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Provokateur, Macher, Krisenmanager: Diese gründlich recherchierte und vorzüglich geschriebene Biographie leuchtet Charakter, Politikstil und den beispiellosen Aufstieg von Markus Söder aus - Geschrieben von zwei preisgekrönten SZ-Journalisten - Was den starken Mann der CSU antreibt und wie er nach der Macht greift - Wie der bayerische Landespolitiker sich zum Schattenkanzler wandelte"Biografien können trocken und dröge sein – die über Markus Söder ist spannend und süffig zu lesen.", SWR Roman Deininger und Uwe Ritzer folgen den Stationen von Markus Söders steiler Karriere: Von den frühen Erfahrungen des politischen Halbstarken über die Arbeit für Mentor Edmund Stoiber und das Kräftemessen mit Horst Seehofer bis hin zum nationalen Durchbruch als Corona-Krisenmanager. Lange führte der direkte Weg zur Macht für Markus Söder über die Provokation - doch wie kein zweiter versteht es der starke Mann der CSU sich mit zunehmender bundespolitischer Geltung staatsmännisch zu zeigen. Eine atemberaubende Wandlung, die noch lange nicht am Ende zu sein scheint und der Deininger und Ritzer mit genauem Blick und klarer Analyse auf den Grund gehen. Schon die Erstausgabe dieser gefeierten Biografie wurde 2018 begeistert und als definitives Porträt von Markus Söder aufgenommen. Nun aber legen Ritzer und Deininger die umfassend aktualisierte und erweiterte Neuausgabe vor, die beleuchtet, wie Söder in den vergangenen Jahren immer deutlicher zum Schattenkanzler wurde: - 2018: Söder gehört zu den Scharfmachern im Asylstreit mit Angela Merkel und der CDU – und rettet bei der dramatischen Landtagswahl in Bayern seine Karriere - 2019: Mit einer überraschenden Hinwendung zu grüner Politik versucht Söder, sich als Ministerpräsident neu zu erfinden - 2020: Während die Corona-Pandemie auch Deutschland in Atem hält, präsentiert sich Söder als Macher, der plötzlich fabelhafte Zustimmungswerte erreichtDas definitive und kenntnisreiche Porträt von Markus Söder ist ein Muss für jeden, der verstehen will, was den starken Mann der CSU antreibt. ----------------- Pressestimmen "Die Söder-Biographen Roman Deininger und Uwe Ritzer ziehen die Samthandschuhe aus.", Deutschlandfunk "Eine elegant geschriebene Annäherung an Bayerns Ministerpräsidenten, der in den Augen der Autoren auf seltene Weise Schamlosigkeit und Cleverness in einer Person vereint.", Focus "Immerhin drei Menschen hatten in diesem Jahr Glück: Markus Söder, der vom belächelten Provinzheini zur beliebtesten Führungskraft der Union aufstieg, und seine Biografen, die SZ-Autoren Roman Deininger und Uwe Ritzer, die davon profitieren. Völlig zu Recht.", taz "Die Autoren loben den CSU-Vorsitzenden tatsächlich nicht in den Himmel, im Gegenteil: Deininger und Ritzer verfolgen den Weg von Markus Söder seit Jahren – dem neuen Image des bayerischen Ministerpräsidenten trauen sie nicht ganz.", BR "…wunderbarer Prolog (…) gut lesbar und fundiert recherchiert…", Nürnberger Nachrichten ----------------- Über die Erstausgabe 2018 "Wer die Karriere des neuen bayerischen Landesvaters bislang ignoriert hat, wird kein anekdotenreicheres und ausgewogeneres Werk über den Menschen, Politiker und Hundsfregger Markus Söder finden.", Handelsblatt "Deininger und Ritzer haben Söders Karriere sehr genau und kritisch beobachtet und köstlich beschrieben", Süddeutsche Zeitung "Freundlich böse sein können nicht viele. (…) Wer die Söder-Biografie liest, verspürt womöglich ein wohliges Schaudern.", Kontext
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Seitenzahl: 520
Roman Deininger / Uwe Ritzer
Markus Söder - Der Schattenkanzler
Biographie
Knaur e-books
Provokateur, Macher, Krisenmanager: Diese gründlich recherchierte und vorzüglich geschriebene Biographie leuchtet Charakter, Politikstil und den beispiellosen Aufstieg von Markus Söder aus.
Die renommierten SZ-Journalisten Roman Deininger und Uwe Ritzer folgen der steilen Karriere Markus Söders: Von den frühen Erfahrungen des politischen Halbstarken über die Arbeit für Mentor Edmund Stoiber und das Kräftemessen mit Horst Seehofer bis hin zum nationalen Durchbruch als Corona-Krisenmanager. Lange führte der direkte Weg zur Macht für Markus Söder über die Provokation - doch wie kein zweiter versteht es der starke Mann der CSU sich mit zunehmender bundespolitischer Geltung staatsmännisch zu zeigen. Eine atemberaubende Wandlung, die noch lange nicht am Ende zu sein scheint und der Deininger und Ritzer mit genauem Blick und klarer Analyse auf den Grund gehen.
»Biografien können trocken und dröge sein – die über Markus Söder ist spannend und süffig zu lesen.« SWR
»Ein äußerst lesenswertes und kurzweilig geschriebenes Porträt, das vieles erklärt.« ntv
»Wer die Karriere des neuen bayerischen Landesvaters bislang ignoriert hat, wird kein anekdotenreicheres und ausgewogeneres Werk über den Menschen, Politiker und Hundsfregger Markus Söder finden.« Handelsblatt
»Eine herausragende Biographie« Kleine Zeitung
»Deininger und Ritzer haben Söders Karriere sehr genau und kritisch beobachtet und köstlich beschrieben.« Prantls Blick, Heribert Prantl, Süddeutsche Zeitung
Der Märchenkönig
Hat Markus Söder das Zeug zum Kanzler? Diese Frage hat ein Journalist gerade gestellt, und Angela Merkel weiß, dass nun jedes Wort von ihr Schnappatmung auslösen kann im politischen Deutschland. Am zweiten Rednerpult, rechts von dem der Kanzlerin, steht grinsend der Mann, um den es geht: ihr Gastgeber, der bayerische Ministerpräsident Markus Söder. Hinter den beiden, am Ende eines majestätischen Spaliers aus Buchen, glitzert der Chiemsee in der Sonne. Merkel macht sich eine Notiz, als wolle sie Zeit zum Nachdenken gewinnen. Dann sagt sie: »Ja.«
Sofort schiebt sie hinterher, dass dieses »Ja« natürlich die Antwort auf eine zweite offene Frage sei, die der Journalist bei dieser Pressekonferenz gestellt hat – nämlich die, ob Europa eine eigene digitale Infrastruktur brauche. Ja, unbedingt, findet Merkel. Aber für digitale Infrastruktur haben die Journalisten gerade keinen Kopf. Söder, Kanzler, kann der das? Wieder setzt Merkel an.
Es ist der Moment, auf den dieser ganze strahlende Julitag zustrebt. Der See und die Berge, der Dampfer und die Kutsche, der Schlosspark und der Spiegelsaal: alles Kulisse, die weiß-blau-goldene Bühne für – wenn schon nicht eine Märchenhochzeit, dann doch wenigstens ein Jawort. Aber wie das halt oft so ist mit dieser Art Theaterdonner: Es grollt und tost und kracht, aber am Ende schlägt der Blitz nicht ein.
Sie bitte um Verständnis, sagt Merkel, dass sie sich bei der Frage nach ihrem Nachfolger »eine besondere Zurückhaltung auferlege«. Sie könne nur sagen: »Bayern hat einen guten Ministerpräsidenten.« Mehr werde man von ihr dazu nicht hören.
Es ist der 14. Juli 2020, und man sollte, auch wenn es schwerfällt auf der herrlichen Schlosswiese von Herrenchiemsee, kurz die Augen schließen und sich zurückversetzen in den Sommer 2018. Es ist nur zwei klitzekleine Jahre her, dass Söders CSU das Land im erbitterten Asylstreit mit Merkels CDU an den Rand einer Staatskrise rückte. Gleich nach Horst Seehofer galt Söder als Schurke der Nation. Als einer, dem man nicht traut.
Wie komplett grotesk wäre damals die Vorstellung gewesen, dass dieser Söder im Sommer 2020 in sämtlichen Umfragen als aussichtsreichster Anwärter auf Merkels Job gelten könnte. Und dass dieser Zustand auch nur ansatzweise Merkels Billigung finden könnte. Sie sagt zwar nicht »ja« zu einem Unions-Kanzlerkandidaten Söder, aber sie sagt auch nicht »nein«. Und sie adelt ihn mit geradezu royalen Bildern zu zweit.
Ein Dampfschiff hat die beiden zur Herreninsel gebracht, wobei man sich angesichts von Söders aktueller Form fast fragte, warum er nicht einfach übers Wasser läuft. Zum Schloss wurden Merkel und Söder allen Ernstes mit einer Kutsche gefahren, ganz das Königspaar, wobei Söders Leuten der Hinweis wichtig ist, dass die Kutsche nun mal das bevorzugte Verkehrsmittel auf der Insel sei und im Übrigen auch kaum mehr als ein besserer Leiterwagen. Söders Ministern tritt man hoffentlich nicht zu nahe, wenn man feststellt, dass sie vor und nach der Kabinettssitzung, die der formale Anlass für Merkels Besuch war, wie Statisten durch die prächtige Szenerie laufen.
Herrenchiemsee ist ein Ort, an dem Wirklichkeit, Traum und Wahn aufs Trefflichste verschwimmen. König Ludwig II., der Bauherr des Schlosses, wünschte sich ein Klein-Versailles, sein Vorbild war Ludwig XIV., Frankreichs Sonnenkönig. Irgendwann ist dem »Kini« freilich das Geld ausgegangen – all der Marmor, all das Gold, imposant, aber nicht immer echt. Ludwig II. ist hier nie eingezogen, der Ort erzählt von Ehrgeiz und Sehnsucht, aber auch von grandiosem Scheitern.
