DIE BRÜCKE VON AVIGNON - Thomas R. P. Mielke - E-Book

DIE BRÜCKE VON AVIGNON E-Book

Thomas R. P. Mielke

0,0
6,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Wir schreiben das Jahr 1314: Der mächtige Orden der Templer ist zerschlagen. Der junge Bertrand de Comminges ahnt, dass ein furchtbares Komplott hinter der Zerstörung des sagenumworbenen Ritterordens steckt. Von der Inquisition erbarmungslos gejagt, muss er zum Papst gelangen, der in Avignon residiert. Nur ihm darf Bertrand das geheime Wissen anvertrauen, mit dem das spirituelle Erbe des Ordens bewahrt werden kann...

Mit Die Brücke von Avignon von Bestseller Autor Thomas R. P. Mielke (u. a. Das Sakriversum, Gilgamesch, König von Uruk) startet der Apex-Verlag die große Avignon-Trilogie, die Maßstäbe setzt für das Genre Mittelalter-Romane.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



THOMAS R. P. MIELKE

Die Brücke von Avignon

Erster Roman der AVIGNON-Trilogie

Roman

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

Der Autor 

 

DIE BRÜCKE VON AVIGNON 

Kapitel 1: Flucht aus Paris 

Kapitel 2: Auf der Brücke 

Kapitel 3: Der Amethyst 

Kapitel 4: Eliahs Karren 

Kapitel 5: Der rote Kaplan 

Kapitel 6: In der Rue Jacob 

Kapitel 7: Mord und Attentat 

Kapitel 8: Inquisition 

Kapitel 9: Über die Dächer 

Kapitel 10: Wahrheiten 

Kapitel 11: Spelunken am Fluss 

Kapitel 12: Elena 

Kapitel 13: Zuckerwerk 

Kapitel 14: Graue Büßer 

Kapitel 15: Die letzte Audienz 

Kapitel 16: Ente und Lamm 

Kapitel 17: Der Meister des Palastes 

Kapitel 18: Kerker und Komturei 

Kapitel 19: Nacht über Avignon 

Kapitel 20: Die Wege des Herrn 

Kapitel 21: Im Folterkeller 

Kapitel 22: Der Kaufmann aus Pisa 

Kapitel 23: Karfreitag 

Kapitel 24: Osternacht 

Epilog 

 

Die Rose von Avignon: Dramatis Personae anno 1314 

 

Das Buch

Wir schreiben das Jahr 1314: Der mächtige Orden der Templer ist zerschlagen. Der junge Bertrand de Comminges ahnt, dass ein furchtbares Komplott hinter der Zerstörung des sagenumworbenen Ritterordens steckt. Von der Inquisition erbarmungslos gejagt, muss er zum Papst gelangen, der in Avignon residiert. Nur ihm darf Bertrand das geheime Wissen anvertrauen, mit dem das spirituelle Erbe des Ordens bewahrt werden kann...

Mit Die Brücke von Avignon von Bestseller Autor Thomas R. P. Mielke (u. a. Das Sakriversum, Gilgamesch, König von Uruk) startet der Apex-Verlag die große Avignon-Trilogie, die Maßstäbe setzt für das Genre Mittelalter-Romane.

Der Autor

Thomas R. P. Mielke, Jahrgang 1940.

Thomas R. P. Mielke ist ein deutscher Schriftsteller, der bevorzugt in den Bereichen Science Fiction, Krimi und historischer Roman tätig ist.

Mielke war hauptberuflich Texter, Konzepter sowie drei Jahrzehnte lang Kreativdirektor in internationalen Werbeagenturen. Er war für Slogans wie Berlin tut gut oder Mach's mit der ersten Anti-AIDS-Kampagne zuständig; überdies gilt er aus seinen Jahren in der Generaldirektion von Ferrero in Pino Torinese/Italien als Miterfinder des Kinder-Überraschungseis.

Parallel zu seiner Tätigkeit als Werbemanager schrieb er Krimis, Science Fiction und historische Romane. Sein erster SF-Roman Unternehmen Dämmerung erschien 1960 unter dem Pseudonym Mike Parnell. Es folgten einige Dutzend weitere unter den Pseudonymen Michael C. Chester (u.a. Ihre Heimat ist das Nichts, 1966), Bert Floorman, Henry Ghost, Roy Marcus, Marc McMan, Marcus T. Orban (u.a. New York 2019, 1983), John Taylor u. a.

In den 1960er Jahren schrieb er diverse Romane für verschiedene Verlage, u.a. für die gemeinsam mit H. G. Francis und Rolf W. Liersch konzipierten Serien Rex Corda und Ad Astra.

Zusammen mit Rolf W. Liersch entwickelte Mielke Mitte der 1970er Jahre das Konzept der alternativen Science-Fiction-Serie Die Terranauten, die in den Jahren 1979 bis 1987 im Bastei-Verlag erschien (und die aktuell im Apex-Verlag wiederveröffentlicht wird).

1983 wurde Mielkes Roman Das Sakriversum mit dem Kurd-Laßwitz-Preis ausgezeichnet; sein Werk Gilgamesch, König von Uruk belegte 1988 den zweiten Platz bei der Verleihung desselben Preises.

1985 erhielt er den Literaturpreis des Science-Fiction-Club Deutschland e.V. für die Politvision Der Tag an dem die Mauer brach über einen unerwarteten friedlichen Mauerfall und die Wiedervereinigung. Der Stern schrieb dem Autor dazu: »Die Berliner Mauer ist kein Thema – und wird es in den nächsten 25 Jahren auch nicht werden.«

Weitere herausragende Science-Fiction-Romane Mielkes sind Grand Orientale 3301 (1980), Der Pflanzen-Heiland (1981) und Die Entführung des Serails (1986).

Seit 1990 wandte sich Mielke verstärkt dem historischen Roman zu. So veröffentlichte er seither u. a. Inanna (1990), Karl der Große – der Roman seines Lebens (1992) und die Avignon-Trilogie (2004 – 2006).

2010 erschien sein vom Goethe-Institut-Preisträger Dr. Nabil Haffar ins Arabische übersetzter Roman Gilgamesch, König von Uruk in Syrien und anderen arabischen Ländern und kehrte damit zu seinem Ursprung zurück.

Gemeinsam mit Astrid Ann Jabusch (www.annjabusch.de) schrieb Mielke unter dem Titel Orlando Furioso eine Neu-Erzählung des Mittelalter-Bestsellers Der Rasende Roland; der Roman, erschienen im Emons-Verlag, wurde 2016 mit dem Deutschen Fantasy-Preis ausgezeichnet.

Thomas R.P. Mielke lebt und arbeitet in Berlin.

DIE BRÜCKE VON AVIGNON

  Kapitel 1: Flucht aus Paris

»Das ist dein Lohn, Smaragdus... die Strafe Gottes für den wahnwitzigen Versuch, den Papst und die Welt noch durch ein Wunder zu retten!«

Wütende Wellen schlugen über die Uferböschung des Flusses. Sie griffen nach dem jungen, vollkommen erschöpften Reiter und seinem Pferd. Unmittelbar vor einer herausgerissenen, quer über die Straße gestürzten Zypresse war alles zu Ende.

Er hätte auf dem westlichen Ufer der Rhône bleiben sollen – auch wenn es dort keine der alten Römerstraßen gab. Schon bei Lyon hatte er sich auf die östliche Flussseite geflüchtet. Aber auch dieser Teil Burgunds gehörte inzwischen zu Frankreich – ebenso wie die kleine Stadt Vienne, in der noch vor zwei Jahren ein Konzil monatelang vergeblich um das Schicksal der Templer gerungen hatte.

Obwohl er jahrelang gekämpft, verhandelt und gedroht hatte, war Papst Clemens V. schließlich doch noch unter dem Druck Frankreichs zusammengebrochen. Die kirchlichen Gerichte und Verteidiger hatten keinen einzigen Vorwurf der französischen Juristen gegen die beste aller Ordensgemeinschaften anerkannt. Dennoch hatte die ungeheuerliche Intrige die Kraft des alten und längst siechen Heiligen Vaters überfordert. Wider besseres Wissen und gegen seinen Glauben an die Gnade des Allmächtigen hatte er nachgegeben und damit auch die letzten Templer im Königreich Philipps des Schönen dem Untergang geweiht.

