Die Steine der Fatima - Franziska Wulf - E-Book

Die Steine der Fatima E-Book

Franziska Wulf

0,0
3,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Lesefutter für die Fans von Suzanne Frank und Diana Gabaldon! Beatrice Helmer ist Chirurgin in einem Hamburger Krankenhaus. Nach der Operation an einer alten arabischen Frau findet sie in ihrem Kittel plötzlich einen geheimnisvollen Stein. Dann verliert sie das Bewusstsein. Sie erwacht in einer völlig fremden Welt: Die Frauen sind verschleiert, die Männer mehr als grob zu ihr, und die Sprache ist ihr gänzlich unverständlich. Ist sie in einem Harem gelandet? Fast verfällt Beatrice in tiefe Depression, doch dann rettet sie bei einer Operation der Lieblingsfrau des Emirs das Leben ... Ein neuer Stern am Himmel der Zeitreiseromane!

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 554

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Über das Buch:

Lesefutter für die Fans von Suzanne Frank und Diana Gabaldon! 

Franziska Wulf

Die Steine der Fatima

Zeitreise-Trilogie Fatima

Edel Elements

Edel Elements Ein Verlag der Edel Germany GmbH

© 2016 Edel Germany GmbH Neumühlen 17, 22763 Hamburg

www.edel.com

Copyright © 2002 by Franziska WulfDieses Werk wurde vermittelt durch die Michael Meller Literary Agency GmbH, München.

Covergestaltung: DesignomiconKonvertierung: Datagrafix

Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des jeweiligen Rechteinhabers wiedergegeben werden.

ISBN: 978-3-95530-884-1

facebook.com/EdelElementswww.edelelements.de

I

Dr. Beatrice Helmer saß allein im Arztzimmer der Chirurgischen Notaufnahme am Schreibtisch und ging ein paar Befunde durch, die gerade aus dem Labor gekommen waren. Durch die geöffnete Tür drangen die Geräusche des Stationsalltags zu ihr herein – die eiligen Schritte der Ärzte und Schwestern auf dem Flur, hin und wieder das Stöhnen und Jammern eines Verletzten, die Stimme eines randalierenden Betrunkenen, der eine Schwester anpöbelte.

Beatrice stützte den Kopf in die Hände und schloss für einen Moment die Augen. Es war Freitagabend. Zu Beginn des Wochenendes war in der Notaufnahme immer viel zu tun, aber an diesem Freitag war es ganz besonders schlimm. Seit sieben Uhr morgens hatten sich Patienten und Rettungssanitäter die Klinke in die Hand gegeben. Beatrice und ihre Kollegen hasteten schon den ganzen Tag im Laufschritt zwischen den Kabinen und Behandlungsräumen hin und her und mussten aufpassen, dabei nicht über die Patienten zu stolpern, die auf den Gängen auf eine Röntgenuntersuchung oder ihre weitere Behandlung warteten. Mittlerweile war es fast Mitternacht. Beatrice war seit siebzehn Stunden ohne Pause im Einsatz. Sie war müde und erschöpft und hatte nur noch den Wunsch, ein heißes Bad zu nehmen und ins Bett zu gehen. Leider war daran noch lange nicht zu denken; acht Stunden Dienst lagen noch vor ihr. Dabei fühlte sie sich, als würde sie nicht einmal die nächste Viertelstunde überstehen können. So ein Tiefpunkt stellte sich bei jedem Nachtdienst ein – mal früher, mal später. Es kam nur darauf an, der Müdigkeit nicht nachzugeben. Beatrice setzte sich aufrecht hin, legte eine Hand auf ihren Bauch und konzentrierte sich so auf die Atmung, wie sie es vor kurzem im Fitness-Studio in dem »Atmen Sie die Spannungen weg«-Kurs gelernt hatte. Angeblich war das eine Technik, die überall, sogar am Arbeitsplatz oder in der U-Bahn funktionierte. Sie zählte bei jedem Atemzug langsam bis zehn und versuchte den Betrunkenen zu ignorieren, der sich lautstark gegen die Blutentnahme wehrte. Offensichtlich hielt er die Ärzte und Schwestern für Mitarbeiter des KGB. Sie öffnete die Augen und horchte in sich hinein. Fühlte sie sich wieder fit und entspannt? Na, vielleicht ein bisschen. Aber vermutlich hatten die Erfinder dieser Entspannungstechnik nicht an die Verhältnisse auf Notaufnahme-Stationen gedacht.

Beatrice widmete sich wieder den Befunden. Es waren die schlechtesten Blutwerte, die sie jemals zu Gesicht bekommen hatte. Sie gehörten zu einer Neunzehnjährigen, die im Heroinrausch eine Treppe am Hauptbahnhof hinuntergefallen war und sich dabei den Arm gebrochen hatte. Beatrice selbst hatte die Fraktur gerichtet und den Arm anschließend eingegipst. Aber hatte sie der jungen Frau wirklich helfen können? Noch jetzt erschauerte sie, wenn sie an die Augen in diesem schmalen, totenbleichen Gesicht dachte; die trüben Augen einer Greisin, mit Skleren von der Farbe reifer Orangen. Obwohl eine stationäre Behandlung dringend erforderlich gewesen wäre, war es ihr nicht möglich gewesen, die junge Frau zum Bleiben zu überreden. Der Gips war noch nicht einmal richtig durchgetrocknet, als sie wieder ging. Natürlich auf eigene Verantwortung, das hatte sie unterschreiben müssen. Die Klinik wollte schließlich nicht eine mögliche Strafanzeige wegen Fahrlässigkeit riskieren. Beatrice schüttelte frustriert den Kopf. Nach deutschem Recht hatte sie alles getan, was sie für die junge Frau tun konnte. Dennoch blieb das unangenehme Gefühl, in diesem Fall versagt zu haben. Jeder hier wusste, dass auf dem kurzen Weg vom Krankenhaus bis zum Hamburger Hauptbahnhof mindestens zwei Dutzend Dealer auf Kundschaft warteten. Die Leber der jungen Frau konnte noch zwei, vielleicht drei Trips überstehen. Sie würde sich wieder mit Heroin versorgen und wahrscheinlich nicht einmal mehr lange genug leben, um sich den Gips wieder abnehmen zu lassen.

»Ich glaube, den kannst du brauchen, Bea.«

Wie aus heiterem Himmel stand plötzlich ein Becher mit dampfendem Kaffee vor Beatrice. Überrascht und dankbar sah sie zu Susanne auf. Die junge Schwester war für ihre Hilfsbereitschaft bekannt, und diesmal hatte sie geradezu hellseherische Fähigkeiten bewiesen. Beatrice brauchte den Kaffee tatsächlich dringend. Und da kleine Gefälligkeiten zwischen Schwestern und Ärzten eine Rarität waren, wusste sie diese Geste besonders zu schätzen. Sie schloss die Augen, atmete den Duft ein und nippte vorsichtig an dem Kaffee. Er war heiß und stark, und obwohl es sich lediglich um irgendeine billige Marke handelte, in der alten, schmuddeligen Kaffeemaschine der Station gebrüht, entfaltete er eine bessere Wirkung als die ausgeklügelte, nach internationalen Erkenntnissen entwickelte Entspannungsübung.

Susanne ließ sich auf den Drehstuhl fallen, der neben Beatrice stand, und warf einen Blick auf die Befunde. »Sind das die Laborwerte der Kleinen?«

»Ja. Ihre Leber wird sich bald verabschieden. Und soll ich dir noch eine gute Neuigkeit verraten? Sie ist schwanger.« Beatrice warf den Befund auf den Stapel im Ablagekorb. »Wir wissen ganz genau, dass dieses Mädchen in der nächsten Zeit an Leberversagen sterben wird, doch gegen ihren Willen können wir nichts tun, gar nichts. Wir können nur Wetten darauf abschließen, ob sie im Koma noch einmal zu uns gebracht wird oder gleich in der Gerichtsmedizin landet.«

»Ja, das ist bitter«, sagte Susanne. »Aber weißt du, manchmal ...«

In diesem Augenblick öffneten sich die Schwingtüren, und mindestens zwei Dutzend Männer und Frauen stürmten die Station. Die Luft war erfüllt von den schrillen Schreien verschleierter Frauen. Beatrice und Susanne sprangen gleichzeitig auf, die Heroinsüchtige war vergessen.

Messerstecherei? Schusswunden? Schwerverletzte?, ging es Beatrice blitzschnell durch den Kopf. Doch noch während sie überlegte, ob auf der Intensivstation genügend freie Betten zur Verfügung standen, sah sie, dass einer der Männer eine alte Frau auf seinen Armen trug. Im selben Augenblick schämte sie sich für ihre Vorurteile und hätte sich am liebsten geohrfeigt. Das war der Tribut von fünf Jahren chirurgischer Tätigkeit in einem der sozialen Brennpunkte der Freien und Hansestadt Hamburg; man dachte zunehmend in Schubladen und Klischees.

Beatrice schnappte sich die einzige noch freie Liege und schob sie den weinenden und schreienden Leuten entgegen.

»Legen Sie sie hier hin«, sagte sie und griff gleichzeitig nach dem Handgelenk der alten Frau, um den Puls zu tasten. Er war schnell und schwach. »Was ist passiert?«

Um sie herum schwirrten die Worte. Beatrice hatte den Eindruck, sich in Bagdad, Kairo oder Tunis auf einem Bazar zu befinden, aber auf eine verständliche Antwort wartete sie vergebens. Sie spürte, wie das Adrenalin ihren Puls allmählich ansteigen ließ.

Hätte die alte Frau gejammert, geschrien, geweint, wäre Beatrice gelassen geblieben. Aber sie lag bleich und erschreckend still auf der Liege und gab trotz des Trubels um sie herum kein Lebenszeichen von sich. Sie reagierte nicht einmal, als Beatrice ihren dünnen, kleinen Körper unter dem weiten orientalischen Gewand schnell abtastete, während Susanne ihren Blutdruck maß.

»Achtzig zu fünfundvierzig«, sagte sie und drückte Beatrice eine Dauerkanüle in die Hand. »Infusion?«

Beatrice nickte, und Susanne bahnte sich ihren Weg durch die Angehörigen, die weinten und wehklagten, als wäre die alte Frau bereits gestorben. Dabei war Beatrice nicht sicher, ob das nicht bald der Fall sein würde. Offensichtlich hatte sie einen Schock, warum und wodurch auch immer.

»Spricht jemand von Ihnen Deutsch?«, fragte Beatrice, während sie an den dünnen Armen nach einer Vene suchte. Am erschrockenen Blick einer etwa vierzigjährigen Frau merkte sie, wie unfreundlich ihre Stimme geklungen haben musste. Noch im selben Moment tat es ihr Leid. Aber was sollte sie machen? Seit mittlerweile fünf Minuten lag diese alte Frau vor ihr. Wertvolle Zeit verstrich, und sie wusste immer noch nicht, was mit ihr los war. Sie konnte sich noch nicht einmal auf die Angaben erfahrener Rettungssanitäter verlassen, weil die Angehörigen die alte Frau selbst ins Krankenhaus gebracht hatten. Vom Herzinfarkt über Darmverschluss bis zum Schädel-Hirn-Trauma war alles möglich. Und sie verstand kein Wort.

»Bitte«, sagte sie und versuchte bewusst ihrer Stimme einen ruhigen und freundlichen Klang zu geben. »Wenn wir der Frau helfen sollen, müssen wir wissen, was passiert ist. Also noch mal: Spricht jemand von Ihnen Deutsch?«

»Ja, ich«, meldete sich der Mann zu Wort, der die alte Frau hereingetragen hatte.

»Gut«, meinte Beatrice erleichtert und richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Patientin. Sie hatte eine Vene gefunden und schob ihr die Dauerkanüle in den Handrücken. »Was ist passiert?«

Während sie der alten Frau Blut abnahm, erzählte der Mann in stockenden Worten, dass er seine Mutter nach einer Feier nach Hause fahren wollte, sie aber vor dem Auto auf dem Gehweg ausgerutscht und gestürzt sei. Und da sie nicht mehr aufstehen konnte, hatten sie sie sofort ins Auto getragen und ins Krankenhaus gebracht.

»Das übliche Notfalllabor«, sagte Beatrice zu Susanne, die in diesem Moment mit einem Infusionsständer kam, drückte ihr die Blutröhrchen in die Hand und schloss die Infusionslösung an. Sie war erleichtert. Nun wusste sie endlich, wonach sie zu suchen hatte. Und tatsächlich, als sie mit Susannes Hilfe der alten Frau das knöchellange Kleid ausgezogen hatte, fiel sofort das verkürzte, nach außen rotierte rechte Bein auf.

»Schenkelhalsfraktur?«, fragte Susanne leise.

Beatrice nickte. »Vermutlich.« Sie wandte sich an den Mann. »Ihre Mutter hat sich wahrscheinlich das Bein gebrochen. Außerdem hat sie einen Schock erlitten. Deshalb haben wir sie an den Tropf angeschlossen. Wir müssen jetzt ein paar Untersuchungen durchführen. Wir werden ihr Blut untersuchen, das Bein röntgen und ein EKG machen. Hat Ihre Mutter irgendwelche Erkrankungen? Zum Beispiel Asthma? Diabetes? Bluthochdruck?« Er schüttelte den Kopf. »Nimmt sie regelmäßig Medikamente ein?«

»Nein. Sie ist gesund.«

In diesem Augenblick kam wieder Leben in die alte Frau. Sie bewegte sich und stöhnte vor Schmerzen. Susanne pumpte erneut die Blutdruckmanschette auf.

»Hundertzehn zu sechzig.«

Die Erleichterung war ihr deutlich anzumerken, und auch Beatrice fiel ein Stein vom Herzen – die alte Frau stabilisierte sich wieder. Das Schlimmste war zunächst überstanden.

»Wie heißt Ihre Mutter?«, fragte Beatrice.

»Alizadeh, Mahtab Alizadeh. Aber sie spricht kein Deutsch.«

»Dann übersetzen Sie bitte für mich. Frau Alizadeh?« Die alte Frau schlug die Augen auf und sah Beatrice an. Ihr Blick war getrübt, sicherlich durch die Schmerzen. Sie nahm ihre Hand. »Frau Alizadeh, mein Name ist Dr. Helmer. Wissen Sie, was passiert ist?«

Während ihr Sohn übersetzte, wanderte ihr Blick zwischen ihm und Beatrice hin und her. Die Stimme der Frau war leise, aber obwohl Beatrice kein Wort verstand, hatte sie den Eindruck, dass die Antwort klar und nicht verwirrt war.

»Sie sagt, sie weiß, dass sie ausgerutscht ist und dann nicht mehr aufstehen konnte. Sie hat Schmerzen im Bein.«

»Fragen Sie sie bitte, ob sie noch an anderen Stellen Schmerzen hat.«

»Nein, nur im Bein.«

»Sobald wir die Röntgenbilder haben, kann ich ihr etwas gegen die Schmerzen geben. Ich werde mich dafür einsetzen, dass es nicht zu lange dauert.« Beatrice drückte der alten Frau die Hand und nickte Susanne zu. »Kannst du die Personalien aufnehmen? Ich bringe sie schon mal zum Röntgen.«

Beatrice fuhr die Liege drei Türen weiter, reihte sie in die Schlange der dort wartenden Patienten ein, füllte den Röntgenschein aus und klemmte ihn unter das Kopfende. Dann kehrte sie ins Arztzimmer zurück, wo sie bereits von Heinrich erwartet wurde. Heinrich war derzeit als Student im Praktischen Jahr in der Chirurgie tätig. Er war ziemlich ehrgeizig und nahm sogar freiwillig an den Nachtdiensten teil. Mittlerweile hatte er genug Erfahrung gesammelt, um in weniger schweren Fällen auch selbständig arbeiten zu können. Das war natürlich besonders in Nächten wie dieser eine erhebliche Entlastung. Der Kampf um die einzige freie AiP-Stelle in der Chirurgie war hart. Und Beatrice hoffte, Heinrich würde sie ergattern. Er hatte es sich verdient.

»Was liegt an?« Beatrice setzte sich wieder und nahm einen großen Schluck von dem mittlerweile nur noch lauwarmen Kaffee.

»Fünfunddreißigjähriger Patient, gestürzt, frontale Kopfplatzwunde und Prellmarke. Keine Seitenzeichen, neurologisch weitgehend unauffällig. Er wirkt bewusstseinsgetrübt, was entweder durch den Sturz hervorgerufen sein kann oder aber durch ausgiebigen C2-Abusus.«

»Du meinst, er ist besoffen?«, fragte Beatrice mit amüsiertem Lächeln. Heinrich redete immer, als würde er gerade einen Arztbrief diktieren. »Hast du ihn denn schon röntgen lassen?«

»Ja.« Er klemmte zwei Bilder an den Leuchtkasten. »Schädel in zwei Ebenen. Aber ich weiß nicht ...«

Beim Blick auf die Röntgenbilder verstand Beatrice Heinrichs Unsicherheit. Der Schädel war von mehreren geraden Linien durchzogen, die dort nicht hingehörten. Aber nichts davon war Besorgnis erregend, da es sich ohne Ausnahme um alte Frakturen handelte. Dann sah Beatrice den Namen auf den Röntgenbildern – Andreas Bauer. Und sie wusste sofort, weshalb ihr die Röntgenbilder bekannt vorgekommen waren.

Andreas Bauer war ein Obdachloser, der schon seit einigen Jahren zu den »Stammgästen« der Notaufnahme gehörte. Besonders in der kalten Jahreszeit kam er oft mit Platzwunden, Verstauchungen und Knochenbrüchen. Als Beatrice einmal ihm gegenüber den Verdacht geäußert hatte, dass er sich einige der Verletzungen absichtlich zufügen würde, hatte er gesagt: »Ach, Frau Doktor, wenn ich jetzt da draußen wäre, würde ich sicherlich erfrieren. Was ist dagegen schon ein bisschen Schmerz? Ich weiß doch, dass Sie Ihre Arbeit gut machen und ich bei Ihnen in den besten Händen bin.«

Daran dachte Beatrice, als sie Heinrich erklärte, wie man eine alte von einer frischen Fraktur unterscheiden kann. Es war noch nicht besonders kalt draußen, aber für die nächsten Tage war regnerisches Wetter und sogar Sturm angekündigt worden. Keine schöne Zeit, um im Freien zu schlafen.

Beatrice ging mit Heinrich zu Andreas, um ihn sich anzusehen. Es war zwar unwahrscheinlich, aber sie wollte sicher sein, dass er nicht doch neurologische Ausfälle hatte, die auf eine Schädelblutung hindeuten könnten. Schon beim Öffnen des Vorhangs schlug ihr der Geruch von Alkohol und ungewaschener, wochenlang getragener Kleidung entgegen. Andreas Bauer lag auf der Seite und schnarchte. Wie immer, wenn Beatrice ihn sah, konnte sie sich nur schwer vorstellen, dass er lediglich drei Jahre älter war als sie selbst. Andreas sah aus wie fünfzig.

»Hallo, Andreas! Hörst du mich?«, rief Beatrice, zog sich Gummihandschuhe an und drehte den Obdachlosen auf den Rücken. »Andreas.«

Er grunzte ungehalten, als Beatrice seine Lider hob und ihm mit ihrer Stablampe in die Augen leuchtete. Dann untersuchte sie die Wunde.

»Die Pupillenreaktion ist seitengleich, die Wundränder sind nicht ausgefranst. Sobald ein Behandlungsraum frei wird, kannst du die Wunde säubern und nähen. Aber wir sollten ihn auf alle Fälle über Nacht hier behalten und beobachten. Vielleicht steckt eine Alkoholvergiftung dahinter. Es ist selten, dass er so voll ist. Wahrscheinlich könntest du sogar ohne Lokale nähen.«

Ohne Lokale – das hieß so viel wie keine Spritze zur örtlichen Betäubung. Natürlich hätte sie das auch sagen können. Aber erstens war es so kürzer, und zweitens gehörte es einfach zum Job, das Jonglieren mit Begriffen, die wie eine Geheimsprache die Eingeweihten von den Außenseitern unterschieden. Das lernte man bereits im ersten Praktikum während des Studiums. Und man lernte es schnell, denn als Student wollte man vom ersten Semester an vor allen Dingen eines – dazugehören.

Sie verließen die Kabine und zogen die Vorhänge hinter sich zu. Beatrice streifte sich die Handschuhe von den Händen, warf sie in einen der Mülleimer und kehrte ins Arztzimmer zurück. Dr. Stefan Burmann, einer der Dienst habenden Anästhesisten, stand vor dem Leuchtkasten. Er trug keinen Kittel, sein kurzes dunkles Haar stand struppig zu allen Seiten ab, und auf seiner Nase war deutlich die rote tiefe Kerbe sichtbar, die eine OP-Maske im Gesicht hinterlässt. Rauchend betrachtete er mit zur Seite geneigtem Kopf die Röntgenaufnahmen eines Hüftgelenks.

»Ist das deine Patientin, Bea?«, fragte er mit einem kurzen Blick über die Schulter. »Klassischer Schenkelhals.«

Beatrice stellte sich neben ihn und betrachtete die Röntgenaufnahme. Tatsächlich war die hässliche Bruchkante zwischen Hüftkopf und Oberschenkelknochen unübersehbar.

»Und nun?«, fragte sie und strich sich ein wenig ratlos das blonde Haar aus dem Gesicht. »Endoprothese oder nicht? Sie ist neunundsechzig und damit genau an der Grenze.«

Stefan kratzte sich am Kopf und zerzauste sein Haar dadurch noch mehr.

»Wie ist sie denn zu Wege?«

»Sie ist ziemlich fit. Leitet den Haushalt ihres Sohnes, bekocht die Familie, geht einkaufen, betreut die Enkel und Urenkel – das hat mir der Sohn erzählt. Deswegen hätte ich bei einem Hüftersatz ein schlechtes Gefühl. Sie ist kein altes Mütterchen. Gut, irgendwie schon, aber ... Ich kann das nicht erklären, du müsstest sie dir ansehen.«

Stefan zuckte mit den Schultern. »Keine kardialen oder pulmonalen Probleme? Diabetes?«

Beatrice schüttelte den Kopf. »Nichts dergleichen. Außerdem scheint sie sehr diszipliniert zu sein. Eine von der Sorte, die ohne nachzufragen dreimal vor jeder Mahlzeit auf dem rechten Bein um den Tisch hüpft, wenn der Arzt ihr das sagt. Ich glaube, wir können es wagen, auf die Endoprothese zu verzichten. Aber dann müssen wir jetzt sofort ran, nicht erst morgen. Wie sieht es oben aus? Ist ein OP frei?«

Stefan blies den Rauch zur Decke. »In der Eins kann es noch eine Weile dauern. Aber in der Zwei haben sie gerade mit einer Appendektomie angefangen. Soweit ich weiß, ist bisher nichts weiter geplant. Du kannst also loslegen.«

»Willst du sie prämedizieren?«

Stefan nickte lächelnd. »Klar. Ich wollte schon lange mal wieder mit dir im OP arbeiten.«

Beatrice trank ihren Kaffee aus.

»Dann werde ich jetzt die Angehörigen informieren.«

Sorgfältig, mit schnellen, geübten Bewegungen nähte Beatrice die Operationswunde zu. Die OP-Schwester überprüfte bereits die Tücher und Instrumente auf ihre Vollständigkeit, die Springer-Schwester räumte Wäsche weg, Stefan begann hinter dem Vorhang mit der Ausleitung der Narkose. Die Operation war beendet. Beatrice gab die Pinzette und den Nadelhalter der Schwester und öffnete die Klammern, die die Tücher zusammenhielten, welche zum Abdecken des Operationsfeldes verwendet worden waren. Die Operation war glatt und ohne Zwischenfälle verlaufen. Die alte Frau hatte sich während der Narkose gut gehalten, die Schrauben ließen sich gut im Knochen platzieren und hatten beim Anziehen die beiden Knochenfragmente geradezu lehrbuchmäßig wieder aneinander gefügt.

Beatrice zog sich die Handschuhe aus und ließ sich eine sterile Mullkompresse und zugeschnittenes Pflaster für den Verband geben. Sie war fast traurig, dass es schon vorbei war. Sie operierte leidenschaftlich gern und mochte die Atmosphäre im OP. Das klare weiße Licht der OP-Lampen, die dennoch niemals blendeten; die Geräusche von Beatmungsgerät und EKG, deren gleichmäßiger Rhythmus sowohl beruhigte als auch anregte; der durchdringende Geruch der Desinfektionsmittel – das alles war Teil einer anderen, einer eigenen Welt, die nichts mit dem Stationsalltag gemein hatte. Hier im Operationstrakt war das Kernstück des Krankenhauses, das Allerheiligste. So sahen es zumindest diejenigen, die sich der Chirurgie verschrieben hatten. Hier galten feste Regeln, an denen jeder, vom Hilfspfleger bis zum Chefarzt, akribisch festhielt. Ein OP-Pfleger, von dem Beatrice wusste, dass er in seiner Freizeit Romane schrieb, hatte den OP einmal mit dem höchsten Tempel einer Religion verglichen. Zutritt hatten nur die Gläubigen, die bereit waren, sich den festen Ritualen zu beugen, besondere Kleidung anzulegen, Haupt und Gesicht zu verhüllen, Waschungen durchzuführen und niemals und unter gar keinen Umständen gegen die gottgegebenen Hierarchien zu verstoßen. Nur Uneingeweihte wagten eine Verletzung dieser Regeln, outeten sich damit schnell als Fremdkörper und wurden für immer aus den heiligen Hallen verstoßen. Beatrice hatte damals über diesen Vergleich gelacht. Aber manchmal gab sie dem Pfleger Recht.

Sie trat vom OP-Tisch zurück, zog den blutverschmierten Kittel aus und warf ihn in den Wäschesack.

»Gute Nacht, alle miteinander!«, rief sie den Schwestern zu. »Noch einen ruhigen Dienst.«

»Ach, sehen wir Sie heute gar nicht mehr, Frau Dr. Helmer?«, fragte die OP-Schwester.

»Das will ich doch hoffen«, erwiderte Beatrice lachend und wusste natürlich, dass sie gelogen hatte. Sie hätte jederzeit drei Stunden Arbeit im OP einer Stunde auf Station vorgezogen.

Sie ging zu dem kleinen Tisch, auf dem das Diktiergerät lag. Das Diktieren des OP-Berichts dauerte keine fünf Minuten. Es war eine der lästigen Pflichten, die jedoch unweigerlich mit der Arbeit im OP zusammenhingen. Dann kehrte sie zur Schleuse zurück. Sie hatte es nicht eilig, wieder auf die Station zu kommen. Gemächlich schlenderte sie den stillen, nur spärlich beleuchteten Gang entlang und blickte durch die Fensterfront an seiner linken Seite nach draußen. Große, schwere Tropfen hingen an den Fensterscheiben und spiegelten das Licht der Glühbirne wie kleine Kristalle. Wann mochte es geregnet haben? Um acht Uhr morgens? Zur Mittagszeit? Oder erst am Abend? Sie hatte nichts davon mitbekommen. Jetzt schien der Regen aufgehört zu haben, aber immer noch trieben dichte Wolken über den nächtlichen Himmel und ließen nur vereinzelte Sterne hindurchschimmern. Beatrice zog fröstelnd die Schultern zusammen. Ohne ersichtlichen Grund wurde ihr plötzlich kalt. Schnell berührte sie den automatischen Öffner der OP-Schleuse, und mit einem Zischen schwang die Stahltür zur Seite.

Das grelle Neonlicht im Inneren der Schleuse blendete sie, und für einen Augenblick blieb Beatrice stehen, um sich an die Helligkeit zu gewöhnen. Sie stellte die grünen OP-Clogs zu den anderen Schuhen auf das Regal, zog sich die Strümpfe, die nichts anderes waren als abgeschnittene Schläuche aus Verbandsmull, von den Füßen und warf sie gemeinsam mit OP-Haube und Mundschutz in den Abfalleimer. Als sie sich das weite blaue Hemd über den Kopf zog, fiel etwas aus der Seitentasche und schlug hart auf den gekachelten Boden auf. Beatrice zuckte zusammen und hätte beinahe vor Schreck geschrien. Auf dem Boden lag ein kleiner schimmernder blauer Gegenstand. Sie war sicher, dass er nicht ihr gehörte. Dieses Ding hatte sie noch nie zuvor gesehen. Außerdem steckte sie niemals etwas in die Taschen der OP-Kleidung. Das hatte sie sich abgewöhnt, als sie während ihres praktischen Jahrs eine wertvolle Uhr in der Kitteltasche vergessen hatte. Sie hob den kleinen Gegenstand auf und betrachtete ihn neugierig. Es war ein etwa walnussgroßer Stein, für seine Größe ungewöhnlich schwer, von einem klaren, strahlenden Blau. Eine Seite des Steins sah aus wie poliert, die andere war schroff und zerklüftet, als wäre er zerbrochen. Beatrice suchte den Boden ab. Da sie das fehlende Stück nicht fand, nahm sie an, dass der Stein nicht erst beim Aufprall auf die Fliesen beschädigt worden war. Aber wie mochte er in ihre Tasche gekommen sein? Ob die alte Frau ihr den Stein zugesteckt hatte? Beatrice hatte noch vor Beginn der OP mit Frau Alizadeh gesprochen. Natürlich konnte die alte Frau sie nicht verstehen, aber Beatrice wusste aus Erfahrung, dass allein eine freundliche Stimme, ein Lächeln und ein Händedruck vor Beginn einer Operation eine beruhigende Wirkung auf die Patienten hatte. Der Patient fühlte sich wichtig und ernst genommen, und sie als Chirurgin vergaß nie, wer unter ihrem Messer lag. Frau Alizadeh hatte da auf der Liege besonders verloren ausgesehen, während sich immer wieder neue vermummte Gestalten an ihr zu schaffen machten. Doch als Beatrice mit ihr gesprochen hatte, hatte die alte Frau gelächelt, ihren Arm gestreichelt und Worte auf Arabisch geflüstert. Beatrice hatte sie zwar nicht verstanden, doch es klang freundlich und dankbar. Während dieser paar Minuten musste Frau Alizadeh ihr den Gegenstand in die Tasche gesteckt haben. Vielleicht war es eine Art Glücksbringer? Beatrice legte den Stein in die Mitte ihrer flachen Hand und betrachtete ihn. Irgendwie kam ihr das Ganze bekannt vor. Aber woran erinnerte es sie?

Beatrice blickte erschrocken auf. Das Neonlicht hatte zu flackern begonnen. Sie war eigentlich nicht besonders ängstlich, aber um halb drei Uhr morgens allein in der finsteren Schleuse zu sein, gehörte nicht gerade zu den Dingen, die ganz oben auf ihrem Wunschzettel standen. Doch schon nach wenigen Sekunden beruhigte sich das Licht wieder. Sie atmete erleichtert auf und betrachtete erneut den Stein. Er war schön. Und wie er da so genau in der Mitte ihrer Handfläche lag, sah es aus wie ... Die Hand der Fatima! schoss es Beatrice durch den Kopf. In diesem Moment flackerte das Licht erneut. Doch diesmal beruhigte es sich nicht, sondern das Flackern wurde immer stärker und schneller, bis es schließlich einer Stroboskopleuchte glich und den ganzen Raum in ein bizarres, verzerrendes Licht tauchte. Gleichzeitig begann der Stein von innen heraus zu strahlen, als hätte eine unsichtbare Hand in seinem Inneren eine Kerze angezündet.

Erschrocken wollte Beatrice ihn fortwerfen, doch in dem Flackerlicht kamen ihr die eigenen Bewegungen wie die spastischen Zuckungen einer Irren vor, und sie tat es nicht. Stattdessen blieb sie regungslos mitten im Raum stehen, umgeben von den wilden Lichtblitzen, in der Hoffnung, dass es bald vorbei sein würde. Es wäre ihr lieber gewesen, das Licht wäre völlig erloschen. Ihr Herz begann zu pochen, das Blut rauschte in ihren Ohren, und sie spürte, wie ihr die Angst allmählich die Kehle zuschnürte. Ein Epileptiker hätte in diesem Licht keine dreißig Sekunden ausharren können. Aber selbst ein normales Gehirn musste sich irgendwann der Flut dieser starken visuellen Reize beugen und mit einem schweren Krampfanfall antworten. Sie musste hier unbedingt raus. So schnell wie möglich.

Beatrice sah sich hektisch um. Wo war der Lichtschalter? Wo war die Tür? Zu ihrem Entsetzen musste sie feststellen, dass sie jede Orientierung verloren hatte. Die Schleuse, die sie während der letzten fünf Jahre Tag für Tag aufgesucht hatte, war nicht wieder zu erkennen. Sie hatte sich in ein verwirrendes Labyrinth verwandelt. Das flackernde Licht spiegelte sich in den glatten Kacheln und verzerrte die Dimensionen des Raums, so dass die kleine, kaum acht Quadratmeter große Schleuse plötzlich die Ausmaße eines Ballsaals zu haben schien. Regale und Wäschesäcke mutierten zu grotesken Möbelstücken und Accessoires einer anderen Welt. Vielleicht hatten die Erfinder von Alien auch in so einem Licht gestanden, bevor sie das entsetzliche Monster aus dem All schufen?

Nur die Ruhe bewahren!, ermahnte sich Beatrice und kämpfte gegen die aufsteigende Übelkeit und den allmählich einsetzenden Schwindel an. Du musst bloß den Lichtschalter oder den Türöffner finden, dann kannst du diesem Spuk ein Ende bereiten.

Doch in einem düsteren Winkel ihres Gehirns malte sie sich aus, dass der Lichtschalter nicht funktionieren würde, die Tür sich nicht öffnen ließe, und erst am nächsten Morgen würde man sie finden, mit verkrampften Gliedern und Schaum vor dem Mund ...

Diese Vorstellung reichte, um Beatrice endgültig in Panik zu versetzen. Sie rannte quer durch den Raum, stieß mit dem Knie schmerzhaft gegen ein Regal, warf einen Wäschesack um, fiel hin und verhedderte sich in der OP-Wäsche, die in dem zuckenden Licht ein gespenstisches Eigenleben zu entwickeln schien. Nur mühsam unterdrückte sie einen wilden Schrei des Entsetzens und kämpfte sich aus der kalten Umarmung eines OP-Hemds frei. Auf allen vieren kroch sie voran. Die Übelkeit wurde immer schlimmer. Und zu allem Überfluss begann sich nun auch noch der Raum um sie herum zu drehen, schneller und immer schneller, bis er jegliche Kontur verloren hatte. Beatrice gab es auf weiterzukriechen. Tränen liefen ihr über die Wangen. Sie wusste nicht mehr, wo oben und unten war, sie hatte sogar die Orientierung über ihren eigenen Körper verloren. Sie ballte auf dem Boden kauernd ihre Hand um den blauen Stein zur Faust, der in diesem Wirbel aus Licht und Formen das einzige Fassbare und Ruhende zu sein schien. Beatrice sah noch, wie sich plötzlich eine Tür öffnete, eine Tür, von der sie geschworen hätte, dass sie nicht mehr existierte. Gleißendes Licht flutete über sie hinweg, und der Raum verlangsamte seine Kreisbewegungen. Noch bevor er endgültig zum Stehen kam, verlor Beatrice das Bewusstsein.

II

Das leise, unverständliche Gemurmel vieler Stimmen in weiter Ferne drang in Beatrices Bewusstsein. Sie klangen gedämpft, und für einen Augenblick fragte sie sich, ob sie sich vielleicht Watte in die Ohren gestopft hatte. Aber nein, das war unwahrscheinlich. Sie hasste das Gefühl von Fremdkörpern im Ohr und benutzte deshalb niemals Lärmstops oder ähnliche Dinge. Sie trug noch nicht einmal Ohrringe. Aber wieso hörte sie dann nicht deutlich, was um sie herum vorging? Und warum lag sie mit geschlossenen Augen auf dem Rücken? Ihr Dienst war doch noch lange nicht vorbei. Oder träumte sie vielleicht? Lag sie zu Hause in ihrem weichen Bett, und die gedämpften Geräusche waren nichts anderes als die Stimmen ihrer Nachbarn, die mal wieder eine lautstarke Auseinandersetzung mit ihrem sechzehnjährigen Sohn hatten? Dann fiel ihr endlich ein, was in der Schleuse passiert war, und allmählich gelangte sie zu der Erkenntnis, dass sie gerade aus einer Bewusstlosigkeit erwachte. Allerdings lag sie nicht mehr auf dem kalten, harten Kachelboden der Schleuse. Also mussten die Kollegen sie gefunden und woandershin gebracht haben. Aber wohin? Beatrice hatte keine Lust, die Augen zu öffnen und sich einfach umzusehen. Zu sehr genoss sie es, nach diesem langen und anstrengenden Dienst einfach nur dazuliegen und abzuwarten. Also begann sie zu raten.

Der Untergrund, auf dem sie lag, war nicht besonders weich, aber er gab nach, und bei jeder noch so kleinen Bewegung knisterte es unter ihr, als würde sie auf einem Strohsack liegen. Das war natürlich Unsinn. Wahrscheinlich handelte es sich um das Kunstleder einer Liege, das unter ihrem Gewicht ächzte und knarrte. Natürlich! Die Kollegen mussten sie auf die Aufnahmestation gebracht haben, um sie zu untersuchen.

Das führte sie zur Kernfrage: Was war mit ihr los? War sie verletzt? Hatte sie den von ihr befürchteten epileptischen Anfall erlitten, oder war sie einfach nur ohnmächtig geworden? Beatrice überprüfte ihre Körperfunktionen und war erleichtert – was auch immer mit ihr los war, sie hatte wenigstens keine Schmerzen. Und da sie Gefühl in allen Gliedern hatte und sich bewegen konnte, war es unwahrscheinlich, dass man ihr ein schmerzstillendes Medikament gegeben hatte. Allerdings spürte sie auch nicht die Manschette eines Dauerblutdruckmessgeräts um ihren Oberarm oder die Klebeelektroden von EKG und EEG auf ihrer Haut. Sie hatte, wie es schien, noch nicht einmal eine Kanüle in ihrem Arm, über die ihr eine Infusion gegeben wurde. Wieso waren die Kollegen nur so nachlässig? Oder lag sie erst seit wenigen Sekunden auf der Aufnahmestation, und hörte sie gerade die Anweisungen, die ein Kollege den Schwestern gab? Beatrice versuchte sich auf die Stimmen zu konzentrieren, um Genaueres zu erfahren, und tatsächlich wurden sie deutlicher. Verwirrt stellte sie fest, dass es sich ausnahmslos um weibliche Stimmen handelte. Das war merkwürdig, denn auf der Aufnahmestation war sie zurzeit die einzige Ärztin. Und noch etwas war seltsam. Sie konnte die Worte zwar deutlich hören, verstand aber ihren Sinn nicht.

Als Beatrice eine plausible Erklärung dafür einfiel, begann ihr Herz schneller zu schlagen, und ihr Mund wurde staubtrocken. Ob sie etwa an einer Aphasie litt, einer durch einen Schlaganfall verursachten Sprachstörung? Sie kannte sich zwar in der Neurologie nicht besonders gut aus – diesen komplizierten Bereich der Medizin überließ sie lieber den Fachkollegen – aber sie glaubte sich noch aus dem Studium daran zu erinnern, dass eine derartige Reizüberflutung, wie sie sie in der Schleuse erlebt hatte, unter Umständen zu einem Hirninfarkt führen konnte. Vielleicht lag sie sogar schon auf einer Neurologischen Station, und die weiblichen Stimmen gehörten zu Patientinnen, die mit ihr das Zimmer teilten? So sehr sie die Ungewissheit und ihr Ratespielchen eben noch genossen hatte, so sehr quälte es sie jetzt. Sie musste wissen, was mit ihr los war. Dennoch wagte Beatrice nicht, die Augen zu öffnen, da sie die Gewissheit fürchtete. Stattdessen versuchte sie sich noch mehr auf die Stimmen zu konzentrieren. Und tatsächlich merkte sie nach einigen Minuten, dass es sich offensichtlich um eine andere Sprache handelte. Dem Klang nach zu urteilen sprachen die Frauen Arabisch.

»Halleluja! Ich habe keinen Insult!«, sagte Beatrice aus vollem Herzen. Dann schlug sie die Augen auf – und war für einen Moment sprachlos.

Ein schwaches rötliches Licht schien in etwa ein halbes Dutzend Gesichter, die sich über Beatrice beugten und sie neugierig anstarrten. Es waren Frauen, daran hatte Beatrice keinen Zweifel. Aber wie sahen sie aus! Ihre Haare waren struppig und rochen, als wären sie vor langer Zeit das letzte Mal gewaschen worden. Alle hatten ein auffällig schlechtes Gebiss. Bei einigen waren die Zähne nur schief, bei anderen standen sie jedoch so weit vor, dass sie den Mund nicht mehr schließen konnten, und manche hatte gar keine Zähne mehr. Es machte den Eindruck, als hätten diese Frauen noch nie etwas von Zahnärzten und Kieferorthopäden gehört. Dabei würde in solch schweren Fällen doch sicherlich auch das Sozialamt die Behandlungskosten übernehmen. Dann fiel Beatrice eine Frau auf, die offensichtlich unter einer bakteriellen Bindehautentzündung litt. Ein Auge triefte vor Eiter, und das andere war bereits deutlich gerötet. Wenn sie nicht bald ärztliche Hilfe bekam, würde sie ohne Zweifel erblinden, und Beatrice fragte sich, warum man dieser armen Kreatur nicht einfach ein paar antibiotische Augentropfen gab. Außerdem stank es so absurd nach Schweiß, Kot und Urin, dass Beatrice glaubte sich übergeben zu müssen. Wo um alles in der Welt war sie hingeraten? Diese verwahrlosten Frauen erinnerten sie an Der Name der Rose und ähnliche Filme, die sie im Kino und Fernsehen gesehen hatte. Sie schauten aus, als wären sie geradewegs dem Mittelalter entsprungen. Aber das konnte ja wohl kaum sein. Wo also war sie? Andere Filme fielen ihr ein, Wes Cravens Haus der Vergessenen Kinder zum Beispiel. War sie vielleicht in einer Art geheimen Irrenanstalt gelandet, die einer der Professoren in den Kellerräumen des Krankenhauses zu seiner eigenen Belustigung eingerichtet hatte? Nun, auch das war natürlich Unsinn, die Ausgeburt eines ängstlichen, fantasiebegabten Hirns. Wahrscheinlich war die Lösung des Rätsels ganz einfach – sie lag zu Hause in ihrem Bett. In einigen Minuten würde ihr Wecker klingeln. Sie würde aufwachen, erleichtert sein und über sich selbst lachen. Aber gab es derart lebhafte Träume, in denen Geräusche, Farben und Gerüche so intensiv waren, als wären sie real?

Während Beatrice darüber nachdachte, unterhielten sich die Frauen leise, als wüssten sie nicht genau, was sie mit ihr anfangen sollten. Sie wirkten scheu, fast ängstlich. Nur eine von ihnen, ein etwa fünfzigjähriges Weib, das besonders schmutzig und verwahrlost aussah, schien sich nicht zu fürchten. Mit ihrer grässlichen schrillen Stimme schimpfte sie die anderen aus. Die Alte grinste hämisch und näherte sich Beatrice, so dass sie ihren feuchten, nach Fäulnis stinkenden Atem auf ihrem Gesicht spürte. Unfähig, auch nur ein Glied zu rühren, starrte sie in einer Mischung aus Ekel und Faszination auf die schwarzen, von Karies zerfressenen Zähne im Mund der Alten, von denen dieser Gestank ausging. Wie konnte ein Mensch mit solchen Stummeln kauen? Musste sie nicht elendig verhungern? Oder ernährte sich die Alte nur noch von Suppen und Brei?

Erst als das alte Weib Beatrice mit ihren schmutzigen Händen anzutatschen begann, kam wieder Leben in sie. Diese schwieligen Hände mit den schwarzen, teils abgebrochenen, teils viel zu langen Fingernägeln auf ihrem Körper zu fühlen war einfach zu viel, selbst für einen Traum.

Beatrice schrie vor Ekel und Entsetzen laut auf, fuhr hoch und erwartete, nun endlich wieder wach zu sein und in ihrem Bett zu sitzen. Aber nichts dergleichen geschah. Was für ein hartnäckiger Traum! Die Frauen, die ebenfalls vor Schreck laut kreischend zurücksprangen, als hätten sie nicht erwartet, dass Beatrice noch lebte, umringten sie immer noch. Also kroch Beatrice auf allen vieren rückwärts, bis sie etwas Hartes in ihrem Rücken spürte, an das sie sich anlehnen konnte. Es war kalt und feucht und glitschig, das spürte sie deutlich durch den Stoff ihrer Kleidung hindurch. Dennoch wagte sie es nicht, sich umzudrehen und dabei die Frauen aus den Augen zu lassen. Sie näherten sich ihr wie eine Meute hungriger Löwen einer einzelnen Gazelle. Beatrices Herz klopfte wie ein Dampfhammer. Gleich würden sie sie erreicht haben und sich auf sie stürzen. Verzweifelt tastete sie den Boden nach etwas ab, mit dem sie sich verteidigen konnte. Aber sie fand nur Stroh, Stroh und ... Beatrice weigerte sich, länger über die Herkunft jener weichen Masse nachzudenken, die ihre Finger für den Bruchteil einer Sekunde berührt hatten. Was sollte sie nur tun? Konnte man im Traum sterben? Vielleicht würde sie dann ja endlich aufwachen.

Doch in dem Augenblick, als Beatrice sich in ihr unausweichliches Schicksal ergeben wollte, erklang die laute, herrische Stimme eines Mannes. Mit der kurzen Peitsche in seiner Hand teilte er wahllos Schläge nach rechts und links aus. Heulend und kreischend sprangen die Frauen zur Seite und gaben ihm den Weg frei, bis er endlich vor Beatrice stand. Der Mann war klein und fett und trug nichts weiter als eine Art Pumphose, deren Stoff wohl irgendwann einmal, vielleicht vor Monaten, weiß gewesen sein mochte. Er hatte eine Halbglatze, einen dunklen, einigermaßen gepflegt aussehenden Vollbart und breite goldene Ohrringe an beiden Ohrläppchen. Er sah aus wie ein Sklavenhändler aus einem der Sindbad-Filme der fünfziger Jahre.

»Gut, dass Sie kommen«, sprach Beatrice ihn an und war zu diesem Zeitpunkt wirklich erleichtert. Wer konnte schon sagen, was die Frauen mit ihr angestellt hätten, wenn er nicht erschienen wäre? »Können Sie mir sagen, was hier vorgeht? Ich verstehe nämlich überhaupt nicht ...«

Ein kräftiger Tritt in die Rippen brachte sie jäh zum Schweigen und raubte ihr vor Schmerz und Überraschung den Atem. Zum ersten Mal hatte sie leise Zweifel, dass es sich um einen Traum handelte. Mit Tränen in den Augen starrte sie den Dicken an, der breitbeinig vor ihr stand, sie in einer ihr unbekannten Sprache anschrie und ihr dabei immer wieder mit seiner Peitsche drohte. Er schien etwas von ihr zu erwarten, denn von Sekunde zu Sekunde wurde er wütender. Sein fetter, vor Schweiß glänzender Bauch wabbelte, während er vor Wut auf und ab sprang und Beatrice an einen cholerischen Nachbarn in ihrem Haus erinnerte. Aber das Lachen war ihr schon längst vergangen. Sie hätte ihm gern gesagt, dass sie ihn nicht verstand und nicht wusste, was er von ihr wollte, aber sie traute sich nicht. Sie hatte die blutigen Striemen gesehen, die die Peitsche auf den Armen und Gesichtern der anderen Frauen hinterlassen hatte. Es kam ihr klüger vor, einfach zu schweigen und darauf zu warten, was als Nächstes passieren würde.

Tatsächlich musste sich Beatrice nicht lange gedulden. Schon nach wenigen Sekunden packte der Dicke sie grob am Oberarm und zerrte sie auf die Füße. Seine fleischigen Finger hatten erstaunlich viel Kraft und gruben sich schmerzhaft tief in ihre Muskeln. Nun, jetzt würde sich wenigstens die Wahrheit herausstellen. Wenn dies kein Traum war, würde sie dort spätestens morgen früh einen großen blauen Fleck haben.

Unbeholfen stolperte Beatrice hinter ihm her. Ihre Rippen und ihr Arm taten höllisch weh. Trotzdem gelang es ihr, einen kurzen Blick auf ihre Umgebung zu werfen. Sie befand sich in einem ziemlich niedrigen, höchstens zwanzig Quadratmeter großen Raum. Außer ihr waren noch etwa zwanzig andere Frauen anwesend; diese Zahl konnte sie jedoch nur schätzen, da der Raum von einer einzelnen erbärmlich rußenden Fackel bloß spärlich erleuchtet wurde. Die Mauern bestanden aus großen Steinquadern und wirkten so breit und unbezwingbar wie die Mauern einer mittelalterlichen Burg. Auf dem Boden lag eine dicke Schicht Stroh. Es war schmutzig, als wäre es seit Jahrzehnten nicht erneuert worden, und Beatrice schüttelte es bei dem Gedanken, dass sie noch vor wenigen Sekunden auf dieser schleimigen, schimmlig feuchten Masse gesessen hatte, in der sich bereits wieder neues Leben zu entwickeln schien. Am meisten überraschte sie jedoch der Anblick der etwa unterarmdicken Gitterstäbe an der Stirnseite des Raums. War sie etwa in einem Gefängnis gelandet? Warum? Was zum Teufel ging hier vor?

Der Dicke war vor dem Gitter stehen geblieben und schrie einem Mann auf der anderen Seite etwas zu. Dieser, ein dünner Kerl mit krummen Beinen und einer schmutzigen Augenklappe, zog eilig den wohl größten Schlüsselring von seinem Gürtel, den Beatrice jemals gesehen hatte, und öffnete hastig das Schloss der Gittertür. Sie quietschte in ihren Angeln, als der Dicke sie ungeduldig aufstieß und Beatrice auf einen Gang zerrte. Sie hörte, dass die Tür hinter ihr wieder abgeschlossen wurde und die anderen Frauen zum Gitter drängten, sich an den Stäben festklammerten und laut kreischten und jammerten. Beatrice konnte nur vermuten, dass sie verzweifelt um ihre Freilassung, um Wasser und Brot schrien. Was würde nun mit ihr geschehen? An eine Freilassung glaubte Beatrice nicht. Wenn es so weitergehen würde wie bisher, würde man sie wahrscheinlich direkt in die Folterkammer oder zum Henker führen. Die hoffnungslosen Schreie der anderen Frauen gellten hinter ihr her, und Beatrice hätte sich am liebsten die Ohren zugehalten, um sie nicht mehr hören zu müssen. Aber dazu kam sie nicht. Unbarmherzig schleifte der Dicke sie einen düsteren Gang entlang, ohne auch nur für den Bruchteil einer Sekunde seinen Griff zu lockern. Es ging an weiteren Zellen vorbei; noch mehr Hände reckten sich ihnen entgegen, magere schmutzige Hände, die zu ausgemergelten Männern und verwahrlosten Kindern zu gehören schienen. Ihre verzweifelten Schreie zerrissen ihr fast das Herz. So ähnlich mussten sich die Menschen im Mittelalter das Fegefeuer vorgestellt haben. Wie in Trance taumelte sie hinter dem Dicken her, bis sie schließlich in einer Kammer angelangt waren.

An einem Tisch saß ein orientalisch gekleideter Mann und schrieb. Offenbar war er ein Exzentriker, denn er benutzte weder Füller noch Kugelschreiber, sondern schrieb mit Federkiel und Tinte. Ohne sie eines Blickes zu würdigen, fuhr er in seiner Arbeit fort. Doch das war wohl normal, denn sogar der dicke Sklaventreiber sagte nichts, sondern zeigte sich erstaunlich geduldig. Endlos zogen sich die Minuten hin, in denen nur das Kratzen der Feder auf dem Papier zu hören war. Um sich die Zeit zu vertreiben, betrachtete Beatrice den Mann am Schreibtisch eingehend und bewunderte die Sicherheit, mit der er sein altertümliches Schreibwerkzeug in regelmäßigen Abständen ohne aufzusehen in das Tintenfass tauchte. Seine Erscheinung passte überhaupt nicht zu dem schlichten Holztisch, dem groben Mauerwerk und den rußenden Fackeln in der kleinen Kammer. Er schaute eher aus wie ein wohlhabender Kaufmann als ein Gefängniswärter. Er hatte dunkles, kurz geschnittenes Haar und einen dunklen, sehr gepflegten Vollbart. Seine Kleidung sah sauber und teuer aus, und Beatrice hätte wetten mögen, dass wenigstens die Weste aus schwerer Seide war. Außerdem trug er auffallend viel Schmuck – große goldene Ohrringe, gleich mehrere Halsketten und an fast jedem Finger einen mit Juwelen besetzten Ring. Dann blieb ihr Blick wie gebannt an der Feder in der Hand des Mannes haften. Ihr Herz begann schneller zu schlagen, und ihr Mund wurde trocken. Er führte die Feder von rechts nach links! Konnten Träume so detailgetreu sein? Wieder beschlichen sie Zweifel und verursachten Magendrücken. Aber was konnte das hier sonst sein, wenn nicht ein Traum? Es gab doch keine andere Möglichkeit?

Mittlerweile hatte der Mann seine Schreibarbeit beendet. Ein wenig gelangweilt sah er auf. Doch als sein Blick auf Beatrice fiel, erhellte sich seine Miene. Er sprang auf, trat auf sie zu und überschüttete dabei, unterstrichen von ausladenden Gesten, den Dicken mit einem Schwall arabischer Worte. Zu ihrer Genugtuung stellte Beatrice fest, dass die Stimme des Kaufmanns immer wütender und die des Dicken immer kleinlauter wurde. Sie verstand zwar kein Wort, aber sie hatte den Eindruck, dass ihr Sklaventreiber für ihre schlechte Behandlung zur Rechenschaft gezogen wurde. Der Kaufmann raufte sich die Haare. Dann seufzte er und blieb dicht vor Beatrice stehen. Überrascht atmete sie den schwachen Duft von Rosen ein, als er seine Hand durch ihr Haar und über ihre Wange gleiten ließ. Beatrice erschauerte, als er sie mit festem, aber nicht schmerzhaftem Griff zwang, den Mund zu öffnen, ihre Zähne betrachtete und sich dann ihren Handflächen und Fingernägeln widmete. Anschließend begann er ihren Körper abzutasten. Beatrices Herz setzte für einen Moment aus. Was wollte der Kerl von ihr? In ihrem Kopf jagten sich die Gedanken, was sie jetzt tun sollte. Beiß ihn. Schlag ihm ins Gesicht. Schrei so laut du kannst, und gib ihm einen gezielten Tritt zwischen die Beine. Aber statt sich zu wehren, ließ sie alles willenlos über sich ergehen. Sie war wie eine Fremde in ihrem eigenen Körper und nicht in der Lage, sich zu bewegen. Stattdessen fiel ihr plötzlich auf, dass sie weder OP-Kleidung noch ihre normalen Sachen trug, sondern ein knöchellanges, mittelalterlich aussehendes Kleid. Während die Hände des Kaufmanns über ihre Hüften glitten, ihren Bauch und ihren Hintern prüften, ihre Schenkel und Waden umfassten, überlegte sie, woher sie das Kleid haben mochte.

War das nicht absurd? Hier war ein ekelhafter Mann, der sie von oben bis unten angrapschte, und sie machte sich Gedanken um ein Kleid? Beatrice erinnerte sich an eine Patientin, die von zwei Männern überfallen worden war. Während sie die Platzwunden genäht hatte, hatte die Frau ihr erzählt, dass ihr in dem Augenblick, als die beiden begannen sie zusammenzuschlagen, eingefallen war, dass sie vergessen hatte, Butter zu kaufen. War das eine Art Schutzmechanismus des Gehirns? Dass man in einem Moment, in dem etwas Schreckliches geschieht, plötzlich an etwas ganz Alltägliches denken muss, um nicht verrückt zu werden? So wie sie an dieses dumme Kleid dachte, während fremde Hände an ihr herumtasteten? Dabei waren diese Berührungen nicht von Begierde geprägt, sie waren noch nicht einmal freundlich. Sie waren kühl und geschäftsmäßig, als würde er Ware prüfen wie ein Vieh- oder Stoffhändler. Und irgendwo in einem Winkel ihres Gehirns dämmerte es ihr, dass er genau das tat – er prüfte Ware. Natürlich, das war es! Dieser Mann war ein Sklavenhändler! Diese Erkenntnis traf Beatrice wie ein Keulenschlag. Von einer Sekunde zur anderen wurde ihr schlecht. Die Stimmen der beiden Männer wurden dumpf und schwarze Kreise tanzten vor ihren Augen, als ihr Blutdruck in den Keller rauschte. Dann wurde sie ohnmächtig.

Als Beatrice wieder zu sich kam, lag sie auf einem schmalen, harten Bett. Überrascht setzte sie sich auf und warf dabei das dünne Laken auf den Boden, das ihr offensichtlich als Decke gedient hatte. Zwei Dinge wurden ihr gleich auf den ersten Blick klar. Das hier war weder ihr eigenes Bett noch ihr eigenes Zimmer. Es war aber auch nicht mehr dieses finstere Verlies, in dem sie das letzte Mal zu sich gekommen war. Wo aber war sie jetzt? Das Zimmer war so klein, dass außer dem Bett, das kaum mehr als eine klapprige Holzpritsche war, keine weiteren Möbelstücke Platz hatten. Die Wände waren weiß gekalkt und schmucklos, der Boden bestand aus hellbraunen Steinfliesen, vermutlich Sandstein, die Decke war ziemlich niedrig. War sie vielleicht in einer Klosterzelle? Aber nein, dann hätte an der Wand sicherlich ein Kruzifix oder Heiligenbild gehangen. Ihr Blick wanderte zu dem kleinen Fenster, das eigentlich nur ein etwa fünfzig Zentimeter tiefer trichterförmiger Schacht knapp unterhalb der Decke war, durch den freundliches Tageslicht in das Zimmer fiel. Es war vergittert. Also befand sie sich schon wieder in einem Gefängnis, wenn es auch dieses Mal wesentlich angenehmer zu sein schien. Das Laken, das sie vom Boden aufhob, war sauber. Eine erfrischende Abwechslung nach all dem Dreck und Gestank. Oder war es doch nur wieder ein Traum? Beatrice warf einen prüfenden Blick auf ihren Oberarm. Tatsächlich hatte sie dort Hämatome, jeder einzelne Finger des fetten Sklavenaufsehers war deutlich sichtbar. Und wenn sie einen der blauen Flecke berührte, spürte sie jenen typischen Muskelschmerz, der Hämatomen eigen ist. Sie fuhr sich durch das blonde Haar. Also hatte sie das alles nicht geträumt. Schlimm genug. Aber jetzt wusste sie wenigstens Bescheid.

Beatrice stand auf und wunderte sich ein wenig darüber, wie gelassen sie diese ganze Situation hinnahm. Doch das war bisher immer ihre große Stärke gewesen, ein Wesenszug, durch den sich viele Chirurgen auszeichnen – in kritischen Momenten einen kühlen Kopf zu bewahren.

Beatrice trat ans Fenster. Da es keine Fensterscheibe hatte, konnte sie die dicken eisernen Gitterstäbe berühren, wenn sie sich auf die Zehenspitzen stellte. Sie schienen tief im Mauerwerk verankert zu sein und saßen so fest, wie es kaum fester ging. Aber das Rütteln am Gitter war ohnehin nichts anderes als ein Reflex. Das Fenster war so schmal, dass sie auf gar keinen Fall hindurchklettern konnte. Beatrice stellte sich vor, wie kalt es in der Zelle im Winter werden würde, wenn Wind und Schnee ungehindert durch das offene Fenster hereinwehen konnten. Sie ließ sich seufzend auf das schmale Bett sinken und stützte den Kopf in die Hände. Sklavenhandel. In unserer Zeit! Sie konnte es immer noch nicht fassen.

Vor einigen Jahren hatte sie in einer Zeitschrift gelesen, dass es in entlegenen Winkeln dieser Erde, vor allem im Südchinesischen Meer, immer noch Sklavenhändler gab, die regelmäßig auf Beutezüge gingen. Aber mitten in einer deutschen Großstadt? Das war doch völlig verrückt. Wie waren diese Kerle überhaupt an sie herangekommen? Hatte man ihr unbemerkt eine Droge gegeben, im Kaffee zum Beispiel? Mit einem Halluzinogen ließ sich natürlich auch ihr Erlebnis in der Schleuse viel besser erklären. Aber warum ausgerechnet sie?

Plötzlich merkte sie, dass etwas hart gegen ihren Oberschenkel schlug. Auf der Suche nach der Ursache entdeckte sie eine Tasche an ihrem Kleid, die ihr bisher nicht aufgefallen war. Sie griff hinein und zog voller Überraschung einen Stein heraus. Es war der Stein, den sie in der Schleuse zum ersten Mal in Händen gehalten und den ihr vermutlich die alte Frau kurz vor der Operation zugesteckt hatte. Sie betrachtete ihn nachdenklich. Der Stein war wunderschön. Und als sie ihn gegen das Fenster hielt, brach sich in ihm das Sonnenlicht und versprühte blaue Funken im ganzen Raum. Ob es ein Saphir war? Sicherlich war er unbezahlbar. Noch während sie sich an den Lichtreflexen erfreute, hörte sie plötzlich schwere Schritte, die vor ihrer Tür stehen blieben. Hastig steckte Beatrice den Stein wieder in die geheime Tasche. Wenn die Sklavenhändler ihn bisher nicht gefunden hatten, würde er auch jetzt dort sicher sein.

Ein schwerer Riegel wurde zurückgeschoben, und die Tür öffnete sich mit lautem Knarren. Es war jener Mann, der sie vorhin begutachtet hatte. In seiner Begleitung befand sich ein etwa zwölfjähriges mageres Mädchen, das einen großen Weidenkorb trug. Sie ächzte und stöhnte, und Beatrice verfluchte in Gedanken diesen Kerl, der das magere Ding die schwere Last alleine schleppen ließ.

Er stieß einen unfreundlich klingenden Befehl zwischen den Zähnen hervor und schubste das Mädchen so unsanft in die Zelle, dass die Kleine unter dem Gewicht des großen Korbs stolperte und fast hingefallen wäre. Beatrice konnte sie gerade noch rechtzeitig auffangen. Sie lächelte dem völlig verschüchterten Mädchen aufmunternd zu und wollte den Sklavenhändler zur Rede stellen, als er das Wort zuerst an sie richtete – auf Lateinisch! Beatrice war so überrascht, dass es ihr die Sprache verschlug und sie ihm mit offenem Mund zuhörte. Sie war froh, dass niemand mit einem Fotoapparat in der Nähe war, denn ihr Gesicht musste einen ziemlich dummen Ausdruck gehabt haben. Aber war das ein Wunder? Sie hatte noch niemals jemanden Lateinisch sprechen hören. Obwohl er langsam redete, verstand Beatrice nicht einmal die Hälfte. Mühsam kramte sie in ihrem Hirn nach den Resten ihrer humanistischen Schulbildung, die immerhin schon etliche Jahre zurücklag. Schließlich erfasste sie wenigstens den Sinn seiner Rede. Das Mädchen sollte ihr beim Umkleiden und Frisieren helfen, dann würde er wiederkommen und sie abholen. Wohin sie jedoch gehen und weshalb sie sich umziehen sollte, hatte Beatrice nicht verstanden. Aber ihren mühevollen Versuch, ihn danach zu fragen, wartete er gar nicht erst ab. Noch bevor sie ihren Satz zu Ende gebracht hatte, hatte er bereits die Tür wieder hinter sich geschlossen und war verschwunden.

»Dieser Idiot! Er hätte mich wenigstens ausreden lassen können!«, schimpfte Beatrice hinter ihm her. Dann wandte sie sich an das Mädchen, das bereits Tücher, Kämme, ein blaues Kleid, einen kleinen Flakon und sogar einen großen tönernen Krug und eine Schüssel aus dem Korb holte und sie ordentlich auf das Bett legte. »Danke, dass du mir beim Umziehen helfen willst, aber ich brauche deine Hilfe nicht. Ruhe dich so lange aus.«

Das Mädchen lächelte sie zaghaft an und schüttelte den Kopf.

»Ach natürlich, entschuldige. Du kannst mich ja nicht verstehen.« Beatrice stieß einen Seufzer aus. Wie lange hatte sie nun schon mit niemandem mehr gesprochen? Ihr kam es wie Tage vor. Sie hatte das dringende Bedürfnis, sich mit jemandem zu unterhalten. »Also gut. Was muss ich tun?«

Das Mädchen zeigte ihr mit Gesten, dass sie sich ausziehen sollte. Während Beatrice das tat, goss die Kleine geschickt Wasser aus dem Krug in die Schüssel, gab ein paar Tropfen aus dem Flakon hinzu und begann Beatrice von Kopf bis Fuß zu waschen. Dann trocknete sie sie ab, rieb sie mit einem nach Rosen duftenden Öl ein und zog ihr schließlich das Kleid an, das sie mitgebracht hatte. Es sah ebenfalls mittelalterlich aus und hatte eine folkloristische Blumenstickerei am Ausschnitt, der nicht mit Knöpfen geschlossen, sondern mit Seidenbändchen zugeschnürt wurde. Das Kleid kratzte genauso wie der Schal aus handgesponnener Wolle, den Beatrice sich einige Wochen zuvor auf einem Mittelalter-Markt gekauft hatte. Womöglich stammte das Kleid sogar vom selben Markt.

Als sie mit dem Anziehen fertig war, widmete sich das Mädchen Beatrices Haaren. Sie flocht ihr Zöpfe, die sie mit Spangen und Kämmen am Kopf feststeckte. Beatrice, die um ihre Haare kaum Aufsehen machte und meistens einen schlichten Pferdeschwanz trug, hätte zu gern einen Blick in einen Spiegel geworfen, aber leider hatte die Kleine keinen dabei. Sichtlich zufrieden betrachtete das Mädchen sein Werk und begann dann mit dem Aufräumen. Als sie jedoch Beatrices Kleid zusammenlegte, um es in den Korb zu packen, fiel der Stein aus der Tasche und auf den Boden. Sie bückte sich, um ihn aufzuheben – und wich im nächsten Augenblick mit einem Aufschrei zurück. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie abwechselnd den Stein und Beatrice an. Sie schien kaum noch atmen zu können. Doch dann sprudelten die Worte nur so aus ihr heraus, und Beatrice vermochte sie gerade noch davon abzuhalten, vor ihr auf die Knie zu fallen und ihre Füße zu küssen.

»Erzähl bitte niemandem etwas von diesem Stein«, sagte sie eindringlich, hob den Stein auf und legte einen Finger auf die Lippen. »Kein Wort, verstehst du?«

Das Mädchen nickte eifrig und legte ebenfalls einen Finger auf die Lippen. Dabei strahlte sie über das ganze Gesicht, als wäre sie soeben dem Glück ihres Lebens begegnet.

Beatrice war durch die Reaktion des Mädchens so verwirrt, dass sie fast den Sklavenhändler überhört hätte, der in diesem Moment die Tür öffnete. Er sprach sie wieder auf Lateinisch an, und soweit Beatrice ihn verstand, forderte er sie auf, mit ihm zu kommen. Sie folgte ihm widerstandslos. Was hätte sie auch tun sollen? Sie wusste noch nicht einmal, in welcher Art von Gebäude sie sich befand. Also ging sie hinter ihm her, bis sie schließlich einen kleinen Hof betraten. Dort stand etwas bereit, das wie eine Sänfte aussah. Es war ein großer, mit dichten dunklen Vorhängen verhüllter Kasten. Doch hatte er keinerlei Ähnlichkeit mit den Sänften, die sie aus Filmen kannte. Es fehlten die kunstvollen Quasten und Troddeln oder anderer Zierrat. In der Tat war dieses Ding richtig hässlich. Und auch die beiden Männer, die vorne und hinten an den Tragegriffen bereitstanden, waren nicht die gut gewachsenen dunkelhäutigen Sklaven aus den Märchen von Tausendundeine Nacht. Es waren muskelbepackte, kräftige Kerle, denen Beatrice lieber nicht im Dunkeln begegnet wäre.

Der Sklavenhändler drängte Beatrice in die Sänfte, deren Inneres bei weitem nicht so geräumig und komfortabel war, wie sie es sich immer vorgestellt hatte. Dann stieg er selbst hinein und schnalzte laut mit der Zunge. Beatrice spürte, wie die Sänfte angehoben wurde und sich die beiden Männer in Trab setzten. Wobei sie tatsächlich zu laufen schienen, denn sie wurde auf den harten, völlig verschlissenen Polstern hin und her gerüttelt und stieß mehrmals gegen den Sklavenhändler. Trotzdem versuchte sie etwas von den Geräuschen um sie herum mitzubekommen. Sie hörte zahlreiche Menschenstimmen, von denen einige wie Marktschreier klangen, die ihre Waren feilboten, das Blöken von Schafen, sogar Musikanten, die auf ihren Flöten und Trommeln orientalische Weisen spielten. Aber sie hörte nicht ein einziges Auto, nicht einmal eine Fahrradklingel.

Wahrscheinlich hatte man sie in eine Stadt irgendwo im Nahen Osten verfrachtet und trug sie nun durch die Altstadt, deren Gassen zu schmal für Autos und zu holprig für Fahrräder waren.

Nach einer Weile hielten die beiden Träger an. Beatrice war erleichtert, als der Sklavenhändler sie wieder aus der engen Sänfte zog und sie endlich ihre Glieder strecken konnte. Bevor sie sich umzuschauen vermochte, stieß er sie voran. Sie betraten ein Haus, wurden dort von einem alten hinkenden Mann, der offenbar an einer Hüftgelenksarthrose litt, durch einen kunstvoll gestalteten Innenhof geführt und in einen Raum gebracht, wo sie schon erwartet wurden.

Beatrice blieb vor Staunen fast die Luft weg. Überall lagen Orientteppiche; nicht nur auf dem Boden, zum Teil mehrere übereinander, sogar an den Wänden hingen Teppiche. Beatrice half zeitweise ihrer Tante, die eine Antiquitätenhandlung in Hamburg besaß. Sie hatte daher ein wenig Erfahrung und schätzte, dass allein die Teppiche an den Wänden etwa zwei Millionen Mark wert waren. Ansonsten war der Raum eher spärlich möbliert, ein paar niedrige Rosenholztische, auf denen Messingtabletts mit Früchten standen, sowie dicke reich bestickte Kissen, die auf niedrigen Vorsprüngen lagen und wohl als Sitzgelegenheiten dienten. Die Krönung des Ganzen, das Tüpfelchen auf dem »i« aber war der Mann, der mit untergeschlagenen Beinen auf dem höchsten Kissen saß und genüsslich aus einer winzigen Tasse einen Mokka schlürfte, dessen Duft den ganzen Raum erfüllte. Dieser Mann sah aus wie ein Sultan aus einem Märchenbuch. Er war beleibt, hatte einen sehr gepflegten graumelierten Vollbart, seidene Kleidung, bestickte arabische Pantoffeln und sogar einen Turban auf dem Kopf.

Während Beatrice ihren Blick schweifen ließ und sich an den Mustern der kostbaren Teppiche erfreute, merkte sie nicht, wie der Sklavenhändler eifrig auf den Mann einredete und dieser sie musterte. Als sie schließlich ihre Aufmerksamkeit wieder den beiden zuwandte, nickte der Hausherr zustimmend und reichte dem Sklavenhändler, der ebenfalls auf einem Kissen saß, die Hand. Dann öffnete er eine kleine Truhe, die neben ihm stand, und holte zwei lederne Beutel heraus.

Erst als der Sklavenhändler unter Verbeugungen und mit einem strahlenden Lächeln den Raum verließ, ohne Beatrice wieder mitzunehmen, begriff sie, dass sie gerade verkauft worden war.

III

Ali al-Hussein ibn Abdallah ibn Sina lag auf seinem Bett und träumte. Es war ein überaus angenehmer Traum. Er sah sich selbst als älteren Mann mit vollem, leicht ergrautem Haar und weißem Bart in einem Hörsaal in Bagdad, dem Zentrum der Gelehrsamkeit der Welt. Mehr als hundert wissbegierige Medizinstudenten saßen vor ihm, die einzig und allein seinetwegen aus allen Ländern der Welt gekommen waren. Gebannt hingen sie an seinen Lippen und saugten wie Verdurstende jedes einzelne seiner Worte in sich hinein. Es war so still im Hörsaal, dass man das Summen einer Fliege hören konnte, während er mit klarer, selbstbewusster Stimme über die Behandlung von Knochenbrüchen dozierte. Er war gerade beim interessantesten Punkt angelangt und berichtete über eine Methode, die er selbst entwickelt hatte, als das Geräusch von Schritten ihn plötzlich aufblicken ließ. Das Schlurfen der Pantoffeln auf dem glänzenden Marmorboden traf ihn in der Stille des Hörsaals wie ein Peitschenhieb. Eine Zeit lang versuchte Ali, nicht darauf zu achten, und fuhr mit seiner Vorlesung fort. Doch die Schritte wurden immer lauter und behinderten seine Konzentration, bis er verärgert seinen Vortrag abbrach. Welcher Narr wagte es, ohne seine Erlaubnis den Hörsaal zu betreten und seine Vorlesung zu stören? Angestrengt blickte er in das Halbdunkel des Saals, um den Übeltäter zu erwischen. Er konnte jedoch niemanden sehen. Umso mehr konzentrierte er sich auf das Schlurfen. Schließlich erkannte er an dessen eigenartigen Rhythmus, dass es sich um seinen Diener, den alten Selim, handeln musste, dem Allah eine krumme, bucklige Gestalt verliehen hatte. Aber wieso war Selim hier? In diesem Augenblick begann der Hörsaal vor seinen Augen zu verschwimmen. Und im gleichen Maße, wie die Gesichter der aufmerksamen Studenten ihre Konturen verloren, gewann er die Erkenntnis, dass er nur träumte und gerade aus dem Schlaf gerissen wurde. Ali blieb liegen, ohne sich zu rühren, und hoffte, dass Selim bald wieder gehen würde. Er hatte das sichere Gefühl, dass noch lange nicht die Zeit zum Aufstehen gekommen war. Wenn er die Augen jetzt aufschlug, würde er feststellen, dass es noch dunkel war und nur das silberne Licht des Mondes durch die Fensterläden schien. Wahrscheinlich wollte Selim bloß die Kleider seines Herrn ordnen, oder er hatte vergessen, die Öllampen aufzufüllen. Morgen würde er ihn dafür rügen, aber jetzt wollte er so schnell wie möglich einschlafen und seinen Traum wiederfinden.

Leider hörte das Tappen und Schlurfen auf den Marmorfliesen nicht auf, und durch die halb geschlossenen Lider sah Ali den schwachen Schein einer einzelnen Öllampe. Er seufzte und setzte sich im Bett auf, noch bevor sein alter Diener ihn erreicht hatte.