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Gute Beziehungen schenken Lebensfreude und Erfüllung. In "Die Stille spricht oder Hättest Du mal was gesagt, Du Idiot" befasst sich Rechtsanwalt Harald Roos am Beispiel tiefgehender beruflicher und privater Erfahrungen mit den großen Themen des Lebens und zeigt dem Leser zahlreiche Abkürzungen auf dem Weg zu innerer Balance, Gelassenheit, Leichtigkeit und Lebensfreude. In drei Abschnitten, Erleben - Erfahren - Erkennen, setzt sich der Strafverteidiger und Coach mit sich und seinen "drei Leben" auseinander. Im "Ersten Leben" beschreibt er seine eigenen menschlichen Prägungen durch familiäre Einflüsse und Kindheitserlebnisse. Die Erfahrung einer Leukämie-Erkrankung zu Beginn seiner beruflichen Selbständigkeit lässt ihn nach Überleben einer Knochenmarktransplantation in seinem "Zweiten Leben" die Sinnhaftigkeit klassischer Karrieremodelle hinterfragen und sich beruflich neu ausrichten. Mehrere Schicksalsschläge und unvorhergesehene Ereignisse in seinem privaten Umfeld führen schließlich jenseits der Lebensmitte vollkommen überraschend zu einem psychischen Zusammenbruch. Der ehemalige Ironman-Triathlet muss lernen, nicht alles alleine schaffen zu können und stattdessen selbst Hilfe anzunehmen. Erst als er sein Schweigen in eigener Sache bricht, kann er sich in seinem "Dritten Leben" Überlegungen zu psychologischen und philosophischen Themen wie Persönlichkeitsentwicklung, Glück und Sinn des Lebens widmen. Er reflektiert über die Bedeutung guter Beziehungen - sowohl zu sich selbst als auch zu anderen und betont die zentrale Rolle, die der Mut, das eigene Leben zu leben, in unserem Streben nach Erfüllung spielt. Dieses Buch richtet sich an alle, die sich für authentische Lebensweisheiten, persönliche Entwicklung und zwischenmenschliche Beziehungen interessieren. Besonders Menschen, die in privaten oder beruflichen Krisen stecken und nach Orientierung suchen, finden hier nicht nur wertvolle Einsichten und Anregungen, sondern mit den "8 Schlüsseln" des Schlusskapitels auch praktische Zugänge auf dem Weg zu stimmigen und tragfähigen Veränderungen.
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Seitenzahl: 314
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Meinen Großeltern Meinen Eltern Meinem Bruder Meiner Tochter
„Das Leben kann nur im Blick nach rückwärts verstanden, muss aber mit Blick nach vorwärts gelebt werden.“ (Søren Kierkegaard, 1814 – 1855, Dänemark)
Warum?
Wozu?
Das erste Leben
Der erste Satz muss sitzen
Zwei Minus
Stiller Schrei
Heimat
Dasselbe wie mein Papa
Das erste Mal
Das schleift sich ein
Hast Du dafür den Muat gebraucht?
Vier Schuss und ein Skatspiel
Verteidigung ist Kampf
We are the champions
Was, bitte schön, ist denn ein Multipli-Joint-Test?
Wes Brot ich ess’, des Lied ich sing’
Du sprichst aber gut Deutsch
Haben Sie mit meiner Mama gesprochen?
Halten Sie mir meinen besten Mann nicht so lange auf
You are an Ironman!
Wenn ein Lebensentwurf scheitert
Das zweite Leben
Schwer veränderte Blutwerte
Neue Fragen
Du musst das itzt machen
Itzt heißt jetzt
All in – alles auf Rot
Hunger auf Leben
Ein Whisky und eine Zigarre
Nur ein kleiner Anwalt vom Land
Schatzi, jetzt komme ich zu Dir
Schweigen
Heute Nacht war er wieder hier
Wie geht es Ihnen, Herr Roos?
Es tut mir leid
Na? Wie war ich?
Let’s talk about money
Das dritte Leben
Ausgebrannt – Erkenne Dich selbst
Alles ist relativ
Endlich krieg’ ich wieder einen hoch
Hättest Du mal was gesagt, Du Idiot
Alles hat zwei Seiten
Das Beste kommt zum Schluss: Die 8 Schlüssel
Epilog
Danksagung
„Nur ein Idiot muss aus eigenen Erfahrungen lernen. Ich ziehe es vor, aus den Erfahrungen anderer zu lernen, um eigene Fehler von vorneherein zu vermeiden.“ (Otto von Bismarck, 1815 – 1898, Deutschland)
Ich war ein Idiot. Ein Buch wie dieses hätte ich mir schon lange gewünscht. Es hätte meinen Blick auf mich und das Leben verändert. Damit hätte ich mir und anderen vieles ersparen können. Dabei weiß ich doch schon seit Langem, was Sterbende am Ende ihrer Tage am meisten bereuen. Ich kenne schließlich den Weltbestseller „Top Five Regrets of the Dying“ von Bronnie Ware (*1967, Australien), wonach Menschen sich kurz vor ihrem Tod in aller Regel wünschen,
den Mut gehabt zu haben, ihr eigenes Leben zu leben statt das einer/s anderen.
mehr Zeit mit den Menschen verbracht zu haben, die ihnen wichtig sind.
zu ihren Gefühlen gestanden und sie ausgedrückt zu haben.
Anderen vergeben zu haben.
sich erlaubt zu haben, glücklicher zu sein.
Seit Jahren kenne ich auch die regelmäßig veröffentlichten Ergebnisse einer Langzeitstudie der Medizinischen Fakultät der Harvard University, USA. Seit 1938 wird dort im Rahmen der „Grant Study of Adult Development“ der Frage nachgegangen, was Menschen wirklich glücklich macht. Die Angaben von inzwischen rund 2000 Studienteilnehmern über drei Generationen ergeben ein klares Bild: Es sind nicht Geld, Ruhm, Macht oder Status, die uns das Gefühl eines erfüllten und glücklichen Lebens geben. Der Schlüssel zu mehr Wohlbefinden, Gesundheit und letztlich auch einem langen Leben liegt in guten Beziehungen. Den wahren Unterschied machen also glückliche Partnerschaften, stabile Bindungen innerhalb der Familie sowie ein gutes Verhältnis zu Freunden, Kollegen und Nachbarn aus.
Was auf den ersten Blick einleuchtet und einfach aussieht, erweist sich auf dem Prüfstand der Realität jedoch leider eher als Ausnahme. Warum sonst beobachte ich um mich herum fortwährend Trennungen und Scheidungen, toxische Beziehungen, narzisstische Verhaltensweisen und Zeitgeist-Phänomene wie Mobbing, Stalking, Ghosting oder Quiet Quitting? Warum stellen Ärzte immer häufiger Diagnosen wie Burnout und Depression inzwischen sogar schon bei Kindern und Jugendlichen? Warum sehe ich zeitlebens unentwegt Menschen, die weder privat noch beruflich das Leben führen, das sie gerne führen möchten? Warum fühlen sich so viele von uns immer öfter einsam oder sind nicht die Frauen oder Männer, nicht die Partnerinnen oder Partner, nicht die Mütter oder Väter, die sie gerne wären? Warum sind wir unentwegt voller Ängste und Sorgen? Warum sind wir allenthalben hin- und hergerissen zwischen Herz und Hirn oder Wollen und Sollen? Warum begegnet uns ständig der pure Leistungsgedanke und die Vorstellung, dass Mehr immer auch Besser sei? Warum geht es in unserer Welt so oft um Haben oder Können und so selten um Sein?
Haben die Wenigen, die scheinbar mühelos durch ihr Leben segeln, einfach nur mehr Glück als andere, die trotz aller Anstrengungen ein ums andere Mal Schiffbruch erleiden? Ist das alles eine Frage des Zufalls? Oder hat es auch etwas mit Können zu tun? Inwieweit können wir Einfluss auf unser Schicksal nehmen? Können wir „Glücklich sein“ lernen oder es uns gar erarbeiten?
Als Rechtsanwalt, Strafverteidiger und Coach habe ich mich aus unterschiedlichsten Perspektiven mit tausenden Schicksalen beschäftigt. Im Ergebnis bin ich heute sicher, dass eine der größten Herausforderungen unserer Zeit darin besteht, wirklich gute Beziehungen zu führen – nicht nur zu anderen, sondern auch zu uns selbst. Solange wir mit uns selbst nicht im Reinen sind, werden wir uns auch mit unseren Mitmenschen schwertun. In einer Welt, die sich immer schneller verändert, stehen wir uns leider viel zu oft selbst im Weg oder rennen immer wieder neu in die gleichen, langen Sackgassen des Unglücks. Das Schlimme daran ist: Unbewusst sind wir immer auch noch Vorbild für andere, insbesondere für unsere Kinder. So wird der Staffelstab von Problemen nicht selten von Generation zu Generation weitergegeben.
Mir ging es nicht anders. Daher habe ich mich entschlossen, von sehr persönlichen und beruflichen Erfahrungen in meinen „Drei Leben“ zu erzählen. Überraschenderweise war es nicht die lebensbedrohliche Erkrankung in meinen Dreißigern, sondern eine schwere psychische Krise Anfang fünfzig, an der ich fast zerbrochen wäre. Körperlich wieder gesund drohte ich - jenseits jeglicher Vorstellungskraft und vollkommen unerwartet - schlagartig unterzugehen, in einer gigantischen Welle der Trauer über ungesagte Worte, verpasste Chancen und zu selten erlebtes Glück.
Ich spreche in diesem Buch nicht nur über Schicksalsschläge und unvermeidbare Prägungen, sondern immer wieder auch über vermeidbare Fehler. Während ich anderen oft helfen konnte, war mir selbst bei aller Paragraphenkenntnis lange Zeit nicht bewusst, dass wir Menschen alle nach bestimmten Prinzipien funktionieren. Im Kern sind unsere Grundbedürfnisse und Handlungsmotive einfach und überall auf der Welt gleich. Obwohl es so unendlich hilfreich wäre, lernen wir darüber aber leider nichts in der Schule, nichts an der Universität und schon gar nichts im Gerichtssaal.
Für mich war es ein langer und anstrengender Weg, die wirklich wichtigen Dinge im Leben nicht nur zu begreifen, sondern auch umsetzen zu können. Wenig überraschend sind diese „Dinge“ keine „Dinge“.
Am Ende meiner unfreiwilligen Odyssee bin ich überzeugt davon, dass es ein paar Abkürzungen auf dem Weg zu innerer Balance und einer gewissen Leichtigkeit und Lebensfreude gibt, die jeder kennen sollte. Diese möchte ich meinen Lesern zeigen.
Ich lade ein, mit mir auf eine Reise der Selbst-Erkenntnis zu gehen. Dieses Buch ist eine Liebeserklärung an das Leben und ein Weckruf an alle, die ihre Träume nicht nur träumen, sondern leben wollen. Es ist ein Plädoyer dafür, die Geschenke des Lebens zu erkennen, sie dankbar anzunehmen, in ihrer ganzen Fülle zu nutzen und dabei eigene Wege zu gehen.
„Deine Zeit ist begrenzt. Also verschwende sie nicht damit, das Leben eines anderen zu leben.“ (Steve Jobs, 1955 – 2011, USA)
„Kindern erzählt man Geschichten zum Einschlafen. Erwachsenen, damit sie aufwachen.“ (Jorge Bucay, *1949, Argentinien)
„Sie haben das Recht zu schweigen!“ Unzählige Male habe ich ihn gehört. Diesen Satz, mit dem Beschuldigte oder Angeklagte über ein fundamentales Recht belehrt werden, das für das Funktionieren eines Rechtsstaates so unverzichtbar ist.
Ich bin Strafverteidiger. Ich kenne also meine Rechte. Aber ich weiß auch, dass sich die wenigsten Gefängnistüren durch Schweigen öffnen. Reden ist manchmal die bessere Verteidigungsstrategie.
Deshalb berichte ich in diesem Buch über Prozesse. Es sind Prozesse der besonderen Art. Es geht um Erkenntnis-Prozesse. Um Bewusstwerdungs-Prozesse. Und um Entwicklungs-Prozesse.
Nichts von dem, womit ich mich hier befasse, ist neu. Die Fragen, die ich aufgreife, sind so bekannt und vielfältig wie die Antworten, die sich jeder von uns nur selbst geben kann. Ich setze lediglich uralt Hergebrachtes in den Kontext meines Lebens, meiner Erfahrungen als Strafverteidiger und unserer Zeit.
