Die Splitter der Macht - Brandon Sanderson - E-Book
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Die Splitter der Macht E-Book

Brandon Sanderson

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Beschreibung

Hoch in den Bergen liegt die sagenumwobene Stadt Urithiru, erreichbar nur über die zwölf Eidtore. Hier versucht die junge Edelfrau Schallan Davar die Geheimnisse der uralten Ordensgemeinschaften zu entschlüsseln, die sich einst die Strahlenden Ritter nannten. Nur mit ihrer Hilfe können die Eidtore benutzt werden, und nur ihre Splitterklingen verleihen den Strahlenden übermenschliche Fähigkeiten. Aber wer waren sie wirklich, und warum wurden sie einst aufgelöst? Während Schallan nach Antworten sucht, die bei der Neugründung der Orden helfen können, begreift Fürst Dalinar, dass seine Vision, die Fürsten des Königreichs Alethkar wieder zu einen, noch viel zu klein gedacht war. Nicht nur die Alethi, sondern alle Völker von Roschar müssen vereint werden, denn es droht die alles verheerende Wüstwerdung und damit das Ende von ganz Roschar. Doch ein finsterer Schatten liegt auf dieser Hoffnung – Fürst Dalinars eigene, blutbefleckte Vergangenheit …

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Seitenzahl: 1382

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Das Buch

Hoch in den Bergen liegt die sagenumwobene Stadt Urithiru, erreichbar nur über die zwölf Eidtore. Hier versucht die junge Edelfrau Schallan Davar die Geheimnisse der uralten Ordensgemeinschaften zu entschlüsseln, die sich einst die Strahlenden Ritter nannten. Nur mit ihrer Hilfe können die Eidtore benutzt werden, und nur ihre Splitterklingen verleihen den Strahlenden übermenschliche Fähigkeiten. Aber wer waren sie wirklich, und warum wurden sie einst aufgelöst? Während Schallan nach Antworten sucht, die bei der Neugründung der Orden helfen können, begreift Fürst Dalinar, dass seine Vision, die Fürsten des Königreichs Alethkar wieder zu einen, noch viel zu klein gedacht war. Nicht nur die Alethi, sondern alle Völker von Roschar müssen vereint werden, denn es droht die alles verheerende Wüstwerdung und damit das Ende von ganz Roschar. Doch ein finsterer Schatten liegt auf dieser Hoffnung – Fürst Dalinars eigene, blutbefleckte Vergangenheit …

Der Autor

Brandon Sanderson, 1975 in Nebraska geboren, schreibt seit seiner Schulzeit fantastische Geschichten. Er studierte Englische Literatur und unterrichtet Kreatives Schreiben. Sein Debütroman »Elantris« avancierte in Amerika auf Anhieb zum Bestseller. Seit seiner Steelheart-Trilogie und den epischen Sturmlicht-Chroniken ist Brandon Sanderson auch in Deutschland einer der großen Stars der Fantasy. Brandon Sanderson lebt mit seiner Familie in Provo, Utah.

Die Sturmlicht-Chroniken

SECHSTER ROMAN

Aus dem Amerikanischen vonMichael Siefener

Die Originalausgabe ist unter dem Titel

Oathbringer – Book Three of The Stormlight Archive (Part II)

bei Tor/Tom Doherty Associates, LLC, New York, erschienen.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Copyright © 2017 by Dragonsteel Entertainment, LLC

Copyright © 2019 der deutschsprachigen Ausgabeby Wilhelm Heyne Verlag, München,in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Joern Rauser

Illustrationen und Karten: Dan dos Santos, Ben McSweeney,Miranda Meeks, Kelley Harris, Isaac Stewart, Howard Lyon

Coverillustration: Federico Musetti

Covergestaltung: Nele Schütz Design, München

Satz: Schaber Datentechnik, Austria

ISBN 978-3-641-17518-4V004

www.brandon-sanderson.de

Für Alan Layton,

der Dalinar (und mich) bejubelt hat,

bevor das Sturmlicht überhaupt existierte

VORWORT UND DANKSAGUNG

Willkommen bei »Oathbringer«, zu Deutsch »Der Ruf der Klingen« und »Die Splitter der Macht«! Es hat lange gedauert, dieses Buch zu schreiben. Haben Sie herzlichen Dank für Ihre Geduld. Die Sturmlicht-Chroniken sind ein gewaltiges Unternehmen – was Sie auch an der langen Dankesliste von Personen weiter unten ablesen können.

Falls Sie nicht die Möglichkeit hatten, »Edgedancer« zu lesen – eine einzelne Sturmlicht-Erzählung, die zwischen dem zweiten und dem dritten Buch angesiedelt ist –, möchte ich sie Ihnen hiermit empfehlen. Sie ist entweder als Einzelveröffentlichung oder in dem Sammelband »Arcanum Unbounded« zu finden, in dem Novellen und Geschichten aus dem ganzen Kosmeer versammelt sind (das ist das Universum, in dem diese Reihe sowie die Nebelgeborenen-Saga, »Elantris«, »Sturmklänge« und andere Bücher spielen).

Nichtsdestotrotz ist jede Reihe so geschrieben, dass sie eigenständig gelesen und genossen werden kann, ohne dass man die anderen Reihen oder Bücher kennen muss. Wenn es Sie interessiert, können Sie eine längere Erklärung auf brandonsanderson.com/cosmere finden.

Und nun zur Parade der Namen! Wie ich schon oft gesagt habe, steht zwar mein Name auf dem Umschlag, aber es gibt unzählige Personen, die dabei geholfen haben, diese Bücher zu Ihnen zu bringen. Sie haben meinen – und Ihren – herzlichsten Dank verdient, weil sie während der drei Jahre, die ich an diesem Roman geschrieben habe, unermüdlich daran mitgearbeitet haben.

Mein Hauptagent für diese Bücher (und alles andere) ist der wunderbare Joshua Bilmes von JABberwocky. Andere Mitarbeiter der Agentur, die sich ebenfalls damit beschäftigt haben, waren Brady McReynolds, Krystyna Lopez und Rebecca Eskildsen. Ein besonderer Dank geht an John Berlyne, meinen Agenten von Zeno in England, zusammen mit all den Subagenten, die auf der ganzen Welt für uns arbeiten.

Mein Lektor bei Tor war für dieses Projekt der wie immer brillante Moshe Feder. Besonderer Dank gebührt Tom Doherty, der schon seit Jahren an das Sturmlicht-Projekt glaubt, und an Devi Pillai, die während der Entstehung des Romans wesentliche Hilfe bei Lektorat und Veröffentlichung geleistet hat.

Weitere hilfreiche Personen bei Tor waren Robert Davis, Melissa Singer, Rachel Bass und Patty Garcia. Karl Gold war unser Herstellungsleiter und Nathan Weaver der Projektleiter, während Meryl Gross und Rafal Gibek für die Produktion verantwortlich waren. Irene Gallo war die künstlerische Leiterin, Michael Whelan hat den (Original-)Umschlag entworfen, von Greg Collins stammen die Innenillustrationen, und Carly Sommerstein war die Korrektorin.

Bei meinem englischen Verleger Gollancz/Orion geht ein Dank an Gillian Redfearn, Stevie Finegan und Charlotte Clay.

Der Redakteur des Buches war Terry McGarry, der schon bei vielen meiner Romane ausgezeichnete Arbeit geleistet hat. Das E-Book wurde von Victoria Wallis und Caitlin Buckley bei Macmillan betreut.

Viele Leute aus meiner eigenen Firma haben lange an der Produktion gearbeitet. Ein Sturmlicht-Roman ist jedes Mal ein entscheidendes und einschneidendes Ereignis hier bei Dragonsteel, darum sollten Sie dem ganzen Team zujubeln (oder, in Peters Fall, ihm ein großes Stück Käse geben), falls Sie ihnen einmal begegnen. Unsere Managerin und Geschäftsführerin ist meine wunderbare Frau Emily Sanderson. Der Vizepräsident und Redaktionsleiter ist der stets so beharrliche Peter Ahlstrom. Künstlerischer Leiter ist Isaac Stewart.

Unsere Versandleiterin (und damit diejenige, die all Ihre signierten Bücher und T-Shirts verschickt, wenn sie über den brandonsanderson.com-Store bestellt wurden) ist Kara Stewart. Karen Ahlstrom ist für unser Continuity-Wiki verantwortlich. Mein persönlicher Assistent und Marketing-Direktor ist Adam Horne. Emilys Assistentin ist Kathleen Dorsey Sanderson, und Emily »Mem« Grange ist die Aushilfe.

Das Hörbuch wurde von meinen bevorzugten Sprechern Michael Kramer und Kate Reading eingelesen. Vielen Dank, ihr beiden, dafür, dass ihr Zeit dafür gefunden habt!

»Der Ruf der Klingen« und »Die Splitter der Macht« führen die Tradition fort, das Sturmlicht-Archiv mit wunderbarer Kunst zu füllen. Wieder haben wir eine fantastische Umschlagillustration von Michael Whelan, dessen Detailgenauigkeit uns ein erstaunlich konkretes Bild von Jasnah Kholin schenkt. Es gefällt mir, dass sie einen Platz zum Leuchten auf diesem Umschlag hat, und ich bin dankbar und fühle mich geehrt, dass Michael sich so viel Zeit außerhalb von seiner Galeriearbeit nimmt, um die Welt von Roschar zu malen.

Es bedarf etlicher Künstler, um die verschiedenen Stile zu erschaffen, die in den Ephemera einer anderen Welt gefunden werden, und diesmal haben wir sogar mit noch mehr Künstlern gearbeitet als je zuvor. Dan dos Santos und Howard Lyon sind für die Gemälde von den Herolden auf dem Vorsatzpapier verantwortlich. Ich wollte, dass ihr Stil die klassischen Gemälde der Renaissance und der späteren Romantik nachahmt, und sowohl Dan als auch Howard haben unsere Erwartungen übertroffen. Diese Bilder sind nicht nur große Buchillustrationen, sondern erstaunliche Kunstwerke, die einen Platz in jeder Galerie verdient haben.

