Die Stunde des Geschichtenerzählers - Peter Schmidt - E-Book

Die Stunde des Geschichtenerzählers E-Book

Peter Schmidt

0,0

Beschreibung

"Er legte verschwöre­risch den Zeigefin­ger vor die Lip­pen. 'Abge­half­terte, aus­gediente Agenten wie ich! Man über­lässt ihnen ein Häu­schen, je nach­dem auch eine kleine Gastwirt­schaft, eine Gärtne­rei oder Pen­sion. Ha­ben Sie sich schon ein­mal ge­fragt, was mit Leuten un­seres Schlages passiert, wenn sie das Pensi­onsalter errei­chen?'" Der offizielle Auf­trag, mit dem Diana Hirsch, die schöne Mu­lat­tin, bei dem ehe­maligen Agenten Karlsbeck auf­taucht, scheint zunächst harm­los: Sie will den ersten wahr­heitsge­mäßen Be­richt ver­fas­sen über die Ent­stehung der Repu­blik Mayotte und die his­torische Rolle, die Prä­sident Bu­rundi beim Be­freiungskampf ge­spielt hat. Doch ei­nes weiß der Prä­sident nicht: Diana Hirsch sam­melt Mate­rial ge­gen ihn, weil sie die re­volutio­näre Op­posi­tion unter­stützt ... "Auffallend an Schmidts dra­matur­gisch raffi­nier­ten Agen­ten-Sto­rys sind – neben der De­tail­treue – die skepti­sche Weltan­schau­ung und eine gera­dezu un­deutsch klare kühle Prosa." (stern) "Thriller mit Tief­gang" (Rheinischer Mer­kur) Deutschlands einzi­ger (jeden­falls einzi­ger ernst zu neh­men­der) Autor im Agenten-Genre." (Vorwärts) DEUTSCHER KRIM­IPREIS für "Die Stunde des Geschichtenerzählers"

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 334

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Peter Schmidt

Die Stunde des Geschichtenerzählers

Agententhriller

 

 

 

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

WEITERE TITEL

Impressum neobooks

Kapitel 1

Sie verlor einen Schuh – sein hoher Absatz war im morastigen Boden der Weide steckengeblieben. Wegen des hohen Grases fand sie ihn nicht gleich wieder. Sie tappte einige Schritte umher und spürte, dass Wasser durch die Ferse ihres braunen Perlonstrumpfes drang ...

Es war ungewohnt, Strümpfe und hochhackige Schuhe zu tragen. Wo ist er nur geblieben? dachte sie hilflos. Er muss doch hier ganz in der Nähe sein, ich bin nicht mehr als zwei oder drei Schritte gegangen …

Diana nahm irritiert ihre braune Hornbrille ab und blinzelte zur dunkelroten Backsteinsilhouette des Gehöftes hinüber, die sich in der Dämmerung scharf gegen den gelblichen Himmel abhob. Links, am steilen Einschnitt des Ufers, noch jenseits eines Geräteschuppens, dessen Bretterdach eingestürzt war, lag der Fluss. Blasser Dunst stand über ihm, das gemächlich treibende, schwarzgrüne Wasser zog hier und da kleine Wirbel.

An anderen Stellen warf es winzige Blasen: als atmeten dicht unter der Oberfläche zahllose Fische, die dunklen Körper eng aneinandergedrängt.

Man hatte ihr gesagt, dass der Fluss «Ems» hieß und etwa achtzig Kilometer nördlich in die Nordsee mündete (sie versuchte sich vorzustellen, wie das Meer dort oben aussah: sicher kaum weniger düster als der Fluss).

In diesem seltsam dunstigen, immer feuchten, bewölkten Land ging die Sonne nicht so plötzlich unter wie in den Tropen. Auch trübe Flüsse kannte sie nicht; zu Hause, wo sie alle auf dem einzigen Gebirgszug der Insel entsprangen, war das Wasser klar, mit hellem Sand und rötlichem Korallengrund.

Wie das Land schien auch das Gehöft etwas Bedrückendes, ja Bedrohliches auszustrahlen. Schon bald würden seine Backsteine mit ihren vom Staub patinierten Mörtelfugen den Geruch von Täuschung und Niedertracht ausschwitzen … heimtückische Schatten spielten im vorspringenden Gehölz des Dachstuhls und in den blinden Fensterchen unter der Regenrinne.

Ich bin wohl nur vom langen Flug etwas übermüdet, dachte sie und strich sich verstört mit den Fingerspitzen über die Stirn.

Da lag ihr Schuh ja ... nur einen Schritt entfernt; sein Absatz steckte im Lehm. Sie säuberte ihn behelfsmäßig mit einem Zweig, zog ihn an und strich den Strumpf an ihrer Wade glatt:

Ein wohlgeformtes Bein! Es würde Karlsbeck gefallen – jung und fest und von jenem angenehmen Mittelbraun wie bei fast allen Mulattinnen auf der Insel, deren schwarze Mütter sich mit den weißen Einwanderern verbunden hatten.

Diese dünnen Strümpfe und hochhackigen Schuhe allerdings waren schon sehr merkwürdig, eher etwas für die Straßenmädchen in Daressalam oder Moroni. Sie kam sich damit vor, als habe sie sich wie eine Schauspielerin ausstaffiert.

Aber bin ich nicht auch eine? dachte sie. Im Namen der guten Sache: Ja, sie war es! Sie trug sonst niemals Perlonstrümpfe. Wozu auch? Es war heiß auf Mayotte und die Gassenjungen wären hinter ihr hergelaufen und hätten sie deswegen ausgelacht. Man hatte ihr gesagt, sie passe sich besser der Landessitte an. Hier gingen viele Frauen in Hosen oder trugen Mäntel und sonntags hielten sie ein Täschchen am Arm.

Sie hatte sie am Flughafen beobachten können: dicke, hässliche Frauen, bei deren Anblick man sich ernsthaft fragte, warum ihre Männer sie nicht auf der Stelle verließen. Sicher gingen sie alle fremd. Gleich darauf wurde ihr bewusst, wie gemein dieser Gedanke war – böswillige Vorurteile, die man besser unterdrücken sollte! ermahnte sie sich.

Ihre braune Hornbrille dagegen würde Karlsbeck wohl kaum gefallen. Sie hoffte inständig, dass sie ihn nicht zu sehr abstieß. Anfangs hatte sie sogar mit dem Gedanken gespielt, sich Haftschalen anfertigen zu lassen.

Doch zwei Wochen vor ihrem Abflug aus Daressalam hatte ein Bombenattentat des Mouvement Militant de Mayotte, der verbotenen marxistischen Bewegung, den kleinen Optikerladen der Inselhauptstadt in die Luft fliegen lassen.

Eine Detonation, die wie eine Mahnung über die Dächer von Dzaoudzi hallte und ihre armseligen sechstausend Einwohner aus dem Schlaf riss.

Sie war morgens in die breite Prachtstraße zum Präsidentenpalast eingebogen, einem rosafarbenen Gebäude mit Säulen und Pilasterbögen am Portal und einem grünbraun gefleckten Schützenpanzer französischer Bauart davor und der Gehweg am Haus des Optikers war von Trümmern übersät gewesen. Durch das viele Lesen in der Bibliothek waren ihre Augen ein wenig kurzsichtig geworden: die historische Abteilung der Universität Mayotte befand sich noch im Aufbau, deshalb hatte sie jedes neueingegangene Werk begierig verschlungen, sobald es aus Paris oder London eingetroffen war.

Während sie ihre Brille aufsetzte und prüfend zum Gehöft hinübersah, ging in einem Fenster des ersten Stockwerks das Licht an.

Ein vorgebeugter Schatten – fast so groß wie ein Mensch, aber mit seinen überlangen Armen merkwürdig hin und her schwenkend – bewegte sich hinter der Gardine.

Es wird dieses Untier sein, dachte sie schaudernd, das Präsident Burundi Karlsbeck einst für hervorragende Verdienste um den jungen Inselstaat geschenkt hatte. Auf Mayotte wie auf den übrigen Inseln des Komorenarchipels gab es nur Lemuren, eine Halbaffenart.

Der Orang-Utan war als junges Tier aus Borneo in den Zoo von Madagaskar gelangt, ehe man ihn auf die nördlich gelegene Nachbarinsel gebracht und dem Präsidenten als Staatsgeschenk überreicht hatte, um – bei Burundis konservativer Haltung nur eine Farce – «gutnachbarliche Beziehungen» zu demonstrieren.

Im stillen hatte sie gehofft, das Tier sei längst gestorben, eingegangen am kalten Klima dieses Landes. Noch heutzutage, nach so vielen Jahren, die vergangen waren, seit er den Archipel verlassen hatte, munkelte man auf Mayotte hinter vorgehaltener Hand, Karlsbeck «unterhalte intime Beziehungen» zu dem Tier.

Natürlich war es nur ein Gerücht. Doch so wenig es den schwarzen Kreolen gegeben war, zwischen Wahrheit, Gerücht oder Erfindung einen größeren Unterschied zu machen, so wenig konnte auch sie sich von der schon beinahe zwanghaften Vorstellung befreien, es sei doch mehr als nur ein Körnchen Wahrheit daran.

Sicher erzählte man es vor allem aus Langeweile: weil es sonst wenig zu erzählen gab, auch weil es seit Burundis Machtübernahme schlecht um die Meinungsfreiheit bestellt war – und weil es pikant erschien und den Schatz der Anekdoten um Karlsbeck und seine Arbeit auf den Inseln vermehrte.

Es gab nicht viele solcher Geschichten. Die Alten saßen vor ihren niedrigen Häusern, stülpten anzüglich ihre Negerlippen und schwatzten auf Kisuaheli in immer neuen Varianten darüber, ob es möglich sei, dass aus einer solchen Verbindung ein menschenähnliches Wesen hervorgehe.

Das große ferne Deutschland musste in ihrer Phantasie längst von einem ganzen Heer langarmiger, halbaffenartiger Geschöpfe mit rötlichem Fell bevölkert sein – sie waren große Geschichtenerzähler, die Wirklichkeit bedeutete ihnen nicht so viel wie ihre Geschichten über sie; womöglich gab es so etwas wie «die Wirklichkeit» gar nicht und alles, was wirklich genannt werden konnte, bestand aus nichts weiter als den Geschichten, die man darüber erzählte – jenen verzerrten subjektiven, von Glauben, Vorurteilen, Argwohn, Hoffnungen und Missverständnissen geschaffenen Hirngespinsten.

Der arabische Anteil der Bevölkerung dagegen schwieg, weil er Karlsbeck nicht einmal einer Anzüglichkeit für wert erachtete.

Zweifellos hätte seine morgenländische Phantasie diejenige der schwarzen Kreolen vom afrikanischen Festland noch übertroffen.

Und weil er mit der sozialistischen Volksrepublik Mozambique vor der Haustür und dem marxistisch ausgerichteten System auf Madagaskar sympathisierte: die Araber hatten immer geargwöhnt, Karlsbeck arbeite als Deutscher mit der ehemaligen französischen Kolonialmacht, vor allem aber mit den Engländern zusammen, deren Plan es lange Zeit gewesen war – und nicht einmal die Queen mochte wissen –, ob sie ihn wirklich schon ganz aufgegeben hatten, auf Mayotte einen strategisch wichtigen Luftstützpunkt zu errichten, nachdem sie es so lange vergeblich auf den benachbarten Seychellen und den Aldabra-Inseln versucht hatten.

Auch in zwei Parterrefenstern nahe der hölzernen Veranda war jetzt das Licht angegangen. Sie lief rasch über den federnden Wiesengrund und blickte – vorsichtig – von der Seite durch die staubige Scheibe in das Zimmer.

Karlsbeck – sie nahm an, dass es Karlsbeck war (er sah genauso alt und hässlich aus, wie man ihn ihr beschrieben hatte) – stand unter der Lampe mit dem schmalen Metallschirm vor einem Holztisch und goss aus einer dickbauchigen grünen Flasche etwas durch den Trichter in seiner Hand. Die Spitze des Trichters steckte in einer zweiten Flasche, die flach und klein war: von dem Format, das in die Innentasche einer Jacke passte.

Eine wasserhelle Flüssigkeit. Sicher Schnaps! – denn auf der Insel hatte er sich das Schnapstrinken angewöhnt.

Er bevorzugte eine Sorte aus seiner ostfriesischen Heimat. Während seiner Jahre auf Mayotte war jeden Monat am Kai von Dzaoudzi ein Karton davon ausgeladen worden.

Fast alle Europäer in den heißeren Ländern tranken, das war nicht ungewöhnlich und ein Mann, den die Geheimdiensttätigkeit die besten Jahre seines Lebens gekostet hatte, trank erst recht. Er würde bei dieser Arbeit schon aus verständlichen Gründen der Nervenanspannung für einige Stunden entfliehen wollen, wenn sich eine Gelegenheit dazu bot.

Vor der Wahl Burundis hatten sich auf Mayotte Russen, Chinesen, Amerikaner, Engländer die Türklinken in die Hand gegeben, von den Franzosen ganz zu schweigen. Es geschah nicht selten, dass man jemanden, der – zu Recht oder zu Unrecht – für den Agenten einer gegnerischen Macht gehalten wurde, in den Bergen beim Angeln erschossen auffand, dass er bei einem Bootsausflug ertrank oder wie zufällig von einem aus dem Fenster fallenden Blumentopf getroffen wurde.

Da Karlsbeck eine ausgesprochen misanthropische Ader besaß, war der Alkohol gewiss sein einziger Freund. Es hