hänge er mehr als an jedem anderen Flecken Erde. Nach dem Kriegsausbruch 1914 meldete er sich freiwillig zum Dienst in einem bayerischen Regiment. Als er 1918 zurückkehrte, dank des Wohlwollens eines jüdischen Leutnants mit dem Eisernen Kreuz dekoriert, war München der Ort, an dem er erstmals im Leben Anerkennung erfuhr.

Gewiss hätte Hitler im erschütterten Deutschland der Nachkriegszeit auch in anderen Städten zum Politiker werden können. Aber München bietet seinem brennenden Ehrgeiz, seiner eigentümlichen Redegabe und seiner hemmungslosen Hetze gegen die »Novemberverbrecher« und das »Weltjudentum« einen besonders fruchtbaren Boden. In den Münchner Bierkellern gehen Alkohol und Aggressivität eine unheilvolle Ehe ein, wie Heinemann bezeugen kann und wie es der amerikanische Schriftsteller Thomas Wolfe bei einem Oktoberfestbesuch 1927 beobachtet: Die Augen der Einheimischen an seinem Biertisch, schreibt Wolfe, eigentlich ein bekennender München-Liebhaber, »waren stumpf und benebelt vom Essen und vom Bier, und viele von ihnen starrten die Leute um sie herum in einer Art Betäubung an, als hätte man sie unter Drogen gesetzt«.

Ein Jahr später wird Wolfe auf der Wiesn in eine Schlägerei verwickelt, hinterher fehlen ihm ein paar Zähne, er hat Platzwunden und eine gebrochene Nase. »München hat mich fast umgebracht«, hält er in einem Brief fest, »doch binnen fünf Wochen hat es mich so viel über die Menschen gelehrt, wie die meisten Leute binnen fünf Jahren nicht lernen.« Bald explodiert die Inflation, und die Maß Bier im »Hofbräuhaus« kostet 266 Milliarden Mark. Und das München, das Thomas Wolfe einen »großen, ins Leben übersetzten Traum« nannte, ist die Stadt von Hakenkreuz und Lederhose.

 

1931 vergibt das IOC die Olympischen Spiele zum zweiten Mal nach Berlin – zwei Jahre, bevor die Nazis an die Macht kommen. Für Hitler, der es vom Wirtshausredner zum Reichskanzler gebracht hat, sind die Spiele also so etwas wie ein Erbstück des demokratischen Deutschland. Nun rechnen manche IOC-Mitglieder sogar damit, dass er auf die Ausrichtung verzichtet. Hat er nicht ein paar Jahre zuvor Olympia als »Komplott von Freimaurern und Juden« bezeichnet? Als geeignet, den gesunden deutschen Volkskörper krank zu machen? Der ›Völkische Beobachter‹, das in München erscheinende Kampfblatt der NSDAP, hat 1932 geschrieben: »Neger haben auf der Olympiade nichts zu suchen«, das IOC müsse handeln. Viele Beobachter können sich nicht vorstellen, dass die Nazis die Teilnahme schwarzer Athleten akzeptieren.

Doch Hitler und sein Propagandaminister Joseph Goebbels haben längst erkannt, welchen Wert diese Spiele für sie besitzen. »Im Jahre 1936 werden wir uns mit den Völkern der Erde messen und ihnen zeigen, welche Kräfte die Idee der deutschen Volksgemeinschaft auszulösen im Stande ist«, verkündet Goebbels. Das Deutsche Reich ist in diesem Moment eine aufstrebende Nation, erpicht darauf, die vermeintliche Schmach des Versailler Vertrags zu tilgen. Schon im Frühjahr 1933 richtet Goebbels in seinem Ministerium einen »Olympia-Propagandaausschuss« ein, dazu ein »Amt für Sportwerbung«, das für die Produktion einschlägigen Werbematerials zuständig ist.

Schnell gibt es Plaketten und Flaggen, auf denen die olympischen Ringe mit Hakenkreuz und Reichsadler kombiniert sind. Die goldumrandeten Teller des Olympiageschirrservice zeigen das Motiv des offiziellen Plakats der Spiele: einen bekränzten, entschlossen in die Ferne blickenden Muskelarier, dazu das Brandenburger Tor mit Hakenkreuz-Standarte. »Olympia 1936 – eine nationale Aufgabe« ist das erste von insgesamt 26 Propagandaheften betitelt, die für nur zehn Pfennige zu haben sind und die Bevölkerung auf die Spiele einstimmen sollen. Das Regime scheut für seine nationale Aufgabe keine Kosten und Mühen. Im ganzen Land finden Olympiawerbewochen und Olympiaausstellungen statt. Lehrer bekommen Fortbildungen, um den rechten olympischen Geist in die Schulen zu tragen.

Generalstabsmäßig planen die Nazis, der Welt ein schamloses Schauspiel zu zeigen, eine Demonstration von Stärke und die Illusion von Friedfertigkeit. Die Bühne, die sie dafür errichten, ist die größte Sportanlage der Welt. Von Anfang an ist das Reichssportfeld mit dem Olympiastadion im Mittelpunkt auch als militärischer Aufmarschplatz vorgesehen. Die Bauten, in strengen Achsen angeordnet, nehmen die Gigantomanie des Nürnberger Reichsparteitagsgeländes vorweg. Das Stadion und die kleineren Arenen liegen architektonisch zwischen antikem Tempel und mittelalterlicher Burg. Die Deutschen inszenieren sich als Gralshüter der olympischen Idee über zwei Jahrtausende hinweg.

Wie nah Sport und Krieg für die Nationalsozialisten beieinanderliegen, zeigt sich in der Langemarckhalle unterhalb eines mächtigen Glockenturms. Die Halle – mehr ein Schrein, in dem auch vermeintlich blutgetränkte Erde ausgestellt wird – erinnert an Tausende deutsche Soldaten, die 1914 bei Langemarck in Flandern gefallen sind. Um deren angeblichen Heldentod und ihre Opferbereitschaft ist schon im Ersten Weltkrieg ein Mythos entstanden, an dem die Nazis nun dankbar weiterstricken. In Wahrheit lenkt die sorgsam gepflegte Legende vor allem davon ab, dass die deutschen Generäle damals junge Kriegsfreiwillige ohne ausreichende Ausbildung ins sichere Verderben schickten.