Ich lade ein, ein wenig tiefer und anders über uns selbst und andere nachzudenken. Beides liegt in unserem ureigenen Interesse. Ohne individuelle Entwicklungs-Prozesse werden wir auch unser gesellschaftliches Miteinander nie wirklich verbessern können. Nur wenn wir alle bei uns selbst anfangen und uns in der Tiefe mit uns selbst beschäftigen, werden wir nicht nur uns persönlich, sondern im Ergebnis uns allen das Leben leichter machen können. Ich bin sicher: Erst wenn wir es schaffen, uns - auf der Grundlage eines gesunden Selbst-Bewusstseins - gegenseitig als wirklich gleichberechtigte Teile einer Gemeinschaft zu begreifen und uns endlich auf unsere Gemeinsamkeiten zu konzentrieren, können wir auf Dauer nicht nur unsere individuellen, sondern auch unsere kollektiven Herausforderungen bewältigen.
Seit jeher sind nicht nur die Güter der Welt, sondern auch menschliche Begabungen und Fähigkeiten ungleich verteilt. Nach wie vor kann sich niemand aussuchen, in welches Umfeld ihn das Leben wirft oder vor welche Probleme es ihn stellt. Sei es in familiärer, sozialer, religiöser, kultureller oder politischer Hinsicht. Und dennoch: Bei allem, was uns unterscheidet und trennt – uns alle verbindet mehr, als wir meist sehen oder wahrhaben wollen.
Wenn wir Veränderungen angehen wollen, fehlt uns bisweilen nur ein kleiner Impuls und etwas Orientierungshilfe zur rechten Zeit. Auch wenn wir nicht warten sollten, bis andere etwas für uns tun, hilft es manchmal, wenn jemand vorangeht und uns zeigt, welche Wege er genommen hat. Deshalb erzähle ich meine Geschichte(n) und teile meine Gedanken dazu.
Soweit ich hier nicht über mich persönlich, sondern über Dritte spreche, gab und gibt es keine dieser Personen exakt so wirklich. Viele der von mir beschriebenen Ereignisse haben sich etwas anders zugetragen, als ich sie
schildere. Dennoch ist alles wahr. Zum Schutz der Persönlichkeitsrechte habe ich allerdings vielfach entfremdet, verdichtet oder in neue Zusammenhänge gesetzt.
Im Strafverfahren hat jeder Angeklagte am Ende einer Verhandlung das sogenannte „Letzte Wort“. Gäbe es den Tatvorwurf „Fahrlässige Verschwendung von Lebenszeit“ säße ich ganz sicher nicht allein auf einer imaginären Anklagebank des Lebens. Zum Schluss meines eigenen Prozesses würde ich sagen:
„Ich wünschte, ich könnte noch einmal mit ihnen sprechen. Mit dem Jungen und dem Mann, der ich einmal war. Auch mit so vielen anderen, die einmal in meinem Leben waren. So vieles würde ich gerne noch fragen, sagen, zuflüstern, manches zurufen. Das Bedürfnis, gelegentlich auch Ohrfeigen zu verteilen, ist der bitteren Erkenntnis gewichen, dass alle ihr Bestes gegeben haben. Was für einen Sinn sollten Schläge noch haben? Kein einziger davon könnte ungeschehen machen, aufwecken oder etwas ersparen. Und so möchte ich nur noch in den Arm nehmen, halten, streicheln, in Dankbarkeit küssen und vergeben, während ich an Gräbern stehe oder in anderer Weise trauere über das, was nicht mehr ist oder nicht hat sein sollen.
Ich würde so gerne auch noch einmal zuhören. Meine Themen wären immer die gleichen. Sie greifen alle ineinander. Es geht um Hoffnungen und Träume, um Verantwortung und Chancen, um Gefangenschaft und Freiheit. Und vor allem: um das Leben und die Liebe.
Wir bezahlen alle einen Preis für unser Unwissen. Für unsere Unfähigkeit zu reden und für unser Schweigen. Fehlender Mut, falsch verstandene Rücksichtnahme und mangelndes Vertrauen können uns teuer zu stehen kommen. Bezahlt wird in den härtesten Währungen von allen: mit verpasstem Leben, nicht gelebten Lieben, verlorenem innerem Frieden, ungenutzter Zeit.
Dabei ist der Blick in die Vergangenheit nur sinnvoll, wenn er etwas bewirkt in der Zukunft. Ich bin sicher: wenn unsere Zukunft besser werden soll, müssen wir anfangen, unsere Geschichte(n) zu erzählen.“
„Es gibt keine größere Qual, als eine unerzählte Geschichte in Dir herumzutragen.“ (Maya Angelou, 1928 – 2014, USA)
Erleben
Die für mich wichtigste Lektion im Umgang mit Worten erhalte ich in der 5. oder 6. Klasse, gewissermaßen im Privatunterricht. Meinem „Lehrer“ wird sie kaum in Erinnerung, geschweige denn in ihrer Bedeutung für mich bewusst sein. Wie auch? Die Worte stammen von meinem Bruder. Er ist zweieinhalb Jahre älter als ich, drei Klassen über mir. Der Satz fällt – eher nebenbei – in einem Gespräch darüber, was er gerade im Deutschunterricht über das Schreiben von Aufsätzen lernt. Ohne ihn würde ich heute nicht mehr leben. Ich meine den Bruder, nicht den Satz. Mehr dazu an späterer Stelle.
Was andere Menschen sagen und tun kann große Auswirkungen auf unser Leben haben. Genauso wie das, was wir selbst sagen und tun weitreichende Folgen für andere Menschen haben kann. Meistens sind wir uns dessen nicht bewusst. Manchmal dürfte das gut sein, oftmals nicht. Wir sind also unentwegt gleichzeitig Lernende und Lehrer. Daher sollten wir darauf achten, wie andere mit uns und wie wir mit anderen sprechen.
