DIE STADT IN DEN STERNEN - Thomas R. P. Mielke - E-Book

DIE STADT IN DEN STERNEN E-Book

Thomas R. P. Mielke

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Beschreibung

Mit seinen großen mythologischen Epen Gilgamesch und Inanna hat sich Thomas R. P. Mielke in ganz Europa einen Namen gemacht: Wie kaum ein anderer versteht er es auf faszinierende Weise, Historie und Fantasy miteinander zu verknüpfen. Doch Mielke hat sich in seinen Werken nicht nur mit der Frühgeschichte, sondern auch mit der Zukunft, der Entwicklung der Menschheit beschäftigt: Seine in diesem Band enthaltenen Science-Fiction-Romane z. B. bilden – bei aller Rasanz und der Hinwendung zum Abenteuer – auch den Mythos Zukunft ab und stellen Fragen zu großen Themen:

- Wie leben die Menschen in einer totalen Freizeitgesellschaft, wenn ihnen das Arbeiten verboten ist?

- Wie kämpft die Dritte Welt um ihre letzten verbliebenen Ressourcen?

- Welche Gefahren birgt der Atom-Müll in den kommenden Jahrhunderten?

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THOMAS R. P. MIELKE

Die Stadt in den Sternen

Sechs ausgewählte Romane

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

Der Autor 

 

REBELLION DER VERDAMMTEN 

MEDOC-1 ANTWORTET NICHT 

DIE STADT IN DEN STERNEN 

TREFFPUNKT THINK 3000 

VON MENSCHEN GEJAGT 

DIE ANONYMEN MYSTIKER 

 

Das Buch

Mit seinen großen mythologischen Epen Gilgamesch und Inanna hat sich Thomas R. P. Mielke in ganz Europa einen Namen gemacht: Wie kaum ein anderer versteht er es auf faszinierende Weise, Historie und Fantasy miteinander zu verknüpfen. Doch Mielke hat sich in seinen Werken nicht nur mit der Frühgeschichte, sondern auch mit der Zukunft, der Entwicklung der Menschheit beschäftigt: Seine in diesem Band enthaltenen Science-Fiction-Romane z. B. bilden – bei aller Rasanz und der Hinwendung zum Abenteuer – auch den Mythos Zukunft ab und stellen Fragen zu großen Themen:

- Wie leben die Menschen in einer totalen Freizeitgesellschaft, wenn ihnen das Arbeiten verboten ist?

- Wie kämpft die Dritte Welt um ihre letzten verbliebenen Ressourcen?

- Welche Gefahren birgt der Atom-Müll in den kommenden Jahrhunderten?

Der Autor

Thomas R. P. Mielke, Jahrgang 1940.

Thomas R. P. Mielke ist ein deutscher Schriftsteller, der bevorzugt in den Bereichen Science Fiction, Krimi und historischer Roman tätig ist.

Mielke war hauptberuflich Texter, Konzepter sowie drei Jahrzehnte lang Kreativdirektor in internationalen Werbeagenturen. Er war für Slogans wie Berlin tut gut oder Mach's mit der ersten Anti-AIDS-Kampagne zuständig; überdies gilt er aus seinen Jahren in der Generaldirektion von Ferrero in Pino Torinese/Italien als Miterfinder des Kinder-Überraschungseis.

Parallel zu seiner Tätigkeit als Werbemanager schrieb er Krimis, Science Fiction und historische Romane. Sein erster SF-Roman Unternehmen Dämmerung erschien 1960 unter dem Pseudonym Mike Parnell. Es folgten einige Dutzend weitere unter den Pseudonymen Michael C. Chester (u.a. Ihre Heimat ist das Nichts, 1966), Bert Floorman, Henry Ghost, Roy Marcus, Marc McMan, Marcus T. Orban (u.a. New York 2019, 1983), John Taylor u. a.

In den 1960er Jahren schrieb er diverse Romane für verschiedene Verlage, u.a. für die gemeinsam mit H. G. Francis und Rolf W. Liersch konzipierten Serien Rex Corda und Ad Astra.

Zusammen mit Rolf W. Liersch entwickelte Mielke Mitte der 1970er Jahre das Konzept der alternativen Science-Fiction-Serie Die Terranauten, die in den Jahren 1979 bis 1987 im Bastei-Verlag erschien (und die aktuell im Apex-Verlag wiederveröffentlicht wird).

1983 wurde Mielkes Roman Das Sakriversum mit dem Kurd-Laßwitz-Preis ausgezeichnet; sein Werk Gilgamesch, König von Uruk belegte 1988 den zweiten Platz bei der Verleihung desselben Preises.

1985 erhielt er den Literaturpreis des Science-Fiction-Club Deutschland e.V. für die Politvision Der Tag an dem die Mauer brach über einen unerwarteten friedlichen Mauerfall und die Wiedervereinigung. Der Stern schrieb dem Autor dazu: »Die Berliner Mauer ist kein Thema – und wird es in den nächsten 25 Jahren auch nicht werden.«

Weitere herausragende Science-Fiction-Romane Mielkes sind Grand Orientale 3301 (1980), Der Pflanzen-Heiland (1981) und Die Entführung des Serails (1986).

Seit 1990 wandte sich Mielke verstärkt dem historischen Roman zu. So veröffentlichte er seither u. a. Inanna (1990), Karl der Große – der Roman seines Lebens (1992) und die Avignon-Trilogie (2004 – 2006).

2010 erschien sein vom Goethe-Institut-Preisträger Dr. Nabil Haffar ins Arabische übersetzter Roman Gilgamesch, König von Uruk in Syrien und anderen arabischen Ländern und kehrte damit zu seinem Ursprung zurück.

Gemeinsam mit Astrid Ann Jabusch (www.annjabusch.de) schrieb Mielke unter dem Titel Orlando Furioso eine Neu-Erzählung des Mittelalter-Bestsellers Der Rasende Roland; der Roman, erschienen im Emons-Verlag, wurde 2016 mit dem Deutschen Fantasy-Preis ausgezeichnet.

Thomas R.P. Mielke lebt und arbeitet in Berlin.

  REBELLION DER VERDAMMTEN

 

 

Jemand kippte Wasser über sein Gesicht. Es drang in seine Nase, rann über seine verschwollenen Lippen und weckte ihn auf. Ein Hustenanfall jagte Wellen von Schmerzen durch seine Lungen. Er spuckte und keuchte, während seine unkontrolliert zuckenden Finger über den kalten Steinfußboden rutschten.

Er versuchte zu blinzeln.

Ein verwaschener Schatten kam auf ihn zu. Für einen Augenblick erkannte er deutlich die feinen roten Äderchen in den Augen des anderen. Sie bildeten ein gezacktes Muster auf maisgelbem Grund. Wie Filigran zogen sie um die großen glänzenden Pupillen.

Schaufelartige Hände kamen auf ihn zu. Sie griffen nach seinem Kopf und hoben ihn hoch. Er wollte schreien, aber er konnte es nicht. Selbst die schwache Bewegung seiner aufgeplatzten Lippen war zu viel für ihn.

»Genug!«

Voller Dankbarkeit atmete Harry Chance aus - genau eine Sekunde zu früh! Der andere befolgte den Befehl aus dem Hintergrund, indem er seine riesigen Hände ruckartig zurückzog. Mit einem dumpfen Aufprall schlug Harrys Kopf auf den nassen Boden.

Rote Schleier stürzten sich über sein Bewusstsein. Mit einer kraftlosen Reflexbewegung hob er seine aufgedunsenen Hände einige Zentimeter vom Boden. Er wusste, dass es aus war. Diesmal hatte er sich zu weit vorgewagt.

Er wunderte sich, dass er nicht erneut ohnmächtig wurde. Vielleicht lag es an den Schmerzen. Sie waren einfach zu stark!

Und dann war da noch etwas, eine dumpfe, verzweifelte Enttäuschung. Sie wog schwerer als die brutalen, inquisitorischen Foltern der letzten Stunden.

Er hatte sich geirrt.

Er hatte es einfach nicht für möglich gehalten, dass sie mit nackter Gewalt auf seine Argumente antworten würden. Als sie ihn aus seiner Suite im vornehmen Hotel Vendôme geholt hatten, war er noch voll gespannter Erwartung gewesen. Er hatte nicht wissen können, dass die Herren mit den schwarzen Mänteln zu einer der geheimsten Abteilungen des Deuxieme Bureau gehörten.

Ein neuer Wasserschwall klatschte in sein Gesicht. Er war zu zerschlagen, um sich dagegen zu wehren.

»Spritze und zurückbringen!«, hörte er wie durch eine Wand aus Watte. Es kostete ihn große Anstrengung, den Sinn dieser Worte zu verstehen. Er spürte, wie die Nadel durch die Haut in seine Armvene drang.

Und plötzlich verlosch das Jahr 1999 in seinem Bewusstsein. Erinnerungsfetzen reihten sich ohne Zusammenhang aneinander.

Ein gurgelndes Aufstöhnen drang aus der Brust von Harry Chance. Unendlich langsam sank er in das Dunkel des Vergessens zurück.

 

Die bunten Bettbezüge aus Chintz stammten noch von seiner Großmutter. Seit sein Vater, der Oberst, in Vietnam gefallen war, hatte sich im kleinen Haus am Rochester Drive einiges geändert.

Und dann war er eines Tages ins Schlafzimmer seiner Mutter gestürzt, weil die Sonne schon hoch am Himmel stand. Sie hatte ihn nicht geweckt, obwohl an diesem Tag das große Entscheidungsspiel gegen die Baseball-Auswahl der Harlem-Youngsters stattfinden sollte. Mit einem vorwurfsvollen Gesicht lief er zum Bett seiner Mutter. Sie lag unbeweglich in den Kissen. Ihr Gesicht sah blass und blutleer aus.

Es dauerte lange, bis Harry begriff, dass sie tot war. Mit zehn Jahren denkt man nicht sofort an diese Möglichkeit.

Später am Tag kamen die Verwandten aus St. Louis und aus New York. Der Junge wurde bedauert und mit langen, aufmunternden Blicken auf den Ernst der Situation hingewiesen. Zwei Tage lang glich das Haus einem Bienenkorb. Dabei sprachen die Onkel und Tanten nur dann von seiner Mutter, wenn er in der Nähe war. Als es Zeit für die Beerdigung wurde, schloss er sich bis zur letzten Minute in seinem Zimmer ein. Erst als die Verwandten bereits ungeduldig wurden, kam er heraus.

