Die Stürme des Zorns - Brandon Sanderson - E-Book

Die Stürme des Zorns E-Book

Brandon Sanderson

4,9
13,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Ein Held, der sich mit ganzer Kraft gegen sein Schicksal stemmt. Ein General, dessen tödlichster Auftrag ist, den Krieg zu beenden. Eine Prinzessin, die nicht ahnt, welches machtvolle Erbe tatsächlich auf sie wartet. Und ein Assassine, dessen übermenschliche Fähigkeiten Könige und Fürsten erzittern lassen. Sie alle sind die einzigartigen Helden im großen Kampf um die Zukunft der Welt von Roschar – ein scheinbar aussichtsloser Kampf. Doch die Rettung naht bereits …

Der Krieg zwischen dem Königreich Alethkar und dem geheimnisvollen Volk der Parshendi tobt bereits mehrere Jahre. Politische Intrigen und die Jagd nach magischen Edelsteinen lassen die Hoffnung auf ein baldiges Ende des Krieges sinnlos erscheinen. Aber dann tritt mit dem jungen Kaladin nicht nur ein ungewöhnlicher Held auf, ein Dunkelauge und ehemaliger Sklave. General Dalinar Kholin, der Kaladin unter sein Kommando nimmt, beschließt auch, alle Vorsicht fahren zu lassen und zusammen mit seinem Sohn und Kaladin an der Verwirklichung der Verheißung zu arbeiten – und den Orden der Strahlenden Ritter neu zu gründen. Mit ihnen will Kholin den Kampf gegen den weißen Assassinen aufnehmen und den Krieg ein für alle Mal beenden – und so den alles zerstörenden Ewigsturm aufhalten. Doch der Orden ist mit einem jahrtausendealten Fluch belegt . . .

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 1003

Bewertungen
4,9 (30 Bewertungen)
26
4
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Von Brandon Sanderson sind im Wilhelm Heyne Verlag erschienen:

ElantrisSturmklängeSteelheartDie Seele des Königs

DIE KINDER DES NEBELS-SAGA:

Kinder des NebelsKrieger des FeuersHerrscher des LichtsJäger der Macht

DIE STURMLICHT-CHRONIKEN:

Der Weg der KönigeDer Pfad der WindeDie Worte des LichtsDie Stürme des Zorns

Für Oliver Sanderson,

der geboren wurde,als ich mitten in der Arbeit andiesem Buch steckte,und der bereits laufen konnte,als ich damit fertig war.

Inhaltsverzeichnis

WidmungERSTER TEIL: Tödlich
1 - IN DEN HIMMEL2 - VOLLKOMMENHEIT 3 - SCHLEIERS LEKTION 4 - DIE REGELN DES SPIELS 5 - DER ENTFESSELTE WEISSDORN 6 - DEN WIND ZU TÖTEN 7 - NIE WIEDER
ZWISCHENSPIELE
Z-1 - LIFT Z-2 - SZETH Z-3 - NEUE RHYTHMEN
ZWEITER TEIL: Das Nahen
8 - FLOTT 9 - SCHLEIERS GANG 10 - GEHORSAM 11 - GETÖTETE VERSPRECHEN 12 - EINE BRENNENDE WELT 13 - SCHÄTZE 14 - WER ES VERDIENT HAT 15 - STURMSEGNUNGEN 16 - GIFT UND GALLE 17 - BRÜCKEN 18 - NICHTS 19 - AUS EINEM ALBTRAUM 20 - NACHTWACHE 21 - SELBSTSÜCHTIGE GRÜNDE 22 - TAUSEND HUSCHENDE KREATUREN 23 - EIN SCHREITEN AUF DEM STURM 24 - WAHRER RUHM
ZWISCHENSPIELE
Z-4 - LHAN Z-5 - EINE ROLLE SPIELEN Z-6 - TARAVANGIAN
DRITTER TEIL: Brausende Stürme
25 - DIE VERBORGENE KLINGE 26 - VERTRAUEN 27 - WIDERSPRÜCHE 28 - AUF DIE MITTE ZU 29 - KAMPF GEGEN DEN REGEN 30 - DER LETZTE TAG 31 - RUHMESLEUCHTEN 32 - DAS TRUGBILD DER ZEIT 33 - RETTUNG 34 - VOM HIMMEL VERSCHLUCKT 35 - MUSTER AUS LICHT 36 - DIE NACHLASSUNG 37 - DER MANN, DEM DIE WINDE GEHÖRTEN 38 - DIE VIER
EPILOG: KUNST UND ERWARTUNG ARS ARCANUM - DIE ZEHN ESSENZEN UND IHRE HISTORISCHEN BEZIEHUNGEN
DIE ZEHN WOGEN ÜBER DIE ERSCHAFFUNG DER FABRIALE WINDLAUFEN UND PEITSCHEN
DANKSAGUNGCopyright

Da die Wahrheitswächter ihrer Natur nach esoterisch waren und sich ihr Orden ausschließlich aus jenen zusammensetzte, die über das, was sie taten, weder sprachen noch schrieben, muss darin eine große Enttäuschung für all jene liegen, die ihre übersteigerte Verschwiegenheit von außen betrachten. Sie waren nicht zu Erklärungen geneigt, und im Fall von Corberons Missstimmigkeiten war ihr Schweigen kein Zeichen übermäßiger Verachtung, sondern eher übermäßigen Taktgefühls.

Aus Die Worte des Lichts, Kapitel 11, Seite 6

In der Nacht schlenderte Kaladin über die Zerbrochene Ebene und kam an Büscheln von Schieferborken und Rankengewächsen vorbei, in denen sich Lebenssprengsel wie Motten tummelten. In den Senken waren die Tümpel vom Großsturm des vergangenen Tages noch nicht verschwunden; der fette Krem in ihnen bedeutete für die Pflanzen ein Fest. Zu seiner Linken hörte Kaladin den geschäftigen Lärm der Kriegslager, aber rechts von ihm herrschte Stille. Hier gab es nur die endlosen Plateaus.

Als er noch ein Brückenmann gewesen war, hatten ihn Sadeas’ Soldaten nicht daran gehindert, auf der Ebene herumzuspazieren. Was gab es denn schließlich hier draußen? Stattdessen hatte Sadeas am Rand der Lager und an den Brücken Wächter aufgestellt, damit die Sklaven nicht entkommen konnten.

Was es hier draußen gab? Nichts als die Erlösung, gefunden in den Tiefen der Klüfte.

Kaladin drehte um und wanderte am oberen Rand einer dieser Klüfte entlang. Er kam an Soldaten vorbei, die bei den Brücken Wache schoben und deren Fackeln im Wind zitterten. Die Männer salutierten vor ihm.

Schau an, dachte er und schritt weiter über das Plateau. Die Kriegslager links von ihm versahen die Luft stellenweise mit Licht; es reichte aus, um ihm zu verraten, wo er sich befand. Am Rand des Plateaus kam er zu der Stelle, an der er sich in jener Nacht vor vielen Wochen mit dem Schelm des Königs getroffen hatte. Es war eine Nacht der Entscheidungen und Veränderungen gewesen.

Kaladin trat an den Abgrund und sah nach Osten.

Veränderung und Entscheidung. Er warf einen Blick über die Schulter. Die Wachtposten hatte er hinter sich gelassen, und niemand befand sich mehr in seiner Nähe. Mit dem Gürtel voller Kugeln sprang Kaladin in die Kluft hinein.

Sadeas’ Kriegslager gefiel Schallan nicht.

Hier war die Luft anders als in Sebarials Lager. Es stank, und außerdem roch es nach Verzweiflung.

Konnte man Verzweiflung denn riechen? Sie glaubte, diesen Geruch beschreiben zu können: nach Schweiß, nach billigem Alkohol und nach Krem, der nicht von den Straßen gefegt worden war. All das hing über den schlecht beleuchteten Wegen. In Sebarials Lager spazierten die Menschen in Gruppen herum. Hier aber zogen sie in Meuten und Horden umher.

Sebarials Lager roch nach Gewürzen und Geschäftigkeit – nach neuem Leder und manchmal auch nach Nutzvieh. Dalinars Lager hingegen verströmte einen Geruch von Politur und Öl. An jeder zweiten Ecke tat dort jemand etwas Praktisches. Es gab zwar nur noch wenige Soldaten in Dalinars Lager, aber alle steckten immerzu in ihren Uniformen, als bedeuteten sie einen Schutzschild gegen das Chaos.

In Sadeas’ Lager trugen jene Soldaten, die überhaupt eine Uniform angelegt hatten, diese aufgeknöpft, und ihre Hosen waren verknittert. Schallan kam an einer Taverne nach der anderen vorbei, und aus jeder drang Lärm. Die Frauen, die vor einigen dieser Häuser herumstanden, deuteten an, dass es sich dabei nicht bloß um einfache Tavernen handelte. Auf Bordelle traf man zwar in allen Lagern, aber hier waren sie besonders zahlreich und überdeutlich zu erkennen.

Schallan bemerkte weniger Parscher als in Sebarials Lager. Sadeas bevorzugte traditionelle Sklaven: Männer und Frauen, auf deren Stirnen die Brandmale zu sehen waren und die mit gebeugtem Rücken und hängenden Schultern herumhuschten.

Wenn sie ehrlich zu sich selbst war, hatte sie all das auch von einem Kriegslager erwartet. Sie hatte viele Berichte über die Soldaten, über das zahlreiche Kriegsgefolge und die mangelnde Disziplin gelesen. Ebenso über die aufbrausende Art von Männern, die zum Töten ausgebildet worden waren. Vielleicht sollte sie sich nicht über die unangenehmen Zustände in Sadeas’ Lager wundern, sondern eher über die Ordnung, die in vielen anderen herrschte.

Schallan eilte weiter. Sie trug das Gesicht eines jungen dunkeläugigen Mannes und hatte ihre Haare unter eine Kappe geschoben. Und sie hatte sich feste Handschuhe übergestülpt. Wenn sie sich auch als Mann verkleidet hatte, so wollte sie doch nicht mit entblößter Schutzhand herumlaufen.

Bevor sie heute Abend aufgebrochen war, hatte sie vorsichtshalber eine Reihe von Zeichnungen neuer Gesichter angefertigt. Inzwischen hatte sich herausgestellt, dass sie eine Skizze, die sie am Morgen gezeichnet hatte, noch am Nachmittag als Vorbild verwenden konnte. Wenn sie hingegen länger als einen Tag wartete, war das Abbild, das sie erschuf, verschwommen und wirkte manchmal geradezu geschmolzen. Das erschien Schallan nachvollziehbar. Der Schöpfungsprozess hinterließ in ihrem Geist ein Bild, das mit der Zeit immer unschärfer wurde.

Ihr gegenwärtiges Gesicht basierte auf den Botenjungen, die in Sadeas’ Lager umherliefen. Immer wenn sie einem Rudel Soldaten begegnete, schlug ihr das Herz bis zum Hals, aber niemand schenkte ihr größere Aufmerksamkeit.

Amaram war ein Hochherr – ein Mann aus dem dritten Dahn, wodurch er einen ganzen Rang höher stand als ihr Vater und zwei Ränge höher als Schallan selbst. Dies verschaffte ihm das Recht auf ein eigenes Gebiet im Lager seines Lehnsherrn. Auf seinem stattlichen Haus flatterte sein eigenes Banner, außerdem besaß er eine persönliche Soldatentruppe, die in den angrenzenden Gebäuden untergebracht war. Pfosten mit seinen Farben – dunkelrot und waldgrün – waren in den Steinboden gerammt und zeigten seinen Einflussbereich an. Schallan ging an ihnen vorbei, ohne anzuhalten.

»He, du!«

Da erstarrte sie und fühlte sich in der Dunkelheit plötzlich sehr klein. Und doch nicht klein genug. Sie drehte sich langsam um, als zwei Wächter auf sie zukamen. Ihre Uniformen waren sauberer als alles, was sie bisher in diesem Lager gesehen hatte. Sogar die Jackenknöpfe waren poliert, aber statt Hosen trugen die Männer den rockähnlichen Takama. Amaram war ein Traditionalist, was sich auch in seinen Uniformen widerspiegelte.

Die Wächter überragten sie, wie es bei den meisten Alethi der Fall war. »Ein Bote?«, fragte der eine. »Zu dieser späten Stunde?« Er war ein stämmiger Kerl mit ergrauendem Bart und einer dicken, breiten Nase.

»Es ist noch nicht einmal die Zeit des zweiten Mondes, Herr«, sagte Schallan mit einer Stimme, von der sie hoffte, dass sie jungenhaft klang.

Er schenkte ihr einen dunklen Blick. Was hatte sie gesagt? Herr, erkannte sie. Er ist aber kein Offizier.

»Melde dich von jetzt an bei den Wachtposten, wenn du zu uns kommst«, sagte der Mann und deutete auf einen kleinen, hellen Fleck in einiger Entfernung hinter ihnen. »Wir achten streng auf unseren Sicherheitsbereich.«

»Ja, Sergeant.«

»Hör auf, den Jungen zu schikanieren, Hav«, sagte der andere Soldat. »Du kannst nicht erwarten, dass er Regeln kennt, die der Hälfte unserer Soldaten noch immer unbekannt sind.«

»Geh weiter«, sagte Hav und winkte Schallan durch. Eilig gehorchte sie. Ein Sicherheitsbereich? Sie beneidete diese Männer keineswegs um ihre Aufgabe. Amaram verfügte über keine Mauer, mit der er die Leute hätte fernhalten können, sondern hatte nur ein paar farbige Pfosten.

Amarams Haus war eher klein; es besaß lediglich zwei Stockwerke mit je einer Handvoll Zimmer. Früher war es vielleicht einmal eine Taverne gewesen, und es diente ihm auch nur vorübergehend, denn er war gerade erst in den Kriegslagern eingetroffen. Hohe Stapel von Kremziegeln und Steinen daneben deuteten an, dass ein weitaus prächtigeres Gebäude bereits in Planung war. In der Nähe standen andere Häuser, die als Kasernen für Amarams persönliche Soldatentruppe beschlagnahmt worden waren; sie umfasste nur etwa fünfzig Mann. Die meisten Soldaten, die er mitgebracht hatte, waren anderswo einquartiert worden; sie stammten von Sadeas’ Besitzungen und hatten ihm ihre Treueeide geleistet.

Sobald sie nah genug an Amarams Haus herangekommen war, presste sie sich gegen ein Nebengebäude und hockte sich nieder. Sie hatte drei Abende damit verbracht, das Gelände auszukundschaften, und jedes Mal hatte sie ein anderes Gesicht getragen. Vielleicht war das übervorsichtig gewesen. Sie war so schrecklich unsicher. So etwas hatte sie nie zuvor getan. Mit zitternden Fingern nahm sie ihre Kappe ab – dieser Teil ihrer Verkleidung war real –, und die Haare fielen ihr auf die Schultern. Dann nahm sie ein zusammengefaltetes Bild aus ihrer Tasche und wartete.

Minuten vergingen, während sie auf das Haus starrte. Na los…, dachte sie. Na los …

Endlich trat eine junge dunkeläugige Frau aus dem Haus, Arm in Arm mit einem großen Mann in einer Hose und einem locker geknöpften Hemd. Die Frau kicherte, als ihr Freund etwas sagte, dann huschte sie in die Nacht hinein. Der Mann rief ihr etwas nach und folgte ihr. Die Dienerin, deren Namen Schallan noch immer nicht hatte in Erfahrung bringen können, ging jede Nacht zur gleichen Zeit weg – bisher zweimal mit diesem Mann und einmal mit einem anderen.

Schallan holte tief Luft, sog Sturmlicht ein und hielt das Bild hoch, das sie zu einer anderen Gelegenheit von der jungen Frau gezeichnet hatte. Sie hatte ungefähr Schallans Größe, auch ihre Haare waren von gleicher Länge, und ihre Statur ähnelte der von Schallan … Das musste ausreichen. Sie atmete aus und wurde zu jemand anderem.

Sie kichert und lacht, dachte Schallan, während sie ihre maskulinen Handschuhe auszog und die Schutzhand mit einem femininen bedeckte, und oft huscht sie auf den Zehenspitzen herum. Ihre Stimme ist höher als meine, außerdem hat sie keinen Akzent.

Schallan hatte den richtigen Tonfall geübt, aber sie hoffte, die Glaubhaftigkeit ihrer Stimme nicht auf die Probe stellen zu müssen. Schließlich musste sie nur durch die Tür treten, die Treppe hinaufgehen und in den richtigen Raum schlüpfen. Das war einfach.

Sie stand auf, hielt den Atem an, nährte sich am Sturmlicht und schritt auf das Gebäude zu.

Kaladin traf in einem glühenden Lichtsturm auf den Boden der Kluft. Er legte sich den Speer an die Schulter und lief los. Es war schwer, mit dem Sturmlicht in den Adern still zu stehen.

Er warf einige Beutel mit Kugeln auf den Boden, um sie später benutzen zu können. Das Sturmlicht, das von seiner entblößten Haut aufstieg, erleuchtete die Kluft ausreichend und warf Schatten an die Wände. Sie schienen zu Gestalten zu werden, erschaffen von den Knochen und Ästen, die aus den Schutthaufen am Boden ragten. Körper und Seelen. Seine Bewegungen führten dazu, dass sich die Schatten wanden, als drehten sie sich zu ihm um und betrachteten ihn.

Es war, als laufe er zwischen schweigenden Zuschauern dahin. Syl flog als Lichtband zu ihm herunter, passte sich seiner Geschwindigkeit an und hielt sich neben seinem Kopf. Er setzte über Hindernisse hinweg, platschte durch Pfützen und wärmte seine Muskeln für die bevorstehenden Übungen.

Dann sprang er an die Wand.

Ungeschickt prallte er gegen sie und rollte über einige Rüschenblüten. Schließlich lag er mit dem Gesicht nach unten auf der Wand. Er knurrte und sprang hoch, während das Sturmlicht eine kleine Schnittwunde an seinem Arm heilte.

Es fühlte sich so unnatürlich an, auf eine Wand zu springen; stets brauchte er eine Weile, bis er die Orientierung wiedergefunden hatte.

Er lief erneut los, sog weiteres Sturmlicht ein und gewöhnte sich an den Perspektivwechsel. Als er den nächsten Spalt zwischen den Plateaus erreicht hatte, wirkte es auf ihn, als schaue er in eine tiefe Grube. Die Wände der Kluft waren in seinen Augen zu Boden und Decke geworden.

Er sprang von der Wand herunter, richtete den Blick auf den Grund der Kluft und blinzelte. Er zwang sich, diese Richtung wieder als unten zu betrachten. Unsanft landete er in einer Pfütze.

Er rollte sich auf den Rücken, lag im kalten Wasser und seufzte. Krem, der sich auf dem Boden abgesetzt hatte, wurde zwischen seinen Fingern hindurchgedrückt, als er die Faust ballte.

Syl landete auf seiner Brust und nahm erneut die Gestalt einer jungen Frau an. Dazu stemmte sie die Hände in die Hüften.

»Was ist los?«, fragte er.

»Das war armselig.«

»Dem muss ich zustimmen.«

»Vielleicht gehst du etwas zu schnell vor«, sagte sie. »Warum versuchst du nicht, an die Wand zu springen, ohne vorher Anlauf zu nehmen?«

»Der Attentäter könnte es so machen«, sagte Kaladin. »Ich muss in der Lage sein, wie er zu kämpfen.«

»Ich verstehe. Und ich nehme an, dass er seit dem Augenblick seiner Geburt so kämpfen konnte – ohne jede Übung.«

Ganz langsam stieß Kaladin die Luft aus. »Du klingst wie Tukks.«

»Ach ja? War er denn auch so brillant, wunderschön und hatte immer recht?«

»Er war laut, intolerant und höchst bissig«, sagte Kaladin und stand auf. »Aber es stimmt schon, dass er meistens recht hatte.« Er trat an die Wand und lehnte seinen Speer dagegen. »Szeth hat es ›Peitschen‹ genannt.«

»Ein guter Ausdruck«, sagte Syl und nickte.

»Wenn ich es richtig machen will, muss ich zuerst einige Grundlagen lernen.« Es war wie das Üben mit dem Speer.

Das bedeutete, dass er vermutlich Hunderte Male gegen die Wand hüpfen musste.

Besser das, als durch die Splitterklinge des Attentäters zu sterben, dachte er und machte sich an die Arbeit.

Schallan betrat Amarams Küche und versuchte sich mit der energischen Anmut des Mädchens zu bewegen, dessen Gesicht sie trug. Der große Raum roch stark nach dem Curry, das auf dem Herd kochte – die Überreste des Abendessens, die für den Fall aufbewahrt wurden, dass irgendein Hellauge noch einmal hungrig werden sollte. Die Köchin saß in der Ecke und blätterte in einem Roman, während ihre Mägde die Töpfe scheuerten. Der Raum wurde von Kugeln hell erleuchtet. Offenbar vertraute Amaram seiner Dienerschaft.

Eine lange Treppenflucht führte in den ersten Stock hinauf und bot den Bediensteten einen raschen Zugang zu Amarams Gemächern. Schallan hatte einen Plan des Gebäudes nach Schätzungen gezeichnet, die sich aus der Anordnung der Fenster ergaben. Der Raum der Geheimnisse war einfach zu bestimmen gewesen – Amaram hatte sein Fenster mit einem Laden versehen lassen, der nie geöffnet wurde. Und anscheinend war auch ihre Vermutung hinsichtlich der Treppe in der Küche zutreffend gewesen. Sie ging auf die Stufen zu und summte sich dabei etwas vor, wie es die Frau, die sie nachahmte, zu tun pflegte.

»Schon zurück?«, fragte die Köchin, ohne von ihrem Buch aufzusehen. Ihrem Akzent nach war sie eine Herdazianerin. »Ist sein Geschenk heute nicht gut genug gewesen? Oder hat der andere euch beide zusammen gesehen?«

Schallan antwortete nicht und versuchte ihre Nervosität durch das Summen zu übertünchen.

»Dann könntest du eigentlich etwas Nützliches tun«, sagte die Köchin. »Stine wollte, dass jemand die Spiegel für ihn poliert. Er ist im Arbeitszimmer und säubert gerade die Flöten des Meisters.«

Flöten? Ein Soldat wie Amaram spielte Flöte?

Was würde die Köchin tun, wenn Schallan einfach weiter auf die Treppe zuging und den Befehl missachtete? Für ein Dunkelauge bekleidete die Frau vermutlich einen recht hohen Rang und war ein wichtiges Mitglied des Haushalts.

Ohne den Blick von ihrem Roman zu heben, fuhr die Köchin sanft fort: »Glaube nicht, dass wir nicht bemerkt hätten, wie du dich am Mittag weggestohlen hast, Kind. Nur weil der Herr dich mag, heißt das noch lange nicht, dass du dir alles erlauben kannst. Also mach dich an die Arbeit. Wenn du deinen freien Abend mit Putzen statt mit Spielen verbringst, wird dich das daran erinnern, dass auch du gewisse Pflichten hast.«

Schallan biss die Zähne zusammen und warf einen Blick auf die Treppe, die zu ihrem Ziel hinaufführte. Die Köchin senkte langsam ihr Buch. Ihr düsterer Blick zeugte davon, dass man ihr besser nicht widersprach.

Schallan nickte, ging von der Treppe weg und betrat den Korridor, der dahinter lag. Dort würde es weitere Stufen geben, die zur vorderen Halle hinaufführten. Sie musste einfach nur in dieser Richtung weitergehen und …

Schallan erstarrte, als eine Gestalt aus einem Seitenzimmer in den Gang trat. Der Mann war groß, hatte ein kantiges Gesicht, eine gerade Nase und trug Hellaugenkleidung von modernem Zuschnitt: eine offene Jacke über einem geknöpften Hemd, eine steife Hose und eine Halsbinde.

Bei allen Stürmen! Großherr Amaram sollte doch nicht hier sein! Adolin hatte gesagt, dass Amaram heute mit Dalinar und dem König zu Abend aß. Warum also war er zu Hause?

Amaram schaute in ein Kontobuch, das er in der Hand hielt, und schien das Dienstmädchen gar nicht bemerkt zu haben. Er schritt den Korridor entlang.

Lauf weg. Das war ihre erste Reaktion. Sie sollte durch den Vordereingang fliehen und in die Nacht verschwinden. Aber sie hatte bereits mit der Köchin gesprochen. Wenn die Frau, die Schallan imitierte, später am Abend zurückkam, würde sie in gewaltigen Schwierigkeiten stecken – und sie wäre in der Lage, durch Zeugen zu beweisen, dass sie gar nicht im Haus gewesen war. Dann würde Amaram herausfinden, dass jemand herumgeschnüffelt und dabei die Gestalt einer seiner Dienerinnen angenommen hatte.

Sturmvater! Sie hatte das Haus gerade erst betreten, und schon steckte sie tief im Schlamassel.

Vor ihr knarrten Stufen. Amaram ging zu seinem Zimmer – zu dem Raum, den Schallan durchsuchen sollte.

Die Geisterblüter werden mehr als wütend auf mich sein, weil ich Amaram alarmiert habe, dachte Schallan, und sie werden noch wütender sein, wenn ich ohne neue Erkenntnisse zurückkehre.

Sie musste unbedingt in dieses Zimmer gelangen, und zwar allein. Deshalb durfte sie auch nicht zulassen, dass Amaram es betrat.

Schallan eilte hinter ihm her, hastete in die Eingangshalle, huschte um die Treppenspindel herum und flog die Stufen hinauf. Amaram hatte gerade den obersten Absatz erreicht und wandte sich dem Korridor zu. Vielleicht war er gar nicht zum Zimmer der Geheimnisse unterwegs.

Doch so viel Glück hatte Schallan nicht. Als sie den ersten Stock erreichte, sah sie, wie Amaram sich genau jener Tür zuwandte, einen Schlüssel hob, ihn in das Schloss einführte und herumdrehte.

»Hellherr Amaram«, sagte Schallan außer Atem, als sie den oberen Absatz erreicht hatte.

Er drehte sich zu ihr um und runzelte die Stirn. »Telesch? Warum gehst du heute Abend denn nicht aus?«

Jetzt kannte sie wenigstens ihren Namen. Hatte Amaram tatsächlich ein so großes Interesse an seinen Bediensteten, dass er sogar wusste, was eine einfache Dienerin in ihrer freien Zeit vorhatte?

»Ich war aus, Hellherr«, sagte Schallan, »aber ich bin schon wieder zurück.«

Er muss abgelenkt werden. Doch es darf nicht auffallen. Denk doch nach! Ob er bemerkte, dass die Stimme anders klang?

»Telesch«, sagte Amaram und schüttelte den Kopf. »Kannst du dich noch immer nicht zwischen den beiden entscheiden? Ich habe deinem guten Vater versprochen, mich um dich zu kümmern. Aber wie soll mir das möglich sein, wenn du nicht zur Ruhe kommst?«

»Das ist es nicht, Hellherr«, sagte Schallan rasch. »Hav hat an der Grenze einen Boten angehalten, der zu Euch wollte. Darum hat Hav mich zu Euch geschickt, damit ich es Euch sage.«

»Ein Bote?«, fragte Amaram und zog den Schlüssel wieder aus dem Schloss. »Von wem?«

»Das hat Hav nicht gesagt, Hellherr. Aber er scheint der Meinung zu sein, dass es wichtig ist.«

»Dieser Mann …«, sagte Amaram mit einem Seufzen. »Er ist einfach zu fürsorglich. Glaubt er wirklich, er kann im Durcheinander dieses Lagers für gesicherte Grenzen sorgen?« Der Großherr dachte nach, dann stopfte er den Schlüssel wieder in seine Hosentasche. »Aber ich sollte mich trotzdem darum kümmern.«

Schallan verneigte sich vor ihm, als er an ihr vorbei zur Treppe ging und diese hinabstieg. Sobald er außer Sichtweite war, zählte sie bis zehn, dann trat sie vor die Tür. Sie war noch immer verschlossen.

»Muster!«, flüsterte Schallan. »Wo bist du?«

Er kam aus den Falten ihres Rocks hervor, bewegte sich über den Boden und dann an der Tür hoch, bis er sich unmittelbar vor ihr befand; er wirkte wie ein erhabenes Schnitzwerk im Holz.

»Das Schloss?«, fragte Schallan.

»Es ist ein Muster«, sagte er, verkleinerte sich und schlüpfte in das Schlüsselloch. In ihren eigenen Zimmern hatte sie ihm mehrfach aufgetragen, die Türschlösser zu öffnen, und er hatte es genauso geschafft wie bei Jasnahs Truhe.

Das Schloss klickte; sie öffnete die Tür und huschte in das dunkle Zimmer hinein. Eine Kugel, die sie aus ihrem Kleid nahm, spendete ihr ein wenig Licht.

Der Geheimraum. Das war der Raum, dessen Fensterläden andauernd geschlossen waren. Der Raum, den die Geisterblüter unbedingt sehen wollten.

Er war voller Landkarten.

Kaladin fand heraus, dass es beim Springen von einer Oberfläche zur anderen nicht um eine möglichst sanfte Landung ging. Auch nicht um Reflexe und den richtigen Zeitpunkt. Es ging in der Hauptsache nicht einmal um den Wechsel der Perspektive.

Sondern um Angst.

Es ging um den Augenblick, in dem er in der Luft hing und sein Körper plötzlich nicht mehr nach unten, sondern zur Seite gezogen wurde. Seine Instinkte waren nicht in der Lage, mit diesem Wechsel umzugehen. Ein archaischer Teil von ihm geriet jedes Mal in Panik, wenn sich unter ihm nichts mehr befand.

Er rannte auf die Wand zu, sprang los, warf die Füße seitwärts. Er durfte nicht zögern, durfte keine Angst haben, er durfte nicht zurückschrecken. Es war, als müsste er sich beibringen, mit dem Kopf voran auf eine steinerne Oberfläche zu springen, ohne die Hände zum Schutz zu heben.

Er wechselte die Perspektive und benutzte Sturmlicht, damit die Wand für ihn zum Boden wurde. Er richtete die Füße aus. In diesem kurzen Moment rebellierten seine Instinkte. Der Körper wusste, dass er zurück zum Kluftboden fallen würde. Er würde sich die Knochen brechen und den Kopf anschlagen.

Er landete auf der Wand, ohne zu taumeln.

Kaladin richtete sich überrascht auf, stieß die Luft aus, und Sturmlicht trieb vor seinem Mund dahin.

»Nett!«, sagte Syl und umschwirrte ihn.

»Das ist doch unnatürlich«, sagte Kaladin.

»Nein. Ich könnte niemals an etwas Unnatürlichem teilnehmen. Es ist nur … außernatürlich.«

»Du meinst übernatürlich.«

»Nein, das meine ich nicht.« Sie lachte und zischte vor ihm her.

Es war unnatürlich – genauso wie das Gehen für ein Kind, das es gerade erst lernte, unnatürlich war. Zu etwas Natürlichem wurde es erst mit der Zeit. Kaladin lernte zu kriechen – doch leider würde er schon sehr bald rennen müssen. Wie ein Kind, das in ein Weißdornnest geworfen wurde. Lern es schnell, oder du wirst zum Mittagessen.

Er lief die Wand entlang, übersprang einen Auswuchs von Schieferborken, stieß sich zur Seite ab und landete auf dem Kluftboden. Er schwankte kaum.

Schon besser. Dann lief er hinter Syl her und machte weiter.

Landkarten.

Schallan kroch vorwärts; ihre einzelne Kugel zeigte ihr einen Raum, dessen Wände mit Landkarten bedeckt waren und auf dessen Boden sich die Papiere türmten. Sie waren mit Glyphen bedeckt, die rasch niedergeschrieben worden waren und keinen Gesetzen der Schönheit gehorchten. Schallan konnte die meisten kaum entziffern.

Ich habe davon gehört, dachte sie. Die Steinwächterschrift. Eine Möglichkeit, die Beschränkungen der geschriebenen Sprache zu umgehen.

War Amaram etwa ein Steinwächter? Eine Zeitentafel an der Wand, auf der die Großstürme und Berechnungen ihres Eintreffens verzeichnet waren – in derselben Handschrift, die auch die Papiere und Landkarten aufwiesen –, schien es zu beweisen. Vielleicht war es das, was die Geisterblüter suchten: Material für eine Erpressung. Die Steinwächter – männliche Gelehrte – waren den Menschen unheimlich. Ihre Benutzung der Glyphen, und zwar auf eine Weise, die grundsätzlich der Schrift gleichkam, und dann ihre Heimlichtuerei … Amaram war einer der fähigsten Generäle in ganz Alethkar. Er wurde sogar von denen respektiert, gegen die er kämpfte. Es konnte seinem Ruf ernsthaft schaden, wenn er als Steinwächter enttarnt wurde.

Aber warum gab er sich überhaupt mit einem so seltsamen Zeitvertreib ab? All diese Karten erinnerten sie schwach an diejenigen, die sie im Arbeitszimmer ihres Vaters nach dessen Tod entdeckt hatte – doch es waren ausnahmslos Karten von Jah Keved gewesen. »Halt draußen Wacht, Muster«, sagte sie. »Sag mir rechtzeitig, wenn Amaram das Haus wieder betritt.«

»Hm«, summte er und zog sich zurück.

Schallan wusste, dass ihr nur wenig Zeit blieb. Sie eilte zur Wand, hielt ihre Kugel hoch und machte Erinnerungsbilder von den Karten. Zeigten sie die Zerbrochene Ebene? Eine der Karten war wesentlich genauer als alle anderen, die sie je gesehen hatte – einschließlich der Hauptkarte, die sie in der königlichen Kartengalerie studiert hatte.

Woher hatte Amaram etwas so Kostbares? Sie versuchte die Glyphen zu entziffern, aber sie folgten keiner ihr bekannten Grammatik. Glyphen waren nicht dazu da, auf diese Weise verwendet zu werden. Sie übermittelten eine einzelne Vorstellung und keine Gedankenkette. Schallan las einige hintereinander.

Ursprung … Richtung … Ungewissheit … Der Ort des Mittelpunkts ist ungewiss? Vermutlich war dies die Bedeutung dieser Zeichen.

Andere Bemerkungen waren ähnlich, und Schallan übersetzte sie still. Vielleicht wird es Ergebnisse zeitigen, in diese Richtung vorzustoßen. Krieger wurden gesehen, die von hier aus beobachteten.Andere Glyphen ergaben überhaupt keinen Sinn. Diese Schrift wirkte bizarr. Vielleicht konnte Muster sie übersetzen, aber sie selbst war dazu auf keinen Fall in der Lage.

Neben den Karten hingen lange Papierstreifen an den Wänden, die mit Schriftzeichen, Abbildungen und Diagrammen bedeckt waren. Amaram musste an etwas arbeiten – an etwas Großem …

Parschendi!, erkannte sie. Das ist es, was diese Glyphen bedeuten. Parap-Schenesch-Idi. Die drei Glyphen meinten ganz verschiedene Dinge, wenn man sie einzeln nahm, aber zusammen ergab ihr Klang das Wort »Parschendi«. Das war der Grund, warum einiges wie Kauderwelsch klang. Amaram verwendete die Glyphen phonetisch. Er unterstrich sie, wenn er das tat, und dies erlaubte ihm, mit Glyphen Dinge auszudrücken, die eigentlich nicht ausdrückbar sein sollten. Die Sturmwächter hatten die Glyphen tatsächlich zu einer voll ausgebildeten Schrift umgewandelt.

Die Parschendi, übersetzte sie, während die Art der Zeichen sie noch immer stark ablenkte, müssen wissen, wie die Bringer der Leere zurückzuholen sind.

Was?

… das Geheimnis von ihnen erfahren …

… den Mittelpunkt vor den Alethi-Armeen erreichen …

Bei einigen Passagen handelte es sich offenbar um Zitate. Obwohl sie in Glyphen übertragen worden waren, erkannte Schallan sie, denn es waren Auszüge aus Jasnahs Werk. Sie bezogen sich auf die Bringer der Leere. Andere waren angebliche Darstellungen der Bringer der Leere und weiterer mythologischer Kreaturen.

Das war der endgültige Beweis dafür, dass die Geisterblüter an den gleichen Dingen wie Jasnah interessiert waren. Und wie Amaram. Mit einem Herzen, das vor Aufregung wild klopfte, drehte sich Schallan um und betrachtete den Raum. Befand sich hier das Geheimnis von Urithiru? Hatte er es gefunden?

Schallan konnte nicht alles übersetzen, was sie sah. Die Schrift war zu kompliziert für sie, und ihr rasendes Herz machte sie allzu nervös. Außerdem würde Amaram bald zurückkehren. Sie prägte sich die Dokumente ein, sodass sie später Skizzen von alldem anfertigen konnte.

Während sie das tat, erschufen die kurzen Übersetzungen, die sie zwischenzeitlich für sich anfertigte, eine ganz neue Art von Schrecken in ihr. Es hatte den Anschein, als ob … als ob Großherr Amaram, der Inbegriff der Alethi-Ehre, die Bringer der Leere entschlossen zurückzuholen versuchte!

Ich muss weitermachen, dachte Schallan. Ich kann mir nicht leisten, dass mich die Geisterblüter davonjagen, weil ich versagt habe. Ich muss herausfinden, was sie wissen. Und ich muss unbedingt wissen, warum Amaram das tut, was er tut.

Heute Nacht konnte sie nicht einfach weglaufen. Amaram durfte auf keinen Fall argwöhnen, dass jemand in sein Geheimzimmer eingedrungen war. Sie durfte diese Sache nicht vermasseln.

Schallan musste bessere Lügen gestalten.

Sie zog ein Blatt Papier aus ihrer Tasche, warf es auf den Schreibtisch und machte sich daran, wie eine Rasende zu zeichnen.

Kaladin sprang vorsichtig von der Wand herunter, drehte sich zur Seite, landete auf dem Boden, ohne dabei ins Taumeln zu geraten, und lief dann sofort weiter.

Mit jedem Sprung bezwang er die tief verwurzelte Panik besser. Hinauf, zurück an die Wand. Und wieder hinunter. Wieder und wieder. Und immer sog er das Sturmlicht ein.

Ja, das war natürlich. Das war er.

Er lief über den Kluftboden und verspürte eine Woge der Erregung. Schatten winkten ihn weiter, als er zwischen Haufen aus Knochen und Moos dahinrannte. Er sprang über eine große Pfütze, unterschätzte aber ihre Ausdehnung. Gerade noch drohte er ins Wasser zu stapfen, doch dann schaute er reflexartig hoch und peitschte sich in die Richtung des Himmels.

Einen Augenblick lang fiel Kaladin nicht mehr nach unten, sondern nach oben. Sein Schwung trieb ihn voran, er setzte vollständig über die Pfütze und peitschte sich dann wieder nach unten. Schließlich landete er in einem Trab und schwitzte.

Ich könnte mich nach oben peitschen, überlegte er, und auf ewig in den Himmel fallen.

Nein, so dachte nur ein gewöhnlicher Mensch. Ein Himmelsaal fürchtete sich doch nicht vor dem Sturz, oder? Und ein Fisch empfand keine Angst vor dem Ertrinken.

Solange er nicht auf diese neue Weise dachte, würde er die Gabe, die er erhalten hatte, niemals richtig beherrschen. Ja, es war durchaus eine Gabe, ein Geschenk. Und er würde es annehmen.

Der Himmel gehörte nun ihm.

Kaladin schrie vor Freude und schoss vorwärts. Er sprang und peitschte sich gegen die Wand. Keine Pause, kein Zögern, keine Angst. Er traf in vollem Lauf auf, und Syl lachte vor Vergnügen.

Es war so einfach. Kaladin sprang wieder von der Wand herunter und blickte unmittelbar vor sich auf die gegenüberliegende Felswand. Er peitschte sich in ihre Richtung und warf seinen Körper herum. Dann landete er und ging auf der Ebene in die Knie. Das war vorhin noch die Decke für ihn gewesen.

»Du hast es geschafft!«, sagte Syl und umflatterte ihn. »Was hat sich verändert?«

»Ich.«

»Ja, aber was an dir?«, fragte Syl.

»Alles.«

Sie runzelte die Stirn. Er grinste sie an und rannte an der Kluftwand entlang.

Schallan ging über die Hintertreppe des Herrenhauses zurück in die Küche und trat dabei fester auf, als es für sie üblich war – denn sie wollte schwerer wirken, als sie in Wirklichkeit war. Die Köchin schaute von ihrem Roman auf, ließ ihn fallen, riss vor Panik die Augen weit auf und wollte aufstehen. »Hellherr!«

»Bleib sitzen.« Schallan formte diese Worte nur mit dem Mund und kratzte sich dabei im Gesicht, um ihre Lippen zu verdecken. Es war Muster gewesen, der gesprochen hatte, was sie ihm aufgetragen hatte – es war eine vollkommene Nachahmung von Amarams Stimme.

Die Köchin blieb sitzen, wie es ihr befohlen worden war. Aus dieser Position würde sie hoffentlich nicht bemerken, dass Amaram kleiner war, als er sein sollte. Selbst wenn Schallan auf Zehenspitzen ging – was durch die Illusion verborgen wurde –, war sie immer noch viel kleiner als der General.

»Du hast vorhin mit der Magd Telesch gesprochen«, sagte Muster, während Schallans Lippen die Worte bildeten.

»Ja, Hellherr«, sagte die Köchin so leise wie Muster. »Ich habe sie zu Stine geschickt, damit sie ihm heute Abend hilft. Ich war der Meinung, das Mädchen bräuchte ein wenig Führung.«

»Nein«, sagte Muster. »Ihre Rückkehr geschah auf meinen Befehl hin. Ich habe sie wieder weggeschickt und ihr aufgetragen, mit niemandem über das zu sprechen, was heute Abend geschehen ist.«

Die Köchin runzelte die Stirn. »Was … heute Abend geschehen ist?«

»Auch du darfst nicht darüber reden. Du hast dich in etwas eingemischt, das dich nichts angeht. Tu einfach so, als hättest du Telesch gar nicht gesehen. Und sprich mich in Zukunft niemals darauf an. Solltest du es doch tun, muss ich vorgeben, dass all dies nicht passiert ist. Hast du verstanden?«

Die Köchin wurde bleich, nickte und sank auf ihrem Stuhl zusammen.

Schallan nickte ihr knapp zu, verließ die Küche und trat in die Nacht hinaus. Dann presste sie sich mit klopfendem Herzen gegen die Seite des Gebäudes. Trotzdem legte sich ein Grinsen auf ihr Gesicht.

Als niemand sie mehr sah, stieß sie das Sturmlicht in einer Wolke aus und machte einen Schritt nach vorn. Sie durchbrach das Bild von Amaram, das sich sofort auflöste und durch das des Botenjungen ersetzt wurde, den sie zuvor bereits imitiert hatte. Sie huschte zur Front des Hauses zurück, setzte sich auf die Stufen und stützte den Kopf auf die Hand.

Amaram und Hav kamen durch die Dunkelheit herbei und unterhielten sich leise miteinander. »… ich habe nicht bemerkt, dass das Mädchen gesehen hat, wie ich mit dem Boten gesprochen habe, Großherr«, sagte Hav gerade. »Sie muss erkannt haben, dass …« Er verstummte, als die beiden Schallan sahen.

Sie sprang sogleich auf die Beine und verneigte sich vor Amaram.

»Das ist jetzt nicht mehr von Belang, Hav«, sagte Amaram und schickte den Soldaten wieder auf seinen Posten.

»Großherr«, sagte Schallan, »ich bringe Euch eine Nachricht.«

»Offensichtlich, Dunkelgeborener«, sagte der Mann und trat auf sie zu. »Was will er?«

»Er?«, fragte Schallan. »Die Botschaft stammt von Schallan Davar.«

Amaram hielt den Kopf schräg. »Von wem?«

»Von der Frau, die mit Adolin Kholin verlobt werden soll«, sagte sie. »Sie versucht, alle Splitterklingen Alethkars in Bildern festzuhalten. Sie würde gern mit Euch vereinbaren, wann sie zu Euch kommen und Eure Waffe zeichnen kann, sofern Ihr einverstanden seid.«

»Oh«, sagte Amaram und schien sich zu entspannen. »Nun ja, das ließe sich einrichten. An den meisten Nachmittagen habe ich Zeit. Sie soll jemanden zu meinem Verwalter schicken, mit dem ein Treffen abgesprochen werden kann.«

»Ja, Großherr. Ich werde dafür sorgen.« Schallan wandte sich um und wollte schon gehen.

»Du bist so spät noch hergekommen, um diese einfache Frage zu stellen?«, fragte Amaram.

Schallan zuckte die Achseln. »Ich stelle die Befehle von Hellaugen nicht infrage, Großherr. Aber meine Herrin ist manchmal etwas … unaufmerksam. Ich vermute, sie wollte, dass ich die Nachricht überbringe, solange sie ihre Bitte noch nicht wieder vergessen hat. Und sie ist wirklich sehr interessiert an den Splitterklingen.«

»Wer wäre das nicht?«, meinte Amaram und fügte leise hinzu: »Schließlich sind sie auch wundersame Gegenstände, nicht wahr?«

Sprach er jetzt mit ihr oder eher mit sich selbst? Schallan zögerte. Ein Schwert bildete sich in seiner Hand; Nebel gerann, Wasser perlte von der Oberfläche. Amaram hielt die Klinge hoch und betrachtete darin sein eigenes Spiegelbild.

»Welche Schönheit«, sagte er. »Welche Kunstfertigkeit. Warum müssen wir unsere großartigsten Schöpfungen zum Töten einsetzen? Ach, da plappere ich herum und stehle nur deine Zeit. Dafür möchte ich mich entschuldigen. Die Klinge ist noch neu für mich. Ich finde immer wieder einen Vorwand, sie herbeizurufen.«

Schallan hörte ihm kaum mehr zu. Sie starrte die Klinge an, deren oberer Rand wie Wogen gewellt war. Oder vielleicht wie Feuerzungen. Überall auf der Oberfläche befanden sich Gravuren. Gewunden, geschwungen.

Sie kannte diese Klinge.

Sie hatte ihrem Bruder Helaran gehört.

Kaladin rannte durch die Kluft, der Wind begleitete ihn und blies ihm in den Rücken. Syl schwebte als Lichtband vor ihm her.

Er kam an einen Felsbrocken, der ihm im Weg lag, und peitschte sich in die Luft. Er stieg etwa dreißig Fuß auf, bevor er sich wieder nach unten und gleichzeitig zur Seite peitschte. Sein Aufstieg verlangsamte sich, und die seitliche Bewegung brachte ihn zur Kluftwand.

Er stellte das nach unten gerichtete Peitschen ein, traf mit der Hand gegen die Wand, drehte sich und sprang auf die Beine. Nun lief er die Kluftwand entlang. Als er das Ende des Plateaus erreicht hatte, sprang er zum nächsten und peitschte sich dort ebenfalls gegen die Wand.

Schneller! Er hatte fast das ganze Sturmlicht aufgenommen, das er besaß; es stammte aus den Beuteln, die er zuvor auf den Boden geworfen hatte. So viel davon steckte in ihm, dass er wie ein Freudenfeuer leuchtete. Es ermutigte ihn, als er sprang und sich ostwärts nach vorn peitschte. Er fiel durch die Kluft. Der Boden flog unter ihm dahin; die Pflanzen an den Seiten verschwammen.

Er musste sich daran erinnern, dass er fiel. Es war kein Fliegen, und mit jeder Sekunde wurde er schneller. Doch das änderte nichts an dem Gefühl der unendlichen Freiheit. Es bedeutete bloß, dass es gefährlich war.

Der Wind wurde stärker, und im letzten Augenblick peitschte sich Kaladin nach hinten, verlangsamte seinen Fall und schlug gegen die Kluftwand vor ihm.

Dies war nun der Boden für ihn, und er rannte ihn entlang. Er verbrannte das Sturmlicht mit beängstigender Schnelligkeit, aber er musste nicht damit haushalten. Er wurde wie ein helläugiger Offizier aus dem sechsten Dahn bezahlt, und in seinen Kugeln steckten keine winzigen Edelsteine, sondern Brome. Ein Monatsgehalt war nun mehr, als er früher in seinem ganzen Leben erhalten hatte, und das Sturmlicht, das er damit erhielt, entsprach einem gewaltigen Vermögen.

Er schrie vor Freude, als er über ein Büschel Rüschenblüten sprang, die sich unter ihm zurückzogen. Er peitschte sich an die andere Kluftwand, überquerte die Schlucht, landete auf den Händen. Er warf sich nach oben und unterstützte die Bewegung lediglich mit einem geringen Peitschen.

Nun war er in der Lage, sich in der Luft umzudrehen und auf den Füßen zu landen. Er stand auf der Wand, blickte in die Luft hinunter, stemmte die Hände in die Hüften, während Licht aus seinem Körper strömte.

Syl zögerte und flog um ihn herum. »Was ist?«, fragte sie.

»Mehr«, sagte er nur und peitschte sich nach vorn, den Korridor entlang.

Furchtlos fiel er. Das hier war sein Ozean, in dem er schwimmen konnte; dies hier waren seine Winde, in denen er aufsteigen konnte. Er stürzte mit dem Gesicht voran dem nächsten Plateau entgegen. Kurz bevor er auftraf, peitschte er sich zur Seite und nach hinten.

Sein Magen tat einen Sprung. Er fühlte sich, als hätte ihm jemand ein Seil umgebunden, ihn von einer Klippe gestoßen und dann an dem Seil gezogen, kurz bevor Kaladin aufschlug. Doch das Sturmlicht in ihm ließ das unangenehme Gefühl zur Nebensache werden. Er bog zur Seite ein, in eine andere Kluft.

Das Peitschen schickte ihn nach Osten durch den nächsten Felsspalt, und nun umrundete er die Plateaus, blieb in den Klüften wie ein Aal, der durch die Wellen schwamm und um die Steine herumglitt. Weiter, schneller, immer noch im freien Fall …

Mit Verwunderung und unter den Kräften, die auf ihn einwirkten, biss er die Zähne zusammen, warf jede Vorsicht von sich und peitschte sich nach oben. Einmal, zweimal, dreimal. Er ließ alles hinter sich und schoss inmitten des Lichts, das aus ihm herausströmte, in die freie Luft über ihm.

Dann peitschte er sich zurück nach Osten, sodass er wieder in diese Richtung fiel, aber nun standen ihm keine Kluftwände mehr im Weg. Er flog auf den fernen, in der Dunkelheit verborgenen Horizont zu. Dabei wurde er schneller, sein Mantel flatterte, sein Haar ebenfalls. Die Luft schlug ihm ins Gesicht, und er kniff die Augen zusammen, aber er schloss sie nicht.

Unter ihm folgte eine düstere Kluft der nächsten. Plateau. Schlucht. Plateau. Schlucht. Dieses Gefühl … das Fliegen übers Land … er hatte es schon einmal verspürt, in seinen Träumen. Wofür die Brückenmänner viele Stunden benötigten, diesen Weg legte er nun in Minuten zurück. Er fühlte sich, als schiebe ihn etwas von hinten an und als trage ihn der Wind selbst. Syl flog rechts neben ihm her.

Und links von ihm? Nein, das waren andere Windsprengsel. Er hatte Dutzende von ihnen angezogen, die ihn als Lichtbänder umschwirrten. Syl erkannte er sofort. Er wusste nicht, warum das so war, denn sie sah nicht anders aus als die übrigen. Es war wie bei einem Familienmitglied, das man noch in der größten Menschenmenge sofort am Gang unterscheiden kann.

Syl und ihre Verwandten drehten sich in einer Lichtspirale um ihn herum, wirkten frei und locker, zeigten aber eine Spur von Koordination.

Wie lange war es her, seit er sich zum letzten Mal so gut, so siegreich, so lebendig gefühlt hatte? Nicht mehr seit Tiens Tod. Sogar nach der Rettung von Brücke Vier hatte ihn die Dunkelheit überschattet.

Doch nun löste sie sich auf. Er sah eine Felsnadel vor sich auf einem der Plateaus und trieb sich mit einem vorsichtigen Peitschen darauf zu. Weiteres Peitschen nach hinten verlangsamte seinen Fall dann so sehr, dass er sich an der Felsnadel festhalten konnte, als er auf sie traf. Seine Finger schlossen sich um den glatten Kremstein.

Hundert Windsprengsel brandeten wie eine einzige Welle heran und umgaben Kaladin mit einem Fächer aus Licht.

Er grinste. Dann blickte er nach oben – in den Himmel.

Großherr Amaram starrte weiterhin die Splitterklinge an. Er hielt sie vor sich; das Licht, das aus dem Herrenhaus fiel, spiegelte sich darin.

Schallan erinnerte sich an das stumme Entsetzen ihres Vaters, als er diese Waffe betrachtet hatte, die auf ihn gerichtet gewesen war. Konnte das ein Zufall sein? Zwei Waffen, die genau gleich aussahen? Vielleicht trog ihre Erinnerung.

Nein. Nein, sie würde den Anblick dieser Klinge niemals vergessen. Es war diejenige, die Helaran in den Händen gehalten hatte. Keine Klinge glich einer anderen.

»Hellherr«, sagte Schallan und lenkte Amarams Aufmerksamkeit wieder auf sich. Er schien verwirrt, als hätte er ihre Gegenwart vergessen.

»Ja?«

»Hellheit Schallan«, sagte sie, »will sich davon überzeugen, dass die Berichte und Aufzeichnungen korrekt sind und die Geschichte jeder einzelnen Klinge und Rüstung in der Alethi-Armee nachvollzogen werden kann. Eure Klinge ist bisher aber noch nicht verzeichnet. Sie möchte Euch fragen, ob Ihr etwas dagegen habt, die Herkunft der Waffe im Namen der Wissenschaft zu offenbaren.«

»Ich habe das schon Dalinar erklärt«, sagte Amaram. »Ich kenne die Geschichte meiner Splitter nicht. Beide haben sich im Besitz eines Attentäters befunden, der versucht hatte, mich zu töten. Es war ein Mann, noch nicht sehr alt – ein Veden, denn er hatte rote Haare. Wir kennen seinen Namen nicht, und sein Gesicht wurde bei meinem Gegenangriff bis zur Unkenntlichkeit verunstaltet. Ich musste ihn durch sein Visier hindurch erstechen.«

Junger Mann. Rote Haare.

Sie stand vor dem Mörder ihres Bruders.

»Ich …«, stammelte Schallan und fühlte sich plötzlich krank. »Danke. Ich werde dies weitergeben.«

Sie drehte sich um und bemühte sich, auf dem Weg nicht zu stolpern. Endlich wusste sie, was aus Helaran geworden war.

Du bist an alldem beteiligt gewesen, nicht wahr, Helaran?, dachte sie. Genau wie Vater. Aber wie und warum?

Es schien, als bemühte sich Amaram, die Bringer der Leere zurückzuholen. Und Helaran hatte versucht, ihn zu töten.

Doch warum wollte jemand die Bringer der Leere rufen? Vielleicht irrte sie sich. Sie musste sich zu ihren Gemächern begeben, die Karten aus der Erinnerung zeichnen und versuchen, alldem einen Sinn zu geben.

Glücklicherweise machten ihr die Wachen keine Schwierigkeiten mehr, als sie aus Amarams Lager lief und in die Anonymität der Dunkelheit eintauchte. Das war gut so, denn wenn sie genau genug hingesehen hätten, wäre ihnen nicht entgangen, dass der Botenjunge Tränen in den Augen hatte. Sie weinte um einen Bruder, von dem sie jetzt erst mit Sicherheit wusste, dass er nicht mehr lebte.

Nach oben.

Ein Peitschen, dann noch eins, und danach ein drittes. Kaladin schoss hoch in den Himmel. Hier gab es nichts als Freiheit – ein Meer der Unendlichkeit, ganz zu seinem Vergnügen.

Die Luft wurde kalt. Er stieg noch immer auf und erreichte die Wolken. Nun aber befürchtete er, das Sturmlicht könnte ihm ausgehen, bevor er auf den Boden zurückgekehrt war. Er hatte nur noch eine einzige aufgeladene Kugel übrig, und so peitschte sich Kaladin widerwillig nach unten.

Er stürzte nicht sofort ab; sein Schwung nach oben verlangsamte sich lediglich. Er wurde immer noch in den Himmel gepeitscht, denn diese Bewegung hatte er bisher nicht eingestellt.

Neugierig bremste er sich und beendete jedes Peitschen außer dem nach unten. Schließlich blieb er mitten in der Luft hängen. Der zweite Mond war aufgegangen und badete die Ebene tief unter ihm in weißes Licht. Von hier aus wirkte sie wie ein zerbrochener Teller. Nein …, dachte er und kniff die Augen zusammen. Es ist ein Muster. Er hatte es früher schon einmal gesehen. Im Traum.

Der Wind blies gegen ihn, und er trieb herum wie ein Drache. Die Windsprengsel, die er angelockt hatte, huschten davon, weil er nun nicht mehr auf dem Wind ritt. Seltsam. Er hatte nicht gewusst, dass man Windsprengsel genauso anziehen konnte wie Gefühlssprengsel.

Dazu musste man bloß in den Himmel fallen.

Syl blieb jedoch und drehte sich um ihn herum, bis sie sich schließlich auf seiner Schulter niederließ. Dort saß sie nun und schaute nach unten.

»Nicht viele Menschen können diese Aussicht genießen«, bemerkte sie. Von hier oben schienen die Kriegslager – Kreise aus Feuer zu seiner Rechten – unbedeutend zu sein. Es war so kalt, dass es sich unangenehm anfühlte. Fels behauptete, die Luft sei in der Höhe dünner, aber Kaladin bemerkte keinen Unterschied.

»Ich habe lange versucht, dich dazu anzustacheln«, sagte Syl.

»Es ist wie in dem Augenblick, als ich zum ersten Mal einen Speer in die Hand genommen habe«, flüsterte Kaladin. »Ich war noch ein Kind. Bist du damals schon bei mir gewesen? Vor so langer Zeit?«

»Nein«, sagte Syl, »und ja.«

»Beides ist nicht gleichzeitig möglich.«

»Doch. Ich wusste, dass ich dich finden musste. Und die Winde kannten dich doch. Sie haben mich zu dir geführt.«

»Also habe ich alles, was ich je getan habe, dir zuzuschreiben«, sagte Kaladin. »Mein Geschick mit dem Speer. Die Art, wie ich kämpfe. Das bin gar nicht ich. Das bist du.«

»Das sind wir.«

»Das ist Betrug. Das ist unehrenhaft.«

»Unsinn«, sagte Syl. »Du übst jeden Tag dafür.«

»Aber ich habe einen Vorteil.«

»Den Vorteil des Talents«, sagte Syl. »Ist es Betrug, wenn die Meistermusikerin zum ersten Mal ein Instrument in die Hand nimmt und Musik in ihm findet, die niemand anders herausholen kann? Ist es eine unehrenhaft erworbene Kunst, nur weil sie begabter ist als die anderen? Oder ist es Genie?«

Kaladin peitschte sich in westliche Richtung, zurück zu den Kriegslagern. Ohne Sturmlicht wollte er nicht mitten auf der Zerbrochenen Ebene stranden. Der Aufruhr in seinem Inneren hatte sich inzwischen beruhigt. Er fiel eine Weile – so lange, wie er sich traute, ohne abzubremsen – und entfernte dann einen Teil des Aufwärtspeitschens. Nun stieg er allmählich ab.

»Ich nehme es an – was immer es ist, das mir diese Fähigkeit schenkt«, sagte Kaladin. »Ich werde sie einsetzen. Ich brauche sie, um ihn zu besiegen.«

Syl nickte; sie saß noch immer auf seiner Schulter.

»Du glaubst nicht, dass er ein Sprengsel hat«, sagte Kaladin. »Aber warum besitzt er dann diese Fähigkeiten?«

»Die Waffe«, sagte Syl zuversichtlicher als zuvor. »Sie ist etwas Besonderes. Sie wurde erschaffen, um den Menschen ähnliche Fähigkeiten zu geben, wie sie unser Band mit ihnen verleiht.«

Kaladin nickte; ein leichter Wind fuhr unter seine Jacke, während er durch die Nacht fiel. »Syl …« Wie sollte er es ausdrücken? »Ich kann nicht ohne Splitterklinge gegen ihn kämpfen.«

Sie blickte in eine andere Richtung, schlang die Arme um sich und hielt sich selbst fest. Es waren so menschliche Gesten.

»Ich bin der Ausbildung an den Splitterklingen, wie Zahel sie uns angeboten hat, aus dem Weg gegangen«, fuhr Kaladin fort. »Das ist schwer zu rechtfertigen. Ich muss unbedingt lernen, wie diese Waffen zu gebrauchen sind.«

»Sie sind böse«, sagte Syl mit ihrer leisen Stimme.

»Weil sie Symbole des gebrochenen Eids der Ritter sind«, sagte Kaladin. »Aber woher stammen sie? Wie wurden sie geschmiedet?«

Darauf gab Syl keine Antwort.

»Kann auch heute noch eine solche Klinge neu geschmiedet werden? Eine, die nicht den Makel der gebrochenen Versprechen trägt?«

»Ja.«

»Aber wie?«

Sie erwiderte nichts. Schweigend glitten sie nach unten, bis sie sanft auf einem dunklen Plateau landeten. Kaladin richtete sich auf, ging zum Rand, ließ sich bis zum Kluftboden hinuntertreiben. Er wollte nicht über die Brücken zurückgehen. Die Späher würden es seltsam finden, wenn er heimkehrte, ohne vorher weggegangen zu sein.

Bei allen Stürmen! Sie hatten ihn doch bestimmt durch die Luft fliegen sehen, oder? Was würden sie denken? Waren einige von ihnen so nahe gewesen, dass sie ihn bei der Landung beobachtet hatten?

Nun, daran war jetzt nichts mehr zu ändern. Er erreichte den Boden der Kluft und machte sich auf den Weg zu den Kriegslagern. Sein Sturmlicht erstarb langsam und ließ ihn in völliger Finsternis zurück. Er fühlte sich ausgelaugt, müde und schlaff.

Er fischte die letzte aufgeladene Kugel aus seiner Hosentasche und benutzte ihr Licht, um den Weg zu finden.

»Da gibt es eine Frage, der du ausweichst«, sagte Syl, die wieder auf seiner Schulter landete. »Es ist schon zwei Tage her. Wann wirst du Dalinar von den Männern berichten, die du zusammen mit Moasch getroffen hast?«

»Er hat mir nicht zugehört, als ich ihm von Amaram erzählt habe.«

»Das ist doch ganz offensichtlich etwas anderes«, sagte Syl.

Das war es wirklich. Sie hatte recht. Warum also hatte er es Dalinar nicht gesagt?

»Diese Männer machten nicht den Eindruck, als würden sie lange warten«, meinte Syl.

»Ich werde etwas gegen sie unternehmen«, sagte Kaladin. »Ich möchte nur noch ein wenig darüber nachdenken. Moasch soll nicht in den Sturm geraten, wenn wir sie zu Fall bringen.«

Sie schwieg, während er den Rest des Weges zurücklegte, seinen Speer wieder an sich nahm und die Leiter zum Plateau hochkletterte. Der Himmel war inzwischen bewölkt, aber das Wetter hatte sich in der letzten Zeit gebessert; es war Frühling geworden.

Genieße es, solange du es noch kannst, dachte er. Die Weinung wird bald einsetzen. Dann würde es wochenlang ununterbrochen regnen. Und kein Tien war da, um ihn aufzumuntern. Das war seinem Bruder damals immer wieder gelungen.

Amaram hatte ihn Kaladin weggenommen. Er senkte den Kopf und ging los. Am Rande des Kriegslagers wandte er sich nach rechts und schritt nordwärts.

»Kaladin?«, fragte Syl und huschte neben ihm durch die Luft. »Warum schlägst du diese Richtung ein?«

Er schaute auf. Das war der Weg zu Sadeas’ Lager. Dalinars Lager lag in der entgegengesetzten Richtung.

Kaladin ging weiter.

»Kaladin? Was tust du?«

Schließlich blieb er stehen. Amaram befand sich irgendwo dort vor ihm in Sadeas’ Lager. Es war schon spät; Nomon kroch auf seinen Zenit zu.

»Ich könnte ihm ein Ende bereiten«, sagte Kaladin. »Ich könnte in einem Blitz aus Sturmlicht durch sein Fenster eindringen, ihn töten und wieder weg sein, bevor noch jemand in der Lage ist, etwas zu unternehmen. Es wäre so einfach. Alle würden den Attentäter in Weiß dafür verantwortlich machen.«

»Kaladin …«

»Das wäre Gerechtigkeit, Syl«, sagte er und drehte sich zu ihr um. Er war wütend geworden. »Du sagst mir, es sei meine Aufgabe, andere zu beschützen. Wenn ich ihn töte, mache ich genau das! Ich schütze Menschen und bewahre sie davor, von ihm vernichtet zu werden. So wie er mich vernichtet hat.«

»Du gefällst mir nicht, wenn du über ihn nachdenkst«, sagte sie und schien plötzlich sehr klein zu sein. »Dann bist du nicht mehr du selbst. Bitte hör auf, an ihn zu denken.«

»Er hat Tien getötet«, sagte Kaladin. »Dafür werde ich ihn umbringen.«

»Aber ausgerechnet heute Nacht?«, fragte Syl. »Nach dem, was du gerade entdeckt hast – und nach dem, was du getan hast?«

Er holte tief Luft und erinnerte sich an die Erregung, die er in den Klüften verspürt hatte, und an die Freiheit des Fliegens. Zum ersten Mal seit langer Zeit hatte er ein wahres Vergnügen empfunden.

Wollte er diese Erinnerung durch Amaram beschmutzen? Nein – er wollte sie nicht einmal mit dem Ableben dieses Mannes verbinden, das Kaladin sicherlich zu einem wundervollen Tag verhelfen würde.

»In Ordnung«, sagte er und wandte sich wieder Dalinars Lager zu. »Nicht heute Nacht.«

Der abendliche Eintopf war fertig, als Kaladin in der Kaserne eintraf. Er ging am erloschenen Feuer vorbei, in dem die Kohlen noch glühten, und begab sich zu seinem Zimmer. Syl stieg in die Luft. Sie würde die Nacht hindurch auf dem Wind reiten und mit ihren Gefährten spielen. Soweit er wusste, brauchte sie keinen Schlaf.

Er trat in sein eigenes Zimmer und fühlte sich müde und ausgelaugt, aber auf eine angenehme Weise. Es …

Jemand regte sich im Raum.

Kaladin wirbelte herum, hielt seinen Speer vor sich ausgestreckt und saugte das letzte Licht der Kugel ein, die er für den Rückweg benutzt hatte. Das Licht, das nun aus ihm strahlte, enthüllte ein rotes und schwarzes Gesicht. Schen wirkte verwirrend unheimlich in den Schatten, die sich da um ihn herum zusammenballten; er sah aus wie eines jener bösen Sprengsel aus den alten Geschichten.

»Schen«, sagte Kaladin und senkte den Speer. »Was im …«

»Herr«, sagte Schen, »ich muss gehen.«

Kaladin runzelte die Stirn.

»Es tut mir leid«, fügte Schen langsam und leise hinzu. »Ich kann dir den Grund dafür nicht nennen.« Er schien auf etwas zu warten und hatte die Hände um seinen Speer gekrallt. Um den Speer, den Kaladin ihm gegeben hatte.

»Du bist ein freier Mann, Schen«, sagte Kaladin. »Ich werde dich nicht gegen deinen Willen hier behalten, wenn du den Eindruck hast, dass du gehen musst, aber ich weiß nicht, ob es wirklich einen anderen Ort gibt, zu dem du gehen kannst, ohne deine Freiheit einzubüßen.«

Schen nickte, dann schritt er an Kaladin vorbei.

»Du brichst schon heute Nacht auf?«

»Sofort.«

»Die Wächter am Rande der Ebene könnten versuchen, dich aufzuhalten.«

Schen schüttelte den Kopf. »Parscher fliehen nicht aus der Gefangenschaft. Die Wächter werden nur einen Sklaven sehen, der irgendeine Arbeit ausführt, die ihm aufgetragen wurde. Ich werde deinen Speer beim Feuer ablegen.« Er begab sich zur Tür, zögerte kurz, als er neben Kaladin trat, und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Du bist ein guter Mann, Hauptmann. Ich habe viel von dir gelernt. Mein Name ist übrigens nicht Schen. Er lautet Rlain.«

»Mögen die Winde dich gut behandeln, Rlain.«

»Die Winde sind nicht das, was ich fürchte«, sagte Rlain. Er klopfte Kaladin auf die Schulter, holte tief Luft, als liege eine schwierige Aufgabe vor ihm, und verließ das Zimmer.

Was die übrigen Orden angeht, die bei dem Besuch des fernen Reiches der Sprengsel untergeordnet waren, so waren die Aufscheiner außerordentlich wohlwollend und erlaubten anderen, ihnen bei ihren Besuchen und Unterhandlungen beizustehen, aber sie gaben nie ihren Platz als Hauptverbündete der Großen unter den Sprengseln auf; und die Lichtweber und Willensformer besaßen ebenfalls eine Affinität zu denselben, auch wenn beide keine wahren Meister jenes Reiches waren.

Aus Die Worte des Lichts, Kapitel 6, Seite 2

Adolin schlug Elits Splitterklinge mit dem Unterarm zur Seite. Splitterträger verwendeten keine Schilde, denn jeder Teil ihres Panzers war fester als Stein.

Er nahm die Windhaltung ein, während er sich über den Sand der Arena bewegte.

Gewinne Splitter für mich, mein Sohn.

Adolin flog durch die fließenden Stellungen, zuerst in die eine Richtung, dann in die andere, und drängte Elit zurück. Der Mann taumelte; sein Panzer war an einem Dutzend Stellen gebrochen, wo Adolin ihn getroffen hatte.

Jede Hoffnung auf ein friedliches Ende des Krieges war dahin. Er wusste, wie sehr sich sein Vater ein solches Ende gewünscht hatte, und die Anmaßung der Parschendi machte ihn wütend. Und enttäuschte ihn.

Er bezwang seine Gefühle. Er durfte sich jetzt nicht von ihnen verzehren lassen. Sanft und vorsichtig bewegte er sich durch die Kampfhaltung und behielt eine ruhige Gelassenheit bei.

Anscheinend hatte Elit erwartet, dass Adolin dieselbe Kühnheit wie in seinem ersten Kampf um die Splitter zeigen würde. Doch Adolin hatte etwas anderes vor.

Heute kämpfte er mit Präzision – er nahm die korrekten Haltungen ein und tat nichts Außergewöhnliches. Die Verharmlosung seiner Fähigkeiten im vergangenen Duell hatte nicht dazu geführt, dass einer der mächtigen Splitterträger in ein Duell eingewilligt hatte. Adolin war es kaum gelungen, Elit zu überreden.

Nun war es Zeit für eine neue Taktik.

Adolin kam an dem Abschnitt der Tribünen vorbei, von dem aus Sadeas, Aladar und Ruthar zusahen. Es war das Herz der Koalition gegen seinen Vater. Inzwischen hatte jeder von ihnen unerlaubte Plateauläufe durchgeführt und Edelsteinherzen gestohlen, bevor diejenigen, denen sie eigentlich zugestanden hätten, eingetroffen waren. Jedes Mal hatten sie klaglos die Strafzahlungen geleistet, die Dalinar für einen solchen Ungehorsam festgesetzt hatte. Mehr vermochte Dalinar nicht zu tun, ohne einen offenen Krieg zu riskieren.

Aber Adolin hatte noch andere Möglichkeiten zu ihrer Bestrafung.

Elit stolperte zurück und war höchst wachsam, als Adolin auf ihn zustürmte. Der Mann machte einen Ausfall, doch Adolin schlug seine Klinge beiseite und hieb auf Elits Unterarm ein. Auch hier trat nun Sturmlicht aus.

Die Menge murmelte, und überall in der Arena unterhielt man sich aufgeregt. Elit führte einen zweiten Angriff, aber Adolin parierte erneut, ging jedoch nicht zum Gegenangriff über.

Die ideale Haltung. Jeder Schritt saß. Die Erregung nahm in ihm zu, aber er bezwang sie. Er war abgestoßen von den Großprinzen und ihren Streitereien, doch heute würde er es ihnen nicht zeigen. Stattdessen offenbarte er ihnen Vollkommenheit.

ENDE DER LESEPROBE

Die Originalausgabe ist unter dem Titel Words of Radiance – Book Two of The Stormlight Archive (Part II)bei Tor/Tom Doherty Associates, LLC, New York, erschienen.

Copyright © 2014 by Dragonsteel Entertainment, LLC Copyright © 2015 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH Redaktion: Joern Rauser Illustrationen und Karten: Isaác Stewart, Ben McSweeney, Dan dos Santos Illustration im Vorsatz: Michael Whelan Umschlagillustration: Max Meinzold Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München Herstellung: Helga Schörnig Satz: Schaber Datentechnik, Wels

eISBN: 978-3-641-14934-5

www.heyne-fantastisch.de

www.randomhouse.de