Die Sprache des Lichts - Katharina Kramer - E-Book

Die Sprache des Lichts E-Book

Katharina Kramer

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Beschreibung

Auf der Suche nach der Sprache Gottes – abenteuerlich, geheimnisvoll, berauschend: »Die Sprache des Lichts« ist ein außergewöhnlicher historischer Roman über ein rätselhaftes Buch und eine abenteuerliche Suche im Europa des 16. Jahrhunderts. Europa 1582: Während die Religionskriege Nachbarn zu Feinden machen, sind Gelehrte, Alchemisten und die Spione der Mächtigen auf der Suche nach der Sprache der Schöpfung, mit der Gott die Welt erschaffen hat. Denn diese Ursprache, so glaubt man, hat noch immer die Macht, das Gesagte entstehen zu lassen. Der sprachbegabte Jacob Greve entdeckt in den Diensten des englischen Hofastronomen John Dee das geheimnisvolle Buch Soyga, das den Schlüssel zur Ursprache enthalten soll. Daraufhin macht er sich auf eine gefahrvolle Reise quer durch Europa, um es zu enträtseln. Doch Jacob ist nicht der einzige, der dem Geheimnis auf der Spur ist. Die radikale katholische Liga hat die Übersetzerin und Spionin Margarète Labé auf Jacob angesetzt, und auch der zwielichtige Alchemist Edward Kelley hat großes Interesse an Jacobs Talenten … Im von Kriegen zerrissenen Europa Ende des 16. Jahrhunderts lässt Katharina Kramer die Helden ihres historischen Romans das Rätsel um das geheimnisvolle Buch Soyga ergründen und Jacob, Margarète und Edward das Wesen der Sprache selbst erforschen.

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Katharina Kramer

Die Sprachedes Lichts

Roman

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Europa 1582: Während die Religionskriege Nachbarn zu Feinden machen, sind Gelehrte, Alchemisten und die Spione der Mächtigen auf der Suche nach der Sprache der Schöpfung, mit der Gott die Welt erschaffen hat. Denn diese Ursprache, so glaubt man, hat noch immer die Macht, das Gesagte entstehen zu lassen.

Der sprachbegabte Jacob Greve entdeckt in den Diensten des englischen Hofastronomen John Dee das geheimnisvolle Buch Soyga, das den Schlüssel zur Ursprache enthalten soll. Daraufhin macht er sich auf eine gefahrvolle Reise quer durch Europa, um es zu enträtseln. Doch Jacob ist nicht der Einzige, der dem Geheimnis auf der Spur ist. Die radikale Katholische Liga hat die Übersetzerin und Spionin Margarète Labé auf Jacob angesetzt und auch der zwielichtige Alchemist Edward Kelley hat großes Interesse an Jacobs Talenten …

Im von Kriegen zerrissenen Europa Ende des 16. Jahrhunderts lässt Katharina Kramer die Helden ihres historischen Romans nicht nur das Rätsel um das geheimnisvolle Buch Soyga ergründen: Jacob, Margarète und Edward erforschen das Wesen der Sprache selbst und lernen dabei, auf die Sprache ihres Herzens zu hören.

Inhaltsübersicht

Personenverzeichnis

1: Die Pfeifsprache der Hirten

2: Zu lautes Walisisch

3: Unsichtbare Buchstaben

4: Die erste unbekannte Sprache in Afrika

5: Der Traum vom Übersetzen

6: Die Sprache der Engel, mit englischem Akzent

7: Ein möglichst langes bearnisches Schäferlied

8: Sprachlicher Höhenflug mit sorbischem Ausklang

9: Ein unlösbarer Code

10: Brieftaubentausch

11: Queen’s English

12: Die Sprache der Engel – frei nach einem sächsischen Lateinschullehrer

13: Streng vertrauliches protestantisches Englisch

14: Mit bäuerlichem Dialekt

15: Latein bis in die Ewigkeit

16: Lingua avium

17: Von blauen und braunen Namen

18: Ein katholisch codierter Brief

19: Die ständig schwebende Sprache

20: Zu pfiffige Pfiffe

21: Vous parlez Deutsch, too?

22: Achtsprachig zum Tanz

23: Das Pater noster in nicht autorisierter Fassung

24: Pfiffe im Trio sowie ein Solo ad libitum

25: Teuflisch rückwärts

26: Teuflisch rückwärts, von einem Logenplatz aus

27: Beredte Seiten

28: Satanische Vielzüngigkeit

29: Die Sprache der Vögel, Generalprobe

30: Auf Bearnesisch Jagen

31: Die Sprache der Vögel, Premiere

32: Fünfstimmig bis ans Ende der Welt

33: Englisch, unter dem Trommeln der Zikaden

34: Ohne Worte

35: Fast Babel

36: Jenseits der Pantomime

37: Ungarisch rückwärts

38: Völlig fließendes Italienisch

39: Der Ruf des Knallgoldes

40: Im Gestenparadies

41: Walisisch, dreimal gedreht, nach Bellaso, gematrisch im Quadrat und mit chinesischem Schlüsselwort

42: Germanía

Epilog

Glossar

Zum historischen und faktischen Hintergrund des Romans

Auswahl-Bibliografie

Danksagung

Personenverzeichnis

* historische Figur

(*): angelehnt an eine historische Figur (Erklärung im Anhang)

Die Hauptfiguren

Margarète Labé (*): Übersetzerin aus Bordeaux; Spionin für die Katholische Liga

Jacob Greve: Lehrer für Latein, Griechisch und Hebräisch aus Sachsen, Polyglotter und Kryptologe

Edward Kelley oder Kelly alias Edward Talbot* (1555–1597, Sterbejahr nicht gesichert): englischer Alchemist, Engelsmedium und Betrüger

John Dee* (1527–1608 oder 1609): englischer Mathematiker, Astronom, Astrologe, Kartograf, Geograf, Mediziner und Alchemist

Gelehrte

Christoffel Plantijn* (um 1520–1589): bedeutender französisch-flämischer Buchdrucker und Verleger in Antwerpen

Élie Vinet* (1509–1587): Übersetzer, Mathematiker, Archäologe, Pädagoge und Historiker; leitete viele Jahre das Collège de Guyenne in Bordeaux

Giordano Bruno* (1548–1600): italienischer Priester, Dichter, Philosoph, Gedächtniskünstler und Astronom; er wurde durch die Inquisition der Ketzerei und Magie für schuldig befunden und in Rom zum Tod auf dem Scheiterhaufen verurteilt und hingerichtet

Simon Thanner: begabter Schüler von Jacob Greve in Schulpforta; Sohn eines Webers

Thaddaeus Hagecius von Hayek* (1525–1600): Prager Astronom und Leibarzt Rudolfs II., der sich auch mit Botanik und Alchemie befasste

Herrscher

Catherine de Bourbon* (1559–1604): vertrat von 1577 bis 1592 als Regentin ihren Bruder, Heinrich III. von Navarra, der 1589 Heinrich IV. von Frankreich wurde

Elisabeth I.* (1533–1603): von 1558 bis an ihr Lebensende Königin von England; die protestantische Herrscherin wurde nach und nach immer restriktiver gegen Katholiken. Sie ließ ihre Cousine, die katholische Maria Stuart, ehemals Königin von Schottland, hinrichten, nachdem diese sich an einem Komplott zur Ermordung Elisabeths beteiligt hatte. Während des Elisabethanischen Zeitalters blühten Wissenschaft und Kultur auf (u. a. wirkte Shakespeare in dieser Zeit)

Heinrich III. von Navarra* (1553–1610): ab 1572 als Heinrich III. protestantischer König von Navarra, wozu das Béarn zählte; von 1589 bis zu seiner Ermordung 1610 war er als Heinrich IV. König von Frankreich und konvertierte zum Katholizismus

Rudolf II.* (1552–1612): Kaiser des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation, König von Böhmen sowie König von Ungarn und Erzherzog von Österreich; an seinem Hof in Prag scharte der in religiösen Belangen tolerante Herrscher bedeutende Wissenschaftler und Künstler um sich und legte eine riesige Sammlung von Kunstwerken und Kuriositäten an

Spione

Francis Walsingham * (1532–1590): Chef des Geheimdienstes der Königin Elisabeth I. von England

Thomas Phelippes * (1556–1625): polyglotter Kryptologe für den englischen Geheimdienst unter Francis Walsingham

Richard Rowlands * (1550–1640): aus England geflohener Katholik und Spion

Verschwörer der Katholischen Liga im Béarn

Florimond de Vaillac (*): Baron vom Château Trompette am Hafen von Bordeaux

De Durfort: Marquis aus Toulouse

Jacques Clément (*): junger Dominikanermönch

Martin d’Espalungue: Burgherr des Châteaus de Béost in der Nähe von Laruns im Béarn

Weitere

Horace de Lancre (*): Richter und Hexenjäger in Pau, der Hauptstadt des calvinistischen Béarn in den Pyrenäen

Pierre Chantelle*: in den 1580er-Jahren Gärtner des prächtigen Schlossgartens von Pau

Mr. Clerkson *: vermittelte Engelsmedien an John Dee

1: Die Pfeifsprache der Hirten

April 1582 in der von den Calvinisten besetzten Provinz Béarn in den Pyrenäen: Margarète Labé, Übersetzerin und Spionin der Katholischen Liga, schmiedet Kriegspläne und benutzt eine Pfeifsprache, die sie nicht versteht.

Hell wie Vogelgesang klangen die Pfiffe über die Berge, hallten an den schroffen Felsgipfeln wider. Margarète hatte die Burg von Béost fast erreicht. Sie brachte ihr Pferd zum Stehen und schaute um sich. Ein Triller erschallte und gleich darauf ein Schlenker nach unten, dann ein langer Ton in der Mittellage. Margarète suchte den Hirten, der pfiff. Dort, auf einer Wiese nahe dem hoch aufragenden Felsen im Südosten stand er, unweit einer großen Schafherde. Ein kristallklarer Ton kam daraufhin von einem mit Pinien bewachsenen Hügel weiter östlich: ein Triller, so scharf und so frei, dass Margarète Gänsehaut bekam. Der zweite Pfeifer, der dem ersten antwortete, war nicht zu sehen. Er musste hinter dem Kamm im Osten stehen. Dort lag am Waldrand das Hirtendorf Aas, wo bekanntlich die besten Pfeifer lebten. Der Ton stieg höher und höher, bis er die ganze Landschaft erfüllte: eine Sprache aus Pfiffen, eine Sprache, die meilenweit flog.

 

Margarète stieg ab, tränkte ihr Pferd am kleinen Fluss Gave, tauchte die Arme und Hände ein und schüttete sich Wasser ins Gesicht. Sie hatte die Pfiffe vermisst, wie sie erst jetzt bemerkte. Sie hatten zu den Sommern gehört, die sie als Mädchen nur wenige Meilen von hier, auf dem kleinen Pachthof ihrer Großmutter, verbrachte. Vor zwanzig Jahren war sie das letzte Mal hier gewesen. Damals war sie vierzehn. Die Hirten konnten alles ausdrücken mit ihren Pfiffen, hatte die Großmutter ihr erklärt: was sie am Abend tun wollten, in wen sie verliebt waren oder ob ein Bär sich der Herde näherte. Doch wie die Signale zu entschlüsseln waren, wusste niemand außer den Hirten – und die gaben das Geheimnis nicht preis. Wieder kamen Pfiffe aus der Richtung von Aas. Ob es stimmt, fragte sich Margarète, was die Leute sagen, dass die Pfiffe älter sind als alle anderen menschlichen Sprachen? Margarète schwang sich in den Sattel und trieb ihr Pferd an.

 

Unter einem runden Torbogen hindurch ritt sie in den Innenhof des Châteaus de Béost. Sie atmete tief ein, während sie Blumenbeete, Obstbäume und einen Springbrunnen, in dem ein steinerner Delfin Wasser spie, passierte. Sie war angekommen, ihre Mission begann. Margarètes Puls ging schneller. Die Befreiung des Béarn vom calvinistischen Joch würde ein Abenteuer werden, ein Spiel mit hohem Einsatz und komplizierten Regeln, bei dem es auf Witz und Geschicklichkeit ankam. Zehn Jahre lang hielten die Calvinisten nun schon das Béarn besetzt. Es war höchste Zeit, dass es wieder katholisch wurde. Von den Stallungen kam ein Knecht herbeigelaufen, übernahm ihr Pferd. Margarète ging zum von Säulen gesäumten Eingangstor, richtete Haube und Haare, strich ihr Hemd und ihre kurze Jacke mit den Puffärmeln zurecht und läutete dann die Glocke, viermal kurz und zweimal lang: das Signal, das sie mit dem Baron Florimond de Vaillac verabredet hatte. Er hatte sie vor zwei Wochen hierherbestellt, unter dem großen Kronleuchter des Salons in seinem Château Trompette am Hafen von Bordeaux.

 

Der Baron öffnete ihr höchstpersönlich. Er trug ein gelbes Wams, einen Degen am Gürtel und eine Miniaturuhr am Zeigefinger. Er schaute Margarète auf den Busen, besann sich, blickte ihr lächelnd auf den Mund, dann in die Augen. Sein angegrauter Spitzbart war länger geworden, seitdem sie sich in Bordeaux gesehen hatten. Er bemerkte ihre Reithosen, verzog die Lippen und gab ihr einen Handkuss. »Du bist schön wie immer«, er verbeugte sich, »willkommen, Margarète.«

»Danke.« Margarète knickste. »Eure Uhr ist auch schön wie immer.«

Florimond de Vaillac lachte, schulterte ihr Gepäck und führte sie über eine mit Holzschnitzereien verzierte Wendeltreppe hinauf. »Ich hoffe, das Zimmer ist nach deinem Geschmack.« Im dritten Stock schloss der Baron eine schwere Eichentür auf. Margarète blieb auf der Schwelle stehen: Was für ein Gemach! Es gab ein Cembalo, zwei mit Kissen ausstaffierte Stühle, ein Himmelbett mit blauen Vorhängen, einen Schrank, einen mit Schnitzereien verzierten Paravent und holzverkleidete Wände. Margarète unterdrückte ihre freudige Überraschung und setzte sich in den Stuhl am Fenster. Das war sogar verglast, gut geputzt, und gab einen weiten Blick über die Berge frei. Wie düster und armselig sich dagegen ihre kleine Bleibe in Bordeaux ausnahm, durchfuhr es Margarète, in der sie einen Spiegel auf die Fensterbank stellen musste, um einen Schnipsel Himmelsblau zwischen den engen Mauern der Gasse einzufangen. Ihre Witwen- und Übersetzerinnenbleibe in der Tischlergasse von Bordeaux bestand aus einer Truhe, einem Bett, einem Tisch und sieben Büchern. Hier, in ihrem Spioninnen-Gemach, würde sie eine Weile wie eine Freiherrin leben. »Fürs Erste wird es reichen«, Margarète räkelte sich, »nur der Paravent müsste demnächst ausgewechselt werden: Die Schnitzereien sind ein wenig schlicht. Bemalte Seide wäre besser.«

De Vaillac grinste, legte Margarètes Bündel auf dem Himmelbett ab und reichte ihr einen Becher frisches Quellwasser aus den Bergen. Es gab kein besseres. Sie trank langsam, auch wenn ihr danach war, alles in nur wenigen Schlucken hinunterzustürzen wie ein Kutscher.

»Wie stehen die Dinge in unserem schönen Bordeaux?«, fragte de Vaillac. »Ich vermisse die Seeluft. Ist der Bürgermeister schon an der Pest krepiert oder wenigstens an einer verschluckten Gräte?«

Margarète hob die Hände. »Bedaure.«

De Vaillac verabscheute kaum jemanden mehr als Michel de Montaigne, der zwar Katholik war, aber die Liga bekämpfte, weil sie ihm zu radikal erschien.

Margarète entknotete ihre Bündel. »Sind schon viele Ligisten da?«

»Außer dem Burgherrn Martin d’Espalungue nur zwei. Die anderen werden in den nächsten Tagen eintreffen.« De Vaillac stand am Fenster, studierte Margarètes Hände.

»Gibt es schon etwas für mich zu tun?« Margarète legte ihre Mieder in den Schrank.

De Vaillac lachte auf. »Immer mit der Ruhe.« Er blickte ernst aus dem Fenster. »Es wird nicht ganz einfach, Margarète. Die Leute hier kennen dich noch nicht.«

Sie hielt beim Auspacken inne.

Der Baron drehte seine Fingeruhr hin und her. »Du darfst nicht erwarten, dass die Männer dich hier mit offenen Armen empfangen. Sie haben Vorbehalte.«

 

Margarète hängte ihre Kleider auf die Holzhaken an der hinteren Schrankwand, sah in den Spiegel neben dem Paravent. Die unter ihrer Haube hervorquellenden rotbraunen Locken waren feucht von Schweiß. Auf dem Ritt hatten ihre Sommersprossen sich offenbar vermehrt.

Florimond de Vaillac stellte sich hinter sie, drehte eine ihrer Locken zwischen den Fingern. Sie spürte seinen Atem im Nacken. Er roch nach Kümmel. »Wir brauchen dich in diesem Kampf. Zehn Jahre haben ihn nur Männer geführt und verloren.«

Margarète trat zurück ans Bett, zog ihre Hemden hervor und hängte sie auf.

De Vaillac verfolgte die Bewegungen ihrer Arme. »Bisher haben die Katholiken zu kleinmütig und zu feige gehandelt«, sagte er, »zu viele Michel de Montaignes, gemäßigte Katholiken, die meinen, tolerant sein und ausgleichen zu müssen.« De Vaillac lachte spöttisch auf, umfasste den Griff seines Degens. »Die ihren ärgsten Feind in der Liga sehen statt in den Häretikern.«

Margarète betrachtete ihre Kleidung im großen Schrank. Wirklich praktisch, dachte sie, so ein Schrank. Dank der Haken gab es nicht einmal Knicke im Stoff.

Sie legte ihre Strümpfe und Hauben in die Regale, nahm das Fläschchen mit Gift aus dem Bündel.

Der Baron zog die Brauen hoch. »Tollkirsche?«

»Hoch dosiert, ein Schluck genügt.«

De Vaillac sprach versöhnlich: »Ich habe den Ligisten gesagt, wie sehr du dich bewährt hast. Dass du mit deinen Betörungskünsten den Häretikern die Zunge löst, dass du einen Richter in La Rochelle davon abgehalten hast, katholische Verschwörer zu hängen.«

 

Margarète begab sich mit einem Mieder und einem Hemd hinter den Paravent, trug Nelkenparfüm auf und zog sich um.

»Ich habe ihnen erklärt, dass du bei dem Gelehrten Élie Vinet als Hausmädchen gedient hast«, fuhr de Vaillac mit so lauter Stimme fort, als wäre der Wandschirm nicht aus Holz, sondern aus Stein, »und er dich wegen deiner Begabung im Lateinischen unterwiesen hat. Ich habe von deinen Italienisch-, Spanisch- und Bearnesischkenntnissen berichtet, von deinen Übersetzungen, deinen erfolgreichen Erkundungsgängen und Beschattungen. All das wissen sie bereits.«

»Dann bringt mich ins Spiel.«

»Es ist mehr als ein Spiel, Margarète«, Florimond de Vaillacs Stimme klang väterlich und milde zurechtweisend, »es ist ein Krieg, ein Krieg gegen den Teufel.«

Margarète trat hinter dem Paravent hervor.

De Vaillac hatte sich auf den Stuhl am Fenster gesetzt, musterte sie von Kopf bis Fuß. »Willst du nicht ein Kleid anziehen?«

Margarète schaute in den Spiegel. Die Reithosen ließen sie wie eine Amazone aussehen. »Wenn ich es richtig verstanden habe, soll ich hier in einen Krieg ziehen, nicht wahr?«

Der Baron hob schmunzelnd die Hände. »Gehen wir.«

 

Sie stiegen eine enge Steintreppe hinauf. Im Turm angekommen, klopfte de Vaillac gegen eine mit Eisen beschlagene Holztür. »Monstra te esse matrem«, sprach er die Losung der Liga aus dem Lobgesang auf die heilige Maria. Die Worte erfüllten Margarète mit Zuversicht: Sie würde die Ligisten überzeugen.

Die Tür öffnete sich knarzend. Ein schlanker Mann mit gewellten Haaren und einem perlenbesetzten Barett lächelte Margarète höflich zu. Das durch ein Turmfenster einfallende Sonnenlicht ließ seine Augen wie Bernsteine leuchten. Mit Mühe sah er über ihre Hosen hinweg, verneigte sich. »Willkommen in meinem Château, Madame.« Das war also der Freiherr Martin d’Espalungue. Er war bekannt dafür, jeder zweiten Frau das Herz zu brechen. Er sieht gut aus, keine Frage, gab Margarète zu. Aber ihr Herz würde er nicht bekommen. Das gehörte seit drei Jahren ausschließlich ihr selbst, und so sollte es bleiben. Seit ihr Gatte vor fünf Jahren an der Ruhr gestorben war, hatte sie gelebt, ohne sich zu verlieben, und gut gelebt ohne Ablenkung durch einen Mann. Sie hatte sich ganz auf sich selbst konzentrieren können, auf die Schönheit der Welt, auf das Übersetzen, auf Bücher und Tanz. Und auf die Abenteuer, die sie dank der Liga erlebte.

 

Am runden Eichentisch in der Mitte des von groben Sandsteinmauern begrenzten Raums standen zwei weitere Männer. Ein Adliger von etwa vierzig Jahren hatte einen Degen am Gürtel und war nach der spanischen Mode gekleidet: ein enges schwarzes Wams, kurze Pluderhosen, die nicht bis zum Knie reichten, und lange weiße Strümpfe. Mit gestrafften Schultern und kerzengerader Haltung blickte er durch Margarète hindurch.

»Marquis de Durfort aus der Nähe von Toulouse«, stellte d’Espalungue den Mann vor. In Toulouse gab es einen großen Zusammenschluss von Ligisten, wie Margarète wusste.

Der andere war ein Mönch mit Pausbacken und einem Haarkranz wirrer Locken, höchstens siebzehn Jahre alt. Er trug ein weißes Dominikanerhabit und einen schwarzen Kapuzenmantel und starrte mit erstauntem Kinderblick auf ihre Hosen.

»Jacques Clément aus dem dominikanischen Jakobinerkloster in Sens in der Bourgogne«, sagte d’Espalungue.

Der junge Mönch verbeugte sich, widerwillig, als wären Frauen, und insbesondere solche in Hosen, für ihn gefährliche Wesen, deren Sündhaftigkeit bei jeder Annäherung ansteckend wirken könnte.

»Ich hoffe, es wird Euch in den Pyrenäen gefallen«, d’Espalungue wandte sich an Margarète, »auch wenn es weit und breit kein Theater und keinen Salon gibt.«

Die Männer grinsten.

»Und auch keine erlesenen Schneidereien und Märkte, wo man Kleidung kaufen kann«, ergänzte der Burgherr.

»Und womöglich nicht einmal weit geschnittene Hosen für Frauenbeine.« De Durfort verzog die schmalen Lippen. Die Männer lachten, der Mönch schlug sich vor Vergnügen sogar auf die Schenkel.

 

Margarète nahm einen tiefen Schluck und lächelte. »Die Wirklichkeit ist immer besser als die Illusion des Schauspiels im Theater, zumal wenn es darum geht, diesem Land die Freiheit zurückzugeben.« Sie warf einen Blick auf d’Espalungues mit Perlen besetztes Barett und das mit Edelsteinen geschmückte Wams de Durforts. »Auch nehme ich an, dass Eure Kleidung nicht von einem Marktstand in den Pyrenäen stammt?«

De Vaillac schmunzelte, d’Espalungues Augen flackerten auf. Der Burgherr ging zu einem Tisch am westlichen Fenster, goss Wein in ein Glas und reichte es Margarète. »Bordeaux, 1508. Ein gutes Jahr.«

»Da war Calvin noch nicht geboren und Luther noch Katholik.« Der Marquis de Durfort lächelte dem Gastgeber zu. D’Espalungue bewirtete die Männer, hob sein Glas in die Runde. »Auf den Sieg!«

»Auf dass es nach zehn Jahren endlich vorbei ist mit dem Morden, Vertreiben und Enteignen von Katholiken«, sagte de Vaillac.

»Auf dass wir der protestantischen Hydra jeden Kopf einzeln abschlagen«, de Durfort straffte seinen sehnigen Oberkörper im eng anliegenden Wams, in den Seidenstrümpfen traten die Muskeln seiner Beine deutlich hervor, »bis sie vom Erdboden vertilgt ist!«

»Auf dass wir den Satan besiegen, der in jedem Ketzer atmet.« Der Mönch blickte nach Zustimmung heischend zu de Durfort, der nickte.

Sie tranken.

 

»Hervorragend«, lobte der Marquis mit genüsslich geschlossenen Augen den Wein.

»Die Calvinisten trinken Wein nur in der Kirche«, lachte d’Espalungue.

»Und nach dem Gottesdienst torkeln sie durch die Schafscheiße, weil sie nichts vertragen.« Der junge Mönch lachte hoch auf und wand den zur Plumpheit neigenden Körper im weißen Habit.

Margarète hüstelte.

»Verzeiht«, d’Espalungue strich sich eine hellbraune Haarsträhne hinter das Ohr, »unser Bruder Jacques Clément ist zu jung und zu fromm, um höflich zu sein.«

»Und will schon für die Liga sterben, bevor der Bart sich ausgewachsen hat?« Margarète musterte den Mönch mit schief gelegtem Kopf.

D’Espalungue schmunzelte, warf einen flüchtigen Blick auf ihre Hüfte und rückte sein Barett zurecht.

Der junge Mönch richtete sich auf und stand nun mit strammen Armen wie ein Soldat. »Zum Sterben kann es nie zu früh sein, nur zu spät.« Seine tiefe Stimme passte nicht zu seinem Jungengesicht, in dem lediglich ein zarter Flaum über der Oberlippe spross.

De Durfort schürzte die Lippen. »Manchmal sind ein paar grobschlächtige Worte doch recht ausdrucksstark, nicht wahr?« Mit gönnerhaftem Lächeln blickte er Margarète fragend an. Da sie nicht antwortete, sondern am Wein nippte, schaute er in die Runde. »Was Menschen aus Handwerkerfamilien sicherlich besser wissen als wir.«

Die Männer blickten belustigt drein, einzig Florimond de Vaillac sah zu Boden. Margarète hatte verstanden. Der Grund für die Vorbehalte der Ligisten ihr gegenüber bestand also nicht nur darin, dass sie eine Frau war, sondern zudem die Witwe eines Tischlers und dass sie von einem Zimmermann und einer Stickerin abstammte. Die meisten Ligisten hingegen gehörten dem adligen oder geistlichen Stand an.

»Cunabula non sunt aestimanda magni, sed gradus, quos aliquis agit ipse.« Margarète sprach die lateinischen Silben gelassen und schnell.

Die Männer merkten auf, warfen einander ratlose Blicke zu. Der Mönch drückte an einem Pickel auf seinem Kinn herum. Der Marquis de Durfort sah über die Berge. D’Espalungue trat von einem Fuß auf den anderen. Er trug sehr spitz zulaufende Schuhe nach der neuesten Mode.

»Nicht auf die Wiege kommt es an«, übersetzte Florimond de Vaillac und zwinkerte Margarète dabei zu, »sondern auf die Schritte, die man selbst tut.«

Die Männer räusperten sich und tranken wortlos, offenbar verlegen, weil sie mit dem Latein einer Zimmermannstochter nicht mithalten konnten.

 

Auf dem Eichentisch erblickte Margarète eine Landkarte, in die rote Linien eingezeichnet waren. Sie bildeten einen Stern, in dessen Zentrum das Château de Béost lag.

»Die möglichen Eroberungsrouten.« Der Burgherr sprach schroff. Margarète nickte und schaute ihn aufmerksam an, doch er kehrte ihr den Rücken zu und begann, den Männern, die einen engen Kreis um die Karte bildeten, die Einzelheiten der Invasionspläne zu erläutern. Für Margarète ließen sie keinen Platz. Sie blieb, am Wein nippend, außen vor. Mit kerzengeradem Oberkörper und einer Hand am Schaft seines Degens setzte der Marquis de Durfort den anderen nun auseinander, wie er mit einer fünftausend Mann starken Armee von Norden vorrücken könnte. »Die Zitadelle von Navarrenx im Nordwesten müssten wir gemeinsam mit Euren von Westen herankommenden Truppen stürmen.« Er nickte dem Baron de Vaillac zu. Der fuhr mit dem Finger über die Karte. »Damit würden wir den von Süden kommenden Truppen den Rücken frei halten.«

»In der Grenzgarnison von Jaca ziehen die Spanier bereits Truppen zusammen, um uns zu unterstützen«, sagte de Vaillac. »Es wäre ja gelacht, wenn wir mit den protestantischen Blässlingen nicht fertigwerden würden.«

»Gott wird uns beistehen, so, wie er den Katholiken immer beigestanden hat«, de Durfort ballte die Hand über der Karte zur Faust, »ob gegen die Goten, die Vandalen, die Alanen, die Ungarn, die Türken oder die Hussiten – immer waren die Armeen der heiligen einigen Kirche siegreich.«

»Diesen Sieg«, sprach de Vaillac feierlich, auf die abgebildeten Berge, Täler und Orte schauend, »schulden wir unseren Nachkommen.«

»Gott ist stets auf der Seite derer, die den größten Mut haben«, der Mönch sprach im Staccato, reckte das Kinn empor, »und die größten Opfer bringen.«

Margarète blickte auf die Rücken der Männer, trank das Glas leer. Da drang ein heller Triller durch das südliche Fenster. Ob dies wieder der gute Pfeifer war? Es klang zumindest so und kam aus der Richtung von Aas.

»Was ist das?« Der junge Mönch blickte misstrauisch und staunend zugleich nach draußen, wirkte mit seinen aufleuchtenden Augen plötzlich wie ein Knabe.

»Unser junger Freund aus dem Norden kennt die pfeifenden Hirten noch nicht.« D’Espalungue wandte sich Margarète zu. Er hatte sehr weiße Zähne.

»Die Pfiffe sind eine vollwertige Sprache.« Margarète sprach mit weicherer Stimme als vorher zu dem Mönch, der immer noch mit offenem Mund dastand und den Pfiffen nachlauschte.

»Man sagt, dass die Pfiffe Überreste der ersten Sprache enthalten sollen«, ergänzte d’Espalungue.

»Der Sprache Adams?« Der Mönch verschluckte sich am Wein.

De Vaillac blinzelte in die Nachmittagssonne. »In dieser Sprache liegt eine ungeheure Macht. Sie hat Schöpfungskraft. Was man in ihr sagt, entsteht, genauso wie bei der Erschaffung der Welt.«

»Und Gott sprach: Es werde Licht, und es ward Licht«, zitierte de Durfort aus der Genesis.

Der Mönch stutzte. »Wenn ich also Wein in der ersten Sprache sage, entsteht Wein?«

»Genau«, bestätigte der Marquis.

»Und Gold?«

»Langsam, langsam«, der Burgherr lachte, »wo bleibt denn da die mönchische Enthaltsamkeit?«

»Papst Leo der Zehnte hat die Suche nach der Sprache der Schöpfung für christlich und erstrebenswert erklärt«, de Durfort sprach langsam, in Ehrfurcht vor dem verstorbenen Papst, »es ist eine der größten und schwierigsten Aufgaben unserer Zeit.«

Der Mönch stand vornübergebeugt und nahm die Worte tief in sich auf.

Der Marquis winkte ab. »Ein Mensch, der diese Sprache finden will, müsste mit einer außergewöhnlichen Gabe für Sprachen ausgestattet sein, wie sie vielleicht nur einmal unter zehntausend Menschen vorkommt.«

»Hunderttausend«, d’Espalungue lächelte Margarète an, »eine Million.«

 

De Durfort stellte das Glas auf dem Eichentisch ab, horchte den über den Bergen widerhallenden Pfiffen nach. »Die Pfiffe tragen meilenweit. Sie könnten nützlich sein, als Code bei der Invasion. Die Männer könnten sich auf den Bergkuppen postieren und Nachrichten zur militärischen Lage übermitteln: von hier bis Spanien.«

D’Espalungue schüttelte den Kopf.

Der Marquis runzelte die Stirn. »Sind die Hirten etwa Calvinisten?«

»Sie geben sich zumindest den Anschein«, grinste der Burgherr, »aber zu Hause beten sie den Rosenkranz.«

»Gott schütze sie.« Der Mönch legte die Handflächen aneinander und neigte den Kopf, wodurch seine Tonsur sichtbar wurde.

»Die Hirten hüten das Geheimnis ihrer Pfiffe wie einen Augapfel.« Der Burgherr hielt die Weinflasche in die Runde, de Vaillac ließ sich nachschenken.

»Und Fremde, die ihnen zuhören, bewerfen sie mit Steinen«, ergänzte Margarète.

Der Marquis de Durfort zuckte mit den Achseln. »Sie müssten uns das Geheimnis nicht einmal verraten. Wir bräuchten nur einen Mittelsmann für die Übersetzung. Das könnte einer der ihren sein.«

 

Die Männer wandten sich wieder der Karte und Margarète den Rücken zu, spannen ihre Invasionspläne weiter.

Margarète ging zum Fenster, beugte sich hinaus, steckte Daumen und Zeigefinger in den Mund und pfiff: einen langen hohen Ton, einen Triller, einen Schlenker nach unten. Ihre Pfiffe klangen klar und kräftig, hallten an den Felsen nach. Ruckartig schauten die Männer von der Karte auf, drehten sich zu ihr um und blickten sie ungläubig an. Antwortet, beschwor Margarète innerlich die Hirten, kommt schon. In ihrer Kindheit zumindest hatte das hin und wieder geklappt. Vielleicht hatten die Schäfer damals nur als Antwort gepfiffen, dass sie in ihrem Gespräch nicht von Dummköpfen gestört werden wollten, aber das war unerheblich, sie sollten jetzt nur wieder antworten. Margarète blickte über die hoch gelegenen, von der Sonne beschienenen Schafweiden, pfiff erneut, noch lauter als beim ersten Mal, ihr Herz pochte. Ja! Pfiffe schallten in ihre Richtung: ein langer tiefer Ton, zwei Triller, ein hohes Zwitschern, ein Schlenker nach unten. Die Ligisten lauschten wie erstarrt. Margarète sandte drei tiefe Signale und ein hohes, langes, wie sie es vorhin gehört hatte.

 

»Beherrscht Ihr die Pfiffe?« De Durfort sah ihr zum ersten Mal in die Augen.

»Was habt Ihr gesagt?«, haspelte d’Espalungue.

»Dass ein Wolf sich der Herde nähert.«

»Und was haben die Hirten geantwortet?« Der Marquis neigte sich ihr entgegen. Alle Steifheit hatte ihn verlassen.

»Sie haben gefragt, von wo der Wolf kommt.« Margarète trat vom Fenster weg, an den Eichentisch heran, rückte die Karte mit beiden Händen zurecht, warf einen ausgiebigen Blick darauf und genoss die ungeduldigen Blicke. »Ich habe gepfiffen: Von Westen.«

»Das ist ja großartig«, hauchte de Durfort, »mit diesen Fähigkeiten könnt Ihr der Invasion sehr nützen!«

Margarète lachte lauthals, die Männer schreckten auf.

»Ich verstehe die Signale nicht und was ich da gepfiffen habe, weiß ich auch nicht.« Ihre Worte hallten klar zwischen den hohen Mauern.

Florimond de Vaillac blickte unsicher zwischen d’Espalungue und de Durfort hin und her.

D’Espalungue zwinkerte Margarète zu. »Bei Spionen kommt es nicht darauf an, wer sie sind, sondern wer sie zu sein vorgeben.«

Der Marquis lockerte seine Halskrause, lächelte. Der junge Mönch schaute sie mit geducktem Oberkörper und angehaltenem Atem ehrfurchtsvoll an.

»Und bei Spioninnen erst recht«, gab Margarète zurück.

Die Männer lachten. D’Espalungue trat neben Margarète an die Karte und erläuterte weiter. Margarètes Hände ballten sich zu Fäusten: Auch geschicktes Täuschen gehörte zu einem guten Spiel.

2: Zu lautes Walisisch

Zur gleichen Zeit in der Nähe von Naumburg, Sachsen: In Pforta, einer protestantischen Landesschule für begabte Knaben aller Stände, ahnt Jacob Greve – Lehrer für Latein, Griechisch und Hebräisch – noch nichts von pfeifenden Hirten und der Katholischen Liga in den Pyrenäen. Einstweilen übt er sich im Simultandolmetschen, sorgt sich um seine Zukunft und hört zu gut.

Jacob Greve saß an seinem wackelnden Tisch in der hinteren Ecke der Bibliothek der Knabenschule von Pforta und übertrug, leise murmelnd, einen Abschnitt aus Homers Odyssee vom Altgriechischen ins Deutsche. Als er bei der Stelle Hermes band sich unter die Füße die schönen goldnen ambrosischen Sohlen angekommen war, begann er, die Worte ins Lateinische zu übertragen, dann ins Italienische, murmelte womit er über die Wasser und das unendliche Land im Hauche des Windes einherschwebte auf Polnisch vor sich hin und flog mit Hermes auf Hebräisch weiter bis nach Makedonien. Immer schneller sprang er von einer Sprache zur anderen. Und senkte sich schnell aus dem Äther nieder aufs Meer, und schwebte über die Flut wie die Möwe übersetzte er ins Walisische: A disgynnodd yn gyflym o’r ether i’r môr, a llifodd dros y llanw fel yr wylan. Die walisischen Silben gurgelten tief in der Kehle, das Italienische summte hinter der Stirn, das Polnische zischelte an den Rändern der Zunge. Mit jeder Sprache verwandelte er sich ein wenig, verschob sich etwas im Innern seines Körpers. Jacob verschränkte die Hände im Nacken, sprach zur aus massiven Holzplanken bestehenden Decke, beobachtete das Farbenspiel vor seinem inneren Auge, das er immer sah, wenn er Worte hörte. Das Spanische sah aus wie grüne Wellen, das Lateinische schillerte rot wie Wein, das Walisische ergab gelbe wässrige Punkte. Der schönste Moment war immer der, wenn er zwischen den Sprachen hin und her wechselte: ein leichtes Schweben.

 

Jacob sagte die Passage über den Götterboten noch einmal auswendig auf, in anderer Sprachenreihenfolge, schloss das Buch, wandte es hin und her. Der Wurmstich über dem zweiten Bund des Buchrückens der Odyssee war bereits da gewesen, als er als elfjähriger Schüler vor dreiundzwanzig Jahren an diese Schule kam. Sein Blick glitt zum schiefen Bücherregal, dessen Holzmaserungen ihm schon seit einer Ewigkeit vertraut waren. Cicero stand dort, in grobes Schweinsleder eingebunden, daneben der Kleine Donat, die Latein-Anfängergrammatik. Jacob nahm sie heraus. Die Flecken von gesottenen Kirschen auf dem brüchigen, abgenutzten Ziegenledereinband stammten von ihm, von seinen Kinderhänden. Als Sohn eines einfachen Schusters aus Leipzig war er in doppeltem Sinne ausgehungert gewesen, hatte geistige und leibliche Nahrung, Kirschen und Deklinationen, in sich hineingestopft, als gäbe es kein Morgen. Hoffentlich würden die Bücher nicht irgendwann durch neue und makellose ersetzt werden. Jacob sog, das Ende der Hermes-Passage auf Italienisch murmelnd, den Geruch von Papier und Leder ein, den besten, den es gab.

 

Er schreckte auf. Es war totenstill. Jacob schaute in den Kreuzgang hinaus, aber da war niemand. Die Turmuhr der ehemaligen Zisterzienserkirche zeigte fünf nach zwölf. Er würde zu spät zum Mittagessen kommen! Jacob sprang auf. Kaum zu glauben, dass er die Schulglocke überhört hatte. Und das, obwohl ihm sonst nie ein einziges Geräusch entging, ob er dies wollte oder nicht. Er lief den schmalen Gang zwischen den Holzregalen hinaus in den Kreuzgang und an den Säulen mit den von Blattmustern geschmückten Kapitellen vorbei. Dabei kreisten walisische Wörter in seinem Kopf, so, wie er sich deren Aussprache von Händlern in Naumburg und Leipzig abgelauscht hatte, nachdem er sich die Sprache aus Büchern angeeignet hatte.

 

Vorsichtig öffnete er die Eichentür zum Speisesaal. Sie knarzte. Unter dem Tonnengewölbe stießen die Knaben an den beiden langen Esstischen einander an, flüsterten und kicherten bei seinem Eintritt. Der Rektor, der Konrektor und der Kantor, die auf der erhöhten Bühne am Lehrertisch saßen, schauten zu ihm herüber. Jacob holte tief Luft. Eigentlich hatte er durch nichts auffallen wollen, wenigstens diesen einen Tag lang. Er ging den von der Sonne hell beschienenen Gang zwischen den Tischen der Knaben entlang auf den erhöhten Lehrertisch zu. Seine Absätze hallten auf dem Steinboden wider. Die rund hundertdreißig Knaben musterten ihn, seine löchrigen Kniehosen, seine dürren Unterschenkel, seine ungeputzten Schuhe.

»Wo kommt denn Präzeptor Greve jetzt her?«, hörte er den Grafensohn Caspar von Colwitz raunen, der in einem gelben Seidenwams mit anderen rund siebzehnjährigen Schülern aus dem Abschlussjahrgang am Westfenster saß. Unter dem Tonnengewölbe klangen die Worte des Jungen mit den dunklen Locken ziemlich deutlich in Jacobs Ohren.

»Aus der Bibliothek natürlich«, lachte der pummelige Hans, ein Bäckersohn, »woher sonst?«

»Es ist nur eine Frage der Zeit«, grinste der kräftige junge Freiherr Johannes von Saltza, der nach Landsknechtmanier geschlitzte Kleidung trug, die in Pforta eigentlich nicht erlaubt war, »bis sein Kopf sich in ein Buch verwandelt, und wahrscheinlich auch sein Schwanz.«

»In ein lateinisches oder in ein griechisches?«, hakte Caspar prustend nach.

 

Der breitschultrige Konrektor mit seinem von dunklen Haarstoppeln bedeckten, fast quadratischen Schädel verfolgte jeden von Jacobs Schritten. Der hagere Kantor nestelte an seinem schwarzen Umhang und betrachtete forschend Jacobs Gesicht. Der Rektor hielt beim Suppeschöpfen inne, schüttelte leise lächelnd den Kopf. Jacob fühlte, wie er errötete. Der Verwalter und sein junger Küchengehilfe, die zwischen den Tischen hin- und herliefen, um nach dem Rechten zu sehen, wichen Jacob mit übertriebenem Hüftschwung aus, ernteten dafür laute Lacher. Alle diese Leute, ging es Jacob durch den Kopf, sind nicht länger als ein paar Jahre hier; ich dagegen schon zwanzig Jahre: sechs als Schüler, vierzehn als Lehrer.

 

Er stieg die vier Stufen des Podests hinauf und ging an den Tisch der Lehrer, wo es von den beiden großen Zinnplatten nach Lachs, Rübenmus und Gerstenbrei sowie gebratenen Milchäpfeln duftete. Außerdem standen Zwetschgen, Weizenbrot, Biersuppe und Weißwein bereit. Rektor Lindner fuhr sich mit der Hand durch die kurzen grauen Haare unter der schwarzen Gelehrtenkappe und schaute Jacob mit dem nachsichtigen Blick an, mit dem er ihn in den letzten Wochen immer wieder – viel zu oft – angesehen hatte. Jacob entschuldigte sich, setzte sich an seinen Platz zwischen Rektor und Kantor, dem Konrektor gegenüber, legte Halskrause und Barett ab, sprach leise das Tischgebet, während sein Blick auf einen langen tiefen Sprung in der Tonschüssel mit Biersuppe fiel, die er mit dem Rektor teilte. Diesen Riss hatte die Schüssel schon seit seinen ersten Jahren als Lehrer. Niemand im Saal kannte diesen Sprung so lange wie er. Jacob zog seinen Löffel und sein Messer aus dem Köcher an seinem Gürtel, schnitt ein Stück Lachs ab, nahm es zwischen die Finger, löffelte Rübenmus und Gerstenbrei. Dabei musterte ihn der Konrektor mit geschürzten Lippen über dem breiten Kinn, als habe er, Jacob, diese Mahlzeit nicht verdient. Beim Essen achtete er darauf, nicht zu stark mit seinem Messingbesteck an die Zinnplatten zu stoßen. Denn vom dabei entstehenden Klirren bekam er in letzter Zeit häufig Kopfschmerzen.

 

»Zum Glück kommt der Frühling«, sagte Rektor Lindner mit tiefer, selbstbewusster Stimme, während er Biersuppe löffelte. Die walisischen Worte für Zum Glück kommt der Frühling tauchten unvermittelt in Jacobs Kopf auf: Mae’r gwanwyn yn dod, diolch byth.

»Wenn die Knaben erst wieder auf dem Hügel Ballschlagen können«, fuhr der Rektor fort und nahm sich eine Messerspitze Salz aus dem Fässchen, »werden sie auch bessere lateinische Gedichte schreiben. Hoffen wir also auf gutes Wetter.« Jacob lachte und übertrug die Wörter im Stillen ins Walisische. Ihm wurde leicht zumute.

Das Lachsfleisch schmeckte gut, war reichlich mit Pfeffer gewürzt. Jacob ließ das Rübenmus auf der Zunge zergehen, die walisischen Silben vermischten sich damit, machten es noch besser. Wenn ich stumm vor mich hin übersetze, dachte Jacob, bin ich aus dem Spiel und kann bei niemandem anecken.

 

Der Kantor beugte sich vor, wobei die langen Rüschenärmel seines Hemdes, wie es viele Künstler trugen, fast in die Biersuppenschale gerieten, die er mit dem Konrektor teilte. »Aber die Tage werden auch länger«, sagte er in seinem näselnden Tenor, »und es werden wieder mehr Knaben nachts über die Mauer steigen, um Naumburgs Wirtshäuser und Straßen unsicher zu machen.«

Jacobs Fuß wippte auf und ab. Im Walisischen standen die Verben am Anfang des Satzes, im Deutschen an zweiter Stelle oder am Ende. Dadurch geriet man leicht in Verzug. Doch er brachte den Satz rechtzeitig zu Ende: Die walisischen Wörter rauschten heran wie Freunde.

Der Rektor löffelte Gerstenbrei. »Keine Sorge, Kantor. Die Knaben werden in diesem Sommer ein Theaterstück einstudieren. Dabei können sie ihre aufwallenden Gefühle ausleben.«

Aufwallend: Das war schwierig zu übersetzen. Jacob wurde heiß. Er musste eine Umschreibung finden. Beim Dolmetschen war es das Wichtigste, nicht aus dem Fluss zu geraten. Er drückte ein Stück Weizenbrot zwischen den Fingern zusammen, kam auf ein halbwegs passendes Wort. Schon fuhr der Kantor sich mit einem Lappen über das spitze Kinn und holte tief Luft. »Wenn die Knaben zu viel auf der Bühne agieren, werden sie kühn und trotzig, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf, Rektor.«

Man muss die Verben vorausahnen, dachte Jacob, dann geht es besser. Der Rektor warf ihm einen auffordernden Blick zu, erwartete offenbar seine Unterstützung.

Jacob nahm einen tiefen Schluck Wein aus dem Zinnbecher, den er ebenfalls mit dem Rektor teilte, und sagte, dass das Theaterspielen sich sehr gut zum Sprachenlernen eigne, weil man die fremde Sprache dabei nicht nur auswendig lerne, sondern sie sich einverleibe. Er nahm ein Stück Milchapfel, suchte Blickkontakt mit dem Rektor, erwartete, dass dessen dunkle Augen aufleuchteten und sein Gesicht die üblichen Lachfalten zeigen würde.

Doch Lindner starrte Jacob nur mit offenem Mund und geweiteten Augen an. Auch der Konrektor und der Kantor saßen wie vom Donner gerührt da und fixierten Jacob, ohne ein Wort zu sagen. Jacob hielt inne, in seinen Ohren pochte es. Was war so verkehrt an seinen Ausführungen? Martin Luther selbst hatte zum Theaterspielen an Schulen ermuntert, weil es das Lateinische fördere und den Menschen lehre, entsprechend seinem Stand zu leben. Die letzten Worte, die er gesagt hatte, hallten in Jacob nach: Bywyd i’r geiriau ac mae’r geiriau’n dod yn rhan ohonynt. Heiß schoss Jacob das Blut in den Kopf. Er hatte vorher also Walisisch gesprochen, laut heraus, zwei lange Sätze.

 

Mit wulstigen Lippen grinste der Konrektor dem Kantor zu, der die Augen zusammenkniff und Jacob ansah, als hätte er den Verstand verloren. Jacob lächelte dem Rektor entschuldigend zu, schob ihm seinen eigenen Teil der Zinnplatte hin, wo sich noch reichlich Lachs, Rübenmus und Gerstenbrei befand. Seit er mit elf Jahren zum ersten Mal ein Gespräch im Stillen ins Lateinische übertragen hatte, war ihm nie auch nur eine einzige fremdsprachige Silbe über die Lippen gekommen. Was war nur los mit ihm? »Ich wollte sagen«, Jacob räusperte sich, schaute den Rektor an, »dass Theaterspielen dabei hilft, sich eine Sprache wirklich einzuverleiben.«

Der Konrektor schüttelte den Kopf und stieß den Kantor an. »Ein allzu tiefes Einverleiben fremder Sprachen, welcher auch immer«, er betonte das welcher und das immer, »kann befremdliche Folgen nach sich ziehen. Sehr befremdliche.« Er warf einen vielsagenden Blick auf Jacob. Der Kantor lachte auf, schlug mit der flachen Hand auf die Tischplatte. Rektor Lindner wischte sich den Mund mit einem Lappen ab und sah Jacob mit zusammengezogenen Brauen an.

 

Jacob steckte sich das Stück Milchapfel in den Mund. Es schmeckte erdig. Das Klappern der Löffel, Messer und des Geschirrs im Saal, das Plaudern und Scharren hallten in seinem Kopf nach. Jacob durchfuhr ein Schreck: Es ging wieder los. Seine Glieder versteiften sich. Das Absetzen der zinnernen Weinbecher auf den Tischplatten dröhnte. Das Brotschneiden klang so laut, als würden Feilen auf hartem Holz schaben. Das Mahlen der Kiefer, das Schmatzen und Schlürfen schallten tief. Die Gesichter, die Hände, die malmenden Kieferknochen der Lehrer und Knaben kamen Jacob plötzlich größer vor: Als wäre er bei Riesen zu Gast, bei Riesen, die ein Festmahl hielten. Jacob rührte sich nicht, war gebannt von den lauten Klängen. Was, ging es ihm durch den Sinn, hat diese Schärfung meines Gehörs zu bedeuten?Warum widerfährt mir das seit einigen Monaten immer wieder?

 

Der Kantor beugte sich zum Konrektor hin, flüsterte, die schmale Hand vor dem Mund: »Der hält sich nicht mehr lange.« Die Worte waren nicht für Jacobs Ohren gedacht, doch er hörte jede Silbe.

Der Konrektor biss in eine Zwetschge, drehte den mächtigen Schädel zur Seite und raunte ins Ohr des Kantors: »In einer Woche kommt ein Professor aus Leipzig zur Visitation hierher. Danach dürfte es für Jacob Greve an dieser Schule zu Ende sein.«

Jacob hielt den Atem an.

»Der hochnäsige Bücherwurm lässt schon viel zu lange sein überdrehtes Latein auf die Schüler los«, flüsterte der Kantor und musterte Jacob mit schmatzenden Lippen. Jacob wandte sich ab.

»Soweit ich weiß«, der Konrektor rückte noch näher an den Tisch heran und stützte sich mit einer Hand ab, »schaut sich der Rektor schon nach einem neuen Präzeptor um.«

Jacob setzte das Herz aus. Bisher hatte der Rektor ihn immer geschützt. Und jetzt erwog er, ihn fortzujagen?

 

Der Küchengehilfe eilte mit Schüsseln und Besteck vorbei, ließ versehentlich ein Messer fallen. Das Scheppern schallte Jacob in den Ohren. Er fuhr zusammen. Ein paar Knaben bemerkten es und kicherten. Jacob betrachtete den Sprung in der Biersuppenschüssel, atmete ruhiger. Auf dem Unterarm spürte er einen sanften Druck. Der Rektor schaute ihn an. »Übernimmst du die Lesung, bitte?«

Die tiefen ruhigen Worte schwappten über Jacob hinweg wie eine Welle. Im gleichen Moment erschienen vor seinen Augen die Farben der Buchstaben, die aus dem Wortfluss herausstachen: das ü war gelb, das i violett, das e blau. Doch die Farben waren nicht zart und durchsichtig wie sonst, sondern schillerten wie auf einem Gemälde.

 

Jacob erhob sich. Wollte der Rektor ihm die Möglichkeit geben, seinen Patzer von eben wiedergutzumachen? Mit weichen Knien ging er über die knarzenden Holzplanken. Auf dem Pult in der Mitte der Bühne lag die Bibel, die der Verwalter für die Lesung aufgeschlagen hatte. Meist las ein Schüler, Lehrer nur selten. Alle Gesichter wandten sich Jacob zu. Keiner sprach. Die Stille war so erdrückend, dass sie in Jacobs Ohren rauschte wie ein Wildbach. Es war, als wäre allen klar, dass er, Jacob, hier auf der Kippe stand und dass diese Lesung eine Probe war. Sein Herz schlug ihm bis zum Kehlkopf. Er hatte noch nie gesprochen, wenn sein Gehör geschärft war.

»Präzeptor Greve hat schon ewig nicht mehr gelesen. Warum liest er heute?«, hörte Jacob den Bäckersohn Hans am Westfenster fragen.

»Psst!«, machte Simon Thanner, ein schmächtiger Webersohn mit spitzem Gesicht, der besser Latein beherrschte als irgendein anderer Schüler in Pforta, aber einen schäbigen schwarzen Umhang aus von der Schulverwaltung gestelltem Stoff trug. »Lasst es uns genießen.«

»Jacob Greves Latein genießt an dieser Schule nur einer.« Johannes von Saltza zeigte mit seinem verzierten Silberlöffel auf Simon.

»Weil euch Latein einerlei ist«, entgegnete Simon, den Blick auf das Pult gerichtet.

»Nein, wir wissen, wie wichtig es ist«, sagte Hans mit heiserer Stimme, »aber Präzeptor Greve spricht es zu schnell und benutzt zu viele unbekannte Wörter.«

Jacobs Mund war trocken. Er schluckte, befeuchtete mit der Zunge seine Lippen.

»Und er zuckt zusammen, wenn wir Fehler machen.« Caspar von Colwitz strich sich eine Locke aus der Stirn.

Johannes lachte.

»Früher war es nicht so«, warf Simon ein, »erst in letzter Zeit.«

 

Jacobs Finger zitterten, als er die Hand auf die Pergamentseiten der Bibel legte. Seit einigen Monaten hörte er die sprachlichen Fehler der Knaben wie schiefe, schabende Fiedeltöne und sah sie als rote Schlieren vor den Augen. Er hatte gehofft, sein unwillkürliches Zusammenzucken wäre niemandem aufgefallen. Jacob wischte sich den Schweiß von der Oberlippe und senkte den Blick auf die Bibel. Aufgeschlagen war das erste Kapitel des Evangeliums nach Johannes. Jacobs Kehle verengte sich. Er betrachtete die Wörter, hörte sie innerlich. Sein Herzschlag beruhigte sich. Er holte tief Luft: »In principio erat Verbum et Verbum erat apud Deum et Deus erat Verbum.« Die Wörter hallten unter dem Tonnengewölbe wie in einer Kathedrale. Sie strömten nicht nur von ihm weg, sondern rauschten gleichzeitig in ihn hinein. Jacob sprach die folgenden Sätze gierig, sog sie in sich auf. Die Silben waren so dicht und flossen so langsam, dass er jede bis ins kleinste Detail ausmodellieren konnte wie ein Töpfer den Ton. Die Farben glitzerten vor seinem inneren Auge, tanzten und sprangen, setzten sich zu Bildern zusammen; er sah einen Ball von der Mauer im Kreuzgang von Pforta abprallen, schien darauf zuzulaufen, zu fliegen, mit einem geschmeidigen jungen Körper, wie er sich mit vierzehn Jahren gefühlt hatte, spürte einen Jeu-de-Paume-Schläger in der Hand und wie er den Ball traf, mit voller Wucht, sah Samuel rennen, der den Ball erwischte. Samuel war sein bester Freund gewesen, vielleicht sein einziger. Als sie beide fünfzehn gewesen waren, hatte Samuel Pforta verlassen und war mit seinen Eltern nach Lübeck umgezogen. Seitdem hatten sie einander aus den Augen verloren.

»Et angelos Dei ascendentes et descendentes supra Filium hominis.« Und die Engel Gottes fahren hinauf und herab auf des Menschen Sohn. Die Worte hallten im Raum nach. Stille. Der Abschnitt war zu Ende. Jacob atmete in langen Zügen. Sein Körper fühlte sich an wie nach einem Lauf über Wiesen, in frischem Wind.

 

Er blickte auf die Sandsteinmauern des Refektoriums, die schweren Sandsteinsäulen, die Kapitelle, über die zwei Tische der Knaben hinweg, den Mittelgang entlang. Alles wirkte fremd, als sähe er es zum ersten Mal. Die Augen der Jungen strahlten, ihre Wangen glühten. Jacob hob die Hände vom Pult, wandte sich zum Tisch der Lehrer. Der Rektor saß mit geschlossenen Augen da, alle Muskeln entspannt, er wirkte zehn Jahre jünger. Jacobs Brust weitete sich. Der Kantor lächelte geistesabwesend. Der Konrektor schlug mit zusammengekniffenem Mund und einer weit ausholenden Bewegung nach einer Fliege.

»Während er gelesen hat, habe ich mich am See angeln sehen, an meinem Lieblingssee«, der Bäckersohn Hans packte Simon Thanner am Arm, »ich habe alle Einzelheiten gesehen: die Sonne auf dem Wasser, das Schilf am Ufer.« Seine Stimme überschlug sich: »Ich habe sogar das Holz der Angelrute gerochen, genauso wie es riecht, wenn man schwitzende Hände hat.«

»Ich bin über ein Stoppelfeld geritten, ungeheuer schnell«, berichtete Caspar von Colwitz atemlos und mit ungläubig aufgerissenen Augen, »unter mir donnerten die Hufe auf der Erde, ich hörte das Schnauben des Pferdes, als säße ich wirklich im Sattel!«

Simon strahlte Jacob an. Auf seinem Gesicht lag der Triumph, den er, Jacob, selbst in jeder Sehne spürte. Er hatte sich seine Heimat zurückerobert, alle auf seine Seite gezogen, nur mit ein paar lateinischen Worten.

 

Federnden Schrittes ging Jacob zum Lehrertisch. Aus der Richtung des Holzschuppens vor dem Südfenster hörte er ein scharfes Klirren. Es klang wie gegeneinanderscheppernde Metallgegenstände in einem Sack, der getragen wurde: Scheren, Messer und Zangen zum Zähneziehen vielleicht. Heute war Badetag, fiel Jacob ein. »Ich höre den Bader kommen«, sagte er deshalb leichten Herzens, »wir brauchen ein weiteres Gedeck und einen Becher Wein.« Jacobs Worte hallten schon unter dem Tonnengewölbe. Der Verwalter, der Richtung Küche geeilt war, blieb stehen, horchte. Auch die anderen Präzeptoren und die Knaben hielten inne, lauschten, hörten aber nichts. Natürlich nicht. Jacob brach der Schweiß aus. Alle blickten zu den Fenstern hinaus. An den Tischen begann es zu raunen, von überallher schossen Blicke zu Jacob. Sicher hatte der Bader gerade den Weg zwischen Küche und Schlachthaus eingeschlagen und war darum nicht zu sehen. Der Konrektor schmunzelte, einige Knaben glucksten. Der Rektor sprang auf, hob hastig seinen Weinbecher und rief: »Wohl sein!« Die tiefe Stimme dröhnte kaum, hallte nicht nach. Die Farben der Silben waren blass. Während alle zu ihren Bechern griffen, hatten Jacobs Ohren sich fast gänzlich entschärft. Wie immer schnell und unvermittelt. Warum nicht schon vorher? Jacob biss sich auf die Lippe und setzte sich wieder an seinen Platz. Warum nicht, bevor er den Bader gehört hatte?

 

Alle prosteten einander zu. Jacobs Herz hämmerte. Seine Hände zitterten, während er einen Brocken Brot zwischen den Fingern knetete. Mit der Lesung hatte er alle wieder für sich eingenommen, doch mit der Ankündigung des Baders alles verdorben. Er steckte sich die zusammengeknetete Brotkugel in den Mund. Sie schmeckte nach Schweiß. Da öffnete sich die Seitentür des Speisesaals. Alle sahen auf. Im Eingang stand, mit grünem Mantel, einen Sack über den Schultern, in Schnallenschuhen und mit verdutztem Gesichtsausdruck, weil ihn alle anstarrten wie einen Geist, der Bader.

3: Unsichtbare Buchstaben

In den fernen Pyrenäen reitet Margarète in Begleitung des jungen Dominikanermönchs nach Sallent de Gállego im Königreich Aragonien, entziffert eine unsichtbare Botschaft und wird Zeugin eines zielgenauen Dolchwurfs.

Margarète ritt neben dem jungen Dominikanermönch am Río Aguas Limpias entlang, als die ersten Holzhütten von Sallent de Gállego in Sichtweite kamen. Das Dorf lag auf einem Hang im Schatten hoher Berge. Endlich, dachte Margarète erleichtert. Mit einem ebenso schweigsamen wie humorlosen Siebzehnjährigen über die Pyrenäen bis nach Aragonien zu reisen, war kein Vergnügen. Margarète ritt voraus, die kurvenreiche Straße bergan auf die Kirche mit einem viereckigen Sandsteinturm und zwei in offenen Rundbogenfenstern hängenden Glocken zu.

»Sind dir genügend Sünden eingefallen, die du beichten kannst?« Margarète sah über die Schulter zu dem Jungen hinter ihr, der mit gelangweiltem Gesichtsausdruck im Sattel hin und her schaukelte. Heute wird sich zeigen, überlegte Margarète, ob dieser Jüngling aus dem Norden dem Spiel der Liga in den Pyrenäen gewachsen ist.

Der Dominikaner nickte. D’Espalungue hatte ihn angewiesen, Margarète ohne Wenn und Aber zu gehorchen, was dem Mönch sichtlich missfiel.

»Eine Viertelstunde brauche ich mindestens.« Margarète band ihr Pferd an die Tränke nahe der Kirche. »Ein, zwei Morde zu gestehen, wäre also nicht übel.«

Der Mönch nickte wieder, ohne den Anflug eines Lächelns. Hatte er den Scherz nicht verstanden? Sie stiegen die Steinstufen zur Kirche hinauf. Margarète hob ihr Kleid an. Der Mönch blickte auf seine Sandalen.

»Zur Not reicht auch ein Apfeldiebstahl, wenn du ihn nur lange genug ausschmückst«, fügte Margarète hinzu, als sie an der Kirchenmauer entlanggingen. Von der Terrasse aus waren die Dächer des Ortes, die Berge und im Südosten ein in der Nachmittagssonne glitzernder See zu sehen.

 

Aus dem Haus, das direkt an die Kirche anschloss, kam ihnen der Pfarrer entgegen. Er war um die fünfzig Jahre alt, trug eine geflickte Soutane und lächelte.

»Seid gegrüßt«, der Geistliche verneigte sich, »was kann ich für Euch tun?« Er sprach Aragonesisch, das dem Spanischen und Bearnesischen genügend ähnelte, um verständlich zu sein.

Margarète antwortete ihm auf Spanisch: »Mein junger Begleiter würde gern beichten, auf Französisch, wenn möglich.«

»Ich verstehe Französisch«, erwiderte der Pfarrer, eilte ihnen unter einem Torbogen hindurch voraus in die Kirche. Er wirkte wie ein gewöhnlicher Gebirgsgeistlicher, nicht wie ein häretischer Verräter. Es war schwer zu glauben, dass die Liga mit ihrem Verdacht richtiglag und dieser Mann für die bearnischen Calvinisten nördlich der Grenze spionierte.

 

Nur durch einige Rundbogenfenster in der Kuppel fiel Licht in die kleine Kirche. Der Pfarrer wies den Mönch an, in einem einfachen Beichtstuhl aus zerkratztem Tannenholz Platz zu nehmen.

»Was kann ich Euch anbieten?«, fragte er, erwartungsgemäß, an Margarète gewandt.

»Ein Becher Quellwasser wäre schön. Wir hatten einen langen Ritt.« Sie lächelte höflich.

»Gern.« Der Pfarrer führte sie durch die Sakristei in einen schäbigen Raum, der nur einen Tisch, drei Stühle und einen Kamin aufwies, schenkte ihr Wasser ein, trank einen Schluck mit.

»Dann schauen wir mal, was für Verfehlungen junge Mönche heutzutage begehen«, lachte er und verschwand.

 

Margarète stellte den Becher ab und eilte zur Tür am Ende des Zimmers. Sie war offen. Ihr Herz machte einen Sprung: So blieb es ihr erspart, einen Draht zum Öffnen des Schlosses zu benutzen, was ihr trotz de Vaillacs Unterweisungen noch immer nicht gut gelang. Sie befand sich nun in einem Arbeitszimmer, wo ein Kruzifix und ein Bild, das den heiligen Antonius mit Lilie und Christuskind zeigte, an der Wand hingen. Auf dem Tisch lagen zahlreiche Schreiben: Ablassbriefe, Steuereinnahmen, Rechnungen, nichts Auffälliges. Margarète öffnete die oberste Schublade, die quietschte. Sie hielt inne, sah über die Schulter zur Tür zurück, dann in die Lade: Kerzenstummel, Siegelwachs, Siegel. Die zweite Schublade. Ihr Puls ging schneller: geöffnete Briefe. Sie nahm sie heraus, las. Ein Brief auf Spanisch kündigte den Besuch des Bischofs an. Der nächste, auf Aragonesisch, betraf eine Lieferung von Wein und Tuch. In einem weiteren wurde um mehr Pilgerquartiere im Ort gebeten. Margarète legte die Briefe zurück in die Schublade, öffnete die untere: Federn, eine Bibel, Papierbögen. Sie schaute sich um. Ob es irgendwo ein Geheimfach gab? Vielleicht hinter dem Bild an der Wand? Margarète lauschte. Der Pfarrer und der Mönch kamen noch nicht zurück. Der junge Dominikaner schien doch fantasiebegabter zu sein oder mehr Sünden begangen zu haben, als sie gedacht hatte. Sie hob das Bild an, lugte dahinter, doch da war nur die nackte Holzwand. Margarètes Blick fiel auf eine schwere Truhe in der Ecke. Sie zog am Deckel, doch er war verschlossen. Sie kniete nieder, holte einen gebogenen Draht aus der Stofftasche an ihrem Gürtel, drehte ihn im Schloss hin und her, doch es gab nicht nach.

 

Von der Straße her waren Pferdehufe zu hören. Ein einzelner Reiter mit einer großen Ledertasche näherte sich der Kirche: ein Bote.

Sie eilte zurück ins Arbeitszimmer und durch die dortige Tür hinaus auf die Straße, setzte sich auf eine Mauer, richtete sich die Haare, lächelte, während sie, scheinbar verträumt, über die Berge schaute. Schon stand der Bote vor ihr, lüftete das Barett. »Kennt Ihr den Pfarrer am Ort?«

Der Mann sprach Französisch und schaute sie von oben bis unten an, schmunzelte.

Margarète nickte, strahlte dem Boten ins Gesicht, hielt ihm eine halbe Dukate hin, was einem sehr ordentlichen Trinkgeld entsprach. Der Bote nahm sie, übergab ihr drei Briefe und zwinkerte ihr zu, bevor er sein Pferd wendete und die Straße hinuntertrieb. Margarète wandte sich zur Kirche. Der Pfarrer war weder an einem Fenster noch am Eingang zu sehen, auch sonst niemand. Margarète steckte die Briefe unter ihr Mieder und ging leichten Schrittes ins Empfangszimmer zurück, wartete. Vor dem Fenster schimmerte der See im Südosten schon rosa im Abendlicht. Meine Güte, fragte sich Margarète, gesteht der kleine Mönch gerade die Ermordung der gesamten päpstlichen Leibgarde?

Sie schob die Briefe noch etwas tiefer. Am See brachten Fischer die Boote ans Ufer, Frauen wuschen Kleider in Kübeln. Wie herrlich wäre es jetzt doch, dachte Margarète, im See zu schwimmen, im sanften Licht. Wenn sie etwas liebte, dann das Schwimmen, doch sie hatte zu selten die Gelegenheit dazu. Obendrein musste man immer damit rechnen, dass ein paar Sittenwächter herumzeterten. Margarète stellte sich vor, wie sie durch das samtweiche Wasser des Sees glitt, auf den Grund tauchte und flitzende Fische sah. Schritte. Margarète schreckte auf. Der Pfarrer und der Mönch traten ein: der Pfarrer lächelnd, der Mönch mit ernstem Blick. Nach dem Austausch einiger Höflichkeiten wandte Margarète sich zum Gehen. Es dämmerte schon.

Der Pfarrer ging zum Kaminfeuer, steckte eine Fackel an, hielt sie Margarète hin. »Es wird bald dunkel.«

Margarète schüttelte den Kopf, besann sich dann aber anders. »Danke.«

 

Durch verwinkelte Gassen führten sie ihre Pferde hangabwärts, bis sie einen menschenleeren,kleinen Platz mit einem Brunnen erreichten. Der Mönch betätigte den Hebel, trank. »Habt Ihr etwas gefunden?«

Margarète setzte sich auf den Brunnenrand, beugte sich darüber und schaute in die Tiefe, wo bereits der Mond auf der Wasseroberfläche glitzerte, kostete den fragenden Blick des Jungen aus und die Gewissheit, ihn beeindrucken zu können, und holte dann die drei Briefe hervor. »Frisch von einem Boten.« Der Mönch sah düster auf die Pergament- und Papierbögen, hatte wohl gehofft, dass sie nichts aufzubieten hätte. Margarète erbrach das erste Siegel, las Aragonesisch: eine Bitte um Beherbergung des Sohnes eines Goldschmieds aus der Nähe. Das zweite Schreiben war auf Bearnesisch und enthielt eine Liste von Waren und Preisen. Darunter befanden sich, anstelle einer Unterschrift, nur drei Buchstaben: EVJ. Wofür stand das? Der gesamte untere Teil des Bogens war unbeschrieben. Das sah verdächtig aus. Margarète gab dem Mönch die Fackel, spähte um sich. »Halte sie vorsichtig unter das Papier, ohne es anzuzünden.« Er schaute verständnislos, gehorchte aber. Margarètes Puls beschleunigte sich. Auf dem unteren Teil des Bogens erschienen Buchstaben.

»Zwiebel- oder Zitronensaft«, erläuterte Margarète.

Während die dunkelbraune Schrift erschien, schaute der Mönch sie geradezu unverschämt überrascht an. Mit gespannten Gliedern beobachtete Margarète, wie die Buchstaben sich stetig dunkler und klarer abzeichneten. Sie übersetzte den bearnesischen Text ins Französische: Nachricht über Verstärkung der Garnison in Jaca dankend erhalten; werden Kundschafter aussenden und mehr Truppen an die südliche Grenze schicken. Bitte um Nachricht bezüglich der Grenzüberquerung von Señor S. EVJ.

Margarète ballte die Hand zur Faust.

»Wo liegt Jaca?«, fragte der Mönch.

»Eine spanische Grenzgarnison siebzehn Meilen südwestlich von hier. Der Pfarrer hat offenbar die Calvinisten gewarnt, dass die Spanier dort Truppen zusammenziehen, um das Béarn anzugreifen.«

»Hurensohn«, zischelte der Mönch. Seine Stimme bebte voller Hass. Es war befremdlich, so viel Hass in einem jungen Körper.

EVJ … Margarète bekam Gänsehaut. Wenn man die Buchstaben im Alphabet um vier Stellen weiter nach vorn verschob, ergab sich BSG. Sie murmelte die Buchstaben leise vor sich hin.

Der Mönch runzelte die Stirn. »Was bedeutet das?«

»Das Caesar-Verfahren, eine Verschiebung der Buchstaben.« Sie genoss es, den Jungen zappeln zu lassen. Dies war ein großer Fund.

»Die Buchstabenfolge sagt mir nichts.« Der Mönch kniff die Lippen zusammen. »Ich bin nicht von hier.«

»Baron de Saint-Geniès.«

»Der oberste Befehlshaber der Truppen von Navarra und des Béarn?« Der Mönch erstarrte.

Margarète nickte. »Der Pfarrer steht mit dem mächtigsten calvinistischen Heerführer in Verbindung.«

 

Sie steckte den Brief ein. »Suchen wir uns eine Herberge.« Es war stockfinster geworden.

»Wer ist Señor S?«, fragte der Mönch.

»Wahrscheinlich ein Calvinist oder Protestant, der aus Spanien fliehen will.«

»Möge man ihn fangen und vierteilen«, presste der Mönch hervor, während sie die Pferde bergan zur Hauptstraße zurückführten.

Der Mönch sah auf das Kopfsteinpflaster. »Wie kommt es, dass Ihr Kryptologie beherrscht?«

Da war sie wieder, die kindliche Neugierde des Mönchs, wie im Turmzimmer, als er die Pfiffe der Hirten gehört hatte. Margarète unterdrückte ein Schmunzeln. »Eine Spionin ohne Kryptologie ist wie ein Mönch ohne Kutte.«

Unwillkürlich zog der Mönch die Kutte enger um sich.

»Es gibt ein Buch mit dem Titel De furtivis literarum notis, vulgo de ziferis«,wieder war ihre Stimme sanfter geworden, wie beim Erläutern der Pfeifsprache, »da stehen alle bekannten kryptologischen Verfahren drin.«

Der Junge nickte, fragte aber nicht weiter. Während sie um eine Ecke bogen, dachte Margarète daran, wie Florimond de Vaillac ihr einst dieses Buch geliehen hatte. Er hatte den mit Ziegenleder eingebundenen Band mit einem Augenzwinkern aus einem Regal seiner hellen Bibliothek im Château Trompette gezogen, die mindestens hundert Bücher enthielt. Das war vor drei Jahren gewesen, nachdem er sie als Spionin angeworben hatte.

Einige angetrunkene Handwerker, die ihnen aus einer Taverne entgegenkamen, beschrieben ihnen den Weg zu einer Herberge unweit der Kirche.

Schweigend führten sie ihre Pferde an niedrigen Häusern aus Bruchsteinen vorbei. Als sie die Kirche passiert hatten, kam ihnen eine Gestalt in dunklem Gewand entgegen, trat ins Fackellicht und lächelte: der Pfarrer.

»Sucht Ihr eine Herberge? Ihr könnt auch bei mir Quartier nehmen.«

»Danke für das Angebot«, entgegnete Margarète, »aber wir haben Eure Gastfreundschaft schon zu sehr in Anspruch genommen.«

Der Mann schüttelte den Kopf. Dann steckte plötzlich ein Dolch in seiner Brust. Er röchelte, sah Margarète an, fiel zu Boden und regte sich nicht mehr.

Margarète stand wie erstarrt. Der Mönch trat an ihr vorbei, drehte den Toten auf den Rücken, zog seinen Dolch aus der Brust des Leichnams, wischte die Waffe an dessen Soutane ab, steckte sie ein und stieg wieder auf sein Pferd. Margarète starrte auf den Pfarrer.

 

»Wir sollten in die Berge reiten«, sagte der Mönch, schaute zu ihr herab, das Gesicht hart, die Stimme fest.

Margarète stieg auf, es würgte sie im Hals. Sie ritt dem Mönch auf dem Pfad Richtung Norden nach. Der Río Aguas Limpias lag silbern im Mondschein. Sie folgten der Ufermauer, galoppierten. Margarètes Glieder zitterten so sehr, dass sie sich kaum im Sattel halten konnte.

»Wenn ich das nächste Mal beichte, habe ich jetzt wenigstens etwas zu erzählen!«, rief der Mönch über die Schulter, grinste im Mondlicht.

Einen häretischen Verräter zu töten, ist keine Sünde, rief Margarète sich in Erinnerung, atmete tief. Es war eine gute Tat, die das Vordringen des Teufels aufhielt. »Immerhin wird Euer Beichtvater ein katholisches Begräbnis bekommen«, gab sie so unbeschwert wie möglich zurück. Der Mönch lachte ausgelassen wie ein Kind. Margarète fröstelte. Dieses Kind hatte eben einen Menschen umgebracht. Der letzte Blick des Pfarrers hatte ihr gegolten. Der Mann hatte Halt gesucht zwischen Leben und Tod.

Margarète trieb ihr Pferd an. Sie wollte weg, weg von dem toten Körper, weg von dem jungen Mönch. Zurück in die Burg: zu de Vaillac und d’Espalungue. Die Liga tötet, wurde ihr erst in diesem Moment voll und ganz bewusst. Bisher hatte sie es nur noch nicht erlebt.

4: Die erste unbekannte Sprache in Afrika

Am Tag der Visitation knetet Jacob Greve Wachskugeln, begeht zwei Diebstähle und begegnet einem barfüßigen Freund.

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