Er stellte sich neben den schwarzen Leichenwagen und wartete. Er merkte nicht einmal, dass ihn alle anstarrten. Erst als Onkel Fred ihm die schwere Hand auf die Schulter legte und ihn zur Seite schob, spürte er, dass er etwas falsch gemacht haben musste. Onkel Fred erklärte ihm, warum er zur Beerdigung seiner Mutter keinen weißen Anzug anziehen könne.

Er verstand es nicht. Genauso wenig wie er es verstand, warum die hässlichen schwarzen Kleider der Tanten würdevoller sein sollten als sein nagelneuer Cowboyhut, den er auf seine lockigen braunen Haare gestülpt hatte. Der Krach kam, als er sich ganz entschieden weigerte, etwas anderes anzuziehen. Für ihn war Weiß nun mal die traurigste Farbe, die er kannte. Weil sie eigentlich gar keine Farbe war.

Obwohl er schließlich auch noch Ohrfeigen einsteckte, setzte er bis auf den Cowboyhut seinen Willen durch. Er weinte den ganzen Weg bis zum Friedhof, aber nicht wegen seiner Mutter. Es war, als ahnte er bereits, was auf ihn zukam.

 

Harry Chance entwickelte eine fast krankhafte Abneigung gegen Gürtel und Krawatten. Viel schlimmer aber war sein Widerwille, in aller Öffentlichkeit zu essen. Immer, wenn sie im College in die Mensa gingen, zog er sich zurück, um zu essen. Er fand es ekelhaft, vor Zeugen Speisen in den Mund zu nehmen, sie zu zerkauen und den Brei dann hinunterzuschlucken. Das war nach seiner Überzeugung etwas, was man ganz allein tun sollte - ebenso wie ein paar andere Dinge, die mit der Ernährung zusammenhingen.

Er erfuhr, wie grausam heranwachsende Kinder gegen alles waren, was nicht in ihre Norm passte.

Als ihm ein hübscher blonder Backfisch zu seinem fünfzehnten Geburtstag ein Paar Manschettenknöpfe schenkte, wusste er zunächst nicht, was er damit anfangen sollte. Unter dem johlenden Gelächter der anderen Geburtstagsgäste zeigte die frühreife Blondine es ihm. An diesem Tag trank er zum ersten Mal Alkohol. Sie hielten ihn zu acht fest und kippten den Drink einfach zwischen seine Zähne. Am nächsten Morgen hatte er überall blaue Flecken. Er hatte sich so gewehrt, dass die kleine Party in einer wüsten Schlägerei endete.

Von diesem Tag an wurde er im College geschnitten und verhöhnt. Jungen, die er nicht kannte, bliesen ihm Marihuana-Rauch ins Gesicht. Mädchen legten ihm Käsebrote zwischen die Bücher. In der Schulzeitung tauchte eine weltfremde Witzfigur auf, die einen Overall trug und ziemlich viel Ähnlichkeit mit ihm aufwies. Er schluckte das wie tausend andere kleine Dinge, während sein Charakter sich zu formen begann. Er wurde verschlossen und hatte kaum Freunde. Das Pentagon bezahlte seine Ausbildung aus der Rente, die vorher seiner Mutter zugestanden hatte.

Mit siebzehn wechselte er in eine High-School in New York über. Zwei Jahre später hatte er den Grad des BA und des Master of Art in der Tasche. Er verließ die Schule und arbeitete als Zivilangestellter im Pentagon. Er schlang alles Wissen in sich hinein - Wissen, das auf keiner Schule durch die Lernmaschinen vermittelt wurde.

Einen Tag vor seinem zwanzigsten Geburtstag hob er eine kleine Summe von seinem Sparkonto ab und flog nach Europa. In den ganzen Jahren hatte er die Mitglieder seiner Verwandtschaft kaum ein dutzendmal gesehen. Er war kein Mensch, mit dem man renommieren konnte. Im Gegenteil!

Am 20. Mai 1993 landete er in London. Aus Höflichkeit schrieb er zwei Postkarten nach St. Louis. Danach war er drei Jahre lang verschwunden.

 

Seine Doktorarbeit wurde in acht Fortsetzungen in der Prawda abgedruckt. Als die Leser am 4. August 1996 ihre Zeitung aufschlugen, sahen sie eine vollkommen leere sechste Seite. An dieser Stelle hätte normalerweise die neunte Fortsetzung der Doktorarbeit von Chance stehen sollen. Genau eine Woche später begannen die Arbeiter in der Provinz Kanton zu streiken. Es war der größte organisierte Streik, den die Volksrepublik China jemals erlebt hatte. Harry Chance gab ein Fernsehinterview, das von der ASIA-Company in alle Welt übertragen wurde. Er kam aber nicht über einleitende Worte hinaus. Noch ehe das Bild zu flackern begann, sahen die Zuschauer, wie schmucklos uniformierte Offiziere den Amerikaner abführten.

Nur wenige Stunden später befassten sich im Weißen Haus in Washington und im Moskauer Kreml die Regierungen mit den Vorfällen in China. Beide Nationen versuchten auf direktem diplomatischen Weg, den Amerikaner für sich zu beanspruchen. Doch Peking lehnte mit eisigen Antworten ab.

Niemand wusste, wie es Chance gelang, knapp vier Monate später in Marburg eine zweite Doktorarbeit einzureichen. Sie wurde ungewöhnlich schnell angenommen - gegen allerschärfsten Druck von oben! Harry Chance hatte nichts mehr davon. Er war erneut untergetaucht, nachdem das Pentagon ihm einen Einberufungsbescheid geschickt hatte. Seine Antwort bestand aus einem langen, anklagenden Telegramm.

In den ersten Januarwochen des Jahres 1997 machte dieses Telegramm Schlagzeilen in der Weltpresse. Das war nur wenige Tage, nachdem die CIA erfahren hatte, dass Harry Chance der Führer und Initiator des Silvesterputschs in Bosnien gewesen war. Zwei Jahre lang wurde Harry Chance von fast allen Geheimdiensten der Welt gejagt. Er lebte in Stockholm, Jericho und Florianópolis. Die Thule-Revolte, der Untergang des Atomzentrums von Nowaja Semlja und die Niederlage der türkischen Invasionstruppen in Griechenland gingen ebenso auf sein Konto wie die Entführung des südafrikanischen UNO- Chefdelegierten und der Zusammenbruch des europäischen Marsprogramms.

Harry Chance wurde zu einer Legende. Jeden Tag gab es Zeugen, die ihn an allen möglichen Orten gesehen haben wollten. Diese Gerüchte gehörten zu seinem Arbeitsstil. Niemand konnte Voraussagen, welche Aktion als nächste auf seinem Programm stand. Die Zeitungen sprachen von einem Wahnsinnigen, einem Amokläufer, einem hochintelligenten Einzelgänger, der alle Tricks kannte und immer wieder ein paar Sekunden schneller war als seine Häscher.

Doch dann begannen die internationalen Organisationen, ihre Erfahrungen mit Harry Chance untereinander auszutauschen. Auf Druck der öffentlichen Meinung hin wurden Computer zur Fahndung eingesetzt. Die Öffentlichkeit wollte endlich wissen, wie es möglich war, dass ein einzelner Mann ohne eingespielte Helfershelfer und ohne größere Geldmittel alle noch so perfekten Fallen umging.

Die Boulevard-Zeitungen bezeichneten ihn als Verbrecher des Jahrhunderts. Sie übergingen die Tatsache, dass Harry Chance niemals eine Bank ausgeraubt oder einen direkten Mord begangen hatte. Und genau das war der springende Punkt! Alle Verbrechen, die dem Amerikaner zur Last gelegt wurden, hatten eines gemeinsam: Sie brachten ihm persönlich keinen Vorteil.

Dann sickerten neue Gerüchte durch. Ein zu den Engländern übergelaufener russischer Brigade-General behauptete, dass im Atomzentrum Nowaja Semlja rund neunzig Prozent des für den Fall eines ABC-Krieges gehorteten Nervengases der UdSSR eingelagert waren. In Hongkong berichteten Tramper, dass alle Arbeiter, die in Kanton und in der Provinz Kwangtung gestreikt hatten, in die Äußere Mongolei umgesiedelt worden waren. Fast gleichzeitig brach der Nachschub von Roh-Opium aus China vollkommen zusammen. Als in Dänemark das Parlament neu gewählt werden sollte, stellten die Grönländer keine Kandidaten auf. Sie wiesen auf die Thule-Revolte hin und verlangten ihre Unabhängigkeit von Dänemark. Kopenhagen musste nachgeben. Noch ehe Griechenland und die Türkei aus der NATO austraten, spaltete sich Jugoslawien und kündigte alle internationalen Verträge.

Langsam - unendlich langsam begriffen die Verantwortlichen.

Ein einziger Mann schaffte überall auf dem Globus neue Verhältnisse, indem er gezielt und wirksam zuschlug. Er erreichte, was durch die bisherigen politischen Mittel einfach nicht zu erlangen gewesen war. Harry Chance setzte an den Brennpunkten an. Er veränderte das Gesicht der Welt, aber es waren keine sinnlosen Schönheitsoperationen!

Bis er völlig überraschend einen Brief an den französischen Staatspräsidenten schrieb. Er bat den Regierungschef Frankreichs, am 12. März 1999 ins Hotel Vendôme in Paris zu kommen. Er hätte wissen müssen, dass kein Regierungschef der Welt einer derartigen Aufforderung nachgekommen wäre!

Doch selbst als zweitausend Mann den Place Vendôme und das ganze Stadtviertel Concorde hermetisch abriegelten, rührte sich Harry Chance nicht. Monsieur Lecourbe und der Empfangschef des Vendôme standen in direkter Verbindung mit dem Polizeioberst, der die Absperrung des 1. Arrondissements leitete. Lecourbe bekam ein besonderes Funkgerät aus dem Justizministerium. Als es eintraf, war der Verkehr auf den Straßen bereits lahmgelegt.

Harry Chance bestellte telefonisch eine halbe Flasche Principe di Piemonte, Jahrgang 87, in sein Appartement.

»Das ist wirklich kriminell!«, schnaufte Lecourbe. Er schwitzte nervös. Pausenlos wischte er sich mit einem verknüllten Tuch über seinen roten Nacken.