Ich sollte noch anfügen, dass Dan und Howard ihr Talent auch auf die Innengestaltung verwendet haben, wofür ich sehr dankbar bin. Dans Modebilder sind so gut, dass sie ebenso den Umschlag hätten zieren können, und Howards Vignetten für einige Kapitel hoffe ich in den folgenden Bänden wiederzusehen.

Ben McSweeney hat sich ein weiteres Mal zu uns gesellt und neun Zeichnungen aus Schallans Skizzenblock beigesteuert. Obwohl er vom einen Ende des Landes zum anderen umgezogen ist, einen anstrengenden Beruf hat und sich um die Bedürfnisse seiner wachsenden Familie kümmern muss, hat Ben dennoch überragende Illustrationen abgeliefert. Er ist ein großer Künstler und ein wunderbarer Mensch.

Weiterhin haben Miranda Meeks und Kelley Harris ganzseitige Illustrationen für diesen Band angefertigt. Beide haben schon früher großartige Arbeit für uns geleistet, und ich bin mir sicher, dass Sie sie genauso lieben werden wie ich.

Außerdem hat uns eine Vielzahl von großartigen Menschen hinter der Bühne als Berater geholfen oder andere Elemente der Kunst in diesem Buch ermöglicht: die David Rumsey Map Collection, Brent von Woodsounds Flutes, Angie und Michelle von Two Tone Press, Emily Dunlay, David und Doris Stewart, Shari Lyon, Payden McRoberts und Greg Davidson.

Meine Schreibgruppe zu »Oathbringer« (sie lesen jede Woche Einsendungen, die fünf- bis achtmal so umfangreich wie gewöhnliche Texte sind) bestand aus Karen Ahlstrom, Peter Ahlstrom, Emily Sanderson, Eric James Stone, Darci Stone, Ben Olsen, Kaylynn Zo-Bell, Kathleen Dorsey Sanderson, Alan »Leyten von Brücke Vier« Layton, Ethan »Narb von Brücke Vier« Skarstedt und außerdem Ben »Steckt mich nicht in Brücke Vier« Olsen.

Ein besonderer Dank geht an Chris »Jon« King für seine Rückmeldungen zu einigen besonders kniffligen Szenen um Teft, Will Hoyum für seinen Rat zur Querschnittslähmung und Mi’chelle Walker für ihren besonderen Rat zu jenen Szenen, in denen es um Fragen der geistigen Gesundheit geht.

Beta-Leser waren (tief Luft holen) Aaron Biggs, Aaron Ford, Adam Hussey, Austin Hussey, Alice Arneson, Alyx Hoge, Aubree Pham, Bao Pham, Becca Horn Reppert, Bob Kluttz, Brandon Cole, Darci Cole, Brian T. Hill, Chris »Jon« King, Chris Kluwe, Cory Aitchison, David Behrens, Deana Covel Whitney, Eric Lake, Gary Singer, Ian McNatt, Jessica Ashcraft, Joel Phillips, Jory Phillips, Josh Walker, Mi’chelle Walker, Kalyani Poluri, Rahul Pantula, Kellyn Neumann, Kristina Kugler, Lyndsey »Lyn« Luther, Mark Lindberg, Marnie Peterson, Matt Wiens, Megan Kanne, Nathan »Natam« Goodrich, Nikki Ramsay, Paige Vest, Paul Christopher, Randy MacKay, Ravi Persaud, Richard Fife, Ross Newberry, Ryan »Drehy« Dreher Scott, Sarah »Saphy« Hansen, Sarah Fletcher, Shivam Bhatt, Steve Godecke, Ted Herman, Trae Cooper und William Juan.

Unsere Kommentarkoordinatoren für die Beta-Leser waren Kristina Kugler und Kellyn Neumann.

Unsere Gamma-Leser waren viele der Beta-Leser und zusätzlich: Benjamin R. Black, Chris »Gunner« McGrath, Christi Jacobsen, Corbett Rubert, Richard Rubert, Dr. Daniel Strange, David Han-Ting Chow, Donald Mustard III, Eric Warrington, Jared Gerlach, Jareth Greef, Yesse Y. Horne, Joshua Combs, Justin Koford, Kendra Wilson, Kerry Morgan, Lindsey Andrus, Lingting Xu, Loggins Merrill, Marci Stringham, Matt Hatch, Scott Escujuri, Stephen Stinnett und Tyson Thorpe.

Wie Sie sehen können, ist ein Buch wie das vorliegende ein gewaltiges Unternehmen. Ohne die Bemühungen dieser vielen Menschen würden Sie ein ganz ganz anderes Buch in den Händen halten.

Wie immer geht mein letzter Dank an meine Familie: an Emily Sanderson, Joel Sanderson, Dallin Sanderson und Oliver Sanderson. Sie ertragen einen Ehemann/Vater, der sich oft in einer anderen Welt befindet und über Großstürme und Strahlende Ritter nachdenkt.

Schließlich danke ich aber auch Ihnen allen für Ihre Unterstützung dieser Bücher! Sie kommen nicht immer so schnell aus mir heraus, wie ich es mir wünschte. Das liegt teilweise daran, dass ich sie so vollkommen haben möchte, wie es irgend möglich ist. Sie halten einen Band in Ihren Händen, den ich fast zwei Jahrzehnte lang vorbereitet, skizziert, auf- und umgeschrieben habe. Genießen Sie Ihre Zeit in Roschar.

Reise vor Ziel.

INHALT

Prolog: Diese gehört mir

ERSTER TEIL:Der Wahrheit trotzen, die Wahrheit lieben

Zwischenspiele

ZWEITER TEIL:Widerstand! Gesang des Beginns!

Zwischenspiele

DRITTER TEIL: Neue Einheit

Epilog: Große Kunst

Schlussbemerkung

Ars Arcanum

ILLUSTRATIONEN

Anmerkung:Viele Illustrationen einschließlich der Beschriftungen enthalten Hinweise auf Ereignisse, die zuvor im Text beschrieben wurden. Wenn Sie die Bilder vor dem Lesen betrachten, geschieht das auf Ihr eigenes Risiko.

Karte von Roschar

Blatt: Zeitgenössische thaylenische Damenmode

Karte von Kholinar

Schallans Skizzenbuch: Kholinar-Sprengsel

Seite aus Mythica: Die Ergreiferin der Geheimnisse

Ein Teil des Meeres der Verlorenen Lichter

Weine aus Roschar

Schallans Skizzenbuch: Mandras

Navanis Notizbuch: Armschiene

Schallans Skizzenbuch: Schadesmar-Sprengsel

Schallans Skizzenbuch: Eidtor-Sprengsel

Karte von Thaylen-Stadt

Venli war entschlossen, sich der Macht als würdig zu erweisen. Sie begab sich zu den anderen, einer kleinen Gruppe, die aus den verbliebenen Lauschern ausgewählt worden war, und bereitete sich auf den kommenden Sturm vor.

Sie wusste nicht, ob Ulim oder seine Phantommeister, die uralten Götter der Lauscher, ihre Gedanken lesen konnten. Wenn es aber möglich war, dann würde sich daraus nur ergeben, dass sie sich loyal verhielt.

Es herrschte Krieg, und Venli kämpfte in der Vorhut. Sie hatte die ersten Leersprengsel entdeckt. Sie hatte die Sturmform entdeckt. Sie hatte ihr Volk erlöst. Sie war gesegnet.

Der heutige Tag würde es beweisen. Aus den zweitausend Überlebenden der Lauscher waren neun ausgewählt worden, einschließlich Venli. Neben ihr stand Demid mit einem breiten Grinsen auf dem Gesicht. Er liebte es, neue Dinge zu erlernen, und der Sturm war nur ein weiteres Abenteuer für ihn. Ihnen war etwas Großes versprochen worden.

Siehst du, Eschonai?, dachte Venli. Siehst du, was wir tun können, wenn du uns nicht andauernd zurückhältst?

»In Ordnung, ja, gut so«, sagte Ulim, der sich als eine vibrierende rote Energie über den Boden kräuselte. »Gut, gut. Alle in einer Reihe. Bleibt nach Westen ausgerichtet.«

»Sollen wir vor dem Sturm Schutz suchen?«, fragte Melu im Rhythmus des Schmerzes. »Oder Schilde tragen?«

Vor ihnen nahm Ulim die Gestalt einer kleinen Person an. »Mach dich nicht lächerlich. Das ist unser Sturm. Ihr habt nichts zu befürchten.«

»Und er wird uns zur Macht verhelfen«, erklärte Venli. »Wird diese Macht die der Sturmform noch übersteigen?«

»Große Macht«, sagte Ulim. »Ihr seid auserwählt. Ihr seid etwas Besonderes. Aber ihr müsst diese Gelegenheit wahrnehmen. Heißt sie willkommen. Ihr müsst sie wollen. Andernfalls werden die Mächte nicht in der Lage sein, einen Platz in euren Edelsteinherzen einzunehmen.«

Venli hatte so viel gelitten, aber das hier war ihre Belohnung. Sie hatte keine Lust mehr, in menschlicher Unterdrückung zu leben. Und sie würde nie wieder eine Gefangene sein, nie wieder ohnmächtig sein. Mit dieser neuen Macht würde sie immer – immer – in der Lage sein, sich zu wehren.

Der Ewigsturm näherte sich aus dem Westen und kehrte zurück, so wie er es schon einmal getan hatte. Ein kleines Dorf in geringer Entfernung fiel in den Schatten des Sturms und wurde von leuchtend roten Blitzen erhellt.

Venli trat vor und summte im Rhythmus des Begehrens, während sie die Arme zu den Seiten ausstreckte. Der Sturm war anders als die Großstürme. Es gab keine Sturmwand aus Schutt und Kremwasser. Er wirkte weitaus anmutiger: eine wogende Wolke aus Rauch und Finsternis, an deren Rändern Blitze ausbrachen und sie scharlachrot färbten.