Sein und Schein, das ist auch in Söders Karriere ein zentrales Thema. Symbolpolitisch ist Söder auf Herrenchiemsee ein Wiederholungstäter. Als bayerischer Finanzminister war er auch »Schlösser-Minister«, es war, als hätte ihm sein damaliger Chef Seehofer einen gigantischen Spielzeugkoffer in die Hand gedrückt. Einmal gab der Minister Söder hier auf der Insel der »Bunten« ein Interview, in dem er erklärte, Seehofer sei selbstverständlich die Nummer eins und bleibe es auch. Für das Foto dazu posierte er im Spiegelsaal, der eine Kopie des Spiegelsaals von Versailles ist, nur noch länger: Markus Söder, gerahmt in Gold. Wenn es nicht der König war, der sich hier dem Volk zeigte, war es auf jeden Fall der Kronprinz.
Und genau das ist ja der Gedanke, an dem selbst der phantasieloseste Zeitgenosse nicht vorbeikommt an diesem möglicherweise denkwürdigen 14. Juli 2020: dass da die Bundeskanzlerin von ihrem Nachfolger empfangen wird. Im Schloss des Märchenkönigs, an der Wiege des Grundgesetzes, das hier 1948 vorformuliert wurde. Markus Söder war nie ein Freund subtiler Botschaften, und wer gedacht hatte, das würde sich mit den Jahren geben, muss jede Hoffnung fahren lassen. Söders Inszenierungen sind jedoch nicht nur plump. Sie sind auch meistens erfolgreich.
Markus Söder ist schamlos, und er ist clever, er ist schamlos clever. Diese furchterregende Kombination hat ihn weit gebracht. Man kennt Söder in Herne und in Husum, auch wenn man ihn lange, sehr lange nicht unbedingt mochte. Er war schon als kleiner Landesminister eine große Provokation, er hat Feinde fast mit Lust gesammelt. Und trotzdem hat er sich nach oben gekämpft, zum Ministerpräsidenten und CSU-Chef. Heute hat Söder auf einmal Freunde, immer mehr Freunde sogar. Er ist endgültig ein Hauptdarsteller im bayerischen Welttheater, das in ganz Deutschland die Zuschauer fesselt. Bloß, welche Rolle er tatsächlich spielen möchte, das ist noch offen.
Politiker wachsen in Ausnahmesituationen oder sie schrumpfen. 1962 wurde der Hamburger Innensenator Helmut Schmidt zum »Herrn der Flut«, der Ruhm trug ihn bis ins Kanzleramt. 2002 spülte das Elbe-Hochwasser den Bundeskanzler Gerhard Schröder zur Wiederwahl. Schmidt im Helikopter, Schröder in Gummistiefeln, Söder mit Schutzmaske: Söder ist in der Corona-Krise gewachsen. Aber macht das Virus Söder auch zum Kanzler? Zum bejubelten Krisenmanager hat es ihn in jedem Fall gemacht und zur nationalen Figur. Daran wird auch die peinliche Panne bei den bayerischen Corona-Tests für Urlaubsrückkehrer nichts ändern, für die Söder im August nicht zu Unrecht viel Häme einstecken muss. Den vormaligen Hallodri und Provokateur nehmen laut Umfragen immer mehr Menschen als Staatsmann wahr – nur Merkel ist noch beliebter. Natürlich hat Söder die Pandemie nicht herbeigebetet. Aber wenn das Virus sein Timing mit irgendwem genauer abgestimmt haben sollte, dann mit Markus Söder.
Schon am Morgen hatte sich am Hafen in Prien eine wohlwollende Menschenmenge zu seiner und Merkels Begrüßung versammelt. Söder entdeckte einen Mann mit einem Pappschild. »Ich kann’s schlecht lesen«, behauptete Söder. Er ging rüber, die Fotografen und Kameraleute natürlich im Schlepptau. Der Mann sagte: »Herr Dr. Söder, Sie waren sehr beeindruckend.« Auf seinem Schild rief er Söder zum Kanzlerkandidaten aus. Eine Sekunde lang wirkte es so, als würde Söder den Filzstift nehmen, den ihm der Mann darbot. Aber wie hätte das ausgesehen? Eine Unterschrift unter der Kanzlerkandidatur, schwarz auf weiß? »Das gibt nur Ärger, wenn ich das jetzt mache«, sagte Söder.
So geht das seit Monaten. Söder sagt ständig: »Mein Platz ist in Bayern.« Er sagt mal dazu, dass er das sehr ernst meint. Aber was er nie sagt: Ich stehe als Kanzlerkandidat nicht zur Verfügung. Stattdessen übt er sich in eindeutiger Uneindeutigkeit: »Nur wer Krisen meistert, hat einen moralischen Führungsanspruch.« Oder: »Ich kann mir gut vorstellen, auch mal in den Norden zu fahren.« Er fängt seine Sätze erst ein, wenn jemand fragt. Führungsanspruch? Er habe die Kanzlerin gemeint, wen sonst. In den Norden? Nur im Urlaub. Söder, 53 Jahre alt, wirkt in diesen Monaten wie ein kleiner Bub, der mit dem brennenden Feuerzeug in der Hand beteuert, er wolle ganz gewiss nichts anzünden.
Es gibt da diesen Satz, den Ludwig II. vor beinahe 150 Jahren seiner Erzieherin schrieb: »Ein ewig’ Rätsel will ich bleiben.« Der Märchenkönig war ein Herrscher, bei dem man nie wusste, ob er wirklich regieren wollte – oder einfach nur glänzen. Bei Söder ist das nun ein klein wenig auch so: Will er wirklich Kanzler sein? Oder will er nur, dass ganz Deutschland in ihm den Mann sieht, der eigentlich Kanzler sein müsste? Wenn Söder und der »Kini« noch etwas gemeinsam haben, dann, dass sich nun auch Söder mit Lust den Schleier der Rätselhaftigkeit überwirft.
Wahrscheinlich weiß Söder in diesem Sommer selbst noch nicht so genau, was er wollen soll. Auch die Parteiahnen Franz Josef Strauß und Edmund Stoiber haben elendig lange gezaudert, bevor sie als Kanzlerkandidat der Union antraten. »Ein ewig’ Rätsel will ich bleiben«, der Satz geht noch weiter: »mir und anderen«.
Vor Corona waren sie in der CSU überzeugt: Markus Söder muss nichts mehr werden. Er ist schon alles, was er jemals werden wollte: Ministerpräsident. Kanzler, das war in seiner Karriereplanung erst mal nicht vorgesehen. Ob das noch gilt? Ein ewiges Rätsel wird Söder nicht bleiben können. In seinem Umfeld geben sie inzwischen zu, dass die Versuchung größer und größer wird. Soll er springen? Die einen sagen, er würde damit alles aufs Spiel setzen, was er in Bayern erreicht hat. Die anderen sagen: Wenn man Kanzler werden kann, muss man Kanzler werden.
Der Schattenkanzler ist er in jedem Fall, der starke Mann der Union. Egal, ob er im Kanzleramt sitzt oder nicht.
Im Fieber
Deutschland wird im Jahr 2020 eigentlich von zwei Pandemien erfasst, eine davon ist das Corona-Virus. Die andere könnte man die »Fränkische Grippe« nennen oder auch das »Söder-Fieber«. In kurzer Zeit infizieren sich viele Millionen Bundesbürger mit dem Söder-Fieber, das bei den Betroffenen zu völlig unerwarteten Ausbrüchen von Begeisterung für die Arbeit des bayerischen Ministerpräsidenten führt. Im ZDF-Politbarometer sagen im Sommer 64 Prozent aller Befragten und 78 Prozent der Unionsanhänger, dass Söder das Zeug zum Bundeskanzler habe. Man wartet fast darauf, dass sich von Garmisch bis Flensburg Selbsthilfegruppen gründen – mit Menschen, die diesen Mann bisher ziemlich uneingeschränkt furchtbar fanden und jetzt entgeistert feststellen, dass sie sich von keinem anderen als ihm durchs Corona-Tal führen lassen wollen. Der »Spiegel« widmet ihm eine achtseitige Titelgeschichte: »Der Erbschleicher«. Unterzeile: »Warum Markus Söder beste Chancen auf die Merkel-Nachfolge hat.«
Bundeskanzler Markus Söder: Das wäre noch vor zwei Jahren höchstens Kabarettisten eingefallen, und auch das nur mit Grausen und einigen geistigen Verrenkungen. Corona, heißt es immer, würde die Welt verändern. In Söders Fall trifft das ohne Zweifel zu. In seiner Karriere hat er schon viele unschöne Etiketten getragen, alle mehr oder minder zurecht: Spaßpolitiker und Ellbogentyp, Ehrgeizling und Egoist, Machtmensch und Scharfmacher.
Von 2003 bis 2007 war er ein selbst für die Verhältnisse seiner Partei rustikaler CSU-Generalsekretär. So machte er sich bekannt, wenngleich nicht beliebt. Danach wurde er bayerischer Europaminister (»bayerischer Außenminister«, wie er das nannte), dann Umweltminister und schließlich Finanzminister. Er nutzte diese Ämter, um auf Staatsmann umzuschulen, doch es war ein quälend langer Prozess ohne befriedigendes Ergebnis. Als er im März 2018 Ministerpräsident wurde, nach einem erbitterten Machtkampf mit Horst Seehofer, sagten selbst in der CSU noch einige, dem Polarisierer Söder hätte man das Land nie anvertrauen dürfen. Nur weniger Monate später, in den dunkelsten Stunden des Asylstreits, schienen sich die schlimmsten Befürchtungen zu bestätigen. Bei seiner rhetorischen Anbiederung an die rechtspopulistische AfD erkundete Söder moralische Grenzregionen.