 

Die Bühne ist bereitet, aber noch steht nicht fest, ob Berlin wirklich die Jugend der Welt begrüßen darf. Im Ausland, vor allem in den USA, mehren sich die Stimmen, die einen Boykott der Spiele fordern. Die ›New York Times‹ spielt eine wichtige Rolle, auch der charismatische New Yorker Bürgermeister Fiorello LaGuardia. Hitlers Deutschland ist aus dem Völkerbund ausgetreten und hat vertragswidrig die Wehrpflicht wieder eingeführt; die »Nürnberger Gesetze« sind erlassen, jüdische Geschäfte werden geächtet, Bücher verbrannt, und Anfang März 1936, kurz nach den Winterspielen in Garmisch-Partenkirchen, marschiert die Wehrmacht ins entmilitarisierte Rheinland ein. In allen Teilen des Reiches errichten SA und SS Konzentrationslager. Der US-Botschafter in Berlin warnt, jüdische und schwarze US-Athleten könnten in Deutschland nicht sicher sein. Heinrich Mann, längst in Frankreich im Exil, schreibt in einem Boykottaufruf, Berlin sei »der ungeeignetste Ort auf diesem Planeten, um die Olympiade abzuhalten«.

Internationale Sportfunktionäre stören sich eher daran, dass in Deutschland die Autonomie des Sports aufgehoben wurde. Arbeitersportvereine und jüdische Vereine wurden verboten und aufgelöst, jüdische Sportlerinnen und Sportler aus anderen Klubs ausgeschlossen. 1934 wurde das Vereinswesen ganz dem Deutschen Reichsbund für Leibesübungen eingegliedert. Jugendsport, der ohnehin zunehmend zur Wehrerziehung wird, findet nur noch in der »Hitlerjugend« (HJ) und dem »Bund deutscher Mädel« (BDM) statt. Athleten haben sich nun mit »Kamerad« anzusprechen und mit »Heil Hitler« zu grüßen. »Der deutsche Sport ist für Arier da«, erklärt Reichssportführer Hans von Tschammer und Osten. Vor diesem Hintergrund spitzt sich die Boykottdiskussion auf die Frage zu, ob jüdische Sportler 1936 eine faire Chance erhalten würden, für Deutschland anzutreten. Auch kritische IOC-Mitglieder sorgen sich eher um die Einhaltung ihrer Olympischen Charta als wirklich um das Schicksal der Juden in Deutschland.

Das IOC ist in den Dreißigerjahren eine pseudo-elitäre Runde von Aristokraten und Industriellen, die bei jeder Gelegenheit ihre protzigen Amtsketten tragen. Dass der Antisemitismus unter den hohen Herren grassiert, belegt etwa ein Brief des IOC-Präsidenten Henri de Baillet-Latour an Avery Brundage. »Ich persönlich mag die Juden und ihren Einfluss nicht«, schreibt der Belgier. »Aber ich werde nicht zulassen, dass sie auf irgendeine Weise belästigt werden.« Also verlangt Baillet-Latour von Deutschland eine schriftliche Garantie, dass jüdische Sportler nicht diskriminiert werden.

Avery Brundage unternimmt 1934 eine offizielle Erkundungsmission nach Deutschland, wobei er seinen Bericht angeblich schon vor der Abreise fertig hatte. Er findet nichts dabei, sich ständig von deutschen Sportfunktionären begleiten und sich von ihnen den Dolmetscher stellen zu lassen. Als die Deutschen einräumen müssen, dass Juden in der Tat nicht Mitglied in einem Sportverein sein dürfen, findet Brundage das nicht schlimm: »Auch in meinem Club in Chicago sind Juden nicht erlaubt.« Er ist sich mit den Nazis sehr einig, dass es sich bei der Boykottbewegung um ein politisches Manöver von Juden und Kommunisten handelt. »Gewisse Juden«, sagt er, »müssen endlich verstehen, dass sie die Spiele nicht als Waffe in ihrem Vorgehen gegen die Nazis nutzen können.«

»Seine Geringschätzung für Juden wurde lediglich von seiner Bewunderung für Deutschland übertroffen«, schreiben die Historiker Schiller und Young über Brundage. Zu den Wurzeln dieser Bewunderung hat sich Brundage nie geäußert, aber sie mag damit zu tun haben, dass das Chicago des jungen Avery maßgeblich von deutschen Einwanderern geprägt war. Auch an der Uni soll er sich mit deutschen Themen beschäftigt haben. 1912 bei den Spielen in Stockholm lernte er Karl Ferdinand Halt kennen, einen Mehrkämpfer aus dem Kaiserreich, der in den folgenden Jahrzehnten in Deutschland eine ähnlich steile Funktionärskarriere hinlegte wie Brundage in den USA. 1929 reisten Halt, inzwischen Ritter von Halt, und der deutsche Oberolympier Carl Diem nach Amerika, wo sie auch Brundage trafen. Dieser erkannte in beiden Brüder im Geiste, Fanatiker der olympischen Religion.

Brundages Deutschland-Reise 1934 dient am Ende weniger der Untersuchung antisemitischer Diskriminierung als der Vertiefung seiner privaten Germanophilie. Während andere Amerikaner sich beim Blick auf Europa von den französischen Idealen der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit inspirieren lassen, ist Brundage angetan von »deutschen Tugenden«, von Ordnung, Zucht und Zackigkeit. Wahrscheinlich bekommt der gute Draht ins Reich später zudem eine geschäftliche Komponente: 1938 soll seine Baufirma den Auftrag erhalten, am Neubau der deutschen Botschaft in Washington mitzuwirken, der schließlich wegen des Kriegs ausfällt.