Kurz nach 16 Uhr rollten fünf schwere schwarze Limousinen an der Vendôme-Säule vorbei. Sie kamen aus der Rue de la Paix. In einer Reihe stoppten sie dicht hintereinander vor dem Eingang des Hotels. Zivilisten sprangen aus den beiden vorderen und den beiden hinteren Wagen. Sie blickten sich suchend um. Und dann stieg der Präsident aus. Ohne zu zögern, ging er auf den schmalen Hoteleingang zu. Er verschwand unter der Markise. Nicht einmal die Leibwächter wussten, dass es sich um einen hochbezahlten Doppelgänger des echten Präsidenten handelte.

 

Farbig glühende Punkte tanzten vor seinen Augen. Harry Chance fuhr mit seiner geschwollenen Zunge vorsichtig über die trockenen Lippen.

Es hatte nicht geklappt.

Mit einem Aufstöhnen ließ er langsam die Luft aus seinen schmerzenden Lungen entweichen. In seinen Ohren dröhnte es. Normalerweise konnte er eine Menge Schmerzen vertragen. Langsam wurde er sich bewusst, dass der französische Geheimdienst ganz besonders raffinierte Spezialisten besaß. Jede Faser - jeder einzelne Knochen tat ihm weh. Es waren Schmerzen, die genau an der Grenze dessen lagen, was sein Organismus auszuhalten vermochte!

Sein Ich tänzelte auf der dünnen Linie zwischen Bewusstsein und Ohnmacht auf und ab. Er hatte jedes Zeitgefühl verloren. Jedes Mal, wenn er halbwegs erwachte, musste er von vorn anfangen - musste seine Umgebung, seine Identität und die Gründe für seine Situation analysieren. Und immer kam er dabei zur gleichen Erkenntnis: Er hatte versagt.

Sobald er soweit war, fiel er zurück ins Dunkel des Vergessens. Er war einfach nicht stark genug, diese Barriere der Enttäuschung zu überwinden. Irgendwo hatte er einen Fehler gemacht. In den halbwachen Augenblicken versuchte er krampfhaft, sich auf diesen Fehler zu konzentrieren. Er strengte sich so sehr an, dass er die Schmerzen aus seinem Bewusstsein zeitweise verdrängte. Seine vibrierenden Nerven jagten immer neue Schmerzwellen in sein Hirn. Er versuchte, die Schockwellen zu kanalisieren, sie auszunutzen - umsonst!

 

»Ausgerechnet hier in Paris!«, sagte der Präsident vorwurfsvoll. Er verschränkte die Hände hinter seinem breiten Rücken und ging zum Fenster. Ein heller Lichtkranz schimmerte um sein gewelltes graues Haar. Brauner Smog lag über Paris. Er drang durch die Ritzen der Fenster und nagte an den Skulpturen der Fassaden.

»Wir sollten kurzen Prozess mit diesem Narren machen«, schlug der Chef der militärischen Abwehr vor. »Paris darf nicht wieder der Zufluchtsort für Anarchisten, Revolutionäre und utopische Spinner werden!«

Der Präsident drehte sich langsam um. Er war fast zwei Meter groß, massiv gebaut und ungewöhnlich kräftig. Sein grobgeschnittenes Gesicht und seine breiten Schultern täuschten über seine wahren Fähigkeiten hinweg. Es war einer der Gründe, weshalb Marcel Haussmann zwei Wahlen gebraucht hatte, um Frankreichs Präsident zu werden.

»Sie sollten weniger auf die Meinungen der Zeitungen geben, General!«

Obwohl die Bemerkung absolut ernst gemeint war, verzog Haussmann spöttisch die Mundwinkel.

»Aber wir müssen eine Entscheidung treffen«, bemerkte der Justizminister. Haussmann warf dem Minister einen langen, nachdenklichen Blick zu, ehe er nickte.

Das Problem ist, dass wir vom rechtlichen Standpunkt nichts gegen Chance Vorbringen können«, erläuterte Anatole Herbillon. Der Justizminister war ein fähiger und korrekter Beamter gewesen. Fast vierzig Jahre hatte er auf seine Berufung warten müssen.

»Aber das ist doch...«

Haussmann brachte den General mit einem schnellen Blick zum Schweigen.

»Was meinen Sie, Francois?«

Der junge, schlaksige Regierungssprecher hob die Schultern. Er war vorher einer der fähigsten Journalisten Europas gewesen. Nach kurzer Überlegung und ein paar fahrigen Bewegungen durch sein wirres blondes Haar stieß er hörbar die Luft aus.

»Schwer zu sagen«, meinte er. »Glücklicherweise hat Harry Chance uns immer in Ruhe gelassen. Wenn ich mich nicht irre, ist er zum ersten Mal in Frankreich.«

Haussmann winkte ungeduldig ab.

»Wie würde die Weltöffentlichkeit reagieren, wenn wir ihm einen Prozess machen?«

»Einen Prozess? Aus welchem Grund, wenn ich fragen darf.«

Der Präsident sah den Justizminister fragend an.

»Kriegsverbrechen!«

»Ohne Krieg?«, fragte Haussmann skeptisch.

»Dann eben Mord!«

»Das würde auf einen Freispruch hinauslaufen, weil wir ihm garantiert nichts nachweisen können.«

»Dann bleibt nur die Auslieferung«, sagte der Justizminister und hob bedauernd die Schultern.

»Und an wen, bitte?«, fragte der Pressesprecher.

Für eine volle Minute herrschte Schweigen in der Präsidenten-Suite. Sie alle wussten, was Harry Chance bisher geleistet hatte.

Während General Denise verschiedene Möglichkeiten der Hinrichtung überlegte und zu dem Schluss kam, dass ein Erschießungskommando zu schade für Chance wäre, fragte sich Marcel Haussmann, welchen Einfluss seine Entscheidung auf eine Wiederwahl haben könnte.

Justizminister Anatole Herbillon ging im Geiste verschiedene Gesetze und ihre Ausführungsbestimmungen durch. Als er an den Internationalen Gerichtshof in Haag dachte, stieß der Pressesprecher gerade ein trockenes Lachen aus.

»Warum hören Sie sich den Mann nicht einfach an?«

»Sie sind verrückt!«, erwiderte der General. Haussmann hob die Brauen. Er blickte direkt in die grünen Augen von Francois Perrier.

»Was verbindet mich mit einem Amerikaner, der in China Streiks organisiert, in Jugoslawien Partisanenkämpfe anführt, der Eismeerinseln sprengt, UNO-Delegierte entführt und weiß der Teufel, was sonst noch alles.«

»Ich bin von Natur aus neugierig«, lächelte der junge Pressesprecher. »Natürlich kenne ich die einschlägigen Berichte über Harry Chance.«

Er warf General Denise einen spöttischen Blick zu.

»...selbst die allergeheimsten Berichte, General! Leider sehen Geheimdienste immer nur das, was sie gerade sehen wollen. Ich habe Harry Chance und seine Aktionen seit gut einem Jahr verfolgt. Nicht mit Spürhunden und Agenten mit Schlapphüten, sondern mit einer ganz gewöhnlichen Schere.«

General Denise unterdrückte einen Hustenanfall.

»Ganz recht, mit einer Schere«, sagte Francois Perrier. »Ich habe alle Zeitungsberichte über Harry Chance ausgeschnitten und gesammelt. Ich wollte wissen, was dieser Mann, der schließlich ebenso alt ist wie ich, eigentlich beabsichtigt. Ich habe versucht, zwischen den Zeilen zu lesen. Nicht, was er getan hat, war für mich wichtig, sondern warum er es tat!«

»Und?«, fragte der Präsident sofort. »Haben Sie ein Motiv gefunden?«

»Man muss auch die Kommentare in den Provinzblättern berücksichtigen«, wich Perrier aus. »Dabei sind immer Meinungen, die nicht von professionellen Journalisten stammen. Ziemlich viel dummes Zeug, meistens - aber...«

General Denise blickte auf seine Uhr.

»Haben Sie eine anderweitige Verpflichtung?«, fragte der Pressesprecher lächelnd. Er bemühte sich, den Blick des Präsidenten zu treffen. Als es ihm gelang, kniff er für eine halbe Sekunde ein Auge zusammen.

Marcel Haussmann verstand.

»Kümmern Sie sich um Chance!«, sagte er zu General Denise. »Auf keinen Fall darf der Mann in den Bunkern des Deuxieme Bureau sterben. Auf keinen Fall, General! Sie sind mir dafür verantwortlich!«

Denise verabschiedete sich mit einer übertrieben zackigen Ehrenbezeigung. Mit verkniffenem Gesicht verließ er die Präsidenten-Suite. Haussmann ließ sich in seinen massiven Sessel fallen. Er machte eine kurze Handbewegung. Der Justizminister und der Pressesprecher nahmen ebenfalls Platz.

»Was wissen Sie, Francois?«

»Ich habe die Doktorarbeit von Harry Chance gelesen. Und zwar die erste!«

»Wieso? Hat er zwei geschrieben?«, fragte Herbillon. Perrier nickte. »Die Marburger Arbeit hat einen allgemeinen Schluss. Die Zusammenfassung ist reichlich banal. Der Knüller liegt in den Fortsetzungen der ersten, die in Moskau nicht mehr veröffentlicht werden durften.«

»Na los, Francois! Worum geht es eigentlich?«

Haussmann lehnte sich zurück. Es war, als erwartete er eine mehr oder weniger wissenschaftlich verklausulierte Wahnidee.

»Chance begründet in der Moskauer Doktorarbeit die Notwendigkeit, alle bestehenden Systeme radikal auszurotten.«

»Ach«, sagte der Präsident enttäuscht. »Diese Notwendigkeit versuchen seit dreitausend Jahren alle nur denkbaren Typen von Schwärmern zu beweisen. Nicht sehr originell, wie mir scheint!«

Francois Perrier hielt seine Hände nebeneinander. Er betrachtete seine Fingernägel und lächelte.

»Sie kennen die Begründung nicht, mon President!«

»Begründen kann man sehr viel, Francois!«

»Aber nur Chance ist es gelungen, seine Behauptungen zu beweisen. Als man ihn nicht hören wollte, hat er selbst mit seinem Überzeugungsfeldzug begonnen. Mit ungewöhnlich viel Erfolg, wie Sie wissen...«

Marcel Haussmann stieß einen resignierenden Seufzer aus. »Also los, was ist das Besondere an Harry Chance?«

»Er stammt nicht von dieser Erde.«

»Hm?«

Der Präsident hob verärgert die Brauen. Er richtete sich auf. Der Justizminister bewegte in rhythmischen Abständen seine Hände. Es war, als wolle er den jungen Pressesprecher durch diese Bewegungen zum Schweigen bringen.