Sie legte den Kopf in den Nacken, stellte sich den brodelnden, wirbelnden Wolken entgegen und wurde vom Sturm verzehrt.

Eine wütige, ungestüme Dunkelheit umschloss sie. Brennende Aschestäubchen strömten auf allen Seiten an ihr vorbei, und diesmal spürte sie keinen Regen. Nur den Schlag des Donners. Und den Puls des Sturms.

Asche biss ihr in die Haut, und neben ihr schlug etwas auf und rollte über die Steine. Ein Baum? Ja, ein brennender Baum. Sand, Borkenfetzen und Kiesel strömten ihr über Haut und Panzer. Sie kniete nieder, kniff die Augen zusammen, und mit den Armen schützte sie ihr Gesicht vor den umhertreibenden Trümmern.

Etwas Größeres prallte von ihrem Arm ab und schlug gegen den Panzer. Sie keuchte, fiel zu Boden und rollte sich ein.

Ein Druck umgab sie, drängte gegen ihren Geist, gegen ihre Seele. Lass mich herein.

Unter Mühen öffnete sie sich dieser Kraft. Es war genauso, wie wenn man eine neue Form annahm, oder?

Schmerz durchfuhr ihr Innerstes, als hätte jemand Feuer in ihre Adern gegossen. Sie schrie auf, und Sand scheuerte über ihre Zunge. Winzige Kohlen rissen an ihrer Kleidung und versengten ihr die Haut.

Und dann: eine Stimme.

WAS IST DAS?

Es war eine warme Stimme. Eine uralte Stimme wie die eines Vaters oder einer Mutter – freundlich hüllte sie sie vollständig ein.

»Bitte«, keuchte Venli in die rauchgeschwängerte Luft. »Bitte.«

JA, sagte die Stimme. WÄHLE JEMAND ANDEREN. DIESE GEHÖRT MIR.

Die Macht, die sich gegen sie gedrängt hatte, zog sich wieder zurück, und die Schmerzen hörten auf. Und dann nahm etwas anderes – etwas Kleineres, weniger Gebietendes – ihren Platz ein. Freudig hieß sie das Sprengsel willkommen, wimmerte vor Erleichterung und stimmte sich in den Rhythmus der Qual ein.

Eine Ewigkeit schien zu vergehen, in der sie vor dem Sturm zusammengekauert auf der Erde lag. Schließlich wurde der Wind schwächer. Die Blitze verblassten. Der Donner wich in die Ferne zurück.

Sie blinzelte sich den Splitt aus den Augen. Als sie sich dann bewegte, fielen kleine Stücke Kremstein und zerfetzte Borkenteile von ihr ab. Sie hustete, stand auf und betrachtete ihre ruinierte Kleidung und die versengte Haut.

Die Sturmform trug sie nicht länger. Sie hatte sich verwandelt in … tja, war das die Flinkform? Ihre Kleidung fühlte sich zu groß für ihren Körper an, und er zeigte auch nicht mehr die gewohnte beeindruckende Muskulatur. Sie stimmte sich in die Rhythmen ein und stellte fest, dass es noch immer die neuen waren – die harten, wütenden Rhythmen, die die Formen der Macht begleiteten.

Das war nicht die Flinkform, und es war auch nichts anderes, das sie kannte. Sie hatte Brüste – selbst wenn sie klein waren, wie es außerhalb der Paarungsform üblich war – und lange Haarsträhnen. Sie drehte sich um und wollte sehen, ob es bei den anderen genauso war.

Demid stand in ihrer Nähe, und obwohl seine Kleidung in Fetzen hing, war sein muskulöser Körper nicht verletzt. Mächtig und mit breiter Brust stand er da – er war viel größer als sie. Er wirkte eher wie eine Statue als wie ein Lauscher. Als er sich reckte und streckte, glühten seine Augen rot, und sein Körper pulsierte vor dunkelvioletter Macht. Es war ein Glühen, das gleichzeitig Licht und Finsternis verströmte. Dann zog es sich zurück, und Demid schien zufrieden zu sein, es nach seinem Willen wieder hervorrufen zu können.

Was für eine Form war das? Sie wirkte so majestätisch; ihre Panzerkämme stachen an den Armen und Wangen aus der Haut hervor. »Demid?«, fragte sie.

Er drehte sich zu Melu um, die in ähnlicher Gestalt herbeikam, und sagte etwas in einer Sprache zu ihr, die Venli nicht kannte. Aber die Rhythmen waren da, und sie kündeten von Spott.

»Demid?«, fragte Venli. »Wie fühlst du dich? Was ist geschehen?«

Er sprach wieder in dieser seltsamen Sprache, und seine Worte verschwammen in ihrem Kopf und regten und drehten sich, bis Venli sie endlich doch verstand. »… Odium reitet auf dem Wind, so wie früher einmal der Feind. Unglaublich. Aharat, bist du das?«

»Ja«, sagte Melu. »Das … das fühlt … sich gut an.«

»Fühlt«, sagte Demid. »Es fühlt.« Er holte tief und lange Luft.

Waren sie verrückt geworden?

Nicht weit von ihr entfernt zog sich Mrun unter einem großen Felsblock heraus, der vorhin noch nicht da gewesen war. Entsetzt erkannte Venli darunter einen gebrochenen Arm, aus dem Blut tropfte. In unmittelbarem Widerspruch zu Ulims Versprechen, dass alle in Sicherheit sein würden, war einer von ihnen zerschmettert worden.

Obwohl Mrun genauso groß und stark war wie die Übrigen, geriet er ins Taumeln, als er auf den Felsen zutrat. Er ergriff den Stein und fiel auf die Knie. In seinem Körper floss jenes dunkelviolette Licht, und er ächzte und murmelte nichts als Kauderwelsch. Altoki näherte sich von der anderen Seite. Sie ging gebeugt, hatte die Zähne gebleckt, und ihre Schritte glichen denen eines Raubtiers. Als sie näher kam, hörte Venli, wie sie zwischen ihren zusammengebissenen Zähnen flüsterte: »Hoher Himmel. Tote Winde. Blutregen.«

»Demid«, sagte Venli im Rhythmus der Zerstörung, »etwas ist schiefgegangen. Setz dich und warte. Ich möchte das Sprengsel suchen.«

Demid blickte sie an. »Hast du diesen Leichnam gekannt?«

»Diesen Leichnam? Demid, warum …«

»O nein. O nein. O nein!« Ulim huschte über den Boden auf sie zu. »Du … du bist nicht … Oh, ganz schlecht, ganz schlecht.«

»Ulim!«, rief Venli, stimmte sich in den Spott ein und deutete auf Demid. »Mit meinen Gefährten stimmt etwas nicht. Welches Unheil hast du über uns gebracht?«

»Red nicht mit ihnen, Venli!«, sagte Ulim und nahm die Gestalt eines kleinen Mannes an. »Zeig nicht auf sie!«

Demid stand nicht weit von ihnen entfernt und sammelte in seiner Hand dunkelviolette Macht, die wie in einer Pfütze zusammenlief. Dabei sah er Venli und Ulim an. »Du bist es«, sagte er zu Ulim. »Der Abgesandte. Ich habe Achtung vor deinem Werk, Sprengsel.«

Ulim verneigte sich vor Demid. »Bitte, Großer der Verschmolzenen, sieh die Leidenschaft und vergib diesem Kind.«

»Du solltest es ihr erklären«, sagte Demid, »damit sie mich nicht … reizt.«

Venli runzelte die Stirn. »Was ist …«

»Komm mit mir«, sagte Ulim und kräuselte sich über den Boden. Besorgt und überwältigt von ihrer Erfahrung stimmte sich Venli in den Rhythmus der Qualen ein und folgte ihm. Hinter ihr versammelten sich Demid und die Übrigen.

Ulim verwandelte sich vor ihr in eine menschliche Gestalt zurück. »Du hast Glück. Er hätte dich vernichten können.«

»Das würde Demid niemals tun.«

»Zu deinem Pech ist dein Einst-Paarer nicht mehr da. Das ist Hariel – und er gehört zu den Übelsten der Verschmolzenen.«

»Hariel? Was meinst du mit …« Sie verstummte, als die anderen leise mit Demid sprachen. Sie waren so groß, so überheblich, und ihr Betragen machte einen so … falschen Eindruck.

Jede neue Form veränderte einen Lauscher bis in die Art des Denkens und des Temperaments hinein. Dennoch blieb jeder derselbe. Selbst die Sturmform hatte Venli nicht in etwas anderes verwandelt. Vielleicht … war sie weniger mitfühlend und angriffslustiger geworden. Doch sie war noch immer sie selbst.

Aber bei den Übrigen verhielt es sich anders. Demid hielt sich anders als ihr Einst-Paarer und sprach auch nicht mehr wie dieser.

»Nein …«, flüsterte sie. »Du hast gesagt, wir öffnen uns einem neuen Sprengsel – einer neuen Form!«

»Ich sagte«, zischte Ulim, »dass ihr euch öffnet. Ich habe nicht gesagt, wer in euch eintreten wird. Eure Götter brauchen neue Körper. So ist es bei jeder Rückkehr. Ihr solltet euch geschmeichelt fühlen.«

»Geschmeichelt darüber, getötet zu werden?«

»Ja, zum Besten der Rasse«, erwiderte Ulim. »Das sind die Verschmolzenen: uralte, wiedergeborene Seelen. Du hast anscheinend eine andere Form der Macht erhalten. Ein Band mit einem niedrigeren Sprengsel, das dich über die gewöhnlichen Lauscher erhebt – die herkömmliche Formen haben. Zugleich setzt es dich aber eine Stufe unter die Verschmolzenen. Eine große Stufe.«

Sie nickte und wollte zu der Gruppe zurückgehen.