Dann geschah etwas, was der begabte Erzähler Markus Söder als Geschichte von Einsicht und Umkehr beschreibt. Er schwor der verbalen Zündelei ab, attackierte die AfD mit großer Härte und rettete so bei der dramatischen Landtagswahl 2018 seine Karriere. Eine »politische Nahtoderfahrung« nennt er jenen Wahlkampf im Rückblick. Danach erfand er sich neu: als milder Landesvater und seriöser Bundespolitiker, als Öko-Aktivist und Frauenförderer. Schon das funktionierte ziemlich gut, und man fragte sich: Kann das alles wahr sein? Ist das noch der Mann, der seine politische Lebensreise als einen einzigen Kampf verstand? Dann kam Corona über Deutschland.
Gerade einmal gut zwei Jahre sind seit der Erstausgabe unseres Buches »Markus Söder – Politik und Provokation«, erschienen im April 2018, vergangen. Aber im Leben des Markus Söder ist – genau wie in der bayerischen und deutschen Politik – so viel geschehen, dass eine umfassend aktualisierte und erweiterte Neuausgabe angemessen ist. Markus Söder hat diese Biographie nicht autorisiert und vor ihrem Erscheinen auch nicht gelesen. Er stand uns aber für mehrere lange Gespräche zur Verfügung, bei denen er seine Sicht der Dinge darstellen und zu etwaigen Vorwürfen Stellung nehmen konnte. Für den Bildteil dieses Buches hat er zudem einige Privatfotos zur Verfügung gestellt.
Wenn man 2018 als Journalist Freunden oder Kollegen erzählte, man gehe jetzt zu einem Termin, bei dem Söder – nur so als Beispiel – die Patenschaft für einen Bernhardiner übernehmen wird, schauten einen alle an, als hätte man gesagt, man gehe zur Wurzelbehandlung zum Zahnarzt. Wenn man heute von einem Söder-Termin erzählt (wobei kaum noch patenlose Bernhardiner übrig sind), gucken die meisten aufgeschlossen und sagen, dass der Mann sich ja enorm gewandelt habe und bestimmt auch ein ordentlicher Kanzler wäre.
Was die Wandlung betrifft, haben die Leute natürlich recht, doch gewandelt hat sich nicht nur Söder selbst, sondern auch der Blick auf ihn. Söder war schon immer ein herausragender politischer Handwerker, ein guter Redner und ein witziger Mensch, was viele bloß lange nicht wahrgenommen haben, weil sie sich mit Empörung und Spott über seine Schrecklichkeit begnügten. Söder ist mehr als drei Jahrzehnte in der Politik, aber für viele Deutsche ist er jetzt eine Entdeckung. Manche Neugierige fragen Journalisten nach Söder, wie sie Tierpfleger im Zoo nach einem Panda fragen würden: Wie weich ist das Fell? Braucht er viel Schlaf? Isst er auch gut? Ja, er isst gut, da kann man den Bundesbürgern alle Sorge nehmen. Der Mann vertilgt einen Cheeseburger schneller, als Armin Laschet »Fleischfabrik Tönnies« sagen kann. Selbst Kritiker geben zu, dass Söder als Ministerpräsident deutlich an Statur gewonnen hat.
Wenn man sich zurückversetzt ins Jahr 1994, als der junge Söder mit dem Fahrrad durch seinen ersten Nürnberger Landtagswahlkampf fuhr, ist die Vorstellung, dass er einmal als Kanzler gehandelt werden könnte, gleichermaßen grotesk wie einleuchtend. Grotesk, weil sogar Parteifreunde bei Journalisten Schlange standen, um Söder die charakterliche Eignung für jedwede politische Betätigung abzusprechen. Einleuchtend, weil er alles mitbrachte für eine steile Laufbahn: das Talent, den Fleiß, die Ambition und nicht zuletzt die Härte.
Mit 16 Jahren trat Markus Söder in die CSU ein, über seinem Bett hing ein Plakat von Franz Josef Strauß. Schon damals betrieb er an 365 Tagen im Jahr Politik, fast wie heute von morgens halb sechs bis Mitternacht. Den »Immer-da-Söder« nannten sie ihn bei der Jungen Union, er war immer da, selbst bei der kleinsten Veranstaltung – wenn sie seinem Fortkommen diente. In Nürnberg erzählen sie diese Geschichte: Der junge Wahlkämpfer Söder rief bei einem Kleingartenverein an, er habe da von einem Grillfest gehört. Ob er da nicht das Fass anstechen könne? Die Kleingärtner meinten, das sei ein nettes Angebot, aber man habe beim Grillfest kein Fass. Söder sagte, er werde das Fass mitbringen.
»Blöd, blöder, Söder«, das war vor langer Zeit ein Spruch von Roten und Grünen. Schon da begann das Missverständnis: Söder mag unsympathisch gewesen sein. Aber blöd war er nicht. Er hat immer und überall seine Netzwerke geknüpft, Alliierte für sich gewonnen und Abhängigkeiten geschaffen. Er hat sich in alle seine Ämter schnell eingearbeitet und sich in der Sachpolitik kaum eine Blöße gegeben. Er hat stets auf den eigenen Nutzen geschaut, aber schon auch auf einen Kollateralnutzen fürs ganze Land. Er hat nie aufgehört, an sich zu arbeiten, er hat sich etwa einen Charme angeeignet, der ihm nicht in die Wiege gelegt war.
Als ausgebildeter Fernsehjournalist hat Söder verstanden, dass man mit Bildern Politik machen kann. Söder mit großem Hund, Söder mit kleinem Hund: Er ist ganz alte Schule, aber bei Instagram. Er hat die Gabe, seine Standpunkte in einprägsamen Formeln zu verdichten. Bei ihm haben sogar Faschingskostüme stets eine politische Botschaft. Er ist schmerzfrei, wenn es um billige PR geht und um krasse inhaltliche Vereinfachung, was gewiss keine Tugend ist, aber in der politischen Debatte oft ein Vorteil. Er weiß, dass man absurde Dinge nur oft genug wiederholen muss, bis die Leute sie glauben.
Er erkennt und bedient die Bedürfnisse der Wähler oft früher als andere – Bedürfnisse, aber früher auch Ressentiments. Bevor er sich als Bienen- und Menschenfreund neu erfand, differenzierte er selbst da kaum, wo Differenzierung dringend nötig gewesen wäre, etwa in der Flüchtlingspolitik. Söder ist hochintelligent, aber kein Intellektueller. Bis seine wundersamen Wandlungen einsetzten, sprach er konsequent die sogenannten kleinen Leute an und scherte sich um die großen einfach nicht. Er machte Politik für jene und nur für jene, die ihn wählten. Er machte Beute für Bayern und für niemanden sonst.
Der alte Söder, daran muss man jetzt schon fast erinnern, ließ niemanden kalt, er provozierte Abscheu oder Bewunderung. Für die einen war er ein eiskalter Opportunist, für die anderen ein heißblütiger Konservativer, der aufweckt, statt einzuschläfern. Auf jeden Fall verkörperte Söder wie kaum ein anderer die CSU, deren Faszination sich von jeher auf aufreizende Selbstgewissheit und unverhohlene Rauflust gründet. Er ist Kind und Produkt dieser Partei, er hat ihre Geschichte eingesogen und angenommen. In gewisser Weise rückte der alte Söder die CSU sogar ins Extreme, er merkelte nicht lange umeinander. Er bemühte sich gar nicht erst um rote oder grüne Wähler, er wollte schlicht: die bürgerliche Mehrheit. Er stand für die CSU, die ihre Fans von Herzen lieben, und er stand für die CSU, die ihre Gegner von Herzen hassen.
Söder hat zwar nie – wie der Sozialdemokrat Gerhard Schröder am Zaun des Kanzleramtes – am Tor der Bayerischen Staatskanzlei gerüttelt und gebrüllt: »Ich will da rein.« Aber im Grunde war seine ganze Karriere ein einziges Rütteln und Brüllen. Er ist meistens gegen das Establishment der CSU aufgestiegen, schon als junger Schlaks in Nürnberg gab er den Rebellen in Cowboystiefeln. Er suchte immer den Konflikt, er suchte Gegner. Und er besaß die Robustheit und die Disziplin, sich am Ende durchzusetzen. »Narben sind die Orden der Politik«, das war sein Credo. Ein CSU-Mann hat vor ein paar Jahren gesagt: »Er hat den Schuss Brutalität, der es leichter macht.« Man wird eines Tages dem Politikrentner Söder kaum nachsagen können, dass er an dieser oder jener Wegscheide zu weich gewesen war.
So ist er der Unverhinderbare geworden in der CSU. Mit 27 Jahren zog er als damals jüngster Abgeordneter in den Bayerischen Landtag ein. Mit 36 wurde er Generalsekretär, mit vierzig Minister und mit 51 Ministerpräsident, der jüngste in der bayerischen Nachkriegsgeschichte. Nicht einmal der vergleichbar wehrhafte Horst Seehofer hat ihn aufhalten können, obwohl er es jahrelang fieberhaft versuchte. Markus Söder hat die Macht bekommen, weil er sie mehr wollte als jeder seiner Konkurrenten. Er hat sich seiner Partei und dem Land regelrecht aufgezwungen, bis er am Ziel war: Ministerpräsident, davon hatte er geträumt im Bett unter dem Strauß-Plakat. Aber Ziele ändern sich mit den Möglichkeiten: Wenn ein Ministerpräsident es zum gefühlten Spitzen-Krisenmanager der Nation bringt, dann hat er zumindest auch die Möglichkeit, Bundeskanzler zu werden. Die Möglichkeit: nicht mehr, aber auch nicht weniger.