»Zu spät – alles zu spät, Smaragdus!«

Der umgestürzte Baum versperrte ihm das letzte Stück der Straße nach Avignon. Aber der verzweifelte junge Mann, der eigentlich Bertrand de Comminges hieß, wollte weiter. Er allein konnte verhindern, dass nach dem schrecklichen Untergang der Templer auch noch die Heilige römische Kirche samt dem Papst in eine babylonische Gefangenschaft des Franzosenkönigs geriet.

Er riss sein sich aufbäumendes Pferd nach links, dann wieder nach rechts. Umsonst. Es gab keinen Ausweg aus der Falle. Einige Pfeilschussweiten flussabwärts konnte er durch Gischt und Regenschauer über dem breiten Fluss bereits die Silhouette der Stadt am weißen Kalkfelsen und die Brücke von Avignon sehen. Genau genommen hätten ihm seine Verfolger nicht mehr gefährlich werden können, denn hier, bei Sorgues, gehörten die Ufer und das Land nicht mehr zu Frankreich, sondern zum Comtat Venaissin.

Die Kurie hatte sich in diesen Teil des Kirchenstaates zwischen Avignon und den Alpen zurückgezogen, den Frankreichs früherer König den Päpsten vor mehr als drei Jahrzehnten für ihre Hilfe bei den grausamen Albigenserkriegen geschenkt hatte.

Für einen endlosen Augenblick zweifelte der junge Reiter an seinem Vorhaben. War es tatsächlich nur Übermut und Wahnwitz, Avignon zu erreichen, um den Papst zu retten?

»Geh nach Avignon, falls der letzte Großmeister der Templer brennen sollte«, hatte ihm sein Lehrer, der große Meister Eckhart, schon vor Jahresfrist aufgetragen. »Und füge dort aus den Botschaften über den gleichen Zeichen in drei verschiedenen Steinen wieder ein Ganzes zusammen. Das erste Zeichen im Stein stammt vom Vater, das zweite wird vom Sohn bewahrt und das dritte hat seine Kraft aus dem Heiligen Geist! Nur wenn du schneller bist als der Tod und die Dämonen aus der Unterwelt, kannst du das Geheimnis der Armen Ritter Christi vom Tempel Salomonis zu Jerusalem retten...«

Großmeister Jacques de Molay war vor genau drei Wochen in Paris auf dem Scheiterhaufen gestorben. Bertrand und eine vielköpfige Menge hatten mit eigenen Augen gesehen, wie Molay und der Präzeptor der Normandie dafür bestraft worden waren, dass sie dem König von Frankreich trotz jahrelanger Folter und Kerkerhaft nicht verraten hatten, wo ihr legendärer Schatz verborgen war.

Noch als die Flammen an seinen Beinen hochschlugen, hatte der unbeugsame Großmeister den Fluch ausgerufen, dass ihm der Papst und der König von Frankreich schon bald ins Jenseits folgen sollten.

Paris war aufgewühlt nach dieser Hinrichtung. Jeder misstraute jedem. Bertrand hatte mehrere Tage gebraucht, um sich ein Pferd und einige Münzen zu beschaffen. Als es ihm schließlich gelang, Paris zu verlassen, besaß er weder einen Brief mit irgendeinem Siegel, kein Dokument, das ihm eine Audienz ermöglichte, nicht einmal eine Vorstellung davon, warum die Exzellenzen der Kurie einem neunzehnjährigen Studenten aus Paris glauben oder helfen sollten.

Und was erwartete ihn in Avignon? Wie konnten die Provence, die Grafschaft Venaissin und die Stadt am weißen Steilufer der Rhône eine Zuflucht vor der kalten Gier und der Macht Philipps des Schönen sein? Hatten die Reinen, die Katharer und Albigenser, nicht viel größere und höhere Bergfestungen gehabt und dennoch alles im Feuer der mörderischen Kreuzzüge von Frankreichs Königen mit den Päpsten als Verbündeten verloren?

Jetzt schien es so, als habe ganz allein der Franzosenkönig gewonnen, dem nicht nur zweitausend Templer, sondern auch die Päpste Bonifatius VIII. und Benedikt XI.

zum Opfer gefallen waren. Hatte er sich nun auch noch den dritten Papst ausgewählt, um sich durch ihn endgültig die Kirche anzueignen?

Der Zeitpunkt für den Endkampf zwischen weltlichen Herrschern und der römisch-katholischen Kirche hätte nicht günstiger gewählt werden können. Heinrich VII., der letzte Kaiser des Heiligen Römischen Reiches, war kurz nach seiner Krönung in Rom am bösen Mückenfieber gestorben. Niemand konnte den streitenden Parteien in Italien Einhalt gebieten. Hatte Philipp der Schöne, der doch in Wahrheit wie eine alte, hässliche Eule aussah, nicht selbst Mitglied des Templerordens und sogar ihr Großmeister werden wollen? Wohnte und lebte er nicht längst im Turm der Templer mitten in Paris, in dessen Mauern er noch immer Hinweise auf die Geldverstecke vermutete? Und drängte es ihn nicht seit Jahren nach der Kaiserkrone Europas, wenn schon nicht für sich selbst, dann wenigstens für seinen jüngeren Bruder oder seinen Sohn?

Bertrand blickte sich nach seinen ausdauernden Verfolgern um. Da standen sie, kaum fünfzig Schritt flussaufwärts. Ein Dicker und ein Hagerer, auf schnellen Pferden nach vorn gebeugt in ihren klatschnassen dunklen Mänteln über den schwarzweißen Dominikaner-Kutten. Schon das wäre normalerweise unmöglich gewesen. Dominikaner hatten immer und überall zu Fuß zu gehen. Genau genommen durften sie sich nicht einmal von irgendeinem Ochsenkarren oder auf dem Muli einer fahrenden Gauklergruppe mitnehmen lassen. Diese aber gehörten zur Inquisition. Sie verfolgten und bewachten ihn seit Paris, blieben zurück, wenn er nicht wusste, wohin er abbiegen sollte, und holten auf, wenn er zu fliehen versuchte.

Sie hatten in Auxerre und Chalons an der Saône, in der Löwenstadt und zum Schluss auch noch in Valence in denselben Herbergen übernachtet, ohne ein Wort mit ihm zu reden. Er kannte sie nicht, aber sie waren wie Schäferhunde für ein einziges schwarzes Schaf gewesen, Tag und Nacht, Stunde um Stunde so dicht hinter ihm, dass er nicht entkommen konnte.

Undeutlich und nur wie einen schemenhaften Dämon sah er für einen Augenblick auch wieder den dritten seiner Verfolger. Er war stets hinter den beiden anderen geblieben und auch nie so dicht an sie herangekommen, dass er mehr wurde als eine Vermutung. Mehrere Male hatte Bertrand gedacht, der Verhüllte sei ein Spion des Königs, dann wieder war er ihm wie ein anonymer Pénitent gris, ein Grauer Büßer, mit Augenschlitzen in seiner Kapuze oder wie der unerbittliche Sensenmann selbst vorgekommen. Bertrand konnte nicht einmal sagen, ob es nur einer war oder mehrere, die sich auf dem langen Weg von Paris bis fast zum Mittelmeer miteinander ablösten.

Und jetzt hing er auf einem nassen, in Todesangst ausschlagenden Pferd, das immer wieder von überspülten Steinplatten abrutschte, und kam nicht weiter. Hier, wo der lehmbraune, im eisigen Frühjahrssturm aufgepeitschte Fluss die alte Römerstraße überspült hatte, musste er sich doch noch den Hunden des Herrn stellen.

Aber er wollte das nicht. Er musste zum Heiligen Vater nach Avignon – seinem leiblichen Vater.

»Drei Zeichen im Stein!«, stieß er hervor. »Welche Zeichen? Welche Steine? Ich kenne nur einen einzigen...«

Er presste die Rechte gegen die Brust und drückte gegen den Ring, den er an einer feinen, aber sehr starken Damaszenerkette auf der nackten Haut trug. Es war der alte Bischofsring seines Vaters. Der Amethyst trug eingraviert eines der drei Zeichen, die er zusammenfügen sollte...

Über ihm rauschte es, und durch die kalten Regenschauer über dem Fluss zeigte sich ein Lichtschein. Im ersten Augenblick dachte er, dass die Frühlingssonne über das Unwetter und den Mistral siegte. Doch dann sah er, dass der überirdische Lichtschein direkt über dem dunklen Band der Flussbrücke von Avignon schwebte – genau dort, wo die Kapelle des Heiligen Nicolas am zweiten Brückenpfeiler wie ein Nest aus Stein angemauert war.

Es war, als wolle ihm der Lichtschein ein Zeichen geben. Im selben Augenblick schwand seine höllische Angst vor den Häschern der Inquisition. Er wusste plötzlich, dass er bis nach Avignon gelangen konnte, selbst wenn dafür mehr als ein Wunder nötig war. Sein Gottvertrauen und Glaube wurden stärker als sämtliche Dämonen und Gewalten der Natur. Er zog sein Pferd zur Seite, drehte den Kopf und lachte zu den Dominikanermönchen hinüber. Der dritte hatte aufgeholt. Er war bereits an der umgestürzten Zypresse und an den beiden anderen vorbei. Wenn er wollte, konnte er ihm noch auf der Uferstraße am Felsen direkt vor Avignon den Weg abschneiden. Er trug tatsächlich die Augenschlitze der Pénitents gris in seiner Kapuze...

»Mich fangt ihr nicht!«, schrie Bertrand zurück.

Er presste seine Schenkel fester um den Leib des Pferdes und zwang es hart zur Seite. Mit einem großen Sprung stürzten sich Ross und Reiter in die reißenden Wasser.

Flussabwärts ging es zur selben Zeit ebenfalls wild zu. Hier versperrten sich Hunderte von Männern, Frauen und Kindern gegenseitig den Weg zurück nach Avignon. Sie stammten aus Frankreich und Spanien, Syrien und Afrika, Griechenland, Bayern und Köln sowie allen nordischen Königreichen.

Einige beteten laut, andere fluchten in ihren Sprachen und manche schlugen auch rücksichtslos aufeinander ein. Sie flohen von der großen Insel Barthelasse zwischen den beiden Armen des geteilten Flusses. Hier war noch am Vormittag ein großer Auftrieb bei den vielen Pilgern zum Osterfest gewesen, die nicht mehr in den viel zu kleinen und längst überfüllten Herbergen der Stadt untergekommen waren. Wer Rang und Einfluss, eine violette Soutane oder gefüllte Geldkatzen besaß, konnte noch immer ein Nachtlager, Brot und Wein in der Stadt bekommen, aber die meisten Menschen von der Insel besaßen nichts davon.

Der Beginn der Karwoche bedeutete für die christlichen Pilger eigentlich Buße und Einkehr, Fasten und Stille. Dennoch war bei den Lagerplätzen zwischen bunten Zelten und einfachen Holzhütten hinter den schützenden Büschen und Bäumen auf der Insel eine Art unerlaubter Markt entstanden. Seit der Papst in Avignon residierte, wurde zu den hohen kirchlichen Festen im Niemandsland der beiden Flussarme zwischen dem Heiligen Römischen Reich und dem Königreich der Franken von Jahr zu Jahr ausschweifender getanzt und gefeiert, gehurt und gesoffen.

Jüdische und arabische Händler aus Spanien und Nordafrika hatten längst entdeckt, dass in diesen Tagen mit geweihtem Öl, geschnitzten Heiligen aus Pfirsichkernen, winzigen Splittern vom Kreuz Jesu Christi und aus Schottland eingeführten Jakobsmuscheln mehr zu verdienen war als mit den üblichen Kräutern, Teppichen und Schmucksachen. Und wenn trotz des Verbots und der Fastengesetze auch bei Regen Musik erklang, dann tanzten Pilger, fliegende Händler und allerlei Weibsvolk nicht nur auf den Wiesen und Lichtungen, sondern am liebsten unter den Brückenbögen. Hier konnten sich Paare durch etwas größere Tanzschritte schnell aus dem Kreis in den Schatten eines Pfeilers drehen.

»Sur le pont d’Avignon...«

Solange, bis die unerwartet hohe Flutwelle die Ufer der Insel überschwemmt hatte...

»Sie sinkt! Die Insel sinkt!«, schrie irgendjemand. Mochte es Scherz oder echte Angst gewesen sein – im dichten Regen war längst nichts mehr zu erkennen.

»Nach uns die Sintflut!«

»Rettet euch in die Stadt des Papstes!«

»Auf zum Felsen in der Not... auf zum Heiligen Vater!«

An Stufen und Rampen zur Brücke hinauf waren Tränen und Blut geflossen, einige Unvorsichtige waren auch in den Fluss gestürzt. Inzwischen drängte alles rücksichtslos in eine Richtung auf der nur fünf Schritte breiten, endlos wirkenden Brücke mit ihren zweiundzwanzig Bogen. Und dann ging es nicht weiter – kaum einen Steinwurf von der Torbefestigung mit dem ummauerten Sammelplatz zwischen Brücke und Stadtmauer entfernt. Stimmen schallten durcheinander.

»Was ist da vorn?«

»Macht das Tor auf!«

»Das große Tor...«

Die Aufregung wurde immer größer. In den fast hundert Jahren seit ihrer wundersamen Errichtung war die Brücke über die Rhône immer wieder durch Stürme und Hochwasser beschädigt und oft nur notdürftig repariert worden. Hatte der Papst nicht gerade erst umfangreiche Ausbesserungen veranlasst? Doch nun brachen an einigen Stellen bereits wieder Steine aus frischen Mörtelfugen und stürzten in den reißenden Fluss.

Immer mehr völlig durchnässte Menschen, Karren und Tragtiere drängten nach. Sie riefen und schrien in ebenso vielen Sprachen wie an den anderen Tagen in den Gassen der Altstadt. Am lautesten waren hier wie dort die kräftigen Tagelöhner von den vielen Baustellen. Einige von ihnen, die sich – nach ihren schamlos kurzen Kitteln zu urteilen – zuvor auch schon als Waffenknechte bei den verschiedensten kriegerischen Auseinandersetzungen von Flandern und bis zur Lombardei verdingt hatten, drehten sich um und zeigten den Wachen am Brückentor ihre nackten Hintern.

Sofort wurden kreischende Verwünschungen laut. Italiener, die mit ihren hohen Stimmen schon eine zu weiche Frucht auf dem Markt oder einen zufällig vor ihren Baustellen furzenden Esel als Untergang des Abendlandes und das Ende des Heiligen Stuhls bejammerten, protestierten gegen den Verfall der Sitten. Obwohl viele von ihnen schon Unwetter und Mistralstürme miterlebt hatten, klagten sie lauter als alle anderen über die Kälte, die Nässe und die Behinderung am Brückentor.

Die Fensterluken in den beiden Tortürmen am hohen Flussufer vor dem Stadtfelsen blieben geschlossen. Über die Mauer hinweg waren die bunten Fensterscheiben im oberen Stockwerk des alten Bischofspalastes vor der Felsen-Kathedrale zu erkennen. Das gelbrot gestreifte Banner von Papst Clemens V. an der Wand über einem Balkon zur Rhône hin, das jedem Passanten auf der Brücke und jedem Flussschiff deutlich zeigte, wo sich der Heilige Vater und sein Hofstaat gerade aufhielten, ließ sich an diesem Tag nicht erkennen. Doch dann ließen Sturm und Regen für einen kurzen Augenblick nach. Sofort öffnete sich eines der Palastfenster. Ein vielstimmiger Aufschrei, halb Ehrfurcht, halb Hoffnung und Protest, flog über den gurgelnden, schäumenden Fluss und stieg von der Brücke bis zu den langsam auf den Balkon tretenden Gestalten auf.

Aber es war nicht der Heilige Vater, der die Bedrohten auf der Brücke segnen wollte. Stattdessen erkannte man die beiden wichtigsten Kardinäle des Heiligen Stuhls. Die Angehörigen der Kurie traten nicht fromm und demütig auf, sondern wie Feldherren in der nie endenden Schlacht zwischen Gut und Böse.

Zuerst kam der hoch gewachsene und mächtige Kardinal Arnaud d’Aux auf den Balkon. Der fünfzig Jahre alte Kämmerer und Erzbischof von Poitiers trug keine Kopfbedeckung. Sein wildes schwarzes Haar flatterte ebenso im Sturm wie seine blutrote Soutane. Er hatte Clemens V. bereits als vicarius gedient, als dieser noch Erzbischof von Bordeaux gewesen war.

Dann trat ein ebenso eindrucksvoller, aber breiter und südländisch freundlich wirkender Kardinal mit langen weißgrauen Haaren neben ihn. Niccolò da Prato gehörte zu den geheimnisvollsten und zugleich einflussreichsten Männern der Heiligen römischen Kirche. Er war der Vorsitzende des Kardinalskollegs gewesen, das den ahnungslosen Erzbischof von Bordeaux gegen den Widerstand italienischer Kardinäle wie Napoleone Orsini und Giacomo Colonna, genannt Sciarra, zum Pontifex maximus, dem obersten Brückenbauer, gewählt hatte. Er war es auch, der Seine Heiligkeit bei all den Fragen beriet, die den Vatikan, St. Peter und den Lateranpalast betrafen. Und er hatte vor gerade erst zwei Jahren anstelle von Clemens den inzwischen verstorbenen Heinrich VII. zum Kaiser des Heiligen Römischen Reiches gekrönt.

Plötzlich wurde es ein wenig heller um den Balkon. Es war, als würden sich die wilden, kreischenden Dämonen des Mistrals nicht an die beiden Kirchenmänner heranwagen, sondern nur empört aufjaulend um sie herumfegen. Nicht einmal die Haare und Soutanen der beiden Kardinäle flatterten noch im Sturm.

Jetzt riefen immer mehr Menschen auf der Brücke nach dem Papst.

»Hilf, Vater... Heiliger Vater! Hilf...«

Mehr war im Lärm und Geschrei nicht zu verstehen. Aber der Papst kam nicht zu seinen Kardinälen auf den Balkon – wie schon seit Wochen nicht mehr. Und viele der Gläubigen auf der Brücke fürchteten, dass die Gerüchte um den schlechten Gesundheitszustand von Papst Clemens zutrafen.

Am Ende der wogenden, schreienden Menge auf der Brücke kämpfte sich ein wackliger, zweirädriger Wagen mit hohen, mehrfach geflickten Speichenrädern voran. Er wurde von einem kläglichen Maultier gezogen, dessen Rippen und Rückgrat sich deutlich durch das Fell abzeichneten. Der Karren war viel zu schwer beladen und an der hölzernen Achse ausgeschlagen. Sobald das Maultier stehen blieb und nicht weiterziehen konnte, schnellte die wie eine Turnierlanze mit roten und gelben Bändern umwickelte Deichsel nach oben und hob das schreiende Zugtier etwas vom Kopfsteinpflaster der Brücke an.

Dann hantierte jedes Mal ein barfüßiges, etwa siebzehn Jahre altes Mädchen schnell und geübt mit dem Seilzeug, mit dem das Maultier am Wagen angeschirrt war. Sie trug ein ärmelloses, fast bis auf den Boden reichendes ausgewaschenes Leinenkleid. In der Nässe des Regens schien es, als hätte es seine kornblumenblaue Waidfärbung wie frisch aus der Rue des Teintures zurückbekommen. Sie bewegte sich wie eine der jungen Artistinnen, die zur Belustigung von Pilgern und Händlern auf der Flussinsel Bergziegen und junge Schweine über Leitern auf Balken und quer gespannte Netze aus Seilen klettern ließen und dann ins Volk riefen, dass ihre Tiere pfeifen würden, wenn sie ganz oben angekommen seien.

»Hört und seht her, Leute!«, hieß es dann zur allgemeinen Belustigung. »Mein Schwein pfeift und will auf einem Seil tanzen, wenn es die richtigen Münzen von euch riecht...«

Auch wenn noch niemals irgendjemand ein tanzendes Schwein gesehen hatte, strömten immer wieder genügend lachende Menschen zusammen, die einfach glauben wollten, was ihnen vorerzählt wurde.

So jedenfalls war es eine ganze Woche über gewesen, bis am Vormittag das schwere Unwetter über sie alle hereingebrochen war. Sie hatten ihre Ausrüstung mit dem Karren bis zum Hauptgeschäft am Ostersonntag bei befreundeten Gauklern auf der Insel lassen wollen. Doch dann war am frühen Morgen die Warnung vor einem Unwetter durch die Gassen des Judenviertels von Avignon gelaufen. Wie viele andere aus dem Carrière waren sie hinausgestürzt und über die lange Brücke gelaufen, um im plötzlich einsetzenden eisigen Frühlingssturm noch zu retten, was auf der Insel der vielen verbotenen Vergnügungen inmitten der Rhône noch zu retten war.

An diesem Dienstag war niemand mehr gekommen, um Kunststücke der Gaukler zu bewundern. Jeder musste für sich allein zusehen, wie er in all dem Geschrei und Gedränge, unter den kalten Regengüssen und dicht über dem schäumenden Fluss wieder zurück in die Stadt kam.

Miriam sang leise vor sich hin, während sie vor Enttäuschung und Anstrengung weinte. Wieder und wieder rutschten ihre nackten Füße über die Steine. Neben ihr wurde unwilliges Geschimpfe laut. Sie wollte nicht weinen, nicht aufgeben und nicht ihr langes kastanienfarbenes Haar um die Finger wickeln, wie sie es immer dann tat, wenn sie sich angegriffen und bedroht fühlte.

Jetzt war keine Zeit dafür.

Sie drehte sich um und warf einen bittenden, schon fast flehentlichen Blick zurück zum Wagen. Vorn vor der bunten, im Regen glänzenden Ladung aus bemalten Brettern und traurigen Vorhängen hockte vollkommen regungslos eine in sich zusammengesunkene Gestalt mit aufgeweichten und schlammverschmierten Stiefeln. Sie hatte einen schmutzigen Kittel und einen trichterförmigen, ehemals gelben Hut so weit über den Kopf gezogen, dass vom Gesicht kaum mehr zu sehen war als durch die Augenschlitze der finsteren Kapuzen von grauen Büßermönchen. Aber der Alte auf dem Wagen war keiner der Pénitents gris. Die meisten der drängelnden Menschen auf der Brücke hätten nicht gewusst, wer er war, doch die Bewohner von Avignon kannten ihn als den ehemaligen, vom Schicksal geschlagenen Rabbi Eliah von Carpentras.

Miriam presste die Lippen zusammen. Sie zog allein an den Seilen und bezwang mit aller Kraft das störrische Maultier. Der Großvater enthielt sich wie ein Strenggläubiger am Sabbat jeglicher Tätigkeit. In all seiner Versunkenheit ließ er zu, dass Miriam und auch das Maultier sich abquälten. Sie wusste, dass er nicht schlief, sondern aus den Worten des Alten Testaments das Chaos um sie herum in Licht und Luft, Erde und Wasser, Tiere und Menschen zu trennen versuchte. Er sann in letzter Zeit oft über die Harmonie des Weltalls nach und darüber, warum das ewige Gesetz Gottes auf dieser Erde so wenig galt.

Eliah genoss einen besonderen Ruf in der Grafschaft Venaissin. Seine Familie hatte schon immer in Avignon und Carpentras gewohnt, kaum zwanzig Meilen nordöstlich in Richtung Alpen. Es hieß sogar, dass sie von jenen ersten Flüchtlingen aus der Familie des Herrn abstammte, die nach der Zerstörung Jerusalems bis in die römische Provinz an der Mündung der Rhône gekommen waren.

Zudem galt der ehemalige Rabbi auch manchen Christen als ein bedeutender, achtbarer Mann. Schließlich war er es gewesen, der den Heiligen Vater bei seiner Krönung in Lyon aus tödlicher Gefahr gerettet und dabei seinen eigenen Sohn geopfert hatte...

Miriam war damals, bei den schrecklichen Ereignissen im November Anno 1305, erst neun Jahre alt gewesen. Inzwischen wanderte der Papst nicht mehr von einer Diözese in die andere, sondern hatte die Kurie im ehemaligen Bischofspalais von Avignon um sich versammelt. Doch die Stadt in der Rhônebiegung würde kein zweites Rom werden. Im Gegenteil – fast alle eingesessenen Bürger der Stadt und des Umlandes hatten mehr Nachteile als Vorteile durch den Heiligen Stuhl und die Kurie. Häuser und Mieten waren nahezu unerschwinglich teuer geworden, Fisch, Fleisch und Gemüse kaum noch bezahlbar.

Der eisige Regen über dem Fluss und der Brücke wurde erneut heftiger. Niemand half dem Mädchen und dem alten Mann auf dem Karren. Jeder drängelte voran und versuchte, so schnell wie möglich zurück in die Stadt zu kommen.

Nicht einmal die kleine, wie ein steinernes Bienennest am zweiten Brückenpfeiler klebende Kapelle konnte die verstörten Menschen trösten. Obwohl einige der Menschen Weihrauch rochen, blieb die schwere Eichentür zur Brücke hin verschlossen, und auch die Fensterläden öffneten sich nicht. Angst breitete sich auf der schmalen Brückenstraße aus. Noch hielt der steinerne Übergang inmitten der dröhnenden, gurgelnden Wassermassen des Flusses. Aber wie lange noch?

  Kapitel 2: Auf der Brücke

Die reißenden Wasser der Rhône waren eiskalt. Bertrand schrie vor Schmerz und Zorn auf. Sofort fuhren neue Blitze und Donner aus den Gewitterwolken in den Regennebel um ihn herum. Er konnte kaum noch die riesige Insel Barthelasse sehen, die von hier aus die Rhône bis nach Avignon in zwei Flüsse teilte. Mit aller Kraft versuchte er, sich und sein Pferd über Wasser zu halten.

Zu lange schon und zu dicht waren die gnadenlosen Hunde des Herrn hinter ihm her. Vielleicht war es doch ein Fehler gewesen, dass er bei seinem Aufbruch im Kloster von St. Jacques gesagt hatte, er wolle Meister Eckhart nach Straßburg folgen, um sich bei ihm um die Beginenhäuser zu kümmern. Der große Lehrer war schon mehrfach nach Paris berufen worden. Dann aber musste er den Allerobersten bei seinen Dominikanern doch noch zu ketzerisch geworden sein. Sein Ordensgeneral Berengar von Landora hatte ihm vor einigen Monaten trotz aller Verdienste das Lehramt entzogen und ihn zur Aufsicht über Seelenheil, Keuschheit und Frömmigkeit für mehrere Dutzende Nonnenklöster und Beginenhäuser im Süden Deutschlands nach Straßburg geschickt.

Die Beginen – Bertrand wusste nicht, warum er gerade jetzt an die überall entstandenen Vereinigungen keuscher und in Armut lebender Frauen denken musste. Sie hatten kaum etwas mit seinen eigenen Plänen zu tun. Oder sammelten sich in ihnen nicht nur die unverheiratet gebliebenen Töchter adliger Familien, sondern auch diejenigen Weibsbilder, die mit den verfemten, verbrannten oder geflohenen Templern zu tun hatten? Die Beginen waren inzwischen zu einer lästigen Konkurrenz für die offiziell anerkannten Ordensgemeinschaften und Nonnenklöster geworden. Sie bekamen Spenden, wurden in Testamenten bedacht und ließen zu, dass ihre Schwestern heirateten, wenn sich bei dem überall herrschenden Mangel an ehrbaren Mannsbildern doch noch eine Möglichkeit ergab.

Bertrand wusste, dass die Häscher der Inquisition nur darauf gewartet hatten, ob er nach Straßburg oder nach Süden ins Rhônetal abbog. Die nächsten möglichen Fluchtpunkte waren Lyon und dann Vienne gewesen. In diesen Städten waren die wichtigsten Konzile der letzten Jahre abgehalten worden. Hier waren der Erzbischof von Bordeaux durch Frankreichs König zum Papst gekrönt und der einst mächtige Orden der Templer als eine gefährliche Organisation von Gotteslästerern angeklagt worden...

Die Templer!

Es gab sie nicht mehr. Jedenfalls nicht in Frankreich. Sie hatten den Sturz der letzten Festung Akkon im Heiligen Land vor gut zwanzig Jahren nicht überstanden, waren für das klägliche Ende der Kreuzzüge verantwortlich gemacht, der geheimen Alchemie, Sodomie, Ketzerei und Teufelsanbetung angeklagt worden. Aber das alles waren nur vorgeschobene Gründe für Verhaftung, Folter und Hinrichtung. Und nichts davon gehörte zum wahren Geheimnis ihres Untergangs.

Wer von den Tempelrittern im letzten Augenblick noch entkommen konnte, war nach Schottland, Portugal oder bis zur Marienburg des deutschen Ritterordens an der Ostsee geflohen. Die letzten Anführer saßen seit Jahren in Paris im Kerker. Und wenn Papst Clemens V. nicht half, würden auch sie schon bald öffentlich verbrannt werden!

»Die Strafe Gottes!«, schlug ihn der Sturm wie mit einer Peitsche der Büßermönche. Gleichzeitig wehrte er sich dagegen, erneut als der Fehltritt des Erzbischofs von Bordeaux dazustehen... als der »Bastard Smaragdus«, wie er vor vielen Jahren bei seinem Eintritt ins Kloster am Nordrand der Pyrenäen verspottet worden war.

Den ›Bastard‹ hatte er inzwischen überwunden. Unter den Studenten von Paris waren nicht wenige gewesen, die statt einer ehrenvollen Herkunft über genügend Beutel mit Floren und anderen Münzen verfügten, um jedes Lästermaul zu stopfen.

Auch er hatte nie Not gelitten in seinem bisherigen Leben, niemals gehungert und nicht unter Schmutz, Schwären und schrecklichen Krankheiten gelitten. Er war weder verstoßen noch geächtet, verfolgt oder gefoltert worden. Im Gegenteil: Seit er denken konnte, hatte ihn seine Herkunft mütterlicher- und väterlicherseits ebenso geschützt wie die Gnade des gütigen Gottes und die Schwingen seiner persönlichen Schutzengel. Nur selten hatte sich das Rad der Fortuna zu seinen Ungunsten bewegt. Er war nie ganz oben gewesen, aber auch niemals ganz unten, sondern ganz in der Mitte zwischen vielen anderen.

Oh, nein! Er war keine besondere Frucht unter Gottes Schöpfungen, keine erlesene Blüte des Geistes, kein Ritter der Tafelrunde, auch nicht der Letzte der Templer. Er gehörte durch keinen Schwur und keine gotteslästerliche Weihe zu den unseligen Ordensbrüdern wie viele Männer aus seiner eigenen Verwandtschaft, von denen jetzt die meisten tot, zu erbärmlichen Krüppeln gefoltert oder dem Wahnsinn anheimgefallen waren.

Dennoch wussten oder vermuteten zumindest seine Verfolger, dass er wahrscheinlich der einzige Eingeweihte war, der vom Geheimnis der drei Zeichen im Stein wusste und bisher kein einziges Mal von der Inquisition peinlich befragt worden war.

Drei Jahre lang hatte er völlig frei in Paris studiert – im Kloster von St. Jacques, unmittelbar an der Straße nach Orléans, und in den Häusern der Magister und großen Professoren der Sorbonne. Er hatte sich bei ihren Vorlesungen ebenso ungehindert bewegt wie in den Kirchen und in den schlimmen Gassen mit den Tavernen und ihrem Hurenvolk. Und all die Jahre hatte er nicht einmal geahnt, was er wirklich wusste...

Aber wie lange noch? Sie hetzten ihn wie ein scheues und . seltenes Wild, trieben ihn vor sich her, ohne zuzuschnappen, und erfuhren dadurch immer mehr von seinen Plänen. In jeder anderen Situation hätte er das beißend kalte Wasser zwischen sich und den Häschern des Königs hinter sich noch viel länger und heftiger verflucht. Jetzt aber waren die Wogen des Flusses wie die Schwingen des Erzengels Michael, die ihn beschützten und seine Verfolger zurückbleiben ließen.

Ein Zweig schlug ihm über das Gesicht, dann wurde er zusammen mit seinem Pferd vom Fluss wieder fortgerissen. Er tauchte ein in die schlammigen Fluten, kam wieder hoch, rang verzweifelt nach Luft und schoss durch Wirbel und weiße Gischtberge. Regen vom schwarzgrauen Himmel und seltsam leuchtender Nebel über dem wild gewordenen Fluss vermischten sich wie betörende Weihrauchschwaden in einer Kathedrale zu einem jenseitigen Raum, in dem es keinen Boden unter den Füßen und keine irdischen Fesseln für seinen sündigen Leib mehr gab.

Die beiden Kirchenfürsten in ihren roten Soutanen standen wie die Erzengel Gabriel und Michael auf dem Balkon im oberen Stockwerk des Bischofspalais von Avignon. Furchtsame Lakaien hatten die Türflügel hinter ihnen mit geschwungenen, schon rostigen eisernen Lochbändern gegen ein Zuschlagen an der Mauer gesichert. Die oberen Hälften der Türen bestanden aus geölter Leinwand, und nur die unteren waren mit buntem, halb durchsichtigem Glas ausgefüllt.

Obwohl vom Balkon am alten Bischofspalais von Avignon über die Stadtmauer hinweg die gesamte Rhône, die Brücke und sogar das Treiben auf der großen Flussinsel wie hinter den cancelli, dem Speisegitter bei der Ausgabe der Hostien, überblickt werden konnte, hatten die früheren Oberhirten der Diözese vieles verkommen lassen. Das Comtat Venaissin zwischen Rhône, Durance und Alpen gehörte schon fast vierzig Jahre zum Kirchenstaat. Solange sich kein Papst um die Exklave gekümmert hatte, war die Grafschaft von verschworenen Nachkommen der Ketzer und von ebenso vertriebenen Juden als schützende Insel zwischen dem Königreich der Franken und dem deutschen Imperium genutzt worden.

»Philipp der Schöne hat erkannt, wie wichtig ein guter Blick auf die Brücke ist«, rief der Bischof von Poitiers und deutete auf den schemenhaft sichtbaren mächtigen Wachturm, den der König von Frankreich jenseits der Insel im Fluss am anderen Ufer errichtet hatte.

»Wir wissen es auch, sonst stünden wir beide nicht hier«, gab Niccolò da Prato zurück. »Was glaubst du, warum der Heilige Vater den alten Bischof von Avignon zum Kardinal gemacht und dann fortgeschickt hat?«

Sie wussten beide, dass der alte Palast der strategisch günstigste Aussichtspunkt außer den Wachen oben auf dem Rocher des Domes und an den Tortürmen zur Brücke war. Für derartige Dinge hatte sich Jacques Duèse, der frühere Bischof von Avignon, weit weniger interessiert als für seinen Weinkeller in den uralten Felsenkatakomben und eine bequeme Treppe mit extra flachen Stufen zur Kathedrale hinauf. Er hatte sein Palais räumen müssen, als Clemens V. ihn vor zwei Jahren zum Kardinal von Porto ernannte und die Diözese Avignon für sich beanspruchte.

Nach seiner Wahl zum Papst und den Stationen in Poitiers, Toulouse und Carpentras hätten die Kurienkardinäle auch Montpellier mit der berühmten medizinischen Universität oder Arles mit seinen prächtigen Palästen, den römischen Bauten hoch über der Rhône und der viel größeren Kathedrale zur Stadt des neuen Pontifex wählen können. Nur wenige Eingeweihte wussten, warum sie ausgerechnet Avignon vorgezogen hatten. Und nicht einmal seine schlimmsten Gegner ahnten, wie geduldig der Papst alle Schmähungen und Verleumdungen ertrug, wenn er nur fernab von den Intrigen Roms bleiben konnte.

Die meisten ahnten nicht, wie krank der Heilige Vater wirklich war. Trotz seiner Schmerzen, aller Rückschläge und der schrecklichen Opfer unter den Templern träumte Clemens noch immer von einer Erneuerung der Kirche. Er wollte umkehren auf der schrecklichen Straße der Kämpfe um geistliche und weltliche Macht. Und er betete nachts, wenn er sich allein glaubte, laut um Vergebung für die Irrwege der Kreuzzüge, die verheerenden Vernichtungskriege gegen Katharer, Albigenser und Waldenser, den Verlust Jerusalems und die Mörder seiner grausam zu Tode gekommenen Vorgänger Coelestin, Bonifatius VIII. und Benedikt XI.

Ein neuer, heftiger Wolkenschwall kam wie Flussnebel von Norden her die Rhône herab. Er trieb Tierkadaver und ausgerissene Bäume, halb vollgelaufene Boote und Häuserwände vor sich her, die wie verlorene Archen nach langer Irrfahrt aussahen. Das Volk auf der Brücke sah das herannahende Unheil und schrie immer lauter.

Kardinal d’Aux zog Niccolò da Prato vom Balkon ins Innere des Hauses zurück. Der Audienzsaal im ersten Stock des Palastes war groß genug für den Bischof von Avignon gewesen – für einen Stellvertreter Gottes auf Erden wirkte er eher klein und provinziell. Nicht einmal Wandbehänge aus dem Lateranpalast in Rom konnten die Pracht des nach wie vor von den römischen Adelsfamilien beherrschten Vatikans ersetzen.

»Das ist kein Wetter für Heldenmut oder flammende Predigten vom Katheder«, sagte Arnaud d’Aux mit leichtem Tadel in der Stimme. Die beiden Würdenträger ließen sich Tücher über ihre Köpfe legen und die Haare trocknen. »Noch genießt nicht einmal der Heilige Vater und Nachfolger des Apostels Petrus besondere Rechte beim Wüten aus den Himmelsgewölben. Selbst wenn wir beide in dem Licht vorhin für das Volk schon wie verkündende Erzengel ausgesehen haben...«

»Was meinst du damit?«

»Alles, was wir bisher für den Papst und den Heiligen Stuhl bewirkt haben, kann selbst mit größtem Wohlwollen des Himmels kaum als segensreich betrachtet werden. In den acht Jahren seit seiner Wahl haben wir Clemens ein Kainsmal nach dem anderen auf die Stirn geschrieben. Und die Verleumdungen um seine kränkliche Nachgiebigkeit und seinen Nepotismus nehmen Tag für Tag zu.«

»Ja, du hast Recht«, sagte da Prato mit einem tiefen Seufzer. Er zog sich einen der hohen Polsterstühle vom großen Tisch im hinteren Teil des Saales zur Seite, setzte sich und streckte seine nass gewordenen Füße in den roten Lederschuhen aus. Die Schuhe waren nicht mehr zu gebrauchen. Er nickte, als ein Diener vor ihm niederkniete, um sie ihm auszuziehen. »In Rom heißt es neuerdings, dass er nur durch eine angebliche Geheimabsprache mit dem König von Frankreich in einem Forst bei Bordeaux zum Papst gewählt wurde.«

»Nichts als Verleumdung! Philipp der Schöne und sein mörderischer Großsiegelbewahrer Guillaume de Nogaret haben Clemens von Anfang an durch die gefälschte Bulle in Misskredit bei den Gläubigen gebracht.«

»Wenn es nicht Sünde wäre, könnte man fast schon dem Allmächtigen danken, dass dieser Intrigant und Mörder von mindestens zwei Päpsten endlich tot ist!«

Kardinal d’Aux winkte einem weiteren Diener und ließ sich warmen, mit Pfeffer, Zimt und Nelken gewürzten, verdünnten Rotwein bringen. Dann setzte er sich ebenfalls auf einen Stuhl und streifte ohne Hilfe eines Dieners seine Stiefel ab.

»Seine Helfershelfer und Nachfolger sind längst wieder unterwegs!«, sagte er nach einem genüsslich zuzelnd geschlürften Schluck heißem Wein. »Es ist wie immer eine verdammte Frage nach der Wahrheit und der Macht. Es geht um Zeichen, ausschließlich um Zeichen und Symbole! Was fragt das Volk denn ebenso wie viele Astrologen und Berater in den Fürstenhäusern? Sie fragen: ›Wurde dieser Papst bei der Krönung in Lyon nicht fast von einer umstürzenden Mauer erschlagen? Stimmt es nicht, dass sich Verwandte von ihm schon einen Tag später im Streit um reiche Pfründe gegenseitig umbrachten? Hat er nicht allen Verbrechen gegen die Templer ohnmächtig zugesehen?‹ Und was am Schlimmsten klingt: ›Ist er nicht längst dabei, Rom nach tausenddreihundert Jahren als Hauptstadt des Christentums aufzugeben?‹«

»Er ist noch immer Bischof von Rom und damit auch der erste von allen Bischöfen«, stellte Kardinal da Prato fest. Er gab die Tücher wieder zurück und ließ sein langes, weißgraues Haar so kämmen, dass es auf beiden Seiten seines markanten Kopfes bis auf die immer noch durchfeuchtete Soutane fiel.

»Aber nur noch so lange, wie er und wir dem König von Frankreich widerstehen können – Philipp dem Schönen und den Dominikanern mit ihrer Inquisition...«

»Ja, sie ist grausam und gnadenlos geworden!«, sagte da Prato.

»Nein, sie ist gerecht nach allen kirchlichen und weltlichen Gesetzen. Außerdem ermittelt sie nur und verurteilt nicht.«

»Weil Wahrheit überall die Folter oder gar Verrat voraussetzt?«, fragte da Prato listig. Aber Arnaud d’Aux ließ sich nicht in die Enge treiben.

Es war, als würde er um viele Jahre zurückgeschleudert – soweit zurück, bis er an eine Hand fassen konnte, die ihn ganz fest hielt, als sie zusammen jenes Kloster an der Nordseite der Pyrenäen betraten, in das sein Vater ebenfalls als Junge eingetreten und in dem er zum Priester geweiht worden war.

Es war die Hand, die noch immer den Ring mit dem fliederfarbenen Edelstein trug, obwohl sie inzwischen als einzige von allen Bischöfen der Heiligen römischen Kirche den anderen, den Ring des Fischers tragen durfte. Der neue Papst-Ring sei noch nicht fertig, hatte ihm sein Vater geantwortet, als er danach fragte.

»Wie wird er aussehen? Ganz anders als ein Bischofsring?«

»Du bist sehr wissbegierig, mein Sohn«, hatte der gerade erst gewählte, aber noch nicht gekrönte Papst gesagt. »Aber ich will dir ein Geheimnis anvertrauen, wenn du schwörst, dass du es niemals im Leben einem anderen verrätst... selbst im Beichtstuhl oder unter der Folter nicht...«

»Ich schwöre!«, hatte er sofort geantwortet.

»Du musst schwören und dann vergessen, was ich dir jetzt anvertraue«, sagte der Papst. Ohne weitere Erklärungen hatte er ihn in einen anderen, fast völlig abgedunkelten Raum mit brennenden Bienenwachskerzen auf einem kleinen Altar geführt. Von einer goldenen Schale neben einer großen, aufgeschlagenen Bibel stiegen betörende Schleier von ganz besonders duftendem Weihrauch auf.

»Knie nieder, mein Sohn!«

Es war wie beim Abendmahl, aber der neue Papst sprach lateinische Worte, die sein Sohn bisher in keiner Liturgie und bei keinem Kirchgang gehört hatte. Fast schien es ihm, als würde sein Vater, der Papst, nicht in lateinischer Sprache reden, sondern in der alten Langue d’oc, in der auch seine Mutter hin und wieder die Lieder der Troubadoure sang.

»Mysteria celebranda...«, sagte er dann und legte ihm eine Oblate als Leib des Herrn in den Mund. »Hoc est enim Corpus meum.«

Anschließend reichte er ihm den goldenen Weinkelch. »Und nun höre, was ich nur dir sage, trink das Blut des Herrn und vergiss...«

Der Zehnjährige zögerte. Er kannte die lateinischen Sätze für die Verwandlung von Brot und Wein in den Leib und das Blut Christi nicht gut genug, aber er fühlte, wie heiße und kalte Schauder über seinen Nacken und seinen Rücken bis in seine Schenkel fuhren. Es stimmte nicht. Irgendetwas stimmte nicht...

»Es ist das Zeichen des Kreuzes im Herzen, das viele bereits verleugnen«, sagte der Papst fast schon verschwörerisch. »Die Tempelherren ebenso wie Priester, Bischöfe und Kardinäle, wie Mönche und Nonnen, Äbte, Äbtissinnen und auch die Baumeister der Kathedralen. Sie alle sind gottlos geworden und damit die wahren Ketzer...«

Er richtete sich auf, nahm den goldenen Kelch und trank selbst einen Schluck Wein.

»Das Kreuz im Herzen ist die Gravur im Edelstein meines Bischofsrings«, sagte er nochmals. »Und es wird auch die verborgene Gravur sein, die mich in meinem hohen Amt begleiten soll – entweder in meinem neuen Ring des Fischers oder im großen Rubin der päpstlichen Tiara. Und nun vergiss, bis du und ich das Zeichen aller Wahrheit und des Glaubens wieder brauchen.«

»Wann wird das sein, Vater?«

»Es kann sehr lange dauern, sogar viele Jahre. Aber irgendwann wirst du etwas über die drei Zeichen in drei Steinen hören. Dann ist der Augenblick gekommen, an dem du alles hinter dir zurücklassen und zu einem neuen Ziel aufbrechen musst. Es kann gut sein, dass du dann zu mir willst, aber es könnte ebenso gut geschehen, dass ich dann nicht mehr bin, oder ein anderer Eingeweihter dich noch mehr anzieht.«

»Gibt es denn außer dir noch andere?«

»Ich hoffe es, mein Sohn! Ich hoffe es von ganzem Herzen und möchte es auch glauben, aber ich weiß es nicht!«

Noch ein weiterer Kardinal beobachtete an diesem Dienstag die überfüllte Brücke. Er stand ein Stockwerk unter dem Audienzsaal des Bischofspalasts und wartete seit geraumer Zeit auf den Kommandanten der Palastwache.

Pierre Godin war ebenso wie Arnaud d’Aux erst vor anderthalb Jahren beim Konzil von Vienne Kardinal geworden. Dennoch hatte er als Dominikaner sofort die Aufsicht über den gesamten Papstpalast erhalten, der nach kanonischem Recht noch immer dem Bischof von Avignon gehörte. Gleich zu Beginn seines Amtes hatten ihn einige Angehörige der famiglia, wie der päpstliche Hofstaat im Gegensatz zur jeweiligen familia der Kardinäle genannt wurde, mit der spöttischen Bezeichnung »Meister des Palastes« bedacht. Sie hatten nicht ahnen können, wie schnell Kardinal Godin diesen Titel in ein gnadenloses Regiment im Sinne des Franzosenkönigs umsetzte.

Godin war Franzose, aber er vertrug sich mit dem Italiener Niccolò da Prato wesentlich besser als mit seinem ständigen Widersacher Arnaud d’Aux aus Aquitanien. Inzwischen gab es auch unter den Priestern und Nonnen, den Torwachen und Bediensteten im Palais nur noch einen einzigen Untergebenen, der sich gelegentlich Widerspruch oder gar Ungehorsam erlaubte.

Auf diesen Mann wartete Godin, während er finsteren Gedanken nachhing. Er verstand nicht, wo der Ritter blieb, dem die gesamte Palaiswache und die Männer am Brückentor unterstanden. Die Sicherheit an allen anderen Toren gehörte in die Verantwortung der Stadt. Nur das massive Brückentor stand so dicht am päpstlichen Palais, dass es Kardinal Godin und Ritter Utz von Falkenhenn gleich nach dem Einzug des Papstes in der Stadt besetzt und für die Kurie vereinnahmt hatten.

Kardinal Godin war verstimmt. Mehr noch – er war wütend und derartig aufgebracht über die Unfähigkeit der Wachmannschaft, dass er bereits mit dem Gedanken spielte, den eitlen und wegen Saufhändeln und Zuträgerei für die Habsburger aus seinen Bergen geflohenen Ritter von Falkenhenn zu exkommunizieren und alle Beteiligten ohne den Sold der letzten Monate zu entlassen. Aber das war nicht ganz ungefährlich, denn in einigen Gebieten der Schweiz rottete sich inzwischen immer mehr Gesindel und aus Kriegsdiensten entlassenes Volk zusammen. Es hieß sogar, dass sie alle fremden Herren und ihre Soldaten aus den Bergen vertreiben und sich selbst zu einem freien Volk von Brüdern erklären wollten. Das alles konnte so gefährlich werden wie damals, als Katharer und Albigenser christlicher und brüderlicher leben wollten als die Heilige römische Kirche und der satt gewordene Klerus...

Pierre Godin ärgerte sich so sehr, dass rote Flecken auf seinem fleischigen Gesicht erschienen. Wie hatte es geschehen können, dass ein ganzer Trupp von flämischen und Schweizer Söldnern mit ihren Eisenhelmen und drohenden Hellebarden einen jungen, halb nackten und geschorenen Juden vor dem Palais entwischen ließen? Sie hatten ihn bereits vor zwei Wochen schon einmal entkommen lassen, als sie ihn aus den Zellen des Dominikanerklosters holen und in den Keller seines eigenen neuen Palais bringen sollten.

Kardinal Pierre Godin glaubte nicht an Zufälle, und bei Wundern war er äußerst misstrauisch – besonders, wenn er sie nicht selber gründlich untersucht und bestätigt hatte. Ein Gefangener der Dominikaner, der innerhalb weniger Tage zweimal in Ketten fliehen konnte, machte den Meister des Palastes nicht nur wütend, sondern krank. Natürlich ahnte er, wer dahinter steckte, aber er konnte nichts beweisen. Dennoch war ihm klar, dass bereits der Machtkampf um die Nachfolge von Clemens V. begonnen hatte.

Er brauchte diesen schlecht beleumundeten Enkel von Eliah und durfte ihn auf keinen Fall entkommen lassen. Seder Ben Ariel hatte Dinge bei den Dominikanern und in den Kellern seines neuen Palastes gesehen und gehört, die nicht für fremde Augen und Ohren bestimmt waren. Schon deshalb musste er unbedingt erneut eingefangen werden.

Godin ahnte nicht, dass der flüchtige Gefangene sogar noch sehr viel mehr wusste und in den Tagen zwischen seiner ersten und der zweiten Flucht nicht in Avignon gewesen war. Der Kardinal blickte immer ungeduldiger vom Tor herab. Er hatte Ritter von Falkenhenn sofort wieder nach unten zum Platz vor der Brücke geschickt und ihm befohlen, die großen Tore vor dem herandrängenden Volk zu schließen. Einzeln und nur nacheinander sollten sie Einlass finden – selbst wenn das Verfahren bis zur Stunde der Nachtwächter dauern sollte.

Unten, wo sich die Ungeduldigen bereits gegenseitig schlugen und zur Seite stießen, wurde die Situation immer gefährlicher. Selbst wer gewollt hätte, konnte nicht mehr zurück.

Kardinal Pierre Godin mochte nicht länger warten. Ritter von Falkenhenn kam nicht zurück. Er sah ihn auch nicht auf der Brücke. Deshalb entschloss sich der Meister des Palastes, dorthin zu gehen, wo er d’Aux und da Prato vermutete. Es konnte nützlich sein, wenn er sie in den nächsten Tagen noch aufmerksamer als bisher beobachtete. Denn eines war ihm ebenso klar wie seinen Amtsbrüdern:

Die Lebensuhr des Heiligen Vaters war abgelaufen. Und die Intrigen um seine Nachfolge würden spätestens nach dem Osterfest offen ausbrechen.

  Kapitel 3: Der Amethyst

 

 

Ein Fest, ein Fest... sie würden ein großes Fest für seinen Eintritt ins Kloster von Comminges feiern. Ein Fest für den illegitimen Sohn das neuen Papstes...

Am nächsten Tag hatte sein Vater ihm ernsthaft und manchmal sogar lächelnd auf alle anderen Fragen geantwortet, die Bertrand schon lange in sich trug. Und das, obwohl sie sich eigentlich kaum kannten.

Bertrand erfuhr, dass sein Vater ebenfalls in diesem Kloster am Nordrand der Pyrenäen, kaum eine Meile vom Ufer der oberen Garonne entfernt, seine ersten Weihen erhalten hatte, dass er anschließend in Poitiers und Bologna kanonisches Recht studiert hatte und dass er ein Jahr vor Bertrands Geburt sogar Bischof der Gegend zwischen den Pyrenäen und Toulouse geworden war. Anschließend war er zum Bischof von Poitiers, später dann zum Erzbischof von Bordeaux aufgestiegen.

Genau genommen hatte Bertrand ihn bisher nur von ferne gesehen, wenn Katharina de Comminges, seine Mutter, ihn auf ihren so genannten Wallfahrten zu seinem Vater mitgenommen hatte. Als Erklärung für seine Zurückhaltung hatte sie einmal angegeben, dass die Vergangenheit ihrer eigenen Familie nicht förderlich für ihn sei, es in ihr zu viele Ketzer gegeben habe. Erst jetzt, als frisch gewählter Papst, konnte er mehr für die Angehörigen beider Familien tun.

Als Erstes brachte er seinen zehnjährigen Sohn persönlich zum Ort des eigenen Anfangs. Der Zehnjährige war noch zu jung, um die Andeutungen und Wortfetzen zu verstehen, die sein Vater unterwegs mit seinen Begleitern auf ihren Pferden wechselte. Einer der stattlichsten von ihnen hieß Arnaud d’Aux. Er war bereits Beichtvater der englischen Königin Isabella de France gewesen, der Tochter von Philipp dem Schönen. Die Männer hatten von ihr und vom schwächlichen englischen König Edward II. gesprochen, dem als Erbe der Eleonore von Aquitanien und Richard Plantagenets die ganze Region von Bordeaux und Aquitanien als Lehen zustand.

Nur wenig später hatte er auch von den mörderischen Ereignissen um die beiden letzten Päpste in Italien gehört und von der heimlichen Zustimmung vieler Fürsten und Könige von der Ostsee bis nach Spanien dafür, dass der neue Papst nicht nach Rom gehen, sondern in ihrer Nähe bleiben sollte...

Bertrand de Comminges, der junge Blondschopf, in dessen Adern wie bei seinem Vater Raimond Bertrand de Goth noch das germanische Blut der Westgoten floss, hörte auf dem Weg in Richtung Pyrenäen mehr, als er je hören durfte. Es ging dabei um Geheimnisse, die ihre Ursachen in Katastrophen des vergangenen Jahrhunderts hatten und noch größere Katastrophen im gerade erst beginnenden Jahrhundert zur Folge haben sollten.

Auf eigenartige Weise hing alles mit der Familie seiner Mutter zusammen – damit, dass sie zu den Katharern und Albigensern gehört hatten, und damit, dass sein Vater gleich fünf seiner eigenen Verwandten zu neuen Kardinälen ernennen wollte. Schon deshalb konnte nicht stimmen, was der Knabe auch schon gehört hatte: Sein Vater war kein ängstlicher Speichellecker des Königs von Frankreich!

Im Gegenteil!

Bertrand war stolz auf seinen Vater, den neuen Pontifex maximus. Er hatte sich immer gewünscht, nicht den Namen der Mutter, sondern den jener Familie zu tragen, die zu den Nachkommen des legendären Germanenreichs von Toulouse gehörte. Auch von ihnen waren viele bei den päpstlichen Kreuzzügen gegen die Ketzer, die Katharer und Reinen bei der Eroberung ihrer Bergdörfer wie Minerve und Burgen wie Montségur hingerichtet, auf Scheiterhaufen verbrannt oder in Städten wie Béziers einfach erschlagen und ausgerottet worden.

Für viele musste es wie Hohn erscheinen, dass nur zwei Generationen später die letzten Nachkommen der grausam Verfolgten viele der Bischöfe, Kardinäle und jetzt auch einen Papst stellten.