Winzige Schweißtropfen standen plötzlich auf der Stirn von Francois Perrier. Sein Gesicht hatte eine kalkig-weiße Farbe angenommen.

»Mein juristisches Staatsexamen erlaubt mir, als offizieller Verteidiger von Harry Chance aufzutreten!«, stieß er hastig hervor. »Und genau das werde ich tun, falls Sie mich jetzt entlassen.«

»Genug!«, sagte der Präsident entschieden. »Machen Sie sich nicht zum Narren, Francois!« Er schüttelte langsam den Kopf. »Selbst die geheimsten Informationen des Pentagon sprechen von Harry Chance als Sohn von Oberst Charles W. Chance und seiner Ehefrau Mary-Elena, geborene - äh...«

»Maxwell! Das streitet er ja auch nicht ab. Aber er kann beweisen, dass unsere ganze Zivilisation nicht viel mehr ist als eine gewisse Resonanz, als ein verstümmeltes Echo auf etwas, was eigentlich in uns sein könnte!«

»Ich verstehe kein Wort!«, stöhnte der Justizminister mit rau krächzender Stimme.

»Lesen Sie die Fortsetzungen neun bis zwölf der gestoppten Prawda-Serie«, sagte Francois Perrier tonlos. »Chance beweist darin, dass die Erde seit einigen tausend Jahren als eine Art Sträflingsinsel benutzt wird. Für die unheilbaren Fälle, sozusagen.«

Der Präsident blickte einer dicken, blauschwarzen Fliege nach. Er stand auf, ging zum Fenster und hob den Arm. Mitten in der Bewegung hielt er inne. Er drehte sich um. »Ich weiß

Ihren Humor zu schätzen, Francois«, sagte er beherrscht. »Ich verstehe auch, dass dieser Amerikaner gewisse Sympathiegefühle in Ihnen weckt. Schließlich sind Sie gleichaltrig, und der Job eines Pressesprechers ist längst nicht so abenteuerlich n wie das Leben eines Kriminellen. Trotzdem wollen wir doch bitte auf dem Boden der Tatsachen bleiben! Also - was schlagen Sie vor?«

»Ich kündige!«

Er sagte es leise, aber deutlich.

 

Ein zwitscherndes Geräusch weckte ihn auf. Es war auf eine seltsame Art bekannt und fremdartig zugleich. Seine Erinnerung eilte zurück - zu weit! Er versuchte, sich zu konzentrieren. Und plötzlich konnte er das Zwitschern identifizieren: Die gleiche Art von Spottdrosseln hatte es auch im Garten am Rochester Drive gegeben. Er öffnete die Augen einen Spalt. Rötliches Licht fiel durch ein großes Fenster. Die Stores waren zur Seite gezogen, die Fensterflügel geöffnet. Die Silhouette eines Zweiges schwankte in einer leichten Brise.

Harry Chance blinzelte. Verdutzt glitten seine Finger über den warmen Stoff eines Bettbezuges. Seine Fingerkuppen ertasteten Holz. Vorsichtig drehte er den Kopf zur Seite. Es roch nach Jasmin.

»Bewegen Sie sich nicht zu hastig«', sagte ein kühle, sachlich klingende Stimme. Chance schloss für einen Moment die Augen. Wie eine Sturzflut kam die Erinnerung zurück. Jede Einzelheit der letzten Stunden stand klar und deutlich vor ihm. Noch nachträglich schauderte ihm, als er an die Foltern zurückdachte.

»Wo bin ich?«, fragte er leise. Seine Stimme kam ihm fremd vor.

»Irgendwo im Grünen - in der Nähe von Fontai...«

»Keine Namen, Doktor!«

Das war eine andere, unsympathischere Stimme. Harry Chance lächelte kaum merklich. Ein Arzt und ein Bewacher. Er öffnete die Augen. Für einige Sekunden schwankte der Raum, in dem er sich befand. Nur allmählich konnte er sich auf die Einrichtung konzentrieren. Das Zimmer war überwiegend in Weiß gehalten. Er brauchte nicht lange, bis er darauf kam, in einem Sanatorium zu sein.

»Gehören Sie auch zum Geheimdienst?«, fragte Harry Chance den Arzt. Er konnte ihn im Licht der untergehenden Sonne an einem kleinen Tisch erkennen. Drähte liefen vor dem Arzt in einem beigefarbenen Kasten zusammen. Sie kamen von allen nur denkbaren Stellen am Körper von Harry Chance.

»Sie haben ein kräftiges Herz«, meinte der Arzt. »Außergewöhnlich gut entwickelt sogar.«

»Fast so außergewöhnlich, wie seine Neigung, Inseln mit Atomkraftwerken in die Luft zu jagen!«

Chance wandte den Kopf zur Seite. Und plötzlich stieg Bitterkeit in ihm auf.

»Für Leute wie Sie habe ich es bestimmt nicht getan!«, sagte er kalt.

Der General starrte ihn mit verkniffenem Gesicht an. Er trug einen weißen Kittel über seiner Uniform. Trotzdem reichte die Tarnung nicht. Chance konnte die Kragenecken sehen.

»Was habe ich Ihnen erzählt?«, wollte er wissen. Er kannte die Wirkung von Skopolamin und ähnlichen Wahrheitsseren.

»Jedenfalls mehr, als bisher in den Personalakten stand, die überall in der Welt extra für Sie angelegt worden sind!«

Chance lächelte leicht.

»Es scheint, dass Sie auch noch stolz darauf sind«, knurrte der General böse. »Für wen halten Sie sich eigentlich, Mann? Für einen Jahrhundert-Verbrecher? Oder für den einsamen Rächer im Kampf gegen eine ganze Zivilisation?«

»Ich kam nach Paris, um mit dem Präsidenten der Neunten Republik zu sprechen. Ist das ein Staatsverbrechen in Ihrer Demokratie?«

»Sie müssen verrückt sein!«, stellte der General vorwurfsvoll fest. »Ein ausgekochter und gleichzeitig naiver Phantast!«

»Ich habe nicht erwartet, dass Männer wie Sie intelligent genug sind, um mich zu verstehen«, sagte Chance ruhig.

Das war zu viel für General Denise. Er sprang auf, baute sich vor dem Bett von Chance auf und ballte die Hände zu Fäusten. Sekundenlang schwankte er innerlich, dann drehte er sich abrupt um und stapfte aus dem Raum. An der Tür stieß er fast mit Francois Perrier zusammen. Der Pressesprecher der Regierung machte einen abgehetzten Eindruck. Sein Gesicht war gerötet, während seine blonden Haare ungekämmt aussahen.

Denise wusste nichts von dem, was nach seinem Abgang in der Suite des Präsidenten vorgefallen war.

»Nun?«, bellte er ungehalten. »Neue Instruktionen?«

»Nein - nichts!«, sagte Perrier schnell. Der General schnaufte und verließ endgültig den Raum.

»Bon soir, Perrier«, sagte der Arzt.

»Bon soir«, gab der ehemalige Pressesprecher zurück. »Wie geht's ihm?«

»Als die neuen Anweisungen kamen, haben wir ihn mit Antibiotika und Morphium-Derivaten vollgepumpt. Er hat keine Schmerzen zur Zeit.«

»Und hier?«, fragte Perrier, indem er auf seine Stirn tippte.

Der Arzt hob die Schultern. »Der Ausdruck normal ist ein relativer Begriff. Aber Sie können mit ihm sprechen, wenn Sie das meinen.«

»Allein?«

Der Arzt zögerte etwas, dann stand er auf und deutete auf das Gerät vor sich.

»EKG und EEG. Sobald die Linien einen der roten Striche erreichen, drücken Sie bitte diesen Knopf hier. Ich warte im Vorraum.«

Perrier nickte. »In Ordnung, Doktor und - danke!«

Perrier warf einen flüchtigen Blick auf die Zackenlinien der kombinierten Messgeräte. Er überzeugte sich, dass die Spitzen der Zacken noch weit von den roten Linien entfernt waren. Ohne sich umzudrehen wartete er, bis der Arzt die Tür hinter sich geschlossen hatte. Es war eine schallschluckende Doppeltür. Perrier musterte kurz das zur Seite geschobene Sauerstoffzelt über dem Bett von Chance. Langsam ging er auf ihn zu. Im Gehen nahm er einen Stuhl mit, drehte ihn um und setzte sich. Er schlug die Beine übereinander und sah den schwer angeschlagenen Amerikaner nachdenklich an.

Es dauerte fast zwei Minuten, ehe Perrier sprach.

»Verstehen Sie mich?«

»Ja.«

»Ich bin Francois Perrier - bis vor einer Stunde Pressesprecher der Neunten Republik. Ehe Sie mir antworten, möchte ich Ihnen sagen, dass ich nicht das süße Zuckerbrot nach der Peitsche bin! Ich habe nicht die Absicht Sie auszufragen. Wenn General Denise erfährt, dass ich mich allein bei Ihnen befinde, obwohl ich kein Regierungsamt mehr habe, können wir gleich ein zweites Bett hier für mich aufstellen.«

Harry Chance hob langsam die Brauen. Er musterte das Gesicht des jugendlich wirkenden Mannes. In den letzten Jahren hatte er gelernt, in Gesichtern zu lesen. Trotzdem dauerte es einige Zeit, bis er sein abwehrendes Misstrauen überwand.

»Was wollen Sie?«, fragte er leise.

»Ich glaube, irgendjemand sollte sich bei Ihnen entschuldigen«, meinte Perrier.

»Entschuldigen? Bei mir?«

Wieder musterte Chance das Gesicht des Franzosen. Er konnte keine Spur von Ironie darin feststellen.

»Sind Sie nur deshalb gekommen?«

»Nein!«, sagte Perrier. »Ich habe seit gut zwölf Monaten Ihren Weg verfolgt. Ich weiß mehr über Sie als mancher Geheimdienst. Ich kenne Ihre Familie, Ihre Jugend und Ihre Aktionen. Und ich kenne ein paar unbeachtet gebliebene Kommentare aus den Provinzzeitungen.«

Er hielt inne. Er wartete auf irgendwelche Zeichen von Chance. Doch der Amerikaner bewegte sich nicht.

»Sprechen Sie weiter!«, sagte er nur.