»Warte«, sagte Ulim und huschte über den Boden vor ihr. »Was hast du vor? Was stimmt nicht mit dir?«

»Ich werde diese Seele fortschicken«, sagte sie. »Und Demid zurückholen. Er muss die Konsequenzen kennen, bevor er sich dazu entscheidet, etwas so Drastisches …«

»Zurückholen?«, fragte Ulim. »Zurückholen? Aber er ist doch tot. Und das solltest du ebenfalls sein. Das ist schlecht. Was hast du getan? Hast du widerstanden, so wie deine Schwester?«

»Geh mir aus dem Weg.«

»Er wird dich töten. Ich hatte dich vor ihm gewarnt …«

»Abgesandter«, sagte Demid im Rhythmus der Vernichtung und wandte sich Ulim und Venli zu. Es war nicht seine eigene Stimme.

Sie stimmte sich in Qualen ein. Es war nicht seine Stimme.

»Lass sie durch«, sagte das Wesen in Demids Körper. »Ich möchte mich mit ihr unterhalten.«

Ulim seufzte. »Mist.«

»Du redest schon wie ein Mensch, Sprengsel«, sagte Demid. »Du hast hier großartige Dienste geleistet, aber du hast dich an ihre Art angeglichen und benutzt ihre Sprache. Das finde ich unangenehm.«

Ulim schlängelte sich über die Steine davon. Venli trat auf die Gruppe der Verschmolzenen zu. Zwei von ihnen hatten noch immer Schwierigkeiten, sich zu bewegen. Sie taumelten, stolperten und fielen auf die Knie. Zwei andere zeigten ein verzerrtes, falsches Grinsen.

Die Lauscher-Götter waren nicht bei voller geistiger Gesundheit.

»Ich bedauere den Tod deines Freundes, gute Dienerin«, sagte Demid mit tiefer Stimme und im Einklang mit dem Rhythmus der Befehlsgewalt. »Auch wenn ihr die Kinder von Verrätern seid, euer Krieg muss unterstützt werden. Ihr habt unseren Erbfeinden gegenübergestanden und seid kein Jota zurückgewichen, auch dann nicht, als ihr dem Untergang geweiht wart.«

»Bitte«, sagte Venli. »Er war mir lieb und wert. Könnt ihr ihn zurückbringen?«

»Er ist in die jenseitige Blindheit eingegangen«, sagte Demid. »Im Gegensatz zu dem geistlosen Sprengsel, mit dem du dich verbunden hast – und das in deinem Edelsteinherzen wohnt –, kann meine Seele ihre Wohnstatt mit niemand anderem teilen. Nichts, weder das Neuwachsen noch eine Handlung Odiums kann ihn wiederherstellen.«

Er streckte die Hand aus, ergriff Venli am Kinn, hob es dann an und betrachtete sie. »Du solltest eine Seele tragen, neben der ich tausende von Jahren gekämpft habe. Sie wurde abgewiesen, denn du bist für etwas anderes vorgesehen. Odium hat etwas mit dir vor. Genieße es und trauere nicht um das Hinscheiden deines Freundes. Am Ende wird Odium jenen Rache bringen, gegen die wir kämpfen.«

Er ließ sie los, und sie musste sich zusammenreißen, damit sie nicht hinfiel. Nein. Nein, sie würde keine Schwäche zeigen.

Aber … Demid …

Sie drängte ihn aus ihren Gedanken, wie sie es vor ihm auch schon mit Eschonai getan hatte. Dies war der Pfad, den sie eingeschlagen hatte, als sie vor vielen Jahren Ulim zum ersten Mal zugehört und beschlossen hatte, das Risiko einzugehen, das mit der Rückkehr der Götter ihres Volkes verbunden war.

Demid war gestorben, aber sie war verschont geblieben. Und Odium selbst, Gott der Götter, hatte etwas Bestimmtes für sie vorgesehen. Sie setzte sich auf den Boden und wartete, während sich die Verschmolzenen in ihrer seltsamen Sprache miteinander berieten. Als sie wartete, bemerkte sie etwas, das in geringer Entfernung von ihr über dem Boden schwebte. Es war ein kleines Sprengsel, das ihr wie eine Kugel aus Licht erschien. Ja … so etwas hatte sie auch in Eschonais Nähe gesehen. Was war das?

Es wirkte recht aufgeregt und schoss erst über den Stein und dann näher auf Venli zu. Sofort wusste sie etwas – es war ein instinktives Wissen, so sicher wie das Wissen um die Stürme und die Sonne. Wenn die Kreaturen, die in der Nähe standen, dieses Sprengsel sahen, würden sie es sofort vernichten.

Sie legte die Hand schützend über das Sprengsel, als die Kreatur, die Demids Körper trug, auf sie zukam. Sie drückte das kleine Sprengsel gegen den Felsen und stimmte sich in den Rhythmus der Verlegenheit ein.

Er schien nicht bemerkt zu haben, was sie soeben getan hatte.

»Mach dich bereit, fortgetragen zu werden«, sagte er. »Wir müssen nach Alethela reisen.«

Als Steinwächter habe ich mein ganzes Leben damit verbracht, mich selbst opfern zu wollen. Insgeheim befürchte ich, dass dies der Weg der Feigheit ist – der einfache Ausweg.

Aus Schublade 29-5, Topas

Die Wolken, die sich für gewöhnlich um die Basis des Plateaus von Urithiru sammelten, zeigten sich heute nicht, und so konnte Dalinar die endlosen Felsstürze unter dem Fundament des Turms betrachten. Den Talboden vermochte er nicht zu erkennen; die Felsen schienen in eine endlose Tiefe abzufallen.

Doch trotz dieses schwindelerregenden Anblicks fiel es ihm schwer, sich vorzustellen, wie hoch in den Bergen sie sich befanden. Navanis Schreiberinnen waren in der Lage, die genaue Höhe auszurechnen, indem sie irgendwie die Luft benutzten, aber ihre Zahlen sagten ihm nicht viel. Er wollte sehen. Befanden sie sich tatsächlich an einer Stelle oberhalb der Zerbrochenen Ebene, höher als die Wolken? Oder trieben die Wolken hier in den Bergen niedriger dahin?

Wie nachdenklich du in deinen alten Tagen geworden bist, dachte er, als er auf eine Eidtor-Plattform stieg. Navani hielt seinen Arm, obwohl Taravangian und Adrotagia hinter ihnen die Plattform betraten.

Navani sah ihm in die Augen, während sie warteten. »Macht dir deine letzte Vision noch immer Sorgen?«

Das war es zwar nicht, was ihn gegenwärtig ablenkte, aber er nickte trotzdem. Er machte sich wirklich Sorgen. Wegen Odium. Obwohl der Sturmvater zu seiner früheren Selbstsicherheit zurückgekehrt war, konnte Dalinar die Erinnerung an das mächtige Sprengsel, das vor Furcht gewimmert hatte, nicht abschütteln.

Navani und Jasnah hatten seinem Bericht über das Treffen mit dem dunklen Gott gebannt zugehört, aber sie hatten diese Vision keiner breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht.

»Vielleicht«, sagte Navani, »war das ebenfalls eines dieser vorausgeplanten Ereignisse, das du nach dem Willen des Allmächtigen sehen solltest.«

Dalinar schüttelte den Kopf. »Odium hat sich so wirklich angefühlt. Ich habe ein richtiges Gespräch mit ihm geführt.«

»Du kannst auch mit anderen Personen in den Visionen sprechen, nur nicht mit dem Allmächtigen selbst.«

»Du bist der Meinung, dass der Allmächtige kein vollständiges Abbild eines Gottes erschaffen kann. Nein. Ich habe die Ewigkeit gesehen, Navani … eine gewaltige göttliche Endlosigkeit.«

Er zitterte. Sie hatten beschlossen, fürs Erste auf die Benutzung der Visionen zu verzichten. Wer wusste schon, welches Risiko sie eingingen, indem sie andere in diese Visionen hineinführten und sie möglicherweise Odium aussetzten?

Aber wer kann sagen, ob es ihm nicht auch möglich ist, in die wirkliche Welt hineinzureichen?, dachte Dalinar. Er schaute wieder hoch. Die Sonne war nichts als ein brennendes Weiß, der Himmel ein verwaschenes Blau. Dabei hatte er geglaubt, oberhalb der Wolken eine bessere Perspektive zu haben.

Schließlich hatten Taravangian und Adrotagia sie erreicht, gefolgt von Taravangians seltsamer Wogenbinderin, der kurzhaarigen Malata. Dalinars Leibwache bildete die Nachhut. Rial salutierte vor ihm. Schon wieder.

»Du musst nicht jedes Mal vor mir salutieren, wenn ich dich ansehe, Sergeant«, sagte Dalinar trocken.

»Bin bloß besonders vorsichtig, Herr.« Der lederige, dunkelhäutige Mann salutierte ein weiteres Mal. »Möchte nicht angezeigt werden, weil ich zu wenig Respekt habe.«

»Ich habe dich nicht namentlich genannt, Rial.«

»Aber jeder hat es gewusst, Hellherr.«

»Na, so etwas …«

Rial grinste, und Dalinar bedeutete dem Mann, seine Feldflasche zu öffnen. Er schnüffelte daran; seine Nase suchte nach Alkohol. »Ist sie diesmal rein?«

»Vollkommen. Beim letzten Mal habt Ihr mich getadelt. Jetzt ist nur Wasser drin.«

»Und den Alkohol hast du …«

»In meinem Flachmann, Herr«, sagte Rial. »Rechte Beintasche meiner Uniform. Aber macht Euch keine Sorgen; sie ist fest zugeknöpft, und ich habe vollkommen vergessen, dass es sie gibt. Ich werde sie erst wiederentdecken, wenn ich meine Pflichten erledigt habe.«

»Dessen bin ich mir sicher.« Dalinar ergriff Navanis Arm und folgte Taravangian und Adrotagia.