 

Bald ist klar, dass das Schicksal der Berliner Spiele an der Entscheidung des Nationalen Olympischen Komitees der USA hängt. Wenn die Amerikaner sich für einen Boykott entscheiden, werden die Engländer folgen, wahrscheinlich auch Franzosen und einige mehr. Die Welt steht im Sport wie wenig später auch in der Politik vor der Frage, ob man Hitler mit Appeasement im Zaum halten kann – oder ob eine große symbolische Verurteilung unumgänglich ist. Im Rückblick kann man darüber spekulieren, ob ein weitgehender Olympia-Boykott nicht viele Zeitgenossen gezwungen hätte, sich in ihrer Bewertung des Nazi-Regimes ehrlich zu machen.

Doch Avery Brundage ist längst dabei, unter den US-Olympiern eine Mehrheit für die Teilnahme in Berlin zu organisieren. Seine Unterstützer sind nicht alle Antisemiten. Es sind auch viele Funktionäre darunter, die schlicht argumentieren, man dürfe die Sportlerinnen und Sportler nicht des Höhepunkts ihrer Karrieren berauben, so wie es Brundage selbst 1916 passiert ist. »Der amerikanische Athlet darf nicht Märtyrer einer Sache werden, die nicht seine eigene ist«, sagt Brundage. Es gibt sogar schwarze Bürgerrechtler, die darauf hoffen, dass schwarze Athleten mit ihren Siegen in Berlin die nationalsozialistische Rassenideologie widerlegen – unter Hitlers Augen. Sie denken da insbesondere an einen Leichtathleten, der am 25. Mai 1934 bei einem Universitätswettkampf in Ann Arbor innerhalb von 45 Minuten fünf Weltrekorde aufgestellt hat, in der »großartigsten Dreiviertelstunde in der Geschichte des Sports« (›Sports Illustrated‹). Jesse Owens heißt der junge Mann.

Die Nazis wollen ihre Spiele nicht verlieren, zu große Hoffnungen sind damit verbunden. Sie unternehmen einige Feigenblattaktionen, etwa Trainingslager, an denen jüdische Sportler teilnehmen dürfen. Und sie spannen den populärsten deutschen Sportler als diplomatischen Gesandten ein: Max Schmeling, den ehemaligen Boxweltmeister im Schwergewicht, der als Berufsboxer sein Geld in amerikanischen Ringen verdient. Vor dem NOK der USA versichert Schmeling, der als Profi nicht an den Spielen teilnehmen kann, dass schwarze und jüdische Sportler in Deutschland bestens behandelt würden. Nach dem Krieg wird sich Schmeling selbst »grenzenlose Naivität« vorwerfen.

Was jüdische Sportler in der deutschen Mannschaft betrifft, schließt das IOC mit dem deutschen NOK am Ende eine Vereinbarung, die an Heuchelei kaum zu übertreffen ist: Sowohl bei den Winterspielen in Garmisch-Partenkirchen, die keine globale Strahlkraft besitzen, als auch im Sommer in Berlin muss mindestens ein »Halbjude« für Deutschland starten, ein abwertender Begriff für einen Menschen mit einem jüdischen Elternteil. Die Deutschen nominieren für Berlin die Fechterin Helene Mayer, Spitzname »blonde He«, die 1928 in Amsterdam Gold gewann und zum Studium in den USA lebt. Ihr Offenbacher Fechtclub hatte sie vorher hinausgeworfen. Thomas Mann und andere Intellektuelle appellieren an Mayer, den Platz im Olympiakader nicht anzunehmen, doch vergebens. Mayer teilt mit, es sei ihr eine »Ehre«.

Am 21. November 1935 demonstrieren in New York noch einmal mehrere Tausend Menschen für einen Boykott. Doch wenige Tage danach entscheidet sich das amerikanische NOK dagegen – mit der winzigen Mehrheit von zwei Stimmen. Hitler wird seine Spiele bekommen. Für Avery Brundage ist es ein persönlicher Sieg, auch über seinen größten Rivalen in der olympischen Bewegung der USA.

Ernest Lee Jahncke ist IOC-Mitglied, ein New Yorker mit deutschen Wurzeln, der gute Beziehungen zum katholischen Sportverband in Deutschland pflegte, bis dieser verboten wurde. Jahncke war einer der führenden Köpfe der Boykottbewegung. Unter anderem hatte er bei einer Kundgebung mit 3500 Menschen die Olympier aufgerufen, sich auf die Seite Coubertins zu stellen und nicht Hitlers: »Man verfolgt seine Mitbürger nicht, weil sie andere religiöse oder politische Ansichten haben. Die gegenwärtige deutsche Regierung repräsentiert nicht den Geist des deutschen Volkes.« Brundage beklagte im Gegenzug die Vermischung von Sport und Politik – und die Art und Weise, wie sich manche als Richter aufspielten. Kurz vor der Eröffnung der Spiele schließt das IOC sein Mitglied Jahncke aus, ein bis dahin und lange danach einmaliger Vorgang. Offiziell wird ihm vorgeworfen, zu viele Sitzungen verpasst zu haben. Zu seinem Nachfolger wird Avery Brundage gewählt.

Und noch eine Entscheidung trifft das IOC am Vorabend der Spiele von Berlin. Bei der Session im Hotel »Adlon« wird der Olympiaausrichter 1940 gekürt. Tokio setzt sich gegen Helsinki durch. Die Mitglieder des Komitees lassen sich nicht davon abschrecken, dass sich die japanische Expansion in Asien längst hässlich abzeichnet. Bald werden das Bombardement von Shanghai und das Massaker von Nanking dem IOC eine neue Boykottbewegung bescheren. Auch für die Spiele 1944 legen sich die Olympier hinter den Kulissen auf einen Gastgeber fest: Rom und das faschistische Italien Mussolinis. Berlin 1936, das ist kein olympischer Ausrutscher.