»Ich kenne auch die Kapitel neun bis zwölf - die in Moskau zensierten Kapitel Ihrer Doktorarbeit.«

Chance bewegte ruckartig den Kopf. Er richtete sich halb auf, biss die Zähne zusammen und verkrampfte die Hände. Perrier beugte sich schnell vor. Er warf einen kurzen Blick auf die Zackenlinien des EKG-EEG-Geräts. Selbst auf drei Meter Distanz konnte er erkennen, dass er jetzt eigentlich den Klingelknopf hätte drücken müssen.

»Was - was wollen Sie von mir?«, fragte Chance mühsam.

»Sie brauchen Hilfe, weil Sie vergessen haben, dass irgendwo alle Regierungen der Welt Zusammenarbeiten. Dabei ist es unwichtig, ob Ideologien oder Regierungssysteme einen offiziellen Trennungsstrich ziehen.«

Chance lachte trocken und ließ sich zurücksinken.

»Wem sagen Sie das!«

»Ich habe Ihretwegen gekündigt, Chance! Ich habe dem Präsidenten gesagt, dass ich gegebenenfalls Ihre Verteidigung übernehmen werde. Sie machen einen Fehler, wenn Sie glauben, dass Ihnen in Frankreich nichts passieren könne! Die Leute verlangen Ihren Kopf - vielleicht nur deshalb, weil Sie - äh - anders sind.«

Harry Chance war plötzlich hellwach. »Wollen Sie mir wirklich helfen?«

»Deshalb bin ich hier!«

»Und Sie wissen, was ich behauptet habe?«

»Wort für Wort!«

»Glauben Sie es?«

»Es ist schwer!«, sagte Francois Perrier. Er versuchte zu lächeln.

»Ich kann Ihnen die Wahrheit beweisen!«

»Wann?«

»Wenn Sie mich hier rausbringen.«

Der ehemalige Pressesprecher der Neunten Republik kaute auf seiner Unterlippe. Sein für gewöhnlich gerötetes Gesicht war bleich geworden. Er machte sich nichts vor. Wenn er jetzt auf die falsche Karte setzte, war er für alle Zeiten erledigt. Sein Verstand sagte ihm, dass es Wahnsinn war. Er kannte die Stories von UFO-Leuten. Seit vielen Jahren gab es reichlich verworrene und naive Geschichten von Männern, die behaupteten, auf dem Mars oder sonstwo gewesen zu sein. Dabei wusste Francois Perrier, dass keine irdische Sonde auch nur die geringste Spur von Algen oder Farnen auf den Planeten des Sonnensystems entdeckt hatte. Nichts - aber auch gar nichts unterstützte die Behauptung, dass es außerirdisches Leben gäbe.

Und dann war da dieser außergewöhnliche Mann! Er hatte Dinge getan, die normalerweise absolut unmöglich waren. Und er hatte Behauptungen aufgestellt, die selbst von den besten Wissenschaftlern der Erde nicht zu widerlegen waren.

»Sie wollen also wirklich hieb- und stichfest beweisen, dass Sie, Harry Chance, nicht von dieser Erde stammen!«, stellte Francois Perrier fest.

»Ja! Ebenso wenig wie Sie!«

»Wie ich?«, fragte Perrier verwirrt.

»Genau! Ich weiß es seit fünf Minuten!«

»Aber...«

»Pst! Es kommt jemand! Passen Sie auf!«

Schneller als Chance erwartet hatte, war eine Manufrance, Kaliber 7,65, in der Hand von Perrier.

»Reißen Sie Ihre Drähte ab!«, stieß der ehemalige Pressesprecher scharf hervor. »Und dann schlucken Sie das!«

Er warf drei rosa Pillen auf die Bettdecke. Erst jetzt war Harry Chance davon überzeugt, dass der Franzose es ernst meinte. Er schlug die Bettdecke zurück. Rote Nebel züngelten auf ihn zu. Er wankte. Perrier ließ seinen linken Arm zur Seite schnellen. Chance klammerte sich daran fest.

Als die Tür aufsprang, drückte Francois Perrier ab. Die La France des Generals beschrieb einen Bogen und knallte mitten in das Gerät, in dem alle Linien jetzt ohne die geringsten Zacken geschrieben wurden. Es gab einen dumpfen Blitz und eine kaum wahrnehmbare Rauchwolke.

Der General mit dem weißen Kittel führte eine halbe Drehung aus. Er schwankte, ehe er langsam in den Raum fiel.

»Notwehr!«, presste Francois Perrier hervor. »Juristisch einwandfrei, aber moralisch ohne Bedeutung! Los - kommen Sie.«

 

Anatole Herbilion war aufgrund seiner Fähigkeiten Justizminister geworden. Trotzdem konnte er die aufsteigende Panik nur schwer unterdrücken. Er wusste, dass der Ruf Frankreichs auf dem Spiel stand.

Irgendwie hatten einige Regierungen erfahren, dass Harry Chance in Paris verhaftet worden war. Der umstrittene Mann der letzten drei Jahre war dem Deuxieme Bureau in die Falle gegangen! Fast gleichzeitig schlug die öffentliche Meinung um. Wenn vorher auch alles gegen Harry Chance gesprochen hatte - als Gefangener einer Geheimdienstabteilung war er ein Märtyrer!

Als die ersten Komitees per Telex die Freilassung des Amerikaners forderten, wussten nur ein halbes Dutzend Franzosen, dass Chance wieder einmal entkommen war. Zusammen mit dem demissionierten Pressesprecher der Republik war er aus dem Sanatorium des Geheimdienstes geflohen. General Denise lag schwer verletzt auf einem Operationstisch. Er hatte einen Lungensteckschuss. Jetzt hatte auch Anatole Herbilion keine Skrupel mehr, rücksichtslos gegen Harry Chance vorzugehen.

Die Jagd begann.

Korrekt und mit kalter Routine setzte der Justizminister den Fahndungsapparat in Bewegung. Er informierte seinen Planungsstab. Zwei Dutzend hoher Beamter hängten ihre Hüte wieder an den Nagel. Sie stürzten an die Telefone. Sekretärinnen nahmen Diktate für Faxschreiben auf. Vorschriftsmäßig informierte Herbillon auch den Verteidigungsminister und den Minister für Inneres. Die drei Minister vereinbarten, einen geheimen Notstandsplan in Kraft zu setzen. Sie brauchten nur noch die Zustimmung des Präsidenten.

Herbillon rief in der Präsidenten-Suite an.

»Der Präsident hat vor einer halben Stunde das Palais verlassen«, teilte der persönliche Referent von Marcel Haussmann mit. »Er ist zum Essen gefahren - wie immer um diese Zeit.«

Herbillon knallte den Hörer des Bildtelefons auf die Gabel. Ärgerlich schnippte er mit den Fingern. Für einen Augenblick stand er regungslos in seinem großen, mit Teppichen ausgelegten Büro. Er zögerte lange, ehe er sich entschloss, im Tour d' Argent anzurufen. Immerhin wusste er, dass Marcel Haussmann keine Störungen liebte, wenn er nach Einbruch der Dämmerung mit einem kleinen Kreis von Freunden im besten Restaurant von Paris ein kleines Diner einnahm.

Der Justizminister hatte feuchte Hände, als er sich mit dem Tour d' Argent verbinden ließ.

Er bekam Monsieur Lepetit sofort an den Apparat.

»Der Präsident?«, fragte der Gastronom. »Nein - bedaure zutiefst, wir warten selbst auf ihn.«

Herbilion erstarrte. Es war, als wollte er nicht glauben, was er soeben gehört hatte.

»Er - er ist nicht gekommen?«

»Nein!«

Herbillon legte auf. Ein dunkelroter Schimmer lag über Paris. Herbilion spürte, wie sein linker Mundwinkel zuckte. Er hatte plötzlich Herzstiche.

Unendlich langsam wählte er die Direktverbindung zum Sonderdepartment des Deuxieme Bureau. Der Stellvertreter von General Denise kam an den Apparat.

»Großalarm«, sagte der Justizminister tonlos. »Der Präsident ist verschwunden.«

»Mon Dieu! Das ist doch...«

»Ich weiß nicht, wie er es gemacht hat«, sagte Herbillon mit einem verzerrten Lächeln. »Aber Harry Chance ist eben alles zuzutrauen - alles!«

Ein Schwächeanfall ließ seine Knie zittern. Er konnte gerade noch den Hörer auflegen, ehe er in seinen Sessel zurücksank.

 

Der MBB raste nach Süden, Orleans, Vierzon und Limoges gehörten zu den wenigen Stationen, an denen der MAGNO- Train hielt. Jeweils drei Minuten, dann jagte der von linearen Induktionsmotoren beschleunigte Magnettriebwagen mit fast sechshundert Stundenkilometern weiter. Je zwei flossenartig abgeknickte Tragflächen an beiden Seiten enthielten elektromagnetisch reagierende Stromkreise aus Supraleitern. Ohne direkte Berührung mit den U-förmigen Führungsschienen rauschte der MBB durch die Departments Haute-Vienne, Dordogne und Lot-et-Garonne.

Korkeichenwälder und dichtes Unterholz aus Macchia veränderten die Landschaft. Als der MBB die Gascogne erreichte, waren noch nicht einmal siebzig Minuten seit der Abfahrt in Paris vergangen. Nur wenige Minuten später tauchten am Horizont die dunstigen Pyrenäen auf. Gleich darauf lief der Messerschmidt-Bölkow-Blohm in Toulouse ein.

»Wollen Sie mir nicht endlich sagen, wohin Sie mich entführen?«, fragte der Mann in der Mitte der Dreierreihe aus bequemen, blaubespannten Flugzeugsesseln.

Der Mann am Fenster antwortete nicht. Er hatte den Kopf zurückgelehnt und schlief. Francois Perrier verspürte ein unangenehmes Kribbeln unter seiner Gesichtsmaske aus fleischfarbener Plastik. Seit der Abfahrt aus Paris war es ständig wärmer geworden. Ströme von Schweiß waren ihm seither in den Kragen geronnen. Er hatte nicht einmal die Möglichkeit, sich an den Nasenflügeln zu kratzen.

Perriers roter Diplomatenpass hatte sie bisher von allen Kontrollen verschont. Trotzdem mussten sie jeden Augenblick damit rechnen, gerade dadurch aufzufallen!