»Du hättest jemand anderen zu deiner Beschützung abkommandieren können«, flüsterte Navani ihm zu. »Dieser schmierige Mann ist … so unpassend.«

»Eigentlich mag ich ihn«, gab Dalinar zu. »Er erinnert mich an einige meiner Freunde aus den alten Zeiten.«

Das Kontrollgebäude in der Mitte dieser Plattform war wie die anderen gebaut: Mosaike auf dem Boden, der Schlüsselmechanismus in der gebogenen Wand. Doch die Muster auf dem Boden zeigten Glyphen aus dem Dämmerungssang. Dieses Gebäude glich jenem in Thaylen-Stadt, und wenn es aktiviert wurde, tauschten die beide die Plätze.

Es gab zehn Plattformen hier und zehn auf der übrigen Welt verstreut. Die Glyphen auf den Böden deuteten an, dass es möglich war, unmittelbar von einer Stadt in eine andere verbracht zu werden, ohne zuerst nach Urithiru kommen zu müssen. Bisher war noch nicht entdeckt worden, wie das gelingen mochte, und fürs Erste konnte jedes Tor nur mit seinem Zwilling vertauscht werden. Dafür mussten sie zuvor auf beiden Seiten entsperrt werden.

Navani begab sich geradewegs zum Kontrollmechanismus. Malata gesellte sich zu ihr und sah Navani über die Schulter zu, während sie sich an dem Schlüsselloch zu schaffen machte, das in der Mitte eines zehnstrahligen Sterns in einer Metallplatte steckte. »Ja«, sagte Navani, nachdem sie einige Aufzeichnungen gelesen hatte. »Der Mechanismus ist der gleiche wie jener auf der Zerbrochenen Ebene. Man muss das hier drehen …«

Sie schrieb etwas durch eine Spannfeder nach Thaylen-Stadt, drängte dann alle aus dem Raum und verließ ihn schließlich selbst. Einen Augenblick später blitzte das ganze Gebäude auf. Ein Kreis aus Sturmlicht umzuckte es wie das Nachbild eines Brandes in der Dunkelheit. Dann traten Kaladin und Schallan aus der Tür.

»Es funktioniert!«, sagte Schallan, als sie herauskam und vor Freude beinahe überfloss. Kaladin hingegen wirkte gefasst und ruhig. »Es würde uns viel Sturmlicht sparen, wenn es möglich wäre, nicht die ganze Plattform, sondern nur die Kontrollgebäude auszutauschen.«

»Bisher haben wir bei jedem Übergang die Eidtore mit der vollen Kraft betrieben«, sagte Navani. »Ich vermute, das ist nicht der einzige Fehler, den wir hinsichtlich dieses Ortes und seiner Maschinen begehen. Aber da ihr das thaylenische Tor nun geöffnet habt, sollte es uns möglich sein, es nach unserem Belieben zu benutzen – mit Hilfe der Strahlenden natürlich.«

»Herr«, sagte Kaladin zu Dalinar, »die Königin ist bereit, Euch zu treffen.«

Taravangian, Navani, Adrotagia und Malata betraten das Gebäude, Schallan hingegen ging die Rampe hinunter und auf Urithiru zu. Dalinar packte Kaladin am Arm, als dieser ihr folgen wollte.

»Gab es auf dem Flug vor dem Großsturm keine Schwierigkeiten?«, fragte Dalinar.

»Keine, Herr. Ich bin zuversichtlich, dass es gelingen wird.«

»Also wirst du beim nächsten Sturm nach Kholinar fliegen, Soldat. Ich verlasse mich darauf, dass du und Adolin Elhokar davon abhalten werdet, etwas Närrisches zu tun. Seid vorsichtig. Seltsames geht in dieser Stadt vor, und ich kann es mir nicht leisten, euch zu verlieren.«

»Ja, Herr.«

»Fliegt am südlichen Arm des Todesbiegenflusses entlang. Die Parscher mögen diese Gegend inzwischen erobert haben, aber sie gehört jetzt dir.«

»… Herr?«

»Du bist ein Splitterträger, Kaladin. Das macht dich mindestens zu einem Angehörigen des vierten Dahns und zum Landeigentümer. Elhokar hat schöne Besitzungen für dich gefunden, die im letzten Jahr nach dem Tod des dortigen Hellherrn, der keine Erben hatte, an die Krone gefallen sind. Es ist kein besonders großes Land, aber jetzt bist du der Herr darüber.«

Kaladin wirkte verblüfft. »Gibt es Orte auf diesem Land, Herr?«

»Sechs oder sieben; einer davon ist nicht unbedeutend. In ganz Alethkar gehört der Fluss zu denen, die am beständigsten Wasser tragen. Sogar im Mittelfrieden trocknet er nicht aus. Außerdem führt eine viel benutzte Karawanenroute dort hindurch. Deinen Untertanen geht es gut.«

»Herr, Ihr wisst, dass ich eine solche Bürde nicht tragen will.«

»Wolltest du ein Leben ohne Bürden führen, hättest du nicht die Eide sprechen sollen«, sagte Dalinar. »Bei solchen Dingen können wir nicht wählen, mein Sohn. Sorg einfach dafür, dass du einen guten Verwalter, weise Schreiberinnen und einige verlässliche Männer aus dem fünften und sechsten Dahn hast, die in den Orten das Sagen haben. Wir können von Glück reden – auch du –, wenn wir am Ende all dessen noch über ein Königreich verfügen, das uns aufgebürdet werden kann.«

Kaladin nickte langsam. »Meine Familie lebt im nördlichen Alethkar. Da ich inzwischen geübt habe, im Sturm zu fliegen, will ich sie holen, sobald ich von der Kholinar-Mission zurückgekehrt bin.«

»Öffne das Eidtor, und danach kannst du tun, was du willst. Ich sage dir, dass das Beste, das du gegenwärtig für deine Familie tun kannst, darin besteht, Alethkar vor dem Untergang zu bewahren.«

Den Berichten der Spannfedern zufolge bewegten sich die Bringer der Leere allmählich nach Norden und hatten einen großen Teil von Alethkar erobert. Relis Ruthar hatte versucht, die im Lande verbliebenen Streitkräfte der Alethi zu sammeln, war aber in Richtung Herdaz zurückgedrängt worden und hatte unter der Gewalt der Verschmolzenen große Verluste erlitten. Doch die Bringer der Leere töteten niemanden, der nicht an den Kämpfen beteiligt war. Kaladins Familie sollte also in Sicherheit sein.

Der Hauptmann lief die Rampe hinunter, Dalinar sah ihm nach und dachte an seine eigenen Bürden. Sobald Elhokar und Adolin von ihrer Mission zur Rettung Kholinars zurückgekehrt waren, würden sie mit den Vorbereitungen zu Elhokars Einsetzung als Großkönig fortfahren. Doch er hatte es bis jetzt noch nicht verkündet, nicht einmal den Großprinzen gegenüber.

Etwas in Dalinar wusste, dass er nun damit fortfahren sollte. Er sollte Adolin zum Großprinzen ernennen und selbst zurücktreten, und doch schob er es noch hinaus. Es wäre die endgültige Trennung zwischen ihm und seinem Heimatland. Zuerst wollte er wenigstens versuchen, bei der Rückeroberung der Hauptstadt zu helfen.

Dalinar gesellte sich zu den anderen in dem Kontrollgebäude und nickte Malata zu. Sie rief ihre Splitterklinge und steckte sie in den Schlitz. Das Metall der Platte bewegte sich, zerfloss und passte sich der Gestalt der Klinge an. Sie hatten zahlreiche Tests durchgeführt, und obwohl die Mauern des Gebäudes kaum dick zu nennen waren, konnte man die Spitze der Splitterklinge nicht auf der anderen Seite herausragen sehen. Sie verschmolz mit dem seltsamen Mechanismus.

Malata drückte gegen die Seite des Schwertgriffs. Die innere Wand des Kontrollgebäudes drehte sich. Der Boden unter den Mosaiken erglühte und beleuchtete sie, als bestünden sie aus Bleiglas. Malata hielt ihre Klinge in der korrekten Position an, und einen Lichtblitz später waren sie angekommen. Dalinar verließ das kleine Gebäude und trat auf eine Plattform in der fernen Stadt Thaylen, einem Hafen an der Westküste auf einer großen Insel in der Nähe der Frostlande.

Hier war die Plattform, die das Eidtor umgab, in einen Skulpturengarten umgewandelt worden – aber die meisten Statuen lagen umgekippt und zerbrochen am Boden. Königin Fen stand zusammen mit ihrem Gefolge auf der Rampe. Vermutlich hatte Schallan ihr gesagt, sie solle in einer gewissen Entfernung warten, falls die Versetzung der Plattform allein aus irgendwelchen Gründen nicht gelingen sollte.

Die Plattform befand sich hoch oben in der Stadt, und als Dalinar sich dem Rand näherte, bemerkte er, was für eine großartige Aussicht er von hier genoss. Der Anblick raubte Dalinar den Atem.

Thaylen-Stadt war eine Gebirgsmetropole wie Kharbranth und schmiegte sich an einen Hang, der sie vor den Großstürmen schützte. Dalinar war nie zuvor hier gewesen, aber er hatte die Karten studiert und wusste, dass Thaylen-Stadt früher nur einen kleinen Teil in der Mitte der modernen Ansiedlung gebildet hatte, der als der Alte Bezirk bekannt war. Dieser erhöht gelegene Teil war durch den Verlauf der Felsen geformt worden, die vor Jahrtausenden von Menschenhand bearbeitet worden waren.

Doch die Stadt war weit über diesen Teil hinausgewachsen. Ein niedriger gelegenes Viertel, das Unterer Bezirk genannt wurde, zog sich über das Gestein am Fuß der Mauer, einer weiten, gedrungenen Befestigungsanlage im Westen, die von den Klippen auf der einen Seite der Stadt bis zum Vorgebirge auf der anderen Seite verlief.