Zu den wenigen bekannten Athleten, die wegen ihres persönlichen Protests nicht an den Berliner Spielen teilnehmen, gehören die österreichische Schwimmerin Ruth Langer und zwei Teamkolleginnen von Hakoah Wien. Langer, gerade mal 15 Jahre alt, gilt als Wiener Schwimmwunder und eine Favoritin auf Gold. Wegen »grober Missachtung des olympischen Geistes« wird sie in Österreich lebenslang gesperrt, alle Titel werden ihr aberkannt.

Die nationalsozialistischen Sportfunktionäre haben unterdessen noch einer weiteren jüdischen Sportlerin die Teilnahme in Aussicht gestellt, der deutschen Rekordhalterin im Hochsprung, Gretel Bergmann – als Signal der Entspannung an Washington, weil es Gerüchte gibt, Teile der US-Mannschaft könnten in letzter Minute noch absagen. Als der Dampfer »SS Manhattan« mit der amerikanischen Delegation in New York abgelegt hat, streichen die deutschen Sportfunktionäre Bergmann aus dem Kader.

Kurz bevor in Berlin das olympische Feuer entzündet wird, hält Heinrich Mann im Pariser Exil eine Rede, die eine sehr präzise Voraussage trifft: »Glauben Sie mir, diejenigen der internationalen Sportler, die nach Berlin gehen, werden dort nichts anderes sein als Gladiatoren, Gefangene und Spaßmacher eines Diktators, der sich bereits als Herr dieser Welt fühlt.«

 

Willi Daume hat sich seinen Traum erfüllt, er hat es wirklich zu Olympia geschafft, dummerweise nur nicht in der Sportart, die er am besten beherrscht. Der Fabrikantensohn aus Dortmund, 23 Jahre alt, ist ein hervorragender Handballtorwart, schon in der Jugend war er Mitglied der Westfalenauswahl. Er durfte sich Chancen ausrechnen, 1936 im deutschen Kader zu stehen. Doch dann packte die Sportfunktionäre des Reichs der Ehrgeiz, bei ihren Heimspielen auch in einem Sport eine Mannschaft zu stellen, der in Deutschland noch keine Wurzeln geschlagen hatte: dem Basketball. Daume ist ein guter Hochspringer, 1,83 Meter sind seine Bestleistung, er springt höher, als er gewachsen ist. Beste Voraussetzungen, dachten sich die Funktionäre. Als Daume sich dann auch noch beim Zielwerfen auf eine Bank als treffsicher erwies, wurde er kurzerhand und zwangsweise zum Basketballnationalspieler gemacht.

Er gehörte zu einer Gruppe von Handballern, die 1935 in Breslau, wo ausländische Studenten den Basketball an der Universität eingeführt hatten, innerhalb weniger Wochen umgeschult wurden. Sogar Renato William Jones soll bei einer Visite sein Wohlgefallen ob der Bemühungen der Deutschen geäußert haben. Der Brite Jones hatte 1932 den Internationalen Basketballverband mitgegründet und reiste seitdem als Entwicklungshelfer seines Sports um die Erde. Bei den Akademischen Weltspielen in Budapest bestritt die deutsche Mannschaft dann ihr erstes Turnier. »Wir hatten etwas voreilig von Handball auf Basketball geschlossen und waren enttäuscht, als es für uns wenig zu gewinnen gab«, erinnert sich Daume später. Aber bis zu den Berliner Spielen war ja noch etwas Zeit.

Der turnbegeisterte Vater hatte Willi früh bei Eintracht Dortmund angemeldet, und 1928 nahm er den 15-Jährigen mit nach Amsterdam, auf einen Ausflug zu den Spielen der IX. Olympiade. Daume wird diese Reise als ein Erweckungserlebnis beschreiben, als den Moment, in dem er Olympia verfällt. Noch 60 Jahre später wird er die Medaillengewinner von Amsterdam aufzählen können. Der junge Daume war fasziniert davon, dass sich Sportler aus aller Welt an einem Ort miteinander messen – und dass etwa die uruguayische Fußballauswahl vor seinen Augen die deutsche leichtfüßig mit 4:1 besiegt. Zeitlebens wird er von José Leandro Andrade schwärmen, dem ersten schwarzen Superstar des Fußballs, der Uruguay zu Olympiagold führt und 1930 zur ersten Weltmeisterschaft.

1932 gelang es Daume, inzwischen 19, an der Studienreise einer Handelsschule teilzunehmen – die Reise ging in die USA, und eine Station war Los Angeles, just als dort die Spiele ausgetragen wurden. Er besuchte mehrere Wettbewerbe, und besonders beeindruckte ihn die Schlussfeier, als ihn beim Gedanken an die Heimat, an wirtschaftliche Not und die Nazis vor den Toren eine »unvergessliche Wehmut« überkam, ganz so, als ginge »mit Deutschland etwas zu Ende, was nicht wiederkommt«.

Und jetzt, wo in Deutschland etwas Neues begonnen hat, ist er also selbst ein Olympionike. Er gehört zu den 14 Spielern, die für die Basketballmannschaft nominiert wurden. Bei den Vorbereitungsspielen hat die Mannschaft tatsächlich ihre ersten Siege eingefahren.

 

Das olympische Dorf, das als feste Einrichtung erst 1932 in Los Angeles erfunden wurde, entsteht bei den Berliner Spielen 18 Kilometer westlich des Olympiastadions im brandenburgischen Döberitz. »Dorf des Friedens« nennen die Organisatoren die hübsche grüne Anlage, auch wenn die Nutzung nach Olympia dazu nicht passt: Das olympische Dorf wird zur Wehrmachtskaserne und daher neben einem Truppenübungsplatz gebaut. Deutschland betreibt Aufrüstung im Gewande Olympias. Im »Hindenburghaus«, dem Unterhaltungszentrum des Dorfes, wird den Athleten aus aller Welt der Film ›Der Neuaufbau des deutschen Heeres‹ gezeigt.

Schon vor den Spielen hat das olympische Dorf besondere Gäste: Angehörige der »Legion Condor«, die sich auf ihren Einsatz im Spanischen Bürgerkrieg aufseiten der Faschisten vorbereiten. Noch am 31. Juli, einen Tag vor der Eröffnung der Spiele, werden auf dem Flugplatz Döberitz Truppen nach Spanien verabschiedet.