„Der erste Satz muss sitzen“ – die Formulierung ist in meinem inneren Wörterbuch gewissermaßen mit Textmarker unterlegt. Sie entspricht der eigenwilligen Art, in der mein Gehirn funktioniert. Es geht fast immer nur um einzelne Sätze, aus denen sich alles Weitere recht assoziativ entwickelt. Ein ganzes Gedicht? Keine Chance. Ein einzelner Satz? Immer und immer wieder. Das zieht sich durch mein Leben wie ein roter Faden. Es wird sich auch durch dieses Buch ziehen. Nicht alle Sätze sind im Original von mir. Aber manche sind schlicht zu gut, zu kostbar, als dass ich sie dem Vergessen anheimfallen lassen möchte. Worte können unendlich wertvoll sein, auch wenn die Menschen von denen sie stammen, sie nicht, oder nicht mehr, selbst sagen können oder wollen.
Vor rund 20 Jahren haben mich mein Bruder und in gewisser Weise auch das Schreiben im Leben gehalten. Schon damals wurde die Idee an ein Buch an mich herangetragen. Sie hatte keinerlei Chance auf Verwirklichung. Zu fett hatte ich seinerzeit noch die Bewertung eines „richtigen“ Lehrers aus längst vergangenen Schulzeiten vor meinem inneren Auge: „Zwei Minus.“
Nicht immer hatte ich das Glück, auf gute Lehrer zu treffen. Lehrer im Sinne von Menschen, die mich dazu gebracht haben, mir selbst zu vertrauen und meinen eigenen Weg zu gehen. Menschen, die sich nicht dadurch groß gefühlt haben, dass sie andere klein machen. Menschen, die nicht unterrichtet und bewertet, sondern inspiriert und motiviert haben. Das ist es, was gute Lehrer tun. Egal wann und wie sie sich uns zeigen. Leider verstehen wir oft erst sehr viel später, was uns von ihnen geschenkt wurde.
Auch wenn mich andere Worte tiefer geprägt haben, waren die meines Bruders die lehrreichsten für mich.
„Ein Lehrer arbeitet für die Ewigkeit. Niemand kann sagen, wo sein Einfluss endet.“ (Henry Adams, 1838 – 1918, USA)
Lehrer und Pfarrer gelten in meiner Kindheit und Jugend noch als Respektspersonen. Ihr Wort hat in den 70er/80er-Jahren Gewicht, auch wenn die Befugnis zum Unterrichten oder Predigen noch lange nicht zu einem guten Menschen oder gar Vorbild macht.
Er unterrichtet Deutsch und Religion. Nahezu allsonntäglich ist seine markant tiefe, etwas knorrige Stimme im Rahmen der Lesung in der katholischen Abendmesse zu hören. Sie trägt Sätze aus der Bibel vor, wie „Am Anfang war das Wort.“ (Johannes 1,1). Oft ist die Rede von Nächstenliebe. Die Art, in der er sie lebt, trägt bisweilen seltsame Züge. Wort und Tat fallen manchmal auseinander.
Gut 40 Jahre später klingt mir seine Stimme immer noch im Ohr, insbesondere in zwei konkreten Sätzen: „Bilden Sie sich nichts darauf ein“ bekomme ich regelmäßig bei der Rückgabe der Klassenarbeiten von ihm zu hören, meistens ergänzt noch um „Sie wissen ja: unter den Blinden ist der Einäugige König.“
„Gut“ (2), in aller Regel versehen mit einem Minus (–), lese ich dann regelmäßig unter dem, was ich zu Papier gebracht habe. Es mag in anderen Klassen Schüler/Innen gegeben haben, deren Aufsätze von ihm besser bewertet wurden. Ich kenne keine/n. Ich weiß auch nicht, was er zu denen gesagt hat, die keine Zwei Minus bekamen. Aber ich weiß, dass ich nicht der Einzige war, dem er die Freude an den von ihm unterrichteten Fächern genommen hat.
Wenn ich nicht in der Schule bin, spiele ich meistens Fußball. Im Training erzählt ein Mitspieler einmal, dass sein Deutschlehrer immer so ein seltsames, ziemlich dickes, orangefarbenes Schulheft bei sich habe. Darin blättere er ständig herum. Vereinzelt lese er auch daraus vor. Aha . . . Mein ambitionierter Kick-Kollege ist ein Jahr jünger als ich, eine Klasse unter mir, an der gleichen Schule. Seinen Lehrer hatte ich im Jahr zuvor auch. Ihm waren meine Aufsätze in aller Regel ein „sehr gut“ wert. Am Ende des Schuljahres hatte er mich gefragt, ob er mein Heft haben könne. Er wolle etwas nachschauen. Ich gab es ihm, natürlich. Es war ziemlich dick, orange. Ich bekam es nie wieder zurück.
Auch wenn meine in Schriftform niedergelegten Gedanken von anderer Seite sowohl vor als auch nach dem so religiös verwurzelten Vorleser meist bessere Bewertungen als „Zwei Minus“ gefunden haben, komme ich in meiner eigenen, inneren Notenskala bis heute nicht wirklich darüber hinaus. Ich sehe mich halt als eine „Zwei Minus“. Nichts Besonderes. Knapp über „befriedigend“, allenfalls gerade mal ein knappes „Gut“.
Und so muss viel, sehr viel passieren, bevor ich mich darauf einlassen kann, meine Erfahrungen und Gedanken tatsächlich aufzuschreiben und mit anderen zu teilen. Worte in eigener Sache zu finden ist mir nicht in die Wiege gelegt.
„Ein Wort ist rasch gesagt, bleibt aber lange im Gedächtnis.“ (chinesisches Sprichwort)
Ich bin wohl so etwa vier oder fünf Jahre alt, als ich ihn zum ersten Mal habe. Diesen Traum, der mich über so viele Jahre immer wieder heimsuchen, meine Nächte jäh unterbrechen und mich aus dem Schlaf reißen wird.
Er ereilt mich in meinem Bett. Von außen dürfte es nach einem friedlichen Schlaf aussehen. Urplötzlich steht ein riesiger Elefant in dem Kinderzimmer, das mein älterer Bruder und ich zu dieser Zeit noch teilen. Das gewaltige Tier kommt auf mich zu. Es umschlingt mich mit einem sanften, weichen Rüssel ganz fest, hebt mich aus meinem Bett und trägt mich von allen unbemerkt davon. Schließlich hebt es mich uneeeendlich hoch in die Luft, bevor es mich irgendwo im Nirgendwo einfach fallen lässt.