Nein - es war nicht seine Idee gewesen! Er hatte Chance nur gesagt, wie der normale Tagesablauf des Präsidenten aussah. Der Rest war so einfach gewesen wie eine Liftfahrt zur Spitze des Eiffelturms. Der Fahrer des schwarzen Präsidenten-Citroens hatte nicht einmal Zeit gefunden, den Motor abzustellen.

Harry Chance hatte behauptet, dass man sie auf der Flucht nach Norden oder Westen vermutete. Nach seiner Ansicht würde niemand darauf kommen, den entführten Präsidenten in einem ganz normalen MAGNO-Train nach Spanien zu vermuten.

Er hatte Recht gehabt!

Beinahe lautlos setzte sich der Zug wieder in Bewegung. In Kurven von mindestens zehn Kilometern Radius verließ er Toulouse.

Eine Hostess schob einen verchromten Wagen mit Getränken und Zigaretten durch den Mittelgang. Perrier wurde sich plötzlich bewusst, dass der Präsident ihn etwas gefragt hatte. Er blickte verstohlen zur Seite. Das glatte, fast echt wirkende Gesicht seines Nebenmannes bewegte sich nicht. Nur die grauen Augen mit den hellen, gelben Punkten fixierten ihn.

»Ich bin ja ruhig, Francois«, sagte Marcel Haussmann beschwichtigend unter seiner Maske hervor. »Aber etwas mehr Fairness hätte ich doch von Ihnen erwartet! Sie kennen mich lange genug. Sie müssten wissen, dass ich kein Spielverderber bin.«

»Wenn Sie jetzt bitte ruhig sein wollen!«

Es fiel dem ehemaligen Pressesprecher der französischen Regierung sichtlich schwer, den Präsidenten wie eine ganz normale Geisel zu behandeln. Immerhin wurde nicht jeden Tag ein Staatspräsident entführt.

»Was ich noch sagen wollte«, meinte Haussmann unvermittelt. »Ich habe mir die Sache überlegt. Ich nehme Ihre Kündigung nicht an, Francois!«

»Dafür ist es zu spät!«

»Meinen Sie?«, fragte der Präsident spöttisch. »Sie vergessen, dass es Positionen gibt, die besonderen Bestimmungen unterliegen!«

Die Hostess schob ihren Wagen an ihnen vorbei.

»Ich hoffe nur, dass Sie keine Dummheiten machen«, flüsterte Marcel Haussmann. »Da ich bisher noch nicht weiß, was Sie beabsichtigen, könnten Sie mir in der Zwischenzeit etwas über die Kapitel neun bis zwölf erzählen. Ich denke, dass ich ein Anrecht darauf habe.«

Perrier warf einen kurzen Blick auf Harry Chance. Der MBB hatte seine Höchstgeschwindigkeit erreicht.

»Wir - wir brauchen Sie noch!«, sagte Perrier kurz.

»Mich? Und warum?«

»Wir brauchen einen Mann mit sehr viel politischem Einfluss!«

»Mann, Francois! Haben Sie denn nie begriffen, dass das Amt eines Präsidenten nur die sichtbare Spitze eines gut organisierten Eisbergs aus vielen tausend Mitarbeitern ist? Schon morgen könnte eine Regierungskrise mich wieder zum Privatier machen. Und genau das wird passieren, wenn ich nach Ansicht der Opposition nicht mehr in der Lage bin, die Staatsgeschäfte zu führen.«

»Sie bleiben nicht länger als ein paar Tage verschwunden!«, erklärte der Pressesprecher.

»Und wie soll ich meine Abwesenheit in Paris erklären?«

»Indem Sie die Wahrheit sagen!«

»Welche Wahrheit?«

»Über Chance«, sagte Francois Perrier ruhig, doch der Präsident schüttelte nur den Kopf.

»Ich werde überhaupt nichts tun! Falls Sie mich umbringen wollen, kann ich Sie nicht daran hindern, falls Sie aber...«

»Wir denken nicht daran, Sie umzubringen. Im Gegenteil! Wir wollen Ihnen nur beweisen, dass Chance Recht hat.«

»Womit?«

»Mit seiner Theorie, dass die Menschheit nicht auf diesem Planeten entstanden ist.«

»Na und? Was interessiert mich als Gegenwartspolitiker die Entstehungsgeschichte der Menschheit. Wir haben weiß Gott aktuellere Probleme zu bewältigen!«

»Niemand wird die Probleme der Erde bewältigen, solange wir auf diesem Strafplaneten gefangen gehalten werden!«, stieß Francois Perrier erregt hervor.

»Ach, daher weht der Wind!«, lachte Marcel Haussmann kopfschüttelnd. »Heute Morgen haben Sie sich aber gar nicht wie ein verbannter Sträfling benommen, Francois.«

»Weil ich Harry Chance noch nicht kannte. Er - er kann sich erinnern an sein Leben im Zentrum der Galaxis!«

»Und nur deshalb sollen wir die utopischen Ideen dieses Herrn hier neben mir ernst nehmen?«, spottete Marcel Haussmann.

»Es sagt, dass wir zurückkehren können.«

Haussmann lachte trocken auf.

»Zurückkehren? Wohin und womit, Francois?«

»Zum Zentrum der Galaxis und mit den gleichen Methoden, mit denen wir auf diesen Planeten verbannt worden sind!«

»Wunderbar«, spottete der Präsident, ohne seine Plastikmaske zu bewegen. »Und wann starten wir?«

»Sobald der Ausbruch vom Strafplaneten Erde organisiert ist.«

Mit einem resignierenden Aufstöhnen lehnte sich Marcel Haussmann zurück. Er schüttelte immer wieder den Kopf. Ganz langsam begann er, an seinem Verstand zu zweifeln.

Die Nachricht schlug wie eine Bombe ein. In aller Stille und unbeobachtet von den Spionage-Satelliten hatten die Inder ein Raumschiff gestartet. Es war aus einem abgelegenen Himalaja-Tal in Nepal aufgestiegen und befand sich bereits außerhalb der irdischen Lufthülle.

In Minutenschnelle überschlugen sich die Spekulationen. Nachrichtenagenturen und Geheimdienste lieferten sich ein erbittertes Wettrennen um genauere Einzelheiten.

Die Sensation war derartig perfekt, dass sogar die spektakuläre Entführung des französischen Präsidenten in den Hintergrund trat.

Mehr als drei Dutzend lenkbare Satelliten konzentrierten sich über dem Himalaja-Tal. Sie richteten ihre Teleobjektive, Infrarotkameras und die polarisierenden Radar-Laser auf die verbrannte Abschussbasis.

In einem Umkreis von dreihundert Metern war der Granit zu einer grünen, spiegelnden Fläche verglast. Doch erst als die Wärmespürer der Kontroll-Satelliten feststellten, dass nicht eine einzige ausgebrannte Raketenstufe in der Lufthülle der Erde verglüht war, bekam der Raumschiffstart in Indien einen neuen, unheimlichen Aspekt.

Nur wenig später stellten spektroskopische Telekameras fest, dass es keinerlei Brennstoffrückstände gab.

Die Bestätigung kam von der zentralen indischen Nachrichtenagentur. Zum ersten Mal in der Geschichte der irdischen Raumfahrt war es gelungen, ein elektromagnetisches Großtriebwerk zu konstruieren. Der Schub des ionisierten und gebündelten Gases war so gigantisch, dass die Inder gleich dreißig Personen ihrem neuen Plasmatriebwerk anvertraut hatten. Dreißig Wissenschaftler, Offiziere und Frauen, die unter dem Kommando von Madra Mahyra - einer schlanken, dunkelhäutigen Schönheit - auf dem Weg zu den Jupitermonden waren.

Fast beiläufig teilten die Inder außerdem mit, dass es ihnen gelungen war, Atomresonanzen nutzbar zu machen. Sie behaupteten, dass sie dadurch in der Lage wären, Nachrichten mit einer Geschwindigkeit zu übermitteln, die größer als die des Lichts war!

Nur wenige Menschen wussten, was das bedeutete.

Die Nacht war klar und wolkenlos. Ein kühler Wind strich an den Nordhängen der Pyrenäen talwärts. Obwohl es bis zur spanischen Grenze noch gut zwanzig Kilometer waren, bewegten sich die drei Männer mit äußerster Vorsicht über den alten Klosterpfad aufwärts.

Chance, Haussmann und Perrier hatten ihre Gesichtsmasken vergraben. Der Präsident passte sich der ungewöhnlichen Situation überraschend gut an. Der Amerikaner und sein eigener Pressesprecher hatten ihm klipp und klar erklärt, dass jeder Fluchtversuch aussichtslos war.

Bei einer kurzen Rast holte Perrier ein Transistorradio aus seiner Jacke. Obwohl sie alle drei gespannt auf die Nachrichten von der Entführung des Präsidenten warteten, redete der Sprecher pausenlos vom indischen Raumschiffstart. Chance warf dem Präsidenten einen langen Blick zu. Er beobachtete, dass Haussmann unruhig wurde.

»Man gibt sich offensichtlich nicht viel Mühe, Sie wiederzufinden«, sagte er halblaut.

»Da fehlt eben ein guter Pressesprecher«, knurrte der Präsident sarkastisch. »Trotzdem können Sie sich darauf verlassen, dass die Grenzübergänge absolut dicht sind.«

»Wir gehen nicht über die Grenze!«

Verdutzt hob Marcel Haussmann die Brauen. Sein kantiges Gesicht war nur undeutlich zu sehen.

»Wollen Sie sagen, dass wir in Frankreich bleiben?«

»Wenn Sie aufgepasst hätten, würden Sie wissen, dass wir uns in der Nähe der neuen Solarstation befinden. Am Tage können die Bewohner von St. Girons oft das gleißende Licht von der Bergspitze sehen, wenn die Spiegelflächen der Station ausgerichtet werden.«

»Ich bin kein Wissenschaftler.«

»Sie haben nur gleich nach Ihrem Regierungsantritt fünfzig Millionen France für den weiteren Ausbau der Station bewilligt.«

»Bien - aber was erwartet uns dort?«

»Ein Fenster des Gefängnisses«, sagte Harry Chance. »Noch ist es für uns vergittert, aber Sie werden einen Blick nach draußen werfen können.«

»Und wenn ich mich im angeblichen Gefängnis Erde bisher ganz wohl gefühlt habe?«, fragte Haussmann ruhig. »Was wollen Sie unternehmen, wenn die Erdbevölkerung relativ zufrieden mit ihrem Planeten ist? Ich kenne eine ganze Menge Leute, die sehr an ihrem Häuschen hängen. Oder wollen Sie etwa behaupten, dass Milliarden von Menschen nur darauf warten, sich in ein obskures Weltraumabenteuer zu stürzen?«

»Warten Sie ab!«, warf Perrier ein.

»Na schön - nehmen wir mal an, ein paar Wissenschaftler würden bestätigen, dass wir nicht von der Erde stammen. Wie groß würde die Arche Noah sein müssen, um uns in die unbekannte Freiheit zurückzubringen?«

»Unwichtig«, sagte Chance mit einer abfälligen Handbewegung. »Das ist nicht das Problem! Viel wichtiger wird es sein, der Menschheit klarzumachen, dass sie nie etwas anderes kennengelernt hat als das mörderische Leben, die Intrigen und den brutalen Existenzkampf auf einer Sträflingsinsel.«

»Vielleicht sollten Sie eine Religion gründen«, meinte der Präsident sarkastisch. Doch Chance blieb vollkommen ernst.

»Das haben bereits andere versucht - Männer, bei denen die Bewusstseinslöschung nicht hundertprozentig funktioniert hat. Oder glauben Sie etwa, ich würde mich von der übrigen Menschheit unterscheiden, wenn meine Mental-Amnesie geklappt hätte?«

»Sie hätten Politiker werden sollen«, seufzte Marcel Haussmann. »In Ausflüchten sind Sie kaum zu schlagen!«

»Wir müssen weiter!«, gab Chance zurück. Er sprang auf. Suchend blickte er sich um. »Vor Sonnenaufgang müssen wir in der Station sein.«

»Hoffentlich rechtzeitig zum Frühstück!«, meinte der Präsident. »Immerhin haben Sie mich um mein Abendbrot gebracht.«

Chance warf ihm einen fast traurigen Blick zu.

 

Ein leise wisperndes Raunen strich durch das kugelförmige Raumschiff, während der schwache Duft von Räucherstäbchen

aus den Öffnungen der Klimaanlage strömte. Mit einer grazilen Bewegung richtete Madra Mahyra sich auf. Nachdenklich blickte sie auf das Doppel-Okular des Stereo-Radars. Das kleine Beobachtungsgerät in der oberen Hälfte des Kommandopults der MAHATMA hatte den Beginn der gefährlichsten Flugphase angezeigt. Die Kommandantin der MAHATMA raffte ihren strahlendblauen Seidensari mit den silbernen Ornamenten an den Kanten zusammen.

»Die Asteroiden liegen direkt vor uns«, sagte sie, ohne sich umzudrehen. Ihre Stimme klang warm und weiblich. Sie war noch nicht dreißig und bisher noch nie aus Indien herausgekommen.

»Sollen wir mit der Geschwindigkeit heruntergehen?«, fragte der Cheftechniker der MAHATMA. Erst jetzt drehte Madra sich um. Ihr Blick aus dunkelglühenden Augen streifte die vier Männer in der Kommandozentrale.

»Nein!«, sagte sie schließlich. »Aber wir müssen sofort den Pfadfinder losschicken!«

Der Cheftechniker hob die Brauen. Er war fast einen Kopf kleiner als die hochgewachsene, äußerst schlanke Kommandantin. Dichtes weißes Haar umrahmte seinen mächtigen Schädel. Seine Lippen wölbten sich voller Skepsis.

»Wir haben nur drei Pfadfinder.«

Madra sah ihn nur an. Das genügte. Er verstummte sofort. Eilig beugte er sich über die Rillen eines Sprechgeräts.

»Zentrale an alle - Zentrale an alle! Alle Analysen bis zum Abschuss des Pfadfinders einstellen! Schutzanzüge anlegen und anschnallen. Ich wiederhole...«

Jedes Segment des kleinen Kugelraumschiffs bestätigte einzeln die Anweisung aus der Zentrale. Das indische Raumschiff war nur neunundzwanzig Meter groß. Trotzdem bot es den dreißig Astronauten genügend Platz zum Wohnen und Arbeiten.

Die nach strengen Maßstäben zusammengestellte Mannschaft hatte drei Jahre für diesen Triumph der indischen Wissenschaft trainiert. Unabhängig voneinander waren die Besatzungsmitglieder an einem Simulations-Computer ausgebildet worden. Neben einer technischen Grundausbildung, einem Hypnosekurs in Astronomie, Physik und Mathematik hatte jedes Besatzungsmitglied eine individuelle Aufgabe, die streng geheim gehalten wurde. Nur die Kommandantin kannte die wirkliche Mission der MAHATMA. Sie allein wusste, dass nicht alle Besatzungsmitglieder zur Erde zurückkehren sollten. Denn es war ein komplettes Programm, bei dem auch die Opfer von Anfang an feststanden.

»Wir sind soweit!«, sagte der Cheftechniker. Die Kommandantin nickte ungeduldig. Der Maharadscha von Jaipur war einer der genialsten Ingenieure Indiens. Aber auch er würde wahrscheinlich nicht zur Erde zurückkehren.

Eine kleine Falte hatte sich auf der glatten Stirn von Madra Mahyra gebildet. Sie wartete, bis die vier Ingenieure in der Zentrale sich angeschnallt hatten. Dann setzte sie sich hinter das Kommandopult. Ihre Augen näherten sich dem Doppel-Okular des Stereo-Radars, während ihre langen, schlanken Finger einen Sicherheitsschlüssel umdrehten.

»Vier - drei - zwei - eins...«, sagte eine Tonbandstimme. Eine kurze, harte Erschütterung zuckte durch den Kugelraumer. In einem Meer aus Licht löste sich einer der drei Pfadfinder aus der Bugrundung der Kugel. Die Spürsonde entfernte sich schnell von der MAHATMA. Sie stieß direkt in den Bereich der Asteroiden vor, gefolgt von dem mit unverminderter Geschwindigkeit durchs All jagenden Kugelraumschiff.

Die Kommandantin ließ die Sonde keinen Moment aus den Augen. Dennoch war es nicht einfach, das winzige, kaum einen Meter lange Projektil zu verfolgen.

In den ersten Minuten passierte überhaupt nichts. Doch dann begannen überall in der Zentrale die hochempfindlichen Detektoren zu knistern. Ein kleiner Sender in der Sonde meldete Ansammlungen von Gesteinspartikeln. Sie waren mit dem bloßen Auge nicht sichtbar, hätten aber ausgereicht, den Flug der MAHATMA schon weit vor dem Ziel vorschnell zu beenden. Scharf gebündelte Laserenergie brannte eine Gasse für die MAHATMA. Doch schon tauchten größere Gesteinsbrocken auf. Sie konnten mit Laserstrahlen nicht mehr zerstört werden.

Beherrscht drückte Madra Mahyra auf einen Knopf. Kleine, erbsengroße Miniaturbomben schossen aus dem Magazin der Sonde. Nur wenige Sekunden später zeigten kleine Lichtblitze auf den optischen Beobachtungsgeräten in der Zentrale der MAHATMA die Vergasung der Hindernisse an. Die Sonde raste durch atomare, radioaktiv strahlende Gaswolken. Sie beseitigte die gefährlichen Gase, indem sie sie nach allen Seiten auseinanderwirbelte. Nur knapp vier Sekunden später prasselte ein heißes Stakkato aus den Lautsprechern der Geigerzähler innerhalb des Raumschiffs.

Madra Mahyra blickte auf. Sie sah auf den breiten Messstreifen neben dem Stereo-Radar. Er verfärbte sich von der linken Seite her.

Triumph glomm in den Augen der Kommandantin auf. Zum ersten Mal hatte sie das System der Pfadfinder-Sonden praktisch erprobt. Nur durch diese genial einfache Idee wurde es möglich, den Asteroidengürtel mit höchsten Geschwindigkeiten zu durchfliegen. Ohne diesen technischen Trick hätte die MAHATMA mit einer tonnenschweren Schutzausrüstung versehen werden müssen.

»Achtung!«, zischte der Chefingenieur unvermittelt.

Die Kommandantin zuckte zusammen. Sie beugte sich ruckartig vor. Vor ihren Augen flimmerte es, als sie versuchte, sich an das Dunkel des Raums zu gewöhnen.

»Ein Asteroid!«, meldete der Maharadscha von Jaipur. Seine Stimme zitterte kaum merklich. »Entfernung zehntausend Kilometer - Größe vier Komma drei Kilometer!«

»Das ist zu viel für die Sonde«, flüsterte einer der Techniker.

»Wir müssen ausweichen.«

»Zu spät!«, presste Madra hervor. Mit einer blitzartigen Bewegung drehte sie einen kleinen roten Schalter. Sie brauchte nicht hinzusehen. Ihre Finger waren ohnehin in der Nähe des Schalters gewesen.

Das Radarecho der Sonde verschwand gleichzeitig mit dem Lichtfleck des Asteroiden. Für genau eine Sekunde war es totenstill in der Zentrale. Und dann brach ein Orkan von Lärm aus den Lautsprechern. Mit unverminderter Geschwindigkeit schoss die MAHATMA auf die glühend wabernde Wolke aus radioaktivem Gas zu. Selbst wenn das Raumschiff stabil genug wäre, den Feuerball zu durchfliegen - der menschliche Organismus war nicht in der Lage, eine derartig massive radioaktive Verseuchung auszuhalten.

Genau an diesem Punkt der Erkenntnis bewies Madra Mahyra ihre mit weiblicher Intuition gepaarte Intelligenz. Sie tat etwas, worauf keiner der Männer innerhalb des Raumschiffs gekommen wäre.

 

Der weiße Lichtstrahl stach durch die rote Wolkenbank. Fast gleichzeitig leuchtete die riesige Fläche des Sonnenofens auf der Bergspitze in allen Farben des Spektrums auf. Die Männer innerhalb des Betonklotzes im Brennpunkt der neuntausend gewölbt aufgehängten Spiegelflächen wichen unwillkürlich zurück. Die Helligkeit kam zu plötzlich. Und doch war die Lichtflut nur das Vorspiel.

»Achten Sie auf den Brennpunkt!«, sagte der Versuchsleiter. »Ich schließe jetzt die Blenden und konzentriere den Brennpunkt mit Hilfe des Computers auf den Inhalt der Schale.«

Die Männer mit den weißen Kitteln und den schwarzen Schutzbrillen beugten sich vor. In der Mitte des Betonklotzes war nicht viel Platz.

Gespannt und fast blind konzentrierten sie sich auf den schwach schimmernden Quarzkubus in der Mitte des kleinen Raumes. Der Kubus war aus einen Meter dicken Quarzblöcken zusammengesetzt, absolut luftdicht und hatte nur in der Mitte eine melonengroße Blase, in der eine flache Schale aus künstlichen Diamanten stand. In der Schale befanden sich zehn Kubikzentimeter einer gelben, dicklichen Flüssigkeit.

»Fertig«, sagte einer der Wissenschaftler.

»Und jetzt passen Sie auf!«, flüsterte Harry Chance dem Präsidenten zu. Marcel Haussmann presste die Lippen zusammen. Die Wissenschaftler auf dem Mt. Cholet ahnten nicht, dass er gegen seinen Willen hierhergekommen war. Er hatte ihnen sagen müssen, dass die Geschichte seiner Entführung nur eine Tarn-Idee seines Pressesprechers sein sollte.

Misstrauisch hatte er sich davon überzeugt, dass die präparierte Flüssigkeit selbst unter starken Elektromikroskopen nichts weiter als eine absolut sterile chemische Verbindung war. Noch wusste er nicht, was ihm eigentlich bewiesen werden sollte. Und doch spürte er die Unruhe der anwesenden Wissenschaftler. Sie konnten ihre Erregung nicht unterdrücken.

»Das durch die Spiegel gebündelte Sonnenlicht wird die chemische Lösung genau für eine zehntausendstel Sekunde treffen«, erklärte der Chef der Versuchsanlage. Er keuchte asthmatisch, während er leise vor sich hin zählte.

Ein Summer ertönte.

Irgendwo klickte es.

Und gleichzeitig zuckte jener ungeheure Schmerz durch die Köpfe der Anwesenden. Ein grelles, wahnsinnig gleißendes Aufblitzen stach durch die Schutzbrillen und durch die weit geöffneten Pupillen.

Haussmann taumelte zurück. Er war vollkommen blind. Rote Wogen wirbelten über seine Netzhaut. Der Schmerz hatte sich bis in sein Sehzentrum im Gehirn eingebrannt.

Er riss die Arme hoch. Blind und hilflos stieß er keuchend seinen Protest hervor.

»Das musste sein!«, sagte Chance hart. Die Wissenschaftler versuchten, sich zu entschuldigen.

Mit verbissenem Gesicht wartete Marcel Haussmann ab, bis sich langsam wieder Konturen vor seinen Augen zu formen begannen. Die Umrisse wurden schärfer. Trotzdem wirkte das durch die Scheiben des Betonklotzes einfallende Licht fahl und kraftlos.

»Wir müssen ein paar Minuten warten«, sagte Chance erklärend. »Der Quarzblock ist noch zu heiß.«

Wütend starrte Marcel Haussmann auf die Diamantenschale mit der Flüssigkeit im Inneren des Quarzblocks. Helle Nebel hatten sich innerhalb des hermetisch abgeschlossenen Hohlraums gebildet.

»Und?«, meinte der Präsident grimmig. Abfällig blickte er auf die sich langsam verdichtenden Nebelspuren.

»Sie waren der erste Präsident der Welt, der mitangesehen hat, wie französische Wissenschaftler aus chemischen Grundsubstanzen organisches Leben erzeugt haben!«, sagte Harry Chance. »Richtiges Leben - und nicht nur die Vorform der Aminosäuren.«

»Wollen Sie sagen, dass dieser Dunst dort Leben ist?«

»Nein«, sagte der Versuchsleiter stolz. »Das ist nur eine Begleiterscheinung. Aber Sie werden gleich sehen, dass sich in der Lösung echte, lebende Zellen gebildet haben. Und zwar mindestens zehntausend, mon President!«

»Es liegt am Licht«, sagte Harry Chance. »Das, was mit künstlichen Lichtbogen bisher nie zufriedenstellend gelungen ist, schaffte das gebündelte Licht unserer Sonne.«

Die Männer hatten ihre Schutzbrillen auf die Stirn geschoben. Schweigend blickte Marcel Haussmann den Amerikaner an. Zwei der Wissenschaftler holten aus einer Nebenkammer ein Elektronenmikroskop. Auf Gleitschienen schoben sie die schwere Anlage über den Quarzblock. Sie justierten es und wärmten die Filter vor. Aus einer sterilen Dose nahmen sie die nötigen Hilfsmittel. Sie lösten an einer Kontaktstelle die Verbindung der Quarzblöcke, während Vakuumpumpen zu summen begannen. Routiniert brachten sie eine Probe aus der Diamantenschale auf ein Kollodium-Häutchen. Als der Bildschirm des Elektronenmikroskops scharf eingestellt war, wimmelte es in der Probe von Zellen und anderen Dingen, die Marcel Haussmann nicht identifizieren konnte.

»Sehen Sie die Spirale dort«, sagte der Versuchsleiter aufgeregt. »Das ist mehr, als wir erwartet haben. Ein Entwicklungssprung, denn mit Bakterien konnte niemand rechnen!«

»Zufällig?«

Für eine Sekunde war es still in der engen Kammer.

»Nein!«, sagte Harry Chance dann. »Geplant und aus Chemikalien konstruiert. Und sie vermehren sich sogar.«

Voll atemloser Spannung beobachteten die Männer die rasende Geschwindigkeit, mit der sich die Bakterien teilten.

Chance nahm den Präsidenten beiseite.

»Ich gebe zu, dass diese Entwicklung vorauszusehen war«, sagte Marcel Haussmann. »Trotzdem weiß ich nicht, warum Sie mich nun von irgendetwas überzeugt haben wollen!«

»Wir haben Leben hergestellt!«

»Gut, und weiter?«

»Wir haben aus einfachen Chemikalien Bakterien erzeugt. Und das mit der tödlichsten Waffe, die es für Bakterien überhaupt nur geben kann: mit Hitze und mit Sonnenlicht.«

Obwohl Haussmann so etwas wie Stolz für die französischen Wissenschaftler empfand, schüttelte er den Kopf. »Die meisten großen Entdeckungen wurden zufällig gemacht«, sagte er abwehrend.

»Sind Sie sicher?«, lächelte Harry Chance. Seine Augen strahlten ein seltsames Leuchten aus. Haussmann wandte verwirrt den Kopf zur Seite. Der wissenschaftliche Leiter sah ihn an und hob leicht die Schultern. Es war, als wollte er mit dieser Geste um Entschuldigung bitten.

»Der Hinweis stammt von ihm«, murmelte der Wissenschaftler. »Wir wären nie darauf gekommen!«

Haussmann spürte, wie ein wütender Protest in ihm aufstieg. Doch gleichzeitig wurde etwas anderes in ihm wach. Zwanzig Jahre lang hatte er nicht mehr daran gedacht. Zwanzig Jahre, in denen er aufgehört hatte, irgendetwas zu fühlen. Und plötzlich begriff Marcel Haussmann, warum der Amerikaner ausgerechnet ihm demonstriert hatte, dass man aus toter Materie Leben erzeugen konnte. Ein feines Zittern lief durch seinen schweren Körper. Der Schutzwall, hinter dem er seine Gefühle verborgen hatte, begann zu bröckeln. Aufstöhnend sank er auf einen Stuhl. Mit leerem Blick starrte er auf die Projektionsfläche des Elektronenmikroskops. Einige der Zellen trennten sich nach der Teilung nicht mehr. Sie blieben zusammen und bildeten kleine Klümpchen.

Die künstlich erzeugten Organismen begannen zu wachsen.

 

Das System arbeitete nach dem Schneeball-Prinzip. Der harte, treibende Kern war Anatole Herbillon. Von ihm war der Anstoß ausgegangen. Überall in Frankreich warteten in schläfriger

Routine die offiziellen und halboffiziellen Dienststellen des Staates. Der Befehl kam für die meisten Behörden zu einem ungünstigen Zeitpunkt. Viele Büros waren bereits geschlossen. In den Zollstationen, Polizeidienststellen und Geheimdienststützpunkten waren die Männer der Nachtbereitschaft gerade dabei, sich ihren ersten Kaffee zu kochen.

Als die Faxgeräte liefen, rief die Alarmmeldung zunächst eher Unglauben und Verwirrung hervor. Untergeordnete Beamte suchten nach ihren Vorgesetzten. Sie wollten keine Fehler machen, obwohl sie gelernt hatten, jedem Befehl von oben unverzüglich zu gehorchen. Nur so konnte es passieren, dass die Bestätigungsmeldungen bereits am Abend im Justizministerium in Paris eintrafen, obwohl der Apparat erst nach Mitternacht auf Touren kam. Doch dann ging es Schlag auf Schlag. Die Lawine war ins Rollen gekommen, und nichts konnte sie aufhalten. Neue Befehle fachten die Energie der Staatsbeamten an. Der Präsident war entführt worden. Nur langsam begriffen die Männer in den Häfen, an den Grenzen, auf den Flugplätzen und in den Büros, was das bedeutete!

Mehr als fünfzigtausend Spezialisten überall in Frankreich erinnerten sich an das, was ihnen eingetrichtert worden war. Die Angst, dass gerade in ihrem Sektor eine Panne passieren konnte, vermischte sich mit der Hoffnung auf jene Spur von Glück, auf die jeder Beamte zeit seines Lebens wartete. Hunde, Computer, Detektoren und Funkgeräte wurden eingesetzt. Fernschreiber liefen heiß. Immer neue Berichte trafen im Justizministerium ein.

Herbilion hatte das Kommando übernommen, obwohl eigentlich der Innenminister zuständig war. Durch den Ausfall von General Denise war eine schwierige Situation entstanden. Spezialisten für Staatsrecht brüteten die ganze Nacht über der Frage, ob Herbillon tatsächlich berechtigt war, den Innenminister zu übergehen. Der Justizminister kümmerte sich nicht darum. Er hatte einen gemischten Sonderstab gebildet. Bereits kurz nach Mitternacht kam die erste heiße Meldung.

Eine MBB-Hostess wollte drei verdächtige Männer im MAGNO-Train Paris - Madrid gesehen haben. Einer von ihnen hatte einen roten Diplomatenpass. Der Präsident war nicht dabei.

Obwohl die Meldung nur eine unter hundert ähnlichen war, stutzte Anatole Herbilion. Es war eine lächerliche Kleinigkeit, die ihm auffiel. Die MBB-Hostess hatte mitgeteilt, dass einer der drei Männer während der ganzen Fahrt geschlafen hatte!