Die Nazis arbeiten an der dreisten Täuschung der Welt. Während die Athletinnen und Athleten aus 49 Ländern ihre Zimmer im »Dorf des Friedens« beziehen, herrscht bei Oranienburg, keine 40 Kilometer vom Olympiastadion entfernt, hektische Betriebsamkeit auf einer Großbaustelle. Errichtet wird das Konzentrationslager Sachsenhausen. Die Berliner Sinti und Roma sind zum selben Zeitpunkt fast alle verhaftet und im Zwangslager Berlin-Marzahn interniert.

Die Stadt wird für zwei Wochen verkleidet wie für einen finsteren Karneval. Goebbels hat den Berlinern eine Aufgabe gestellt: »Wir müssen charmanter als die Pariser sein, leichtlebiger als die Wiener, lebhafter als die Römer, kosmopolitischer als die Londoner, praktischer als die New Yorker.« Er weiß, dass er da ein wenig nachhelfen muss, und hat die deutsche Presse angewiesen, für die Dauer der Spiele auf rassistische Beleidigungen zu verzichten. Die verglasten Kästen, in denen normalerweise das Hetzblatt ›Der Stürmer‹ aushängt, bleiben leer. Aus den Schaufenstern der Läden werden die »Kein Eintritt für Juden«-Schilder entfernt. Im »Delphi-Palast« darf gespielt werden, was sonst als »entartete Negermusik« verboten ist. Die Buchhandlungen verkaufen wieder Werke von Stefan Zweig und Thomas Mann. Gastwirte werden angehalten, jüdisch aussehende Gäste freundlich zu bewirten. Das US-Magazin ›The Nation‹ schreibt: »Der Tod macht Urlaub«.

Damit solche Einschätzungen die Ausnahme sind, umschmeicheln die Organisatoren die knapp 2000 akkreditierten Journalisten aus 41 Ländern. Ein größeres Medienereignis hat die Welt noch nicht gesehen. Und auch so ein Pressezentrum noch nicht: mit stets dienstbaren Sekretärinnen und Dolmetschern, 50 Fernsprechern, ausreichend Schreibmaschinen und komfortablen Schreibkabinen. Der Rundfunk meldet sich erstmals live von den Wettkampfstätten, im Olympiastadion sind sogar drei Kameras platziert, deren Bilder live in 28 »Fernsehstuben« in Berlin, Potsdam und Leipzig übertragen werden. Die Inspiration für ihre Inszenierung beziehen die Nazis aus den Spielen von Los Angeles vier Jahre zuvor: Dort hatte Hollywood kräftig mitgeholfen, mit der Olympiashow Not und Leid der Großen Depression zu übertünchen.

Die Nazi-Spiele sind sensationell modern, aber die Verantwortlichen unternehmen auch große Anstrengungen, um das antike Griechenland mit dem neuen Deutschland zu verknüpfen. Am 20. Juli erklingt im Heiligen Hain des griechischen Olympia das Horst-Wessel-Lied, die Parteihymne der NSDAP und deutsche Neben-Nationalhymne. Carl Diem, Generalsekretär des Organisationskomitees, hatte ein neues olympisches Ritual geschaffen: den Fackellauf. Die Sonne Griechenlands entzündet das Feuer durch einen Parabolspiegel, danach tragen 3100 Staffelläufer die Fackel in zwölf Tagen über 3075 Kilometer nach Berlin, über Sofia und Belgrad, Budapest, Wien und Prag, wo es Demonstranten gelingt, einem Träger die Fackel aus der Hand zu schlagen. Jeder Läufer absolviert nur einen Kilometer, weil die von Krupp gebauten Fackeln – aus Holz und Stahl in Form eines Ölbaumblatts – nicht länger brennen.

Ein olympisches Feuer hatte es erstmals 1928 in Amsterdam gegeben, die Idee weitergesponnen hatte dann der Archäologe und Sportfunktionär Alfred Schiff: Der bleibendste Beitrag der Nazi-Spiele stammt von einem Juden. Schiff, der Ausgrabungen in Griechenland geleitet hatte und 1896 in Athen als Betreuer dabei gewesen war, ist nun der persönliche Berater des Organisationschefs Diem.

Carl Diem war schon im Kaiserreich und in der Weimarer Republik ein wichtiger Sportfunktionär gewesen, später werden ihn viele den »Vater des deutschen Sports« nennen. In Würzburg geboren, hatte er sich aus kärglichen Verhältnissen hochgearbeitet. Als junger Journalist berichtete er von den Olympischen Zwischenspielen in Athen 1906, stand den deutschen Leichtathleten vor, war 1912 deutscher Missionsleiter in Stockholm und dann zum ersten Mal Organisationschef der Berliner Spiele – der ausgefallenen von 1916. Er führte das Deutsche Sportabzeichen ein und die Reichsjugendwettkämpfe, die Vorläufer der Bundesjugendspiele. 1920 wurde er Gründungsrektor der Deutschen Hochschule für Leibesübungen in Berlin, der ersten Sportuniversität der Welt. Als Hitler an die Macht kommt, verliert Diem diesen Job, weil er eine jüdische Frau hat und sich weigert, in die NSDAP einzutreten. Um die Berliner Olympiavorbereitungen macht er sich aber so verdient, dass die Nazis ihn im Amt belassen. Der Nationalsozialismus wird nicht das letzte politische System sein, mit dem sich Diem behände arrangiert.

Diem versteht sich als treuer Erbverwalter des von ihm verehrten französischen Barons Pierre de Coubertin, der die Olympischen Spiele der Neuzeit als Bollwerk gegen die Verrohung der Sitten in der modernen Industriegesellschaft erfunden hatte. Coubertin war – wie im 19. Jahrhundert viele junge Männer gehobenen Standes – ein Philhellenist, durchdrungen von dem Gedanken, die Werte und Gebräuche einer großen antiken Zivilisation zu bewahren. Er entwickelte eine Art Athletenreligion, in deren Mittelpunkt der ritterliche Wettstreit und ein kultisches Begleitfest stehen. Die weihevolle Atmosphäre sollte Olympia von anderen Sportveranstaltungen unterscheiden und stets betonen, dass Sport nicht nur der Ertüchtigung des Körpers dient, sondern auch der Schulung des Geistes.