Während der ganzen Zeit versuche ich verzweifelt, auf mich aufmerksam zu machen. Aber niemand bemerkt mich. Niemand schaut nach mir, sieht mein Winken, sieht mein Strampeln. Mich kann auch niemand hören. Mir versagt die Stimme. Mir stockt der Atem. Ich versuche verzweifelt Luft zu holen, um zu schreien, aber ohne Luft in den Lungen kommt einfach kein Ton.
Und so falle ich. Hilflos. Machtlos. Tiefer. Immer tiefer. Mir ist klar: wenn ich auf dem Boden aufschlage, bin ich tot. Einen Fall aus dieser Höhe kann niemand überleben. Der Fall ist schier endlos. Ich habe furchtbare Angst vor dem Aufprall. Ich wache auf. Mein Herz schlägt wie wild. Es dauert einen Moment, bevor ich realisiere, dass es wieder nur dieser Traum war und ich sicher in meinem Bett liege, mein großer Bruder im gleichen Raum, meine Eltern noch im Wohnzimmer, nicht mehr als einen Meter entfernt von mir, aber durch eine Wand getrennt.
„Alles ist gut.“ sage ich mir. Und weiß doch, dass es nicht so ist. Nicht viel ist wirklich gut in dieser Welt, in der ich mich befinde. Es ist aber so gut, wie es sein kann. Alle bemühen sich vor allem um eines: um Sicherheit. Natürlich. Was sonst? Zu sehr stehen sie auch drei Jahrzehnte danach noch unter dem Eindruck eines Krieges, der die unmenschlichen Seiten des Menschseins vor Augen geführt und gezeigt hat, wie schnell nur noch Erinnerungen bleiben. Erinnerungen an die, die einmal waren und das, was nicht mehr ist. Tod, Verlust, Trennung, Vertreibung und Flucht sind allgegenwärtig in den Erzählungen derer, die noch Worte finden.
Andere Worte, Worte, die Nähe herstellen, Geborgenheit geben, finden die, die mir am nächsten stehen, oft nicht. Wie auch? Sie sind ohne Worte groß geworden. Die, von denen sie sie hätten lernen können, sind gefallen oder verstummt, jedenfalls, soweit es um mehr als Alltägliches geht. Was Gefühle betrifft, herrscht Schweigen. Um mich herum und in mir. Wer in einer stummen Gesellschaft und Familie groß wird, tut sich schwer mit Reden.
Ich wachse in einem gut-, aber kleinbürgerlichen Umfeld auf. Die Kleinstadt hat mit Umlandgemeinden rund 20.000 Einwohner, drei Gymnasien. Meine Mutter ist seit der Geburt meines Bruders und mir nicht mehr berufstätig, sondern kümmert sich um uns Kinder, während mein Vater als technischer Angestellter in einem Automobilzuliefererbetrieb arbeitet. Er tut nicht, was er liebt, sondern das, was nötig ist, um das Geld für den Lebensunterhalt seiner Familie zu verdienen, um Haus, Auto und die Campingurlaube zu ermöglichen. Um die drei Wochen im Sommer, meist an irgendeinem Wasser, wechselweise in Frankreich, Italien, Österreich und Deutschland, später ganz exotisch sogar am Plattensee in Ungarn, dreht sich in gewisser Weise alles. Wir können in den Urlaub fahren. Uns geht es gut.
Es ist ein Leben von Wochenende zu Wochenende, von Ferien zu Ferien. Dazwischen klar strukturiert über den schulischen, in der Freizeit sportlichen Rhythmus und all das, was eben so getan werden muss oder ansteht, wie die obligatorischen Besuche bei der Verwandtschaft. Besuche, bei denen die Kinder versuchen miteinander zu spielen, während sich die Erwachsenen über Belangloses von heute unterhalten, oder von früher erzählen, ohne zu sprechen über das, was wirklich war, über all das, was zu viel war, nicht nur für ihre Augen, sondern vor allem für ihre Seelen und sich dementsprechend auch vor ihren Worten versteckt.
Zu Hause ist das Wohnzimmer das Zentrum der kleinen Welt. Die wuchtige Möbelserie mit Sessel, Zwei- und Dreisitzer-Sofa ist ausgerichtet auf das scheinbar wichtigste Haushaltsgerät dieser Zeit schlechthin: den Fernseher. Der Tag, an dem der alte schwarz-weiß-Empfänger abgeholt und stattdessen ein Farbfernseher mit Fernbedienung (Marke Grundig – nach Auskunft des Verkäufers halten die am längsten und ausländische, gar asiatische Hersteller gibt es noch nicht) geliefert wird, ist einer der gefühlten Höhepunkte der Familiengeschichte. Vorbei die Zeiten, in denen es beim Umschalten heißt: „Harald, steh mal auf und drück auf den Knopf“.
Dabei kommt diese Bitte nur selten. Es gibt schließlich mit ARD, ZDF und dem Dritten (Regionalfernsehen) nur drei Sender. Das Programm beginnt jeweils erst um 17:00 Uhr, im ZDF meistens mit einer Kinderserie, die ich gerne schauen würde. Genau zu dieser Zeit kommt aber Papa von der Arbeit. Also sitzen wir dann alle in der Küche beim gemeinsamen Abendessen am von Mama bereits gedeckten Tisch. Gesprochen wird über das, was vorgefallen ist, nicht über das, was uns bewegt hat. Danach verlagert sich der Lebensmittelpunkt allabendlich ins Wohnzimmer vor dieses Gerät, diesen Flimmerkasten. Dienstags gibt’s um 19.30 Uhr einen Film. Donnerstags dann wechselweise „Dalli Dalli“ oder „Der große Preis“, freitags „Der Alte“, „Derrick“ oder „Aktenzeichen xy“, samstags „Am laufenden Band“. Mit Hans Rosenthal, Wim Thoelke, Rudi Carrell und Hans-Joachim Kulenkampff bemühen sich die Protagonisten der Bildschirme um Unterhaltung. Sie verstellen bei astronomischen Einschaltquoten in vielen Familien den Blick auf das, was deren Mitglieder wirklich bräuchten. Gelegentlich übernachte ich bei meinem besten Freund. Ich weiß, dass es dort nicht viel anders aussieht. Und so lernt eine ganze Generation zuzusehen und zu schweigen, statt zuzuhören und zu sprechen.
Das scheint so normal in meiner Welt wie alles andere. Ich spiele Fußball, wie fast alle Jungs um mich herum, dienstags und donnerstags wird trainiert, samstags nachmittags ein Spiel, abends wird gebadet, sonntags gibt es Kuchen. Diesen backt Mama selbstverständlich selbst und befindet sich dabei fortdauernd in einem – natürlich unausgesprochenen – imaginären Wettbewerb mit anderen Frauen um die Position der besten Hausfrau und Köchin. Als Preis könnte eine selbst gestickte Kittelschürze (Motiv: goldener Käseigel) überreicht werden. Und mit ein wenig mehr Amaretto-Likör käme vielleicht auch der Mut für etwas mehr als das altbekannte „Das wäre doch nicht nötig gewesen“.
Lob annehmen und vor anderen etwas zu sagen, fällt schwer in Zeiten, die vielfach noch vom althergebrachten Bild der Hausfrauen-Ehe geprägt sind und in denen Frauen fernab der Großstadt meinen, ihre Erfüllung in „Heim und Herd“ suchen zu müssen.
„Sind wir hier in einen Hotel?“. Mit großen Augen wendet sich einmal ein Fünfjähriger, der den Unterschied zwischen Dativ und Akkusativ noch nicht kennt, an seine Mutter, als meine von ihm wissen möchte, ob er zum Essen „Pom Fritz“ haben möchte. Er ist mit seinem Bruder und seinen Eltern bei uns zu Besuch.
„Ja, wir sind im Hotel. Familie Roos. Die Inhaberin ist meine Mama.“ möchte ich ihm zurufen. Dabei weiß ich, dass er mit seiner Frage der Gastgeberin das Leben gerade ein wenig schöner und den Besuch etwas leichter gemacht hat. Für mich ist es normal, dass meine Mama gut kochen und backen kann. Rinderbraten, Rahmschnitzel und eingelegte Schweinefilets mit Pommes sind für mich genauso selbstverständlich auf dem Teller zu Hause, wie alle möglichen Varianten von Obsttorten und -kuchen oder sonstigen Leckereien, die andere eher aus Restaurant oder Konditorei kennen.
Ich bin ein paar Jahre älter als der unbewusst so charmante Dreikäsehoch. Gleichwohl sind solche Besuche für mich immer mit etwas zwiespältigen Gefühlen verbunden. Seine Eltern sind – anders als meine – beide Akademiker; sein Vater hat sogar promoviert. Seine gesamte Familie bewegt sich wie selbstverständlich in Welten, die mir ziemlich fremd sind. Und so prallen an unserem Esstisch in der kleinstädtischen, fast dörflichen Provinz zwei Welten aufeinander. Hier trifft Opel auf BMW, Wohnwagen auf Hotel, Fußball und Fernseher auf Tennis und Tanz. Und am schlimmsten: hier trifft Dialekt auf Hochdeutsch, Schweigen auf Sprechen.
Letzteres scheint einen großen Unterschied zu machen. Wer sich permanent mit anderen Menschen umgibt, sich mit ihnen austauscht, scheint auch anders zu denken. Möglicherweise ist das der Grund, weshalb die einen starr in Klein-Klein-Kategorien von
„Das tut man nicht!“ „Das geht doch nicht!“ „Was sollen die Leute denken?“
verharren, während andere mit deutlich offeneren Ansätzen des
„Wie kann es gehen?“ „Wen kann ich fragen?“ „Wer kann mir helfen?“
in ständiger Bewegung sind?
Meine Eltern sind liebe Menschen. Sie tun alles, was sie können. Nicht nur für meinen Bruder und mich, sondern auch für viele andere, die ihre Unterstützung immer wieder gerne annehmen. Es entspricht der Tragik großer Teile ihrer Generation, dass sie unbewusst und unerkannt schwer traumatisiert sind. Traumatisiert nicht nur durch die Verluste der Vergangenheit, sondern auch die Schuld, die die Generation ihrer Eltern und Großeltern vielfach unfreiwillig auf sich geladen hat. Traumatisiert durch den Kampf um das pure Überleben im Außen ohne jeglichen Blick für die Verletzungen im Innen.
Von meinen Träumen habe ich meinen Eltern nie etwas erzählt. Weder von dem mit dem Elefanten noch von anderen, die ich einmal hatte. Ich hatte sie in mir verschlossen. Gelebt habe ich nichts Anderes als das, was ich erlebt habe. Vielleicht war es tatsächlich ein wenig wie in einem Hotel? Der Betrieb lief, aber die Gäste wussten nichts von den Betreibern. Und die Betreiber nahmen sich fortwährend selbst zurück, um sich um Haus und Gäste kümmern zu können.
Vielleicht war das gut so? Wer weiß, was passiert wäre, wenn meine Eltern Fragen gestellt und Antworten bekommen hätten? Vielleicht hätte das der Familie, die ich kannte, nicht gutgetan? Möglicherweise war es auch gut für mich, dass vieles nicht zur Sprache kam? Bot mir dieser Mantel des Schweigens in Wahrheit Schutz und Sicherheit?
Über das, was er im Krieg erlebt oder getan hat, hat er nie gesprochen. Er hat immer nur gesagt, dass er nie geschossen habe. Berichtet hat er nur von der Zeit in der Gefangenschaft nach Kriegsende, irgendwo bei Wien.
Für mich war er das Herz unserer Familie. Mein Opa. Wenn er seine Familie und uns Enkelkinder um sich hatte, war er glücklich. Dann hatte er immer sein „seliges Lächeln“ im Gesicht, wie sein Sohn, mein Vater dann meist bemerkte. Opa hat das nie gestört. Im Gegenteil: er sagte dann regelmäßig: „Ich brauche keine Schlösser und keine Perser. Ich habe vier Enkelkinder.“
Mit „Perser“ meinte er teure Teppiche. Er sprach in einer eigenwilligen Mixtur aus den Dialekten seiner Banater-Heimat („schwowisch“) und dem seiner Umgebung der Nachkriegsjahre („saarländisch“). Seine Sprechweise hatte eine Besonderheit. Die meisten „K“ klangen bei ihm wie ein „G“. Ihm war wahrscheinlich überhaupt nicht bewusst, dass ich mich immer als „Engelkind“ gefühlt habe. Der Opa, den ich erleben durfte, war ein Mann, der auf dem Boden der Tatsachen stand. Ich habe ihn immer beneidet um den klaren inneren Kompass, den er hatte. Er wusste, was ihm wichtig war im Leben. Es hatte ihm Lektionen erteilt. Er hatte sie gelernt.
Meine Großeltern sind beide kurz nach Ende des Ersten Weltkrieges als Nachfahren der „Banater Schwaben“ im heutigen Rumänien geboren. Als Erben fleißiger Vorfahren sind sie längst keine einfachen Bauern mehr. Der Begriff „Großgrundbesitzer“ dürfte eher zutreffend sein. Seit 1927 befindet sich neben 20 Pferden schon ein Auto im Besitz der Familie, deren mehr als 82 ha Fläche (etwa 117 Fußballfelder) von einer ganzen Reihe von „Knechten“ bewirtschaftet werden. In den Begrifflichkeiten der modernen Welt würde man die zahlreichen Hilfskräfte wohl eher als „Angestellte“ bezeichnen, auch wenn sie allesamt mit ihren Familien auf dem Anwesen meiner Großeltern leben.
Sie heiraten, als sie beide gerade einmal 19 Jahre alt sind. 10 Monate danach – der Russland-Feldzug im Zweiten Weltkrieg hat gerade begonnen – kommt mein Vater zur Welt. Opa berichtet, dass seine Schwiegermutter ihn ein paar Wochen nach der Geburt energisch dazu anhalten muss, wieder zu arbeiten und nicht nur mit seinem Kind zu spielen. Nach der Heirat hat er als einziger Sohn die Verantwortung für den elterlichen Betrieb übernommen. Es entspricht den Gepflogenheiten der Zeit, dass er damit auch die Ländereien seiner Frau und seiner Schwiegermutter übernimmt. Die Rollen zwischen Männern und Frauen sind klar verteilt. Und der Lebensentwurf von beiden ist einfach: Arbeiten, Kinder bekommen, sie großziehen und sich mit Mitte 40 auf das Altenteil zurückziehen, um hier und da ein wenig nach dem Rechten zu sehen und ansonsten mit den Enkelkindern zu spielen. So läuft es seit Generationen. So könnte es weiterlaufen. Der Zweite Weltkrieg verändert alles.
1943 lässt sich trotz allen Geldes und weiterer Bestechungsversuche nicht mehr verhindern, dass auch Opa an die Front muss. Nach einem Abkommen zwischen der deutschen und der rumänischen Regierung werden alle im Banat lebenden „Volksdeutschen“ aufseiten der Wehrmacht zum Kriegsdienst eingezogen, ohne Ausnahme bei der Waffen-SS. Es ist der zweite heftige Einschlag im Leben des jungen Paares. Im selben Jahr haben sie bereits ein Kind zu Grabe getragen. Nach nur ein paar wenigen Tagen war ihr zweites Baby, ein Mädchen, an den Folgen einer Geburtskomplikation gestorben. Oma ist wieder schwanger, als die gesamte Gemeinde ihren geliebten Ehemann zusammen mit den anderen Männern des Dorfes am Bahnhof in den Krieg verabschiedet. Im März 1944 kommt Opa im Rahmen eines zweiwöchigen Heimaturlaubes anlässlich der Geburt seines zweiten Sohnes noch einmal in das Land seiner Kindheit und Jugend zurück. Beim tränenreichen Abschied ahnt noch niemand, dass er nie wieder in die Heimat zurückkehren wird. Seine Frau und seine beiden Söhne wird er nach Kriegsgefangenschaft und immer wieder verweigerten Reisegenehmigungen erst siebeneinhalb Jahre später wiedersehen, an einem Heiligabend am Bahnhof in Freiburg, vor einem Landesaufnahmelager für Heimatvertriebene. Er ist zu dieser Zeit 30, sein ältester Sohn, mein Vater, 10 Jahre alt.
Der Anfang in dem Land der Urahnen fällt schwer. Aufgrund ihrer Sprachfärbung fallen sie überall als Flüchtlinge auf. In der Zeit des Wiederaufbaus ist nicht nur Wohnraum knapp. Die Familie ist froh, überhaupt eine Unterkunft zu haben, ein einziges Zimmer nur, aber immerhin ein Dach über dem Kopf. Trotz oder vielleicht auch wegen der beengten Verhältnisse haben die männlichen Mitglieder der Familie Schwierigkeiten, emotionale Nähe aufzubauen. In die Rolle des Vaters ist Opa nicht hineingewachsen. Es fällt ihm schwer, sie auszufüllen. Eine Arbeitsstelle in einer Metallschleiferei sichert das tägliche Brot. Was seine Kinder so vermissen, kann er ihnen nicht geben. Seine Söhne sind weder Armut noch die Rolle der sozialen Außenseiter gewohnt. Jeder kämpft auf seine Weise dagegen an, während alle versuchen, sich mit der Situation zu arrangieren. Das Spannungsfeld wird die weiteren Lebenswege bestimmen. Sie bleiben eng verbunden, gestalten sich jedoch sehr unterschiedlich.
Für mich sind diese Großeltern ein Geschenk. Sie sind auch die Einzigen, die ich habe. Als ich geboren werde, leben die Eltern meiner Mutter schon lange nicht mehr. Es mag das Privileg des Generationensprungs und die weitgehende Freiheit von jeglichem Erziehungsauftrag sein, die es Oma und Opa ermöglichen, mich das Gefühl bedingungsloser Liebe erleben zu lassen.
Gerade Opa ist nichts zu viel. Er hat eine Glatze. Dennoch lässt er sich von uns an der Badewanne die wildesten Kombinationen von Wasch- und Putzmitteln auf den Kopf schütten, während wir Kinder versuchen, ein Haarwuchsmittel zu erfinden. „Wenn Ihr etwas findet, werden wir alle reich.“ motiviert er uns lachend.
Anlässlich einer Fußball-WM steht er mit seinen Enkeln im Garten stramm, während er die Nationalhymne singt, bevor mit ernsten Mienen die Wimpel beider Mannschaften ausgetauscht werden. Dafür wurden vorher eigens die größten Blätter vom Baum daneben gerissen. Beide Mannschaften spielen auf ein Tor. Als Torpfosten dienen zwei prachtvolle Rosensträucher. Nach dem Spiel sind es nur noch Sträucher. Wenn wir zu Besuch sind, gehen wir immer reiten. Unser Pferd ist die Rückenlehne eines Ledersessels. Die ist recht schnell durchgeritten. Also bekommt der Sessel seinen Platz am anderen Ende des Wohnzimmers. Dort, wo unser Pferd nun steht, fällt der Schaden Besuchern nicht mehr ins Auge. Oma findet das manchmal nicht ganz so lustig, weiß aber, wie sehr Opa dieses Toben mit seinen Buben genießt und lässt ihm seinen Spaß. Die Blumen wachsen nach und der Sessel . . . Na ja, den sieht doch keiner . . .
Oft erzählen sie uns Enkeln von früher, aus der Heimat. Ich bin etwa Mitte 20 als deutlich wird, wie wenig ich so viele dieser Geschichten einordnen kann. Mir fehlt jeglicher Rahmen dafür. Ich war noch nie in diesem Land, von dem sie erzählen, habe keine Vorstellung von den örtlichen Gegebenheiten, kenne die Verwandten nicht, von denen die Rede ist. Einen wesentlichen Teil meiner Familiengeschichte verstehe ich einfach nicht. Und so taucht eines Tages der Gedanke auf: „Könnt Ihr das vielleicht einmal aufschreiben?“
Während Oma die Idee aufnimmt, tut Opa sich schwer. Schreiben können beide. Sie haben einander Briefe geschrieben. Fast täglich, in den langen Jahren der Trennung während des Krieges und danach. So haben sie die Verbindung zueinander gehalten. Sie hat ihm in der Zeit der Gefangenschaft und des Hungers die Motivation geschickt, durchzuhalten. Er ihr danach die Kraft, mit den beiden Buben die Heimat zu verlassen und einen Neuanfang in Deutschland zu wagen.
Was ich mit meiner Frage auslöse, ist mir nicht bewusst. Es ist eine Sache, Geschichten zu erzählen, eine ganz andere, sie aufzuschreiben. Wer schreibt, setzt sich ungleich intensiver mit einem Thema auseinander, als wenn er nur davon erzählt. Ihm ist auch bewusst, dass er sich in gewisser Weise auch in die Hand seines Lesers begibt und dessen Urteil aussetzt.
„Verba volant, scripta manent“ „Gesprochene Wörter verfliegen, geschriebene bleiben.“ (Asterix bei den Pikten, Caius Titus, röm. Senator)
Meine Oma ist es, die sich darauf einlässt. Nach und nach erfahre ich, dass es ein schmerzhafter Prozess ist, sich diesen Erinnerungen an längst vergangene Zeiten zu stellen und sie niederzulegen. Sie hat die Kraft dazu. Opa nicht. Es kommen wohl zu viele Bilder in ihm hoch, die ihm nicht guttun. In dieser Zeit berichtet Oma ein paar Mal, dass er „sehr früh schlafen gegangen“ sei. Er habe „geschwankt“, als er aus dem Keller gekommen sei, nur noch undeutlich „Gute Nacht“ gesagt und im Bett dann sofort laut geschnarcht. Er sei sehr unruhig im Schlaf gewesen, fast als ob er mit jemandem kämpfe.
Im Keller steht unter anderem ein schöner alter Küchenschrank, Echtholz natürlich. Darin sind ein paar Flaschen mit Selbstgebranntem, ordentlich aufgereiht, Mirabelle, Birne, Zwetschgen. Ich weiß, dass Opa nach dem Essen manchmal einen „Obstler“ trinkt, zur Verdauung, wie er sagt. Ich erlebe auch oft mit, wie er bei Familienfeiern gemeinsam mit anderen Männern für eine Weile im Keller verschwindet, bevor alle sehr heiter wieder hochkommen. Das sind die Abende, an denen viele der Ehefrauen kopfschüttelnd in den zweifelhaften Genuss kommen, bei der Heimfahrt ausnahmsweise am Steuer sitzen zu dürfen, während der Ehegatte auf dem Beifahrersitz schon kurz nach dem Losfahren schnarcht.
Dass Opa tagsüber alleine in den Keller geht und Schnaps trinkt, gab es meines Wissens weder vorher noch nachher. Irgendetwas in den Erinnerungen an die Vergangenheit muss zu viel gewesen sein für ihn. An Heiligabend in diesem Jahr hat Oma ein besonderes Geschenk für mich. Ich weiß schon, was es ist, kenne den Inhalt. Bis heute hüte ich es wie einen Schatz.
„Von früher un dehemm“
steht unter anderem in der sehr persönlichen Widmung, die meine Oma in ihrer so gepflegten, geschwungenen Schrift auf die Innenseite des Deckblattes geschrieben hat. Darin finden sich 68 handbeschriebene Blätter karierten Papiers, auf denen ich die Geschichte meiner Vorfahren und Familie nacherleben kann. Noch heute schaffe ich es kaum, sie am Stück zu lesen. Zu sehr gehen sie mir ans Gemüt. Dabei vermitteln mir die Erzählungen nur eine Ahnung davon, was es bedeutet haben muss, diese Erlebnisse in sich zu tragen. Es dürfte seinen Grund haben, weshalb Opa nicht über den Krieg gesprochen hat. Ich will glauben, dass er uns mit seinem Schweigen auch schützen wollte, vor der Last, die er mit sich trug, worin auch immer sie konkret bestanden haben mag.
Meine Großeltern sind beide längst tot. Aber in mir wirken sie immer noch. Recht versteckt haben mich beide sehr geprägt. Neben der emotionalen Heimat, die sie mir gegeben haben, sind es ganz viele kleine Momente und Sätze, die ich tief in mir behalten habe.
Die beiden sind Anfang 70, als ein letzter Umzug ansteht. Nach ein paar gesundheitlichen Rückschlägen sind das Haus und vor allem der riesige Garten inzwischen zu viel für sie. Es ergibt sich die Möglichkeit eines Umzuges. Das neue Heim ist nur noch eine kleine Wohnung, gerade mal 100 Meter entfernt vom Haus meiner Eltern, auf der anderen Straßenseite. Die Vorteile, die ein solcher Ortswechsel bringt, liegen auf der Hand. Trotzdem sind beide skeptisch.
„Einen alten Baum verpflanzt man nicht.“