Jetzt, in der Corona-Krise, bekommt Markus Söder gerade viel Licht ab, aber der Schatten der Vergangenheit ist lang. Der neue Söder bemüht sich redlich, dass der alte Söder in ihm nur noch in ganz feinen Partikeln nachweisbar ist. Über Söders persönliche Abgründe wurde früher viel geraunt, in der CSU und in der bayerischen Verwaltung, etwa über seinen Jähzorn, seine Derbheit und die unangemessene Art, mit der er bisweilen Mitarbeiter und speziell Mitarbeiterinnen behandelt haben soll. Söder, der Rüpel – lange her, sagen seine Unterstützer, der Mann sei heute ein Muster der Selbstbeherrschung. Haben die hässlichen Bilder von einst noch Bedeutung? Sollten sie Bedeutung haben, jetzt, wo Söder das Kanzleramt im Blick hat?
Es bleiben Fragen. Warum hat er das Wort »Asyltourismus« überhaupt in den Mund genommen, bevor er sich korrigierte? Warum hat er seine Liebe zu Bäumen und Bienen erst kürzlich entdeckt? Warum haben ihn »Stil, Anstand und Respekt« nicht schon immer geleitet? Wie viel Relevanz das Gestern besitzt, dieser Grundfrage entrinnt niemand, der sich mit Söder heute beschäftigt. Söder, sagt ein erfahrener CSU-Mann, habe sich für jedes Amt »einen neuen Anzug schneidern lassen«, manchmal sogar für jede politische Großwetterlage. Stets passgenau und ohne Rücksicht darauf, welchen Anzug er vorher getragen hat. Vielleicht hat sich Söder damit ja selbst verwirrt. Vielleicht weiß er gar nicht mehr, was er unter den wechselnden Anzügen getragen hat.
Wenn man auf Söders Laufbahn blickt und seine Positionen zu einem Weltbild zusammennagelt, hat man am Ende ein schiefes Bild. Erst war er ein Cheerleader der Kernkraft, dann ließ er 2011 als Umweltminister praktisch über Nacht den Atommeiler Isar 1 abschalten. Er war hier mal konservativ und dort mal liberal, er warnte hier vor der Scharia und forderte dort sexuelle Toleranz. Im Zweifel hatte, wie immer bei Söder, der Gottvater Strauß das Wort: »Man muss die Grundsätze so hoch hängen, dass man bequem unten durchkann.« Mit Visionen ist Söder jedenfalls noch nie aufgefallen, er macht auch gar keinen Hehl aus seiner Anpassungsfähigkeit, er sieht darin eine Tugend: »Den Wind können wir nicht ändern«, sagt er gern. »Aber wir können das Segel richtig setzen.«
Der Zeitgeist hat es, so wendig er ist, noch selten geschafft, Söders festem Griff zu entkommen. Bayern habe sich verändert, sagt er, sei bunter geworden, also müsse sich auch die CSU verändern. Seit Anfang 2019 ist er ihr Vorsitzender und begreift es als seinen Auftrag, sie unter widrigen Bedingungen als Volkspartei zu erhalten. Dafür will er die CSU nun weiblicher, digitaler, grüner, überhaupt moderner machen. Er sucht seine Mehrheit jetzt so sehr in der Mitte, in der Merkel-Mitte, dass sich auf einmal auch weite Teile der CDU von ihm repräsentiert fühlen. Und angezogen von seiner Stärke. Die Corona-Krise hat ganz akut die Frage aufgeworfen, ob Markus Söder nicht der richtige Typ sein könnte für diese Zeiten. Das heißt nicht unbedingt, dass die große CDU der kleinen CSU die Kanzlerkandidatur überlassen müsste. Aber es heißt, dass Söder in der Bundespolitik zu einem Faktor geworden ist, den niemand mehr ignorieren kann.
Die Union denkt nach über einen Mann mit großen Stärken in der Kommunikation und im Management, einen Mann von fulminantem politischem Instinkt, aber auch von verstörender Flexibilität. Einen Mann mit Hang zur Großsprecherei, an dessen Glaubwürdigkeit es weiterhin Zweifel gibt. Söder hat immer davon geträumt, eines Tages in einer Reihe zu stehen mit seinem Idol Franz Josef Strauß und seinem Mentor Edmund Stoiber. Eines freilich wird er den verehrten CSU-Ahnen eher nicht nachmachen wollen: eine Kanzlerwahl zu verlieren.
Aber um ermessen zu können, wie weit Markus Söder noch kommen kann, muss man erst einmal verstehen, wie er überhaupt so weit kommen konnte.
Lehrjahre eines politisch Halbstarken
Eine Aufstiegserzählung
Nach und nach trudeln sie ein, die meisten huschen erst im letzten Moment in den Bernhardsaal. Muggenhof gehört zu den ungemütlichen Ecken von Nürnberg, manche sagen, es sei ein Viertel zum Durchfahren. Der Bernhardsaal liegt in einem Hinterhof, in dem sich der Lärm der vierspurigen Fürther Straße fängt. An ihr entlang reihten sich einst große Namen des deutschen Wirtschaftswunders wie Perlen an einer Schnur: AEG, Quelle, Triumph-Adler, die Mopedwerke von Zündapp und Hercules. Zwischen all die Fabriken setzten Zisterzienser-Mönche in den Fünfzigerjahren den Bernhardsaal, einen schmucklosen, eingeschossigen Zweckbau mit Flachdach, für die katholische Jugendarbeit in der Pfarrei Zum Heiligen Schutzengel. Mit einer großen Fensterfront seitlich und einem mächtigen Kruzifix vorne an der Wand. Das ist der Ort, an dem eine streitbare, aber unbestreitbar große politische Karriere beginnt.
Es ist der 12. Oktober 1993, ein Dienstag. Die 77 Männer und Frauen, die sich an jenem Abend im Bernhardsaal versammeln, ahnen nicht, dass man sich einmal ihrer Zusammenkunft erinnern wird. Als Delegierte ihrer CSU-Ortsverbände sollen sie den Direktkandidaten der Partei für die Landtagswahl 1994 im Stimmkreis Nürnberg-West nominieren. Der bisherige Amtsinhaber Heinz Leschanowsky ist im Alter von 59 Jahren gestorben. Um seine Nachfolge kandidieren CSU-intern drei Bewerber: Karin Goller, fünfzig Jahre alt und aktiv in der Frauen-Union. Ihr wird nicht der Hauch einer Chance eingeräumt. Ganz im Gegensatz zu Franz Gebhardt, ebenfalls fünfzig Jahre alt, seit 15 Jahren Mitglied des Nürnberger Stadtrates und ein profilierter Kommunalpolitiker. Gebhardt ist der klare Favorit, er weiß das ganze Nürnberger CSU-Establishment hinter sich. Und dann ist da noch ein weiterer Außenseiter: Markus Söder, 27 Jahre alt, Fernsehjournalist. Er hat in der Jungen Union, der CSU-Nachwuchsorganisation, schon für einigen Wirbel gesorgt. Er gilt als ehrgeizig und fleißig, aber auch als etwas unangenehm.
Ein forscher Typ, dieser Söder. Ein paar Jahre zuvor, im Frühjahr 1986, hatte die Nürnberger »Abendzeitung« Abiturienten gefragt, was sie denn anfangen wollen mit ihrem Leben. Fünf von sechs jungen Leuten sagten, was man von Menschen um die zwanzig erwartet. Dass sie erst einmal reisen oder jobben wollen, dass sie hoffen, einen Studienplatz oder eine Lehrstelle zu bekommen. Nur einer redet gleich vom großen Ganzen, als fühle er sich irgendwie dafür zuständig. Für den Abiturienten Markus Söder, 19, gehört beides untrennbar zusammen – der eigene Lebenslauf und der Lauf der Welt. Also diktiert er der Reporterin in den Block: »Zuerst einmal ruft die Bundeswehr. Anschließend werde ich Jura und Geschichte studieren. Mein Berufswunsch ist es, Staatsanwalt oder Angestellter der NATO zu werden. Ich bin der Meinung, dass aufgrund unseres Gesellschaftssystems das Problem der Arbeitslosigkeit in den Griff zu bekommen ist. Man muss nur genügend Engagement für seinen Beruf mitbringen.«
Da spricht einer, der es gar nicht erwarten kann, hineinzuwachsen ins System. 1986 ist das Jahr des Reaktorunglücks in Tschernobyl, europaweit fürchten die Menschen die nukleare Katastrophe. Bei Wackersdorf, nur hundert Kilometer von Nürnberg entfernt, protestieren mehr als 100000 Menschen gegen die geplante atomare Wiederaufbereitungsanlage. Zeitweise kommt es an fast jedem Wochenende zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen meist jungen Kernkraftgegnern und der Polizei. Ökologie und Frieden sind die großen Themen der Zeit, Friedensdemos sind Massenevents.
All das markiert den Mainstream unter Jugendlichen Mitte der Achtzigerjahre. Wer sich politisch engagiert, tut das eher links. Jedenfalls definitiv links von der NATO und der bayerischen Justiz, wo Markus Söder seine Zukunft sieht, der Abiturient vom Albrecht-Dürer-Gymnasium in Nürnberg. Acht Jahre später wird der Journalist Jan Engelhardt im linksalternativen Nürnberger Stadtmagazin »Plärrer« im ersten nennenswerten Söder-Porträt bei dem Jungpolitiker »einen Hang zur Biederkeit« feststellen und von ihm Argumente hören »wie von einem Siebzigjährigen, dem nach einem entbehrungsreichen Leben die Welt gedanklich mehr und mehr aus dem Ruder läuft«.