Das Fatale ist, dass dieses quasi-religiöse Zeremoniell 1936 ausgerechnet in den Händen der Nazis seine prunkvollste Ausformung erlebt. Es ist Coubertins Zögling Diem, der als Choreograf von Berlin die olympische Liturgie mit den Inszenierungen des Nationalsozialismus amalgamiert. Von ihm kommt auch die Idee, auf dem Reichssportfeld mit einer Pilgerstätte des vermeintlichen Opfertods von Langemarck zu gedenken. Dabei sollte sich in Coubertins Vision die Jugend der Welt eben nicht mehr auf den Schlachtfeldern messen, sondern in den Sportarenen. Oder in der Kunst: Seit 1912 und noch bis 1948 gibt es bei den Spielen auf Coubertins Wunsch Medaillen in den Disziplinen Bildhauerei, Architektur, Literatur, Malerei und Musik. Dennoch lässt sich der alte Baron 1936 von den Nazis praktisch auf dem Sterbebett verführen: Er sei einfach glücklich, dass seine Spiele in Berlin so groß gefeiert würden, sagt er einem französischen Journalisten. Eventuell trägt dazu auch bei, dass Hitler ihm eine »Ehrengabe« von 10000 Reichsmark zuspricht.

50000 Reichsmark wendet Hitler auf, um die Linie von Berlin nach Olympia noch ein wenig zu stärken: Die Summe finanziert neue Ausgrabungen an der historischen Stätte, natürlich unter deutscher Leitung. Und dann wird zu den Spielen in Berlin noch ein besonderer Ehrengast aus Griechenland empfangen: Spyridon Louis, der Schafhirte und Wasserträger, der 1896 in Athen den ersten olympischen Marathon gewann. Eigentlich hatte sich die These, dass Sport mit Politik nichts zu tun habe, schon damals gründlich erledigt. In einer Ode auf Louis, die in allen griechischen Zeitungen gedruckt wurde, hieß es: »Von den Bergen erschallt es bis Marathon: Griechenland ist auferstanden!«

Louis’ weiterer Lebensweg diente im Übrigen als Warnung, wie schnell olympischer Lorbeer verwelken kann: Von all den Schätzen, die dem Helden im nationalen Taumel versprochen worden waren, erhielt er nur einen Pokal und eine Vase. Wegen Dokumentenfälschung saß er ein Jahr im Gefängnis, danach half ihm sein Heimatdorf Marousi mit einer kleinen Rente über die Runden. Aber nun, mit 63 Jahren, hat Spyridon Louis noch einmal einen Moment im Rampenlicht: Er wird von Hitler persönlich geehrt. »Vor 40 Jahren gewann er den ersten Marathonlauf«, schreibt die täglich erscheinende ›Olympia-Zeitung‹ über die Begegnung. »Heute bringt er dem Schirmherrn der XI. Spiele den Gruß seiner Heimat. Der griechische Marathonsieger steht Auge in Auge mit Adolf Hitler. Ein paar Worte als Gruß, die edle Verbeugung eines Bauern, der Stolz im Antlitz Adolf Hitlers.« Sieben Tage lang darf Louis in griechischer Landestracht dem Bildhauer Arno Breker Modell sitzen, den Hitler später in die Liste »gottbegnadeter« Künstler aufnehmen lassen wird.

 

Von der Entzündung der Flamme im Hain von Olympia gibt es zwei Versionen – die Wirklichkeit und die filmische Adaption von Leni Riefenstahl. In der Wirklichkeit kommen an einem klaren Tag in der Ausgrabungsstätte auf der Peloponnes ein paar Dutzend Leute zusammen: deutsche Sportfunktionäre, griechische Politiker, einige antik gewandete Frauen und nicht zuletzt das Kamerateam der jungen Regisseurin Riefenstahl. Im Film gleitet die Kamera zu feierlicher, martialischer Musik durch mystisch vernebelte nächtliche Ruinen, vorbei an prächtigen Statuen, die sich plötzlich in athletische Herrenmenschen und anmutige Tänzerinnen verwandeln. Dann begibt sich der Zuschauer mit den Fackelträgern im Zeitraffer auf den langen Weg nach Berlin, über Bergkämme hinweg und an Küsten entlang, bis die Flamme im bebenden Berliner Olympiastadion eintrifft, wo der Führer und die Jugend der Welt auf sie warten.

Auch die bombastische Eröffnungsfeier ist in Riefenstahls Film noch etwas bombastischer. Der Sport selbst interessiert sie vor allem in einem ästhetischen Sinn, in der Stilisierung von Athletenkörpern in strahlender Sonne oder dunkler Nacht, unterlegt von pathetischen Klängen oder dramatischem Kommentar. Es sind keine Spiele der Freude, die Riefenstahl da zeigt, sondern Spiele von Muskeln und Macht, Spiele der Masse, aus der nur der gottgleich inszenierte Führer herausragt.

»Olympia« hat zwei Teile, »Fest der Völker« und »Fest der Schönheit«, insgesamt vier Stunden. Alles daran ist monumental, auch der Aufwand: 30 Kameraleute, 250 Techniker, 400 Kilometer Film, 500 Stunden Material. Der Schnitt dauert anderthalb Jahre. Riefenstahl filmt aus Luftschiffen und extra ausgehobenen Erdgruben, Athleten von oben, Athleten von unten, sie verlegt Schienen für ihre Kamerawagen und benutzt die besten Objektive.

Möglich ist das alles nur, weil das Propagandaministerium ihr beinahe unerschöpfliche Mittel zur Verfügung stellt. Zum Schein hat man eine unabhängige Produktionsfirma gegründet, aber das Projekt ist eine Herzensangelegenheit für Hitler wie für Goebbels, der die fesche Regisseurin überdies als Frau schätzt, dem Vernehmen nach ein schmerzlich unerwidertes Gefühl. 1932 hatte Riefenstahl im Berliner Sportpalast eine Rede Hitlers gehört und ihn daraufhin brieflich um ein Treffen gebeten. Bei diesem, berichtet Riefenstahl später, habe Hitler ihr Regiedebüt ›Das blaue Licht‹ gelobt und gesagt: »Wenn wir einmal an die Macht kommen, dann müssen Sie meine Filme machen.« Der neue Kontakt und der damit verbundene Zugang zu höchsten Nazikreisen halfen Riefenstahl, aus dem Tanz- und Schauspielfach endgültig in die Regie zu wechseln. Carl Zuckmayer schreibt 1943/44 in einem Dossier für den US-Geheimdienst: »Leni Riefenstahl – die ›Reichsgletscherspalte‹ – auch im Ausland bekannt geworden durch Berg- und Skifilme – schwer hysterische Person – maßlos ehrgeizig. Ihr ist zugutezuhalten, dass sie keine Renegatin ist, sondern immer an Hitler glaubte als an den Erlöser. Ihrer Karriere ist aber die Erlösung gut bekommen.«

Zum Dank dreht sie nun, so wie Hitler sich das vorgestellt hat, seine Filme. ›Triumph des Willens‹ über den NSDAP-Parteitag 1934 ist der ultimative Propagandafilm, ein Monument für Hitler, aber auch ein Meilenstein filmischer Innovation, oder mit den Worten des großen Luis Buñuel: »ideologisch grauenhaft, fantastisch gemacht«. Mit neuen Kameraperspektiven und raffinierten Montagetechniken strebt Riefenstahl nach absoluter Schönheit – und findet sie in braunen Horden und ihrem Führer. Trotzdem überwiegt im Ausland oft die cineastische Begeisterung die moralische Empörung. Bei »Olympia« wird dieser Effekt noch verstärkt zu beobachten sein, weil es nicht um einen deutschen Parteitag geht, sondern um ein universales internationales Sportfest.

Riefenstahls Film wird die Erinnerung an die Spiele von Berlin bestimmen. »Es war kein bloßes Zeugnis des Spektakels, sondern das Spektakel selbst«, schreibt der britische Olympiahistoriker David Goldblatt. Und Riefenstahls Inszenierung gelingt noch mehr: Sie prägt dauerhaft die Optik und die Rituale von Olympischen Spielen, den Fackellauf und die Flaggenparade, den Wettstreit der Nationen, die Beschwörung der Vergangenheit, den Rausch der Masse und die Feier körperlicher Kraft. Faschistische Motive, das werden die Organisatoren der nächsten Spiele auf deutschem Boden feststellen müssen, sind gar nicht so leicht von olympischen zu trennen.

 

Am 1. August 1936 heißen im Berliner Lustgarten 28000 Hitlerjungen das olympische Feuer willkommen. Was kein Besucher mitbekommt: Der erste Tag der Spiele ist auch der Tag, an dem das Allgemeine Heeresamt eine Kalkulation fertigstellt, in der die nötigen Truppenstärken und Rüstungskosten für den Fall eines Kriegsbeginns am 1. Oktober 1939 hochgerechnet werden.

Die Eröffnungsfeier macht die schreckliche Verwandtschaft olympischer und faschistischer Riten offenbar. Zu Beginn kreist der majestätische Zeppelin »Hindenburg« über dem Stadion. Hitler besucht zunächst die Langemarckhalle, an seiner Seite der belgische IOC-Präsident Baillet-Latour. Ins Stadion kommt er über eine breite Freitreppe und in Uniform, ein riesiger Chor singt das Horst-Wessel-Lied. Frenetisch schreien die Zuschauer: »Heil Hitler!« Es kann keinen Zweifel geben, dass dies seine Spiele sind. Auch wenn er in fast vier Stunden nur einen einzigen Satz spricht, immerhin den wichtigsten: »Ich verkünde die Spiele von Berlin zur Feier der 11. Olympiade neuer Zeitrechnung für eröffnet.« Er klingt wie ein triumphierender Feldherr.

Der letzte Fackelläufer ist von Riefenstahl ausgesucht worden, weil er in ihrem Film ein Idealbild des germanischen Athleten abgeben soll. Es ist ein eher unbekannter Leichtathlet, Fritz Schilgen aus Darmstadt – angesichts seiner optischen Vorzüge wird darüber hinweggesehen, dass er sich resolut weigert, der NSDAP beizutreten. Das Kommando »Teilnehmer Marsch!« kündet vom Einzug der Mannschaften. Den Eid der Athleten spricht der bayerische Gewichtheber Rudolf Ismayr, Goldmedaillengewinner von Los Angeles. Er leistet seinen Eid nicht wie üblich auf die olympische Flagge mit den fünf Ringen, sondern auf die mit dem Hakenkreuz.

Carl Diem hat noch einen besonderen Programmpunkt in petto, den Reigen »Olympische Jugend«, der die Lebensreise des Menschen darstellt und in der Szene »Heldenkampf und Totenklage« gipfelt. Zwei Krieger in glänzender Rüstung duellieren sich, sinken zu Boden und werden nach dem Heldentod auf ihren Schilden aus der Arena getragen. Dazu ertönt der Vers: »Allen Spiels / Heiliger Sinn / Vaterlandes / Hochgewinn. Vaterlandes / Höchstgebot / in der Not / Opfertod.«

Viele Teilnehmer und Zuschauer aus dem Ausland lassen sich hinreißen vom pathostriefenden Spektakel der Eröffnungsfeier. »Die Franzosen taten etwas, das niemand von ihnen erwartet hatte«, notiert der Reporter der ›New York Herald Tribune‹, »der Flaggenträger senkte die Fahne vor Hitler, und die ganze französische Mannschaft hob ihre gestreckten Arme zum Nazi-Gruß.«

Für die Nazis geht die Rechnung auch sportlich auf. In der Nationenwertung, die sie eigens erfunden haben (heute etwas neutraler »Medaillenspiegel«), liegt Deutschland mit 33 Mal Gold vorn. Bei den Siegerehrungen werden erstmals die Nationalhymnen gespielt, diesen Wunsch haben die Organisatoren beim IOC durchgesetzt, und bei deutschen Erfolgen noch zusätzlich das Horst-Wessel-Lied. Die Presse bejubelt Triumphe der »nordischen Rasse«. Die deutschen Medaillengewinner strecken allesamt den Arm zum Hitlergruß und schmettern ein »Sieg Heil« ins Stadionrund.