Über und hinter dem Alten Bezirk hatte sich die Stadt in einer Reihe stufenförmiger Erhebungen ausgebreitet. Diese Hohen Bezirke endeten beim Herrscherbezirk am oberen Ende der Stadt und beherbergten Paläste, Herrenhäuser und Tempel. Die Plattform des Eidtores befand sich hier oben, am nördlichen Rand der Stadt und in der Nähe der Klippen, die bis hinunter zum Meer reichten.

Früher war diese Stadt wegen ihrer verblüffenden Architektur bekannt gewesen. Doch heute erstarrte Dalinar aus einem anderen Grund. Dutzende … nein, hunderte Gebäude waren eingestürzt. Ganze Viertel lagen in Schutt und Trümmern, während höher gelegene Häuser durch den Ewigsturm eingerissen und auf die darunter liegenden Anwesen gestürzt waren. Was früher als eine der schönsten Städte in ganz Roschar gegolten hatte – bekannt für seine Künste, seinen Handel und seinen feinen Marmor –, war nun so zerbrochen und zerschmettert wie ein Teller aus feinstem Porzellan, den eine achtlose Dienstmagd fallen gelassen hatte.

Ironischerweise hatten viele einfachere Gebäude des unteren Bereichs der Stadt im Schatten der Mauer den Stürmen getrotzt. Aber die berühmten Docks von Thaylen lagen jenseits dieser Befestigungsanlagen auf der kleinen Halbinsel im Westen vor der Stadt. Dieses Gebiet war besonders dicht bebaut gewesen – hauptsächlich mit Lagerhäusern, Tavernen und Läden, allesamt aus Holz.

Sie waren vollkommen weggefegt worden. Nur Ruinen waren übrig geblieben.

Sturmvater. Kein Wunder, dass sich Fen seinen störenden Befehlen widersetzt hatte. Der größte Teil dieser Verwüstungen war durch den ersten vollen Ewigsturm bewirkt worden; Thaylen-Stadt war ihm einigermaßen ungeschützt ausgeliefert, denn kein Land lag vor ihm, wenn er aus Westen über den Ozean herbeiblies. Außerdem hatten eine Menge Gebäude aus Holz bestanden, insbesondere in den Hohen Bezirken. Dies war ein Luxus gewesen, der nur an Orten wie Thaylen-Stadt möglich war, die bisher lediglich den sanften Ausläufern der Sturmwinde unterworfen gewesen waren.

Der Ewigsturm war nun schon fünfmal wiedergekommen, auch wenn die nachfolgenden Stürme glücklicherweise nicht mehr so stark wie der erste gewesen waren. Dalinar stand am Rand der Plattform, nahm den Anblick für eine Weile in sich auf, dann führte er seine Gruppe dorthin, wo Königin Fen samt ihrem Gefolge aus Schreiberinnen, Hellaugen und Leibwächtern auf der Rampe stand. Auch ihr Prinzgemahl Kmakl war anwesend, ein ältlicher Thaylener mit Brauen und Schnauzbart, die zusammen das Gesicht einrahmten. Er trug eine Weste und eine Kappe und wurde von zwei Feuerer-Schreiberinnen begleitet.

»Fen …«, sagte Dalinar sanft, »es tut mir so leid.«

»Offenbar haben wir zu lange im Luxus gelebt«, sagte Fen, und er war überrascht von ihrem Akzent. In den Visionen hatte es ihn gar nicht gegeben. »Ich erinnere mich, dass ich als Kind häufig befürchtete, die Menschen in den anderen Ländern könnten herausfinden, wie schön es hier ist, wie mild das Wetter und wie sanft die Stürme sind. So hatte ich befürchtet, wir könnten eines Tages von Einwanderern überrannt werden.«

Sie drehte sich zu ihrer Stadt um und seufzte leise und traurig.

Wie mochte es wohl gewesen sein, hier zu leben? Dalinar versuchte sich vorzustellen, in einem Haus zu wohnen, das sich nicht wie eine Festung anfühlte. Gebäude aus Holz und mit großen Fenstern. Mit Dächern, die nur den Regen abhalten mussten. Er hatte die Leute scherzen hören, dass man in Kharbranth eine Glocke heraushängen musste, wenn man wissen wollte, ob der Großsturm eingetroffen sei, denn sonst würde man ihn verpassen, weil man ihn gar nicht bemerkte. Taravangian hatte Glück gehabt, denn seine eigene Stadt war ein wenig nach Süden ausgerichtet und daher einer Verwüstung dieses Maßstabs bisher entgangen.

»Nun«, sagte Fen, »wir sollten eine kleine Stadtbesichtigung machen. Ich glaube, es gibt einige wenige Orte von Bedeutung, die noch stehen.«

Wenn das hier Bestand haben soll, dann möchte ich einen Bericht über meinen Gemahl und meine Kinder hinterlassen. Wzmal war ein Mann, der so gut und liebevoll war, wie ihn sich eine Frau nur erträumen kann. Und Kmakra und Molinar waren die wahren Edelsteine meines Lebens.

Aus Schublade 12-15, Rubin

Der Tempel von Schalasch«, sagte Fen und machte – als sie eintraten – eine weite Handbewegung.

Für Dalinar sah er genauso aus wie die anderen, die sie ihnen bereits gezeigt hatte: ein großer Raum mit einer hohen Kuppeldecke und gewaltigen Räucherpfannen. Hier verbrannten Feuerer tausende von Bannglyphen für das Volk, das sich um Gnade und Hilfe an den Allmächtigen wandte. Rauch stieg hoch in die Deckenkuppel und entwich dort durch kleine Löcher wie Wasser durch ein Sieb.

Wie viele Gebete haben wir an einen Gott verbrannt, den es nicht mehr gibt?, dachte Dalinar. Oder erhält sie nun jemand anders?

Dalinar nickte höflich, als Fen die antiken Ursprünge des Gebäudes erklärte und einige der Könige und Königinnen aufzählte, die hier gekrönt worden waren. Sie erläuterte die Bedeutung der komplexen Verzierungen an der Rückwand und führte die Gruppe an die Seiten, wo sie die Schnitzwerke besichtigen konnten. Es war eine Schande, mehrere Statuen sehen zu müssen, deren Gesichter abgeschlagen worden waren. Wie war der Sturm hier hereingekommen?

Als sie fertig waren, führte Königin Fen sie nach draußen auf einen Platz im Herrscherbezirk, auf dem Sänften bereitstanden. Navani stieß ihn an.

»Was ist los?«, fragte er leise.

»Hör auf, so finster dreinzuschauen.«

»Ich schaue nicht finster drein.«

»Du bist gelangweilt.«

»Ich … schaue nicht finster drein.«

Sie hob eine Braue.

»Sechs Tempel?«, fragte er. »Diese Stadt liegt in Trümmern, und wir sehen uns Tempel an.«

Vor ihnen kletterten Fen und ihr Gemahl in eine Sänfte. Bisher hatte Kmakls Aufgabe bei dieser Besichtigungstour lediglich darin bestanden, hinter Fen zu stehen und – wenn immer sie etwas sagte, das er als bedeutsam erachtete – ihren Schreiberinnen zuzunicken, damit sie die Worte der Königin in die offiziellen Berichte aufnahmen.

Kmakl trug kein Schwert. In Alethkar hätte dies darauf hingewiesen, dass der Mann – schon wegen seines Ranges – ein Splitterträger war, aber hier war das nicht der Fall. In Thaylenah gab es nur fünf Klingen – und drei Splitterpanzer –, und jede befand sich im Besitz einer alten Familie, die sich der Verteidigung des Throns verschworen hatte. Hätte Fen ihm nicht besser diese Splitter gezeigt?

»Finster …«, sagte Navani.

»Das ist es doch, was sie von mir erwarten«, sagte Dalinar und deutete mit dem Kopf auf die thaylenischen Schreiberinnen und Würdenträger. Ganz vorn in dem Zug befand sich eine Gruppe von Soldaten, die Dalinar mit großem Interesse beäugten. Vielleicht bestand der wahre Zweck dieser Besichtigungen darin, den Hellaugen eine Möglichkeit zu verschaffen, ihn genau zu betrachten.

Die Sänfte, die er sich mit Navani teilte, duftete nach Steinknospenblüten. »Das Fortschreiten von einem Tempel zum nächsten ist eine Tradition in Thaylen-Stadt«, sagte Navani leise, als ihre Träger die Sänfte anhoben. »Der Besuch aller zehn stellt eine Reise durch den gesamten Herrscherbezirk dar und ist eine nicht gerade feinsinnige Zurschaustellung der Vorin-Frömmigkeit des Throns. In der letzten Zeit hatten die Regenten Schwierigkeiten mit der Kirche.«

»Ich fühle mit ihnen. Glaubst du, sie hören mit diesem ganzen Pomp auf, wenn ich ihnen erkläre, dass ich ebenfalls ein Häretiker bin?«

Navani beugte sich in der kleinen Sänfte vor und legte ihm die Freihand auf das Knie. »Liebster, wenn dich das alles so ärgert, hätten wir vielleicht einen Diplomaten herschicken sollen.«

»Ich bin ein Diplomat.«

»Dalinar …«

»Das ist jetzt meine Pflicht, Navani. Ich muss meine Pflicht tun. Immer wenn ich sie in der Vergangenheit versäumt habe, ist etwas Schreckliches geschehen.« Er ergriff ihre Hände. »Ich beschwere mich, weil ich dir gegenüber offen reden kann. Ich verspreche dir, dass ich meine finsteren Blicke auf ein Minimum beschränken werde.«

Während die Träger sie geschickt einige Treppenstufen emportrugen, sah Dalinar aus dem Fenster der Sänfte. Dieser obere Teil der Stadt hatte den Sturm recht gut überstanden, denn viele der Gebäude waren aus dickem Stein errichtet. Doch einige waren eingestürzt. Die Sänfte kam an einer umgekippten Statue vorbei, die an den Fußknöcheln abgebrochen und von einem hohen Sims in Richtung des Unteren Bezirks gefallen war.