Markus Thomas Theodor Söder wird am 5. Januar 1967 in Nürnberg geboren. Als Sohn von Max, Jahrgang 1930, und seiner acht Jahre jüngeren Frau Renate Söder. Die Familie lebt im Stadtteil Sündersbühl unweit der Stadtgrenze zu Fürth in einer Doppelhaushälfte, die sie gekauft und ausgebaut hat. Für Max Söder kein Problem, schließlich ist er vom Fach. Dem Maurermeister gehört eine kleine Baufirma. Fünf bis zehn Arbeiter beschäftigt er, je nach Auftragslage, und ist spezialisiert auf Abbruch- und Renovierungsarbeiten. Nach Sündersbühl war die Familie aus der Nürnberger Südstadt gezogen, nachdem Heike geboren und die vorherige Wohnung zu klein geworden war. Heike Söder, das ist Markus’ jüngere Schwester.
Das Wohngebiet, in dem die Söders nun leben, ist damals ein Kleineleuteviertel. Kleine Leute allerdings, die es schon zu etwas gebracht haben und stolz darauf sind. Sie müssen nicht mehr zur Miete wohnen, sie haben ihr eigenes Häuschen, für das die meisten von ihnen hart geschuftet haben. Das ist das Milieu, das den Politiker Markus Söder sein Leben lang prägen wird. Das er auch dann weder vergisst noch abschüttelt, als er längst in Dienstlimousinen chauffiert und von Leibwächtern begleitet wird und mit einer reichen Frau aus bestem Nürnberger Industrieadel in einem großen, schönen Haus lebt, im Osten der Stadt.
Der Politiker Markus Söder macht nicht viel Aufhebens um seinen sozialen Aufstieg, er protzt nicht, nicht mit Kleidung, nicht mit teuren Hobbys, nicht mit fetten Autos. Es heißt, er gehe akribisch mit Abrechnungsbelegen um, trenne selbst bei kleinsten Beträgen penibel zwischen Ausgaben für Privates, Ministeramt und Partei. Er zahle im Zweifel lieber etwas aus eigener Tasche, als sich angreifbar zu machen. Nichts würde er sich weniger verzeihen, als über so einen Fehler zu stolpern. Und er leidet auch nicht erkennbar daran, dass die feine Gesellschaft der vormaligen Reichs- und Kaiserstadt Nürnberg lange mit ihm fremdelt. Die Arrivierten sehen in ihm den Emporkömmling und Straßenkämpfer. Aber um materiellen und sozialen Aufstieg geht es Markus Söder nicht, das ist für ihn nur ein angenehmer Nebeneffekt. Es geht ihm immer um Macht.
Dazu gehört auch die Macht über seine eigene Geschichte. Die Geschichte, die der Politiker Söder mit viel erzählerischer Freiheit Stück für Stück zusammenpuzzelt, ist die vom wundersamen Aufstieg eines Maurersohns aus Nürnberg-West. Wenn man ein wenig Zeit mit ihm verbringt, hört man von ihm vermutlich den Satz: »Der kleine Markus aus der Westvorstadt, und jetzt sitze ich hier als Ministerpräsident.« – »Dafür bin ich dankbar«, sagt Söder. »Das war nicht vorgesehen.« Seinen Weg in die Münchner Staatskanzlei will er besonders gewürdigt sehen, weil er im biederen Sündersbühl begann: »Hier kriegt man nichts geschenkt. Hier gibt es keinen billigen Schnaps.«
Söder tut in Wahlkämpfen alles, um seine Version seiner Geschichte unter die Leute zu bringen. Er will sein Image als Machtmensch korrigieren, deshalb erlaubt er mehr private Einblicke als die meisten anderen deutschen Politiker. Seine Kinder hält er zwar strikt vor der Öffentlichkeit verborgen, aber er spricht über seine Eltern und seine Frau, seinen Glauben und seinen Hund.
Mit Politik hat man im Hause Söder in der Manteuffelstraße wenig am Hut. Sich einmischen bringe nur Ärger, predigt der Großvater mütterlicherseits, ein Autohändler. Geradezu demonstrativ unpolitisch ist die Familie. Es wird nicht groß debattiert, dennoch ist vollkommen klar, dass ein Söder niemals Sozialdemokrat oder – Gott bewahre – Kommunist sein könnte. Markus Söder erzählt die Geschichte, wie er als Bub vom Spielen einmal einen roten Aufkleber heimbrachte, »Willy wählen« stand darauf, es lief der Bundestagswahlkampf 1972. Sein Vater, sagt Söder, habe ihn so richtig ins Gebet genommen: »Seitdem weiß ich: SPD bedeutet Ärger.« Max Söder ist überzeugter CSU-Wähler, Ehefrau Renate ist sogar Mitglied der Partei, wenn auch passiv. Sie wird den Aufstieg ihres Sohnes bis zu ihrem frühen Tod mit mehr Euphorie und Stolz begleiten als der Vater.
Wenn Markus Söder seine Kindheit und Jugend schildert, dann überzieht er die kleinbürgerliche Welt mit weichen Farben. »Ich wuchs sehr behütet auf«, sagt er. Seine Mutter sei eine fürsorgliche und liebevolle Frau gewesen. Seinen Vater habe er »eigentlich immer arbeitend erlebt«. Aber immerhin habe der ihm seine ersten »Fix und Foxi«-Comics geschenkt und ihn die ersten beiden Male ins Fußballstadion »zum Club« mitgenommen, zum 1. FC Nürnberg. Beides, Fan von Comics und vom 1. FC Nürnberg, ist Söder bis heute. Beim »Club« saß er sogar einige Jahre im Aufsichtsrat.
Wer Söders Erzählungen mit den Erinnerungen alter Bekannter, Freunde und Nachbarn abgleicht, erhält ein vielschichtiges, härteres Bild vom Leben im Hause Söder. Dort sind demnach die Rollen klar verteilt, gesellschaftliche Umwälzungen machen vor der Haustür halt. Studentenbewegung und Hippies, überhaupt die neue gesellschaftliche Liberalität, sind auch gedanklich weit, weit weg von Nürnberg-Sündersbühl. Renate Söder, eine gelernte Bankkauffrau, kümmert sich um Familie und Haushalt. Max Söder verlässt frühmorgens nach Kaffee und der Lektüre der Lokalzeitung das Heim in Richtung Betrieb oder Baustelle. Abends kommt er selten vor 19 Uhr nach Hause.
Der Vater ist der Patriarch. »Chef« soll ihn die Mutter genannt haben, wenn sie vor den Kindern über ihn sprach. Es heißt, Max Söder wäre am liebsten Lateinlehrer geworden. Er war selbst Schüler am Dürer-Gymnasium wie später sein Sohn, doch auf ihn warteten – wie auf viele junge Menschen seiner Zeit – unmittelbar nach dem Krieg andere Aufgaben. Nürnberg war zerbombt, was reichlich Aufbauarbeit für den elterlichen Maurerbetrieb bedeutete. Also stieg Max Söder nach der Schule in das Geschäft ein.
»Markus stammt nicht aus so kleinen Verhältnissen, wie er immer behauptet«, sagt einer, der ihn lange kennt. Der Familienbetrieb sei während des Wirtschaftswunders ziemlich gut gelaufen. Nürnbergern sagt man nach, ihre Pelzkragen in protestantischer Bescheidenheit nach innen zu tragen, um nur ja nicht zu zeigen, wie gut es ihnen geht. Auch die Söders führen ihren Wohlstand nicht vor. Unter der Woche wird gearbeitet, am Sonntag geht es hinaus ins Umland. Zu Verwandten, zum Spazierengehen in die Wälder bei Heroldsberg und zum Abendessen im Gasthof »Rotes Ross«, bevorzugt zu fränkischem Sauerbraten oder Stadtwurst. Einmal im Jahr steht Familienurlaub an, in Aschau im Chiemgau und selbstverständlich immer im selben Hotel.
Markus Söder erzählt viel und gerne davon, wie es so mit 16, 17 Jahren bei ihm daheim zuging – über seine Kindheit erzählt er fast nichts. Auch Jugendfreunde und Bekannte geben sich verschlossen. Manche sagen, der kleine Markus sei ein Einzelgänger gewesen, ein Außenseiter gar, pummelig, unsicher, verhätschelt von der gütigen Mutter und streng angefasst vom rauen Vater. Viele Jahre später wird »Die Zeit« frühere Nachbarn zitieren: Der kleine Markus sei auffallend zappelig gewesen, habe sich nie dreckig gemacht, selten mit anderen Kindern gespielt und sich überhaupt um Spielkameraden bemühen müssen.
Ein Rätsel ist bis heute das Verhältnis zu seiner jüngeren Schwester Heike. Lange schon ist sie aus Nürnberg fortgezogen und lebt heute mehrere Hundert Kilometer entfernt. Selbst bei gründlicher Recherche findet man kein Foto der Geschwister, nicht einmal einen Schnappschuss. Nichts deutet darauf hin, dass Heike Anteil nahm oder nimmt an der Karriere des Bruders. Umgekehrt wird Markus Söder – der gern redet und am liebsten über sich selbst – einsilbig, wenn er auf seine Schwester angesprochen wird. Sie habe mit seiner politischen Arbeit nichts zu tun, wolle Privatperson bleiben, und das solle man respektieren. Jede Nachfrage blockt er kategorisch ab. Es gibt alte politische Freunde, die sich nicht daran erinnern, Heike Söder jemals gesprochen zu haben. Andere versichern, sie wüssten nicht, was aus ihr geworden sei. »Er tut manchmal so, als gäbe es Heike gar nicht«, sagt einer.