Der Goldmedaillist im Kugelstoßen, der Berliner Hans Woellke, gehört zu den wenigen Sportlern, die Hitler in seine Ehrenloge bittet. Der Führer salutiert vor dem Athleten, der Athlet salutiert vor dem Führer, dann ausgiebiges Händeschütteln. Woellke, eine sehr deutsche Erscheinung, wird in der Presse groß gefeiert. Auch in Leni Riefenstahls Olympiafilm ist er prominent zu sehen. Helene Mayer, die Alibi-Jüdin der Nazis, holt im Fechten Silber. Auch sie hebt den Arm zum Hitlergruß.

 

Im Hockey-Finale von Berlin besiegt das als unschlagbar geltende Indien den Außenseiter Deutschland mit 8:1. Für die Inder ist es das dritte olympische Hockey-Gold in Folge, ein Quell immensen nationalen Stolzes. Noch 1920 in Antwerpen hatte die Kolonialmacht Großbritannien Gold geholt; beim nächsten olympischen Turnier, 1928 in Amsterdam, wurden die Herrscher des Empire von ihren Untertanen entthront. Es begann eine lange Ära der indischen Dominanz im Hockeysport.

Einer der auffälligsten Spieler in der unterlegenen deutschen Mannschaft ist Erwin Keller, ein 31-jähriger Verteidiger vom Berliner Hockey-Club, dem nachgesagt wird, jenseits des Platzes ein rechter Lebemann zu sein. Auf dem Platz ist er vielleicht nicht sonderlich lauffreudig, aber ein echter Könner am Schläger. Seine Frau, Hilde Ackermann-Keller, ist Mittelstürmerin der Damen-Nationalmannschaft. Drei Jahre später, in den ersten Tagen des Zweiten Weltkriegs, bekommen die beiden einen Sohn. Carsten Keller wächst mit dem Schläger in der Hand auf. Die Silbermedaille von 1936 wird der größte Erfolg des deutschen Hockeys bleiben, bis dieser Carsten selbst im Finale eines olympischen Heimturniers steht.

 

Natürlich gibt es in Berlin auch deutsche Pleiten, etwa im Viertelfinale des Fußballturniers, das die Deutschen unter Hitlers Augen 0:2 gegen Norwegen verlieren. Nach allem, was man weiß, ist es das erste und einzige Fußballspiel, das Hitler je besucht. »Ein dramatischer, nervenaufpeitschender Kampf … Der Führer ist ganz erregt …«, notiert Goebbels in seinem Tagebuch. Nach 83 Minuten verwandelt sich Hitlers Erregung offenbar in Zorn, denn er verlässt vorzeitig das Stadion. Reichstrainer Otto Nerz wird entlassen, zum Nachfolger wird sein Assistent ernannt, ein Mann, der seinen Platz in der deutschen Sportgeschichte haben wird: Sepp Herberger. Tags darauf widmet die ›Olympia-Zeitung‹ dem deutschen Ausscheiden exakt null Zeilen, genauso wie den Erfolgen jüdischer Sportler – allein ungarische Juden holen sechs Mal Gold.

So leicht lässt sich freilich ein weiteres Kommunikationsproblem der Propagandisten nicht lösen. Die internationale Presse hat ein Lieblingsmotiv bei diesen Spielen: das symbolische Duell zwischen dem Rassisten Hitler und dem schwarzen Wundersprinter Jesse Owens. Der 22-jährige Amerikaner gewinnt die 100 Meter in überwältigender Manier, der Sieg über 200 Meter wirkt noch müheloser. Zum Horror der Nazi-Strategen spenden 100000 Menschen im Olympiastadion Owens stehend Applaus, so betört sind sie von diesem ebenso eleganten wie kraftvollen Athleten, den die NS-Blätter vor den Spielen als »Affen« verunglimpft haben. »Die Deutschen waren großartig«, wird Owens später sagen. »Sie sahen mich nicht als schwarzen Mann, sondern nur meine Fähigkeiten.« Vier Goldmedaillen nimmt Owens mit nach Hause, und eine von den vier muss er sich äußerst hart verdienen. Es ist der Weitsprung, bei dem den Nazis ihre Inszenierung vollends entgleitet.

Owens hat hier einen ernsthaften Konkurrenten, Luz Long, einen Jurastudenten aus Leipzig, das Ebenbild des deutschen Herrenmenschen. Doch schon während des Wettkampfs ist auffällig, dass die beiden besten Springer gut miteinander können. Hinterher berichtet der Goldmedaillengewinner Owens sogar, dass der Silbermedaillengewinner Long ihm Tipps für den Absprung gab. Als Owens seinen Siegsprung hingelegt hat, läuft Long sofort zu ihm und reißt Owens Arm in Jubelpose nach oben – unter Hitlers Augen, Blickrichtung Führerloge. Nachdem die amerikanische Hymne verklungen ist, verlassen Owens und Long untergehakt das Stadion.

Es ist eine Szene der Verbrüderung, die außerhalb des Stadions in Deutschland undenkbar wäre. Ein Bild, das die beiden Athleten auf dem Rasen des Stadions liegend im Gespräch zeigt, geht um die Welt. Nur in den deutschen Zeitungen wird es nicht abgedruckt. »Es kostete ihn viel Mut, sich vor den Augen Hitlers mit mir anzufreunden«, sagt Owens später über Long. »Hitler