Die Stadt ist härter getroffen worden, als es die Berichte angedeutet haben, dachte er. Dieses Maß an Zerstörung ist einzigartig. Ist es nur all dem Holz und den fehlenden Maßnahmen zuzuschreiben, mit denen die Stürme abgemildert werden können? Oder steckt mehr dahinter? Einige Berichte über den Ewigsturm erwähnten gar keine Winde, sondern nur Blitze. Andere sprachen auf verwirrende Weise nicht von Regen, sondern von brennenden Kohlen. Selbst innerhalb eines einzigen Ewigsturms gab es die unterschiedlichsten Ausprägungen.

»Für Fen ist es vermutlich tröstlich, wenn sie etwas Vertrautes tut«, sagte Navani leise zu ihm, als die Träger sie beim nächsten Haltepunkt absetzten. »Diese Besichtigungsreise ist eine Erinnerung an die Zeit, bevor die Stadt solche Schrecken durchgemacht hat.«

Er nickte. Dieser Gedanke half ihm, einen weiteren Tempel zu ertragen.

Fen kletterte gerade ebenfalls aus ihrer Sänfte. »Der Tempel von Battah ist einer der ältesten in der ganzen Stadt. Die größte Sehenswürdigkeit stellt natürlich das Simulacrum von Paralet dar, die großartige Statue, die …« Sie verstummte, und Dalinar folgte ihrem Blick zu den Steinfüßen des umgestürzten Standbildes. »Oh. Richtig.«

»Kommt, wir wollen uns den Tempel ansehen«, drängte Dalinar sie. »Ihr habt gesagt, es sei einer der ältesten. Wer ist denn der älteste?«

»Nur Ischis Tempel ist noch älter«, sagte sie. »Aber wir werden weder dort noch hier länger verweilen.«

»Ach, nein?«, fragte Dalinar und bemerkte den fehlenden Gebetsrauch über dem Dach. »Ist das Gebäude beschädigt?«

»Das Gebäude? Nein, nicht das Gebäude.«

Zwei müde wirkende Feuerer kamen heraus und gingen die Treppe hinunter. Ihre Roben waren mit roten Flecken übersät. Dalinar sah Fen an. »Habt Ihr etwas dagegen, wenn ich trotzdem hineingehe?«

»Wenn Ihr wollt.«

Als Dalinar zusammen mit Navani die Treppe hochstieg, bemerkte er einen Geruch im Wind. Es war der Geruch von Blut, der ihn an die Schlacht erinnerte. Als sie das Podest erklommen hatten und in den Tempel schauten, war der Anblick ebenfalls vertraut. Hunderte Verwundete lagen auf dem Marmorboden oder auf einfachen Pritschen, und Schmerzsprengsel erstreckten sich wie orangefarbene sehnige Hände zwischen ihnen.

»Wir mussten improvisieren«, sagte Fen, als sie hinter ihm durch die Tür trat, »nachdem unsere traditionellen Krankenhäuser belegt waren.«

»So viele?«, fragte Navani und hielt sich die Schutzhand vor den Mund. »Können denn nicht einige von ihnen nach Hause geschickt werden, damit sie von ihren Familien gesund gepflegt werden?«

Doch Dalinar vermochte die Antwort auf diese Frage an den leidenden Menschen abzulesen. Manche erwarteten nur noch den Tod; sie hatten innere Blutungen oder litten an unheilbaren Infektionen, die von winzigen roten Fäulnissprengseln auf der Haut angezeigt wurden. Andere hatten kein Zuhause mehr, in das sie hätten zurückkehren können, denn es waren viele Familien zu sehen, die sich um eine verwundete Mutter, einen Vater oder ein Kind zusammendrängten.

Bei den Stürmen … Dalinar schämte sich beinahe dafür, dass sein eigenes Volk den Ewigsturm so gut überstanden hatte. Als er sich schließlich umdrehte und zum Gehen anschickte, wäre er beinahe gegen Taravangian gestoßen, der wie ein Geist im Türdurchgang stand. Der alte Monarch wirkte zerbrechlich, verschwand fast in seinen weichen Roben und weinte bitterlich, als er die Menschen in dem Tempel betrachtete.

»Bitte«, sagte er. »Bitte. Meine Ärzte halten sich in Vedenar auf. Es wäre eine einfache Reise durch das Eidtor. Erlaubt mir, sie herzubringen. Erlaubt mir bitte, dieses Leiden zu lindern.«

Fen kniff die Lippen zu einer schmalen Linie zusammen. Sie war mit diesem Treffen einverstanden gewesen, aber das machte sie noch nicht zu einem Teil von Dalinars geplanter Koalition. Doch was konnte sie einer solchen Bitte entgegenhalten?

»Eure Hilfe wäre sehr willkommen«, sagte sie.

Dalinar unterdrückte ein Lächeln. Fen hatte einen Schritt auf sie zugemacht, indem sie erlaubt hatte, das Eidtor zu aktivieren. Das hier war ein weiterer Schritt. Taravangian, du bist ein Schatz.

»Leiht mir eine Schreiberin und eine Spannfeder«, sagte Taravangian. »Ich werde meine Strahlende anweisen, sofort Hilfe zu holen.«

Fen erteilte die notwendigen Befehle, und ihr Gemahl nickte, damit ihre Worte aufgeschrieben wurden. Als sie zurück zu den Sänften gingen, blieb Taravangian auf der Treppe stehen und schaute auf die Stadt hinaus.

»Euer Majestät?«, fragte Dalinar und hielt inne.

»Ich kann hierin meine Heimat erkennen, Hellherr.« Er legte eine zitternde Hand gegen die Tempelwand und stützte sich an ihr ab. »Ich blinzele mit meinen matten Augen, und ich sehe Kharbranth, das im Krieg zerstört wurde. Und dann frage ich mich: ›Was muss ich tun, um die Menschen zu beschützen?‹«

»Wir werden sie beschützen, Taravangian. Das schwöreich.«

»Ja … ja, ich glaube Euch, Schwarzdorn.« Er stieß einen langen Seufzer aus und schien noch mehr in sich zusammenzusacken. »Ich glaube … ich glaube, ich werde hierbleiben und meine Ärzte erwarten. Bitte schließt Euch den anderen an.«

Als der Rest davonging, setzte sich Taravangian auf die Treppe. Von seiner Sänfte aus schaute Dalinar zurück und sah den alten Mann dort sitzen, die Hände vor sich gefaltet, den leberfleckigen Kopf gesenkt, beinahe in der Haltung eines Knienden vor einem verbrennenden Gebet.

Fen trat neben Dalinar. Die weißen Locken ihrer Augenbrauen bebten im Wind. »Es ist viel mehr an ihm, als die Leute wissen – auch noch nach seinem Unfall. Das habe ich schon oft gesagt.«

Dalinar nickte.

»Aber«, fuhr Fen fort, »er tut so, als wäre die ganze Stadt ein Friedhof. Das ist jedoch nicht der Fall. Wir werden sie aus den Trümmern neu errichten. Meine Baumeister planen, Mauern vor jeden Bezirk zu setzen. Wir werden wieder Boden unter die Füße bekommen. Wir müssen nur dem Sturm voraus sein. Es ist bloß der plötzliche Verlust der Arbeitskräfte, der uns lähmt. Unsere Parscher …«

»Meine Armeen könnten beim Wegschleppen der Trümmer, beim Bewegen der Steine und dem Wiederaufbau helfen«, sagte Dalinar. »Sagt mir nur Bescheid, und Ihr werdet Zugang zu tausenden helfenden Händen haben.«

Fen erwiderte darauf nichts, aber Dalinar hörte gemurmelte Worte von den jungen Soldaten und Dienern, die neben den Sänften warteten. Dalinar richtete seine Aufmerksamkeit auf sie, insbesondere auf einen von ihnen. Für einen Thaylener war der junge Mann groß und hatte blaue Augen und gestärkte Brauen, die er sich glatt an den Kopf gekämmt hatte. Seine saubere Uniform war natürlich im Thaylen-Stil geschneidert; die kurze Jacke war über der Brust eng geknöpft.

Das wird ihr Sohn sein, dachte Dalinar, als er die Gesichtszüge des jungen Mannes eingehend betrachtete. Nach der Tradition der Thaylener war er bloß einer der Offiziere, nicht aber der Erbe. Die Monarchie dieses Reiches war nicht vererbbar.

Aber ob er nun der Erbe war oder nicht, dieser junge Mann war wichtig. Er flüsterte den anderen etwas Höhnisches zu, und sie nickten, murmelten und betrachteten Dalinar mit finsteren Mienen.

Navani stieß Dalinar an und schenkte ihm einen fragenden Blick.

Später, formte er mit den Lippen und wandte sich an Königin Fen. »Ist der Tempel Ischis ebenfalls voller Verwundeter?«

»Ja. Vielleicht können wir ihn überspringen.«

»Ich hätte nichts dagegen, mir die unteren Bezirke der Stadt anzusehen«, sagte Dalinar. »Vielleicht den großen Basar, von dem ich schon so viel gehört habe?«

Navani zuckte zusammen, und Fen versteifte sich.

»Er war … unten beim Hafen, nicht wahr?«, fragte Dalinar und schaute auf das Trümmerfeld vor der Stadt. Er hatte angenommen, der Basar habe sich im Alten Bezirk, also im Mittelpunkt der Stadt befunden. Er hätte die Karten genauer studieren müssen.

»Im Hof von Talenelat habe ich Erfrischungen bereitstellen lassen«, sagte Fen. »Er ist der letzte Punkt auf unserer Rundreise. Sollen wir direkt dorthin gehen?«

Dalinar nickte, und sie setzten sich wieder in die Sänften. Drinnen beugte er sich zu Navani vor und sagte leise: »Königin Fen ist keine absolute Autorität.«

»Selbst dein Bruder hatte keine vollkommene Macht.«

»Aber in der Thaylen-Monarchie ist es noch viel schlimmer. Der Rat der Kaufleute und Marineoffiziere sucht schließlich den Regenten oder die Regentin aus. Sie alle haben großen Einfluss in der Stadt.«

»Ja. Worauf willst du hinaus?«

»Das bedeutet, dass Fen nicht allein auf meine Bitten reagieren kann«, sagte Dalinar. »Solange es Elemente in der Stadt gibt, die der Meinung sind, dass ich einen Eroberungsfeldzug plane, kann sie militärischer Hilfe niemals zustimmen.« Er fand einige Nüsse in einem Fach der Armlehne und kaute auf ihnen herum.

»Wir haben keine Zeit für ein langes politisches Tauziehen«, sagte Navani und bedeutete ihm, ihr ein paar Nüsse abzugeben. »Vielleicht hat Teschav Familie in der Stadt, auf die sie sich stützen kann.«

»Es wäre einen Versuch wert. Oder … mir kommt gerade eine Idee.«

»Hat sie zur Folge, dass jemand verprügelt wird?«

Er nickte. Darauf seufzte sie.

»Sie warten auf ein Spektakel«, sagte Dalinar. »Sie wollen sehen, was der Schwarzdorn tun wird. Königin Fen … in den Visionen verhielt sie sich schon genauso. Sie hat sich mir erst geöffnet, als ich ihr mein ehrliches Gesicht gezeigt habe.«

»Dein ehrliches Gesicht muss nicht das eines Mörders sein, Dalinar.«

»Ich werde versuchen, niemanden zu töten«, sagte er. »Ich werde ihnen bloß eine Lektion erteilen. Sie brauchen eine Vorführung.«

Eine Lektion. Eine Vorführung.

Diese Worte blieben in seinem Kopf stecken, und er stellte fest, dass er in seinen Erinnerungen nach etwas Verschwommenem, Unbestimmtem suchte. Nach etwas … etwas, das mit dem Graben zu tun hatte und mit … Sadeas?

Die Erinnerung schoss davon und versteckte sich dicht unter der Oberfläche seines Bewusstseins. Sein Unterbewusstsein scheute davor zurück, und er zuckte zusammen, als hätte er eine Ohrfeige erhalten.

In dieser Richtung … in dieser Richtung lag Schmerz.

»Dalinar?«, fragte Navani. »Es wäre möglich, dass du recht hast. Vielleicht ist es für unsere Botschaft wirklich nicht hilfreich, wenn dich die Leute höflich und ruhig sehen.«

»Also doch noch mehr finstere Blicke?«

Sie seufzte. »Noch mehr finstere Blicke.«

Er grinste.

»Oder du grinst einfach«, fügte sie hinzu. »Das wirkt bei dir nochbeunruhigender.«

Der Hof von Talenelat war ein großes Steingeviert, das Steinsehne, dem Herold der Soldaten geweiht war. Auf einem stufenförmigen Podest stand der Tempel selbst, aber sie erhielten keine Gelegenheit hineinzuschauen, denn der Haupteingang war eingestürzt. Ein großer rechteckiger Steinblock, der als Sims gedient hatte, war heruntergefallen.

Wunderschöne Reliefs bedeckten die Außenwände und zeigten den Herold Talenelat, wie er sich allein gegen eine Woge von Bringern der Leere behauptete. Leider war das Kunstwerk an unzähligen Stellen gerissen und gebrochen. Ein großer schwarzer Brandfleck am oberen Teil der Mauer zeigte an, dass ein Blitz des Ewigsturms in das Gebäude eingeschlagen war.

Keinem anderen Tempel war es so schlecht ergangen. Es war, als hegte Odium einen besonderen Groll gegen ihn.

Talenelat, dachte Dalinar. Er war derjenige, den sie im Stich gelassen hatten. Der, den ich verloren habe …

»Ich muss mich um noch etwas kümmern«, sagte Fen. »Da der Handel in dieser Stadt beinahe zum Erliegen gekommen ist, bin ich nicht in der Lage, Euch ein großes Essen anzubieten – nur einige Nüsse und Früchte sowie gepökelten Fisch. Wir haben alles, was uns zur Verfügung steht, für Euch bereitgestellt. Ich werde bald zurückkehren, und dann werden wir miteinander reden. In der Zwischenzeit werden sich meine Diener um Eure Bedürfnisse kümmern.«

»Danke«, sagte Dalinar. Sie wussten beide, dass sie ihn absichtlich warten ließ. Es würde nicht lange dauern – vielleicht eine halbe Stunde. Nicht so lange, dass es als Beleidigung hätte aufgefasst werden können, aber gerade so lange, dass es ihm verdeutlichte, wer hier das Sagen hatte, egal wie mächtig er selbst war.

Obwohl es seinem Wunsch entgegenkam, ein wenig Zeit mit Fens Untertanen zu verbringen, ärgerte ihn dieses Spiel. Fen und ihr Gemahl zogen sich zurück und ließen ihr Gefolge bei Dalinar, damit es ebenfalls die mageren Speisen genießen konnte.

Doch Dalinar entschloss sich zu einem Kampf.

Fens Sohn würde dazu ausreichen. Er schien der Kritischste der Anwesenden zu sein. Ich möchte nicht wie der Aggressor wirken, dachte Dalinar, während er sich näher an den jungen Mann heranbrachte. Und ich sollte so tun, als wüsste ich nicht, wer er ist.

»Die Tempel waren hübsch«, sagte Navani, als sie sich zu ihm gesellte. »Aber du hast sie nicht genossen, oder? Du hättest lieber etwas Militärisches gesehen.«

Eine ausgezeichnete Eröffnung. »Du hast recht«, sagte er. »Du da. Hauptmann. Ich vertrödele meine Zeit nicht gern. Zeig mir die Stadtmauer. Wenigstens das ist etwas von wirklichem Interesse.«

»Meint Ihr das ernst?«, fragte Fens Sohn auf Alethi mit einem starken Thaylen-Akzent, in dem alle Wörter ineinanderflossen.

»Ich meine es immer ernst. Was ist los? Befindet sich eure Armee in einem so schlechten Zustand, dass es euch peinlich ist, sie mir zu zeigen?«

»Ich werde keinem feindlichen General erlauben, unsere Verteidigungsanlagen zu inspizieren.«

»Ich bin nicht dein Feind, mein Sohn.«

»Und ich bin nicht Euer Sohn, Tyrann.«

Dalinar tat so, als wäre er zutiefst enttäuscht. »Du folgst mir schon den ganzen Tag, Soldat, und sprichst Worte, von denen ich beschlossen habe, sie nicht zu hören. Aber jetzt bist du nahe der Linie, hinter der, wenn du sie überschreitest, eine Antwort für dich bereitliegt.«

Der junge Mann schwieg und zeigte ein gewisses Maß an Zurückhaltung. Er schien zu überdenken, in welche Lage er sich zu bringen drohte. Doch dann kam er offenbar zu dem Ergebnis, dass dieses Risiko es wert war, eingegangen zu werden. Wenn er hier und jetzt den Schwarzdorn demütigte, könnte es vielleicht die Stadt retten – zumindest seiner Meinung nach.

»Ich bedauere nur«, fuhr der Mann ihn an, »dass ich nicht laut genug gesprochen habe, damit Ihr die Beleidigungen deutlicher hören konntet, Despot.«

Dalinar seufzte laut, knöpfte seine Uniformjacke auf und zog sie aus. Nun trug er nur noch das behagliche Unterhemd.

»Keine Splitter«, sagte der junge Mann. »Langschwerter.«

»Wie du willst.« Fens Sohn besaß keine Splitter, aber er hätte sie sich ausleihen können, wenn Dalinar darauf bestanden hätte. Rial und Dalinars Leibwächter kamen auf ihn zu; Vorahnungssprengsel peitschten nervös hinter ihnen her. Dalinar winkte sie zurück.

»Verletz ihn nicht«, flüsterte Navani, dann hielt sie kurz inne. »Aber verlier auch nicht.«

»Ich werde ihm nichts antun«, sagte Dalinar und reichte ihr seine Jacke. »Ansonsten kann ich dir nichts versprechen.« Sie verstand es nicht – was aber vollkommen natürlich war. Er durfte diesen Mann nicht einfach zusammenschlagen. Damit würde er den anderen nur beweisen, dass Dalinar ein Schläger und Raufbold war.

Er schritt den Kampfplatz ab und zählte die Schritte, die er machen konnte, ohne den Ring zu verlassen.

»Ich habe Langschwerter gesagt«, meinte der junge Mann und hob seine Waffe. »Wo ist Euer Schwert?«

»Wir machen es mit abwechselndem Vorteil, drei Minuten«, sagte Dalinar. »Bis zum Austritt des ersten Blutes. Du kannst gern anfangen.«

Der junge Mann erstarrte. Mit abwechselndem Vorteil. Das bedeutete, dass er drei Minuten bewaffnet sein und gegen den unbewaffneten Dalinar kämpfen würde. Wenn Dalinar das überstand, ohne eine blutende Wunde davongetragen oder den Kampfkreis verlassen zu haben, müsste er im Gegenzug auch drei Minuten unbewaffnet gegen den bewaffneten Dalinar überstehen.

Das war ein lächerliches Ungleichgewicht, das eigentlich nur in Übungskämpfen vorkam, wenn die Männer für Situationen ausgebildet wurden, in denen sie unbewaffnet gegen einen bewaffneten Feind standen. Aber in diesen Fällen wurden nie scharfe Klingen eingesetzt.

»Ich …«, sagte der junge Mann. »Ich nehme lieber ein Messer.«

»Nicht nötig. Mit dem Langschwert bin ich einverstanden.«

Der junge Mann sah Dalinar verständnislos an. In den Liedern und Geschichten wurde oft von einem heldenhaften Unbewaffneten berichtet, der viele bewaffnete Gegner bezwingt, aber in der Wirklichkeit war es unglaublich schwierig, mit bloßen Händen gegen einen einzelnen Bewaffneten zu kämpfen.