Weit komplizierter noch als das Verhältnis unter Geschwistern ist bekanntlich jenes zwischen Vätern und Söhnen. Psychologen kennen unzählige Beispiele bedeutender Männer, die als Kinder unter ihren dominanten Vätern litten oder ehrfurchtsvoll zu ihnen aufblickten. Für sie waren die Väter Hassobjekte oder Helden, gegen die sie aufbegehrten oder denen sie es einfach beweisen wollten. Oft mussten diese Söhne hart um die Anerkennung der Alten ringen und litten darunter, dass genug in ihrem Fall nicht genug war, und gut nie gut genug. Es geht da auch um verletzten Stolz, um wechselseitig unerfüllte Erwartungen. Auch bei Markus Söder ist in seinem Verhältnis zum Vater ein Schlüsselthema seines Lebens zu sehen, das naturgemäß in die politische Karriere abstrahlt. Und das zum Teil seinen unbändigen Ehrgeiz und Fleiß, seine Ungeduld und Umtriebigkeit erklären könnte, die ihm keine Ruhe gelassen haben, bis er zum Ministerpräsidenten aufstieg. Söder hat das Bild seines Vaters immer wieder auf Facebook oder Instagram gepostet, er hat ihn in Reden und Interviews erwähnt, ungewöhnlich oft für die Sitten der deutschen Politik, die das Private weitgehend aus dem öffentlichen Raum verbannen.
Für eine besondere Rolle des Vaters spricht auch, dass ein einziger, alter Zeitungsartikel Markus Söder bis heute empört. Zwar kann er sich über negative Medienberichte kolossal aufregen, aber als einer, der gern austeilt, ist er schon auch hart im Nehmen. Bevor er 2020 zum liebsten Krisenmanager der Deutschen aufstieg, musste er ja praktisch pausenlos Unfreundliches über sich lesen, sehen und hören. Söder beteuert, er wandle Angriffe in positive Energie um. Er wolle sich mediale Kritik wirklich nicht auf den Buckel laden, denn dann würde er irgendwann ja gebeugt durchs Leben gehen, sagt er oft. Mit einer Ausnahme: Das »SZ-Magazin« karikierte im Januar 2005 in einem scharfen Beitrag am Beispiel des damaligen Stoiber-Adlaten Söder, »wie man in der bayerischen Staatspartei ganz nach oben kommt«. Die entsprechende »Anleitung in zehn Schritten« war satirisch und ernst zugleich, und sie enthielt eine Passage, die Söder nicht abhaken kann. Es geht ihm da nicht um den boshaften Hinweis auf seine karrierefördernde Heirat mit einer Frau aus bestem Hause – geschenkt. Es geht ihm um einen Halbsatz, sechs Worte, die ihn bis heute auf die Palme treiben: »Ihr Vater nannte Sie einen Taugenichts«, stand da, auf Söder gemünzt. Bodenlos, eine Unverschämtheit, unter Gürtellinie und Geschmacksgrenze, überhaupt das Übelste, was jemals über ihn verbreitet wurde, wütet Söder, wenn das Gespräch darauf kommt. Niemals habe ihn sein Vater für einen Taugenichts gehalten.
Nun gibt es aber Menschen in Nürnberg, die behaupten, der Vater habe im handwerklich unbegabten Sohn zumindest ein Weichei gesehen. Weshalb der Sohn dem dominanten Vater sein Leben lang das Gegenteil beweisen wolle, sogar posthum noch. Max Söder starb 2002, ein Jahr, bevor sein Sohn CSU-Generalsekretär wurde und damit zum Spitzenpolitiker aufstieg. War der Vater womöglich der Grund dafür, dass der Junge irgendwann in der Pubertät den Ehrgeizturbo anwarf und seither Unmengen an Kraft für etwas freisetzt, das dem Vater suspekt war?
Richtig näher kommen sich Vater und Sohn wohl erst in der letzten Lebensphase von Max Söder, als er bettlägerig war. Auf einer Reha hätten er und sein Vater die ersten tiefgründigen Gespräche geführt, sagt Markus Söder. Freunde aus der Jungen Union, die den Halbwüchsigen zu Hause besuchten, beschreiben Max Söder als einen »toughen, handfesten Handwerker vom alten Schlag«. Was in dieser Zeit hieß: Leistung zeigen, etwas aus sich machen, etwas Sichtbares schaffen – das seien Werte gewesen, die im Hause Söder ungeheuer präsent gewesen seien. Der Vater sei keiner gewesen, der lachend mit den Kindern im Garten spielte. Kein Kumpel-Daddy, sondern einer dieser Väter, die den Söhnen vom Wohnzimmersessel aus befahlen, aufzustehen und das Fernsehprogramm umzuschalten. Keiner, der seine Kinder mit seinen Gefühlen wärmte. Sondern eben: der Chef. Viele aus dem Umfeld des Sohnes sagen heute, das sei für den Jungen prägend gewesen.
Ob sich der Patriarch insgeheim tatsächlich wünschte, dass der Sohn ins Baugeschäft einsteigt und die Firma übernimmt, trotz dessen fehlender handwerklicher Begabung? Der Junior selbst erinnert sich nur daran, dass das Baugeschäft vom möglicherweise erstrebenswerten Ziel sogar zum Druckmittel degradiert wird, als die Schulnoten in der achten, neunten Klasse pubertätsbedingt schwanken. »Entweder du schaffst die Schule, oder du gehst auf den Bau«, soll der Vater gesagt haben.
»Er hat mir letztlich beruflich keine Vorgaben gemacht oder gesagt, was ich werden soll. Aber Leistung war ihm wichtig«, sagt Markus Söder. Für ihn selbst – schnell im Kopf und nicht flink mit den Händen – war der elterliche Betrieb nie ernsthaft ein Thema. Max Söder raunzte manchmal mehr oder weniger liebevoll, Markus könne ja mal Pfarrer werden. Oder Politiker, denn die reden ja auch dauernd. Als der Sohn älter wird, so mit 17, 18 Jahren, und das Nachfolgethema erledigt ist, darf Markus bei Familienfeiern schon mal anstelle des wortkargen Vaters kurze Ansprachen halten. Sogar bei der Trauerfeier für den verstorbenen Großvater.
Abseits der Familie stolziert der junge Söder in Jeans, Cowboystiefeln und weiten Hemden durch die Nürnberger Weststadt. Fotos seines damaligen Styles hat der Politiker Söder später gewohnt freigiebig bei Instagram geteilt – zur Begeisterung und zum Entsetzen des Publikums gleichermaßen. Die Cowboystiefel, sagt ein alter Bekannter, habe Söder noch lange getragen, was nicht zwingend nur modische Gründe gehabt haben muss: »Er hat bei der Jungen Union sicher auch Stimmen gekriegt, weil er cooler rüberkam als die anderen.«
Am Wochenende hängt der Teenager Söder im »Dröhnland« ab oder im »Boot«, einem Discoschiff mit ausrangierten Kinosesseln und hölzernen Barhockern, das im Nürnberger Binnenhafen vor Anker liegt. Er ist ein Rockabilly-Typ, der gern alte Rockmusik hört und Neue Deutsche Welle. Mit seinen knapp zwei Metern fällt er auf im »Boot«. Ein Vorteil, den Söder später auch in der Politik zu schätzen weiß: »Ich bin groß gewachsen, mit 1,94 Meter und über hundert Kilogramm erkennt man mich sofort.«
Als Jugendlicher spielt er Tennis, damals der Sport der bürgerlichen Aufsteiger. Fußball soll der Mutter zu gefährlich gewesen sein, zu dreckig vielleicht und womöglich sogar zu proletarisch. Wie Schwester Heike schwingt Markus Söder den Schläger beim ATV Nürnberg, gibt zeitweise sogar Tennisstunden und bringt es immerhin bis in die vierthöchste Liga in Bayern. Natürlich wird Boris Becker einer seiner Helden, der 17-jährige Wimbledon-Sieger des Jahres 1985. Und er hat etwas für den Amerikaner Brad Gilbert übrig, der bekannt dafür ist, seine Gegner zu zermürben. Gilbert wird nach seiner Karriere ein Buch schreiben, es heißt: »Winning Ugly«, hässlich gewinnen.
Ein anderer Held ist Lothar Matthäus, der im Nachbarort Herzogenaurach geborene Mittelfeldmotor der deutschen Fußball-Nationalmannschaft, der auf dem Spielfeld mehr mit Willen und Strategie erreicht als mit Technik und Eleganz. Und dann ist da noch Michael Groß, der vielfache Weltmeister und Olympiasieger im Schwimmen, bewundernd »Albatros« genannt. Kein Idol aber ist so groß wie jenes, dessen Poster sich der Teenager Markus Söder an die Dachschräge über sein Bett hängt: Franz Josef Strauß.
Markus Söder wird später selbst zu Protokoll geben, eine Kundgebung von Franz Josef Strauß am Nürnberger Hauptmarkt sei sein persönlicher politischer Urknall gewesen. Ein Urknall, der ihn direkt in die Politik katapultiert, aus seinem Schülerleben heraus, in dem er es nie zum Klassensprecher bringt und erst recht nicht zu einem der Schülersprecher des Dürer-Gymnasiums. Dafür ist er einfach zu unbeliebt und zu sehr Außenseiter.
Das Gymnasium, 1833 als Gewerbeschule gegründet, liegt zwischen einer Justizvollzugsanstalt, einer Brauerei und dem Pegnitzufer. Das Sagen unter den politisierten Schülerinnen und Schülern haben zu Söders Schulzeit jene mit Palästinensertuch um den Hals, die zu Friedensdemos oder zum Protestieren nach Wackersdorf fahren. Nicht selten argumentativ und intellektuell unterstützt von ihren Lehrern.
Linke Lehrer gehen Markus Söder auf die Nerven, mehr noch als seine Mitschüler. Aber er sieht in diesen Lehrern auch eine Herausforderung, altersmäßig überlegene Kontrahenten, die es in der Diskussion niederzuringen gilt. Sie zwingen ihn, präzise zu argumentieren, seine Positionen klar zu fassen und auch gegen Widerstände zu verteidigen. Gegenwind drückt ihn nicht nieder, Gegenwind richtet ihn auf. Da kämpft einer um Anerkennung, indem er seine Außenseiterrolle pflegt. Da lebt einer am liebsten im Konflikt.
In den letzten Schuljahren bis zum Abitur 1986 findet er sich in einem dauernden ideologischen Wettstreit mit dem linken Mainstream wieder, obwohl »das Dürer« in Nürnberg sicher kein radikalisierter Ort ist. Den Noten nach ist Söder ein Musterschüler. Der »Zeit«-Journalist Henning Sußebach wird drei Jahrzehnte später für ein ausführliches Söder-Porträt einen seiner alten Lehrer besuchen, der dessen »hohes intellektuelles Potenzial« und seine exzellenten schulischen Leistungen über den grünen Klee lobt. Der Söder aber auch »einen Mangel an Empathie« bescheinigt. Am meisten habe sich der Schüler Söder gefreut, wenn zwischen seinem Einser und den Noten der anderen ein möglichst großer Abstand gewesen sei. Die Mitschüler hätten ihn auch nie um Hilfe gebeten, womöglich, weil sie gar nicht erwarteten, dass er ihnen hilft. Von Sußebach darauf angesprochen, sagt Söder, die Darstellung des Lehrers sei Quatsch.
Das Dürer-Gymnasium selbst scheint die Ära des Schülers Markus Söder aus seinen Annalen gestrichen zu haben. Nein, lässt die Schulleitung auf Anfrage mitteilen, es gebe nichts im Archiv, was das Schülerleben des prominenten Absolventen etwas transparenter machen würde. Keinen Jahresbericht, keine Abiturzeitung, nichts. Der Direktor lässt sich gar nicht erst sprechen, und die Reaktionen seiner Mitarbeiter erwecken den Eindruck, dass die Schule sich nicht wirklich damit schmücken möchte, einen späteren Ministerpräsidenten zum Abitur geführt zu haben.
Wie Söder sich der CSU aufzwingt
Markus Söder ist elektrisiert: Sein Held Franz Josef Strauß wird leibhaftig am Nürnberger Hauptmarkt sprechen, dort, wo wenige Wochen zuvor noch die Buden des Christkindlesmarktes standen. Andere in seinem Alter hängen Poster von Popstars, Fußballspielern oder dem Revolutionär Che Guevara in ihr Jugendzimmer. Bei Markus Söder hängt Strauß überm Bett. Jahre später wird er Aufsehen erregen, als er ein Foto aus jener Zeit ins Internet stellt. Im Hintergrund zeigt es Strauß, der vom Poster an der Dachschräge lächelt, und davor den jungen, sauber frisierten Söder in blauem Sakko, weißem Hemd und mit akkurat gebundener Krawatte. Mit einem Finger deutet er auf Strauß, den Daumen der anderen Hand reckt er für die Kamera nach oben.
Strauß kommt an jenem Tag Anfang 1983 als Wahlkämpfer nach Franken. Er wirbt um Stimmen für die vorgezogene Bundestagswahl am 6. März. Markus Söder steht gleich in der ersten Reihe hinter dem Absperrgitter am Hauptmarkt. Schon Stunden vor Beginn ist er da, um sein Idol aus größtmöglicher Nähe zu erleben. Das Wetter ist schlecht, aber das stört ihn nicht. Er ist hibbelig, voller Vorfreude. Wie fast überall, wo der CSU-Chef, bayerische Ministerpräsident und gescheiterte Kanzlerkandidat des Jahres 1980 auftritt, erwarten Strauß allerdings auch in Nürnberg nicht nur glühende Verehrer, sondern viele Gegner, die seinen Auftritt mit Pfiffen, Buhs und Zwischenrufen begleiten. Strauß stachelt das an. Es gehört zum Inventar jeder Strauß-Rede, demonstrierende Gegner als Chaoten, Anarchisten, Linksradikale, Idioten oder Gesindel zu beschimpfen. Ein Ritual, das die Gegner in Rage versetzt und die eigenen Leute noch enger zusammenbringt.
Auch der Teenager in der ersten Reihe jubelt ihm frenetisch zu. Noch Jahre später wird Markus Söder von der »fulminanten Rede« schwärmen, die er an jenem Januartag am Nürnberger Hauptmarkt gehört haben will. Sie hat ihn angefixt, ihm Stichworte für den Kampf gegen Sozis und Grüne geliefert: Ja zur NATO, zur deutschen Wiedervereinigung und zum Bündnispartner USA, nein zur Sozialdemokratie und zu Krawallmachern. Die übliche Strauß-Palette. Wenige Wochen später holt die CSU bei der Bundestagswahl 59,5 Prozent der Stimmen in Bayern. Die Union wird stärkste Partei im Bundestag, regiert weiter mit der FDP, und Helmut Kohl bleibt Kanzler.
Man kann, wie bei Söders Beziehung zum Vater, auch hier spekulieren, weshalb ein Teenager ausgerechnet einen Mann von damals bald siebzig Lebensjahren als Vorbild anhimmelt. Gewiss, Strauß ist seit Jahrzehnten ein Großkaliber der deutschen Politik, das Idol aller Konservativen, autoritär, rücksichtslos, hochgebildet, rhetorisch brillant. Er lässt niemanden gleichgültig, und er kennt beim Durchsetzen seiner Ziele und auch eigener Interessen keine Schranken, wie man heute weiß und damals schon wissen konnte. Mag sein, dass es genau das war, was den jungen Markus Söder beeindruckt hat. Dass da einer war, der allen Anfeindungen zum Trotz stehen blieb. Der sich von Gegnern und Medien nicht umwerfen ließ.
Wenige Tage vor der Kundgebung ist Markus Söder 16 Jahre alt geworden. Alt genug, um nicht nur in die Junge Union (JU), sondern auch die CSU einzutreten. Also geht er ins »Meisterlein«, ein Nürnberger Gasthaus, das auch die JU-Geschäftsstelle beherbergt, und wird Doppelmitglied. In den folgenden Jahren wird er innerhalb der Jungen Union und der Nürnberger CSU einen Aufstieg hinlegen, der sich als Blaupause für seinen späteren Weg an die Spitze des Freistaats erweisen wird. Wie er sich nämlich in der großen Politik nach oben boxt, das wird dem gleichen Drehbuch folgen wie einst in Nürnberg. Unbändiger Fleiß und bedingungsloser Einsatz, ein unglaublich geschicktes Knüpfen von Netzwerken und Seilschaften, ein uneingeschränkter Wille zur Macht und die fast völlige Abwesenheit von Skrupeln: Das sind die Zutaten der Ursuppe, in welcher der Politiker Markus Söder gedeiht.
Und dann ist da noch etwas, eine ganz eigene Spielart von Rebellentum. Söder gehört zunächst weder in Nürnberg noch in München zum Establishment seiner Partei. Er reibt sich an bestehenden Strukturen, er ist immer der stürmische Junge, der die Alten so lange nervt, bis sie endlich den Weg frei machen. Nur ein einziges Mal in seiner Karriere wird Markus Söder ein politisches Amt erhalten, weil er protegiert wird – von CSU-Chef Edmund Stoiber, der ihn 2003 zum CSU-Generalsekretär beruft. Stoiber leistet zwar auch bei späteren Karrieresprüngen Hilfe, aber da nährt sich Söder schon von seiner eigenen Stärke. Die CSU kommt nicht mehr an ihm vorbei. Es ist immer die Parteibasis, die ihn trägt, die er auch lange genug beackert hat dafür. In diese Einsicht wird sich 34 Jahre nach dem Parteieintritt des Markus Söder auch Horst Seehofer fügen, als er 2017 nach einem schier ewigen Machtkampf kapituliert und Söder das Amt des bayerischen Ministerpräsidenten überlässt. Im CSU-Vorstand sitzen zu dieser Zeit viele, die Söder nicht mögen und seinen Politikstil ablehnen. Aber sie kommen nicht an ihm vorbei.
Im Juni 1983 besucht das Neumitglied Markus Söder erstmals eine Hauptversammlung des JU-Ortsverbandes Gostenhof-Schweinau. Der Neuling setzt sich nach hinten – und landet gleich vorne. Als noch Beisitzer für den Vorstand gesucht werden, fragt einer den schlaksigen Neuen, ob er nicht Lust hätte. Natürlich hat er – und wird gewählt. Man ist ja froh um jeden Mann.
JU-Ortsvorsitzender ist damals Peter Dilling, sieben Jahre älter als Markus Söder. Er wird bis heute häufig als dessen »Mentor« bezeichnet, was Dilling mit gemischten Gefühlen hört. »Irgendwie stimmt das schon«, sagt er dreieinhalb Jahrzehnte später. Aber er sei es leid, »ständig auch von CSU-Mitgliedern angesprochen zu werden und den Vorwurf zu hören: Du hast uns den eingebrockt.« Denn Peter Dilling, ein gestandener Mann mit großem politischem Wissen und Interesse, der klar und pointiert zu argumentieren weiß, hat längst mit Markus Söder gebrochen. »Ich halte ihn für einen skrupellosen Machtmenschen, Intriganten und Opportunisten«, sagt Dilling. Und dieser Eindruck gründe sich wesentlich auf Erfahrungen in den Untiefen der Jungen Union Nürnbergs in den Achtziger- und Neunzigerjahren.
Der JU-Ortsverband Gostenhof-Schweinau und der JU-Kreisverband Nürnberg-West werden die erste Spielwiese, auf der Markus Söder sich all das antrainiert, was auch später als Spitzenpolitiker seinen Instrumentenkasten füllen wird. Dass er schon als Teenager eine politische Karriere fest geplant hatte, glauben Weggefährten von damals indes nicht. Die Entscheidung, Berufspolitiker zu werden, war wohl vielmehr ein Prozess über einige Jahre hinweg. Und für Söder doch ein logischer Schritt. Ihn nerven die Friedensbewegten und die Ökos, er findet ihr Nein zum NATO-Doppelbeschluss und ihre Angst vor der Kernkraft schlicht naiv. Sein CSU-Beitritt ist auch ein Schritt der persönlichen Abgrenzung: In der Schule steht er als Strauß-Fan auf einsamem Posten.
Max Söder reagiert reserviert, als er vom Eintritt des Sohnes in JU und CSU erfährt, aber er lässt ihn gewähren. Er hätte es lieber gesehen, wenn sich der Sohn mehr um die Schule kümmern würde. Stattdessen hackt Markus nun in seinem Mansardenzimmer bevorzugt abends politische Texte, Briefe, Pressemitteilungen oder Anträge in eine mechanische Schreibmaschine. Oder er hängt am Telefon. Mobile Apparate gibt es damals noch nicht, aber immerhin verfügt man im Hause Söder über zwei feste Telefone, eines im Büro des Vaters und eines im elterlichen Schlafzimmer. Eines davon nimmt nun ständig der Sohn in Beschlag, um Gespräche über Politik zu führen.
»Die Junge Union war der politische Sandkasten, in dem wir alle übten«, sagt Roland Fleck. Er ist nur wenige Jahre älter als Söder, auch er hat aus der JU heraus Karriere gemacht. Fleck wird später Wirtschaftsreferent in Nürnberg und Chef der Messegesellschaft. Söder fällt ihm schon in JU-Zeiten als umtriebig und fleißig auf. »Markus hat schnell einen Plan für sich entwickelt, wie er in JU und CSU etwas werden kann. Schon damals hat er sich auf die Landesebene konzentriert.«
»Er war bald der Immer-da-Söder«, erinnert sich Peter Dilling. Präsent bei jeder Sitzung, beim JU-Bowlingwettbewerb und auch beim JU-Minigolfturnier. Selbst bei bestem Freibadwetter – auf Söder ist Verlass. Und wenn niemand anderer die Würste für das Grillfest besorgen will, dann macht er das eben. Papiere schreiben, Veranstaltungen organisieren – der Maurersohn ist stets bereit. »Solche Leute waren bei der JU wie in jeder Organisation dünn gesät«, sagt Dilling, froh über den eifrigen Neuling, der einige Male auch seine Schwester Heike mitbringt und sie sogar zur Mitgliedschaft überredet.
In den folgenden Jahren wird Markus Söder Peter Dilling beerben, als Kreisvorsitzender und als Schatzmeister der JU. Jeweils auf Vorschlag von Dilling selbst. Persönliche Freunde seien sie allein schon des Altersunterschiedes von sieben Jahren wegen nicht gewesen, sagt Dilling. »Wir hatten aber ein Vertrauensverhältnis aufgebaut, und ich war überzeugt, dass er ein loyaler Mitstreiter ist. Sonst hätte ich ihn nicht nachgezogen.«
Und fleißig ist dieser Söder ja. Schreibt und verschickt Pressemitteilungen, ruft in der Redaktion der Stadtteilzeitung »Stadtanzeiger« an, um auf Themen und natürlich auch auf sich aufmerksam zu machen. Mit der Zeit erwirbt er sich in der Redaktion den Ruf, nahe an den Menschen im Nürnberger Westen und ihren Problemen zu sein. Auch in der CSU bringt er sich zunehmend ein, und nicht einmal sein erster Abend im Ortsverband St. Leonhard-Schweinau kann ihm den Enthusiasmus rauben.
Die Versammlung findet im »Schloss Egg« statt, einer Arbeiterkneipe. Die CSU tagt dort in einem verrauchten Hinterzimmer, und Söder erlebt zu seinem Entsetzen, wie eine Gruppe fast ausschließlich alter Männer, die laut Tagesordnung die Kindergartensituation in Schweinau diskutieren soll, ziemlich schnell zum Ergebnis kommt, dass der Gaddafi an allem schuld sei, der libysche Diktator. Woraufhin das Neumitglied Söder für sich nur eine Alternative sieht: Sein lassen – oder selber machen. Also legt er los.
Zunächst aber steht noch das Abitur an. Eine lästige Angelegenheit, denn Politik ist jetzt sein großes Hobby. Also hält er im Sozialkunde- und Geschichtsunterricht immer hartnäckiger dagegen, legt sich mit allen an, die links von ihm stehen – also den meisten. Ob in der Schule, bei JU oder CSU – Söder hat am meisten Spaß, wenn er Sozis und Grüne ärgern kann. Je lauter sie aufschreien, desto besser. Für die letzten beiden Jahre am Gymnasium wählt er Mathematik und Geschichte als Leistungskursfächer. Sein Abitur legt er mit Notendurchschnitt 1,3 ab. »Das war harte Arbeit«, sagt er, »in der Mittelstufe sah es noch schlechter aus.« Am Ende der achten Klasse etwa standen am Jahresende vier Vierer (in Mathe, Englisch, Latein und Sport) und kein einziger Einser im Zeugnis. »Verhalten: lobenswert, Mitarbeit: anerkennenswert«.
Die Abifeier schwänzt er, weil gleichzeitig der Arbeitskreis Entwicklungspolitik der JU tagt. Ausgerechnet im »KOMM«, dem linksalternativen Jugendzentrum Nürnbergs gleich gegenüber dem Hauptbahnhof, dessen bloße Namensnennung dem Bürgertum Stresspickel ins Gesicht treibt. Dort eine JU-Veranstaltung abzuhalten, ist die Provokation schlechthin, Ärger mit linken Gruppen vorprogrammiert. Als ein JUler eine Ohrfeige von einem Linken kassiert, rückt die Polizei an. Der junge Söder verbucht die Sache trotzdem als Erfolg. Die Provokation war ja gelungen.
Nach dem Abitur schlägt Söder den Weg ein, den er bei der Umfrage der Nürnberger »Abendzeitung« skizziert hatte. Er tritt seinen Wehrdienst an, den er hauptsächlich beim Transportbataillon 270 in Nürnberg absolviert. Er tauscht Benzinfilter bei schweren Lastwagen und sorgt sich, dass ihm beim Kuppeln eines Zehntonners das Knie wegspringt. Im Nachhinein muss er die Bundeswehr als verlorene Zeit empfunden haben, denn 1989, als er für die Nürnberger CSU-Parteizeitung den damaligen Bundesverteidigungsminister Rupert Scholz (CDU) interviewt, hält er diesem vor, »als Wehrpflichtiger am eigenen Leib erfahren« zu haben, was bei der Armee falsch laufe. Selbstbewusst beklagt er »Mängel in der inneren Führung« sowie bei der »Ausbildung der Rekruten« und mahnt beim Minister »Verbesserungsbedarf« an. Immerhin: Eine Beziehung aus der Zeit »beim Bund« überdauert die Jahrzehnte: Söders Truppenarzt Andreas Zapf wird 2020 als Chef des bayerischen Landesamtes für Gesundheit einer der wichtigsten Ratgeber des Ministerpräsidenten Söder in der Corona-Krise sein.
Nach dem Wehrdienst schreibt sich Markus Söder an der juristischen Fakultät der Friedrich-Alexander-Universität in Erlangen ein und erhält ein Stipendium der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung. Seine Eltern haben ihm nur vorgegeben, dass es kein Studium sein dürfe, das in die Arbeitslosigkeit führe. Jura passt. Umso entsetzter wird Renate Söder später reagieren, als ihr Sohn nach dem ersten Staatsexamen 1992 und einem halben Jahr als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Erlanger Lehrstuhl für Staats-, Verwaltungs- und Kirchenrecht auf Journalismus umsattelt. Am 1. November 1992 beginnt er ein Volontariat, eine Ausbildung zum Rundfunk- und Fernsehredakteur beim Bayerischen Rundfunk (BR).
Nach wie vor ist es aber die Politik, die Söder am meisten fasziniert. Er lernt schnell und viel in jenen Jahren, er verlässt sich nicht auf Parteiführer und -apparat, sondern immer nur auf sich selbst. Und er schlägt erst dann zu, wenn der Moment gekommen ist. Sein Mentor Dilling muss das am eigenen Leib erfahren.
Dilling sagt heute einen Satz, der mit Blick auf eine mögliche Kanzlerkandidatur interessant ist: Söder würde sich niemals in eine politische Schlacht stürzen, wenn er sich nicht sicher sei, diese auch zu gewinnen. Er komme erst aus der Deckung, wenn er keine Niederlage mehr fürchten müsse. Einen eindrucksvollen Beleg für diese Einschätzung liefert Jahre später der Machtkampf mit Horst Seehofer um die Führung in Freistaat und Partei. Söder geht es stets darum, als unentbehrlich dazustehen und als einer, den man nicht verhindern kann. So funktioniert auch sein Aufstieg in der JU und der CSU Nürnbergs. Präsent sein wie kein anderer. Fleißig sein. Die eigenen Leute beeindrucken, motivieren und mitreißen. Verbündete suchen. Netzwerke knüpfen und Koalitionen schmieden. Loyalitäten und Abhängigkeiten schaffen. Mögliche Gegner kaltstellen, sobald sie einen Moment der Schwäche zeigen. Öffentlich um jeden Preis auffallen. Den Populisten geben, Themen hochziehen nur für die PR. Ungeniert Provokationen wagen und so Bewunderer gewinnen. Und auch Feinde sind in diesem Kosmos wichtig, denn viel Feind bedeutet bekanntlich viel Ehr’. Feinde hat Söder immer in seiner Karriere. Aber was ist mit Freunden? Kann er so was überhaupt: Freundschaft?
Die Suche nach Menschen, die sich ohne jeden Vorbehalt als Freunde von Markus Söder bezeichnen, gerät für dieses Buch schwierig. Die Zahl ist klein, sehr klein. Söder widerspricht und verweist auf seltene, aber regelmäßige Treffen mit alten Freunden aus JU oder Bundeswehr, die heute teilweise weit weg wohnen. Auch sein Schwiegervater, der 2017 gestorbene Unternehmer Günter Baumüller, sei ein väterlicher Freund gewesen. Er nennt auf Nachfrage auch Namen, doch nicht jeder der Betreffenden mag sich über den vermeintlich engen Kumpel äußern, und schon gar nicht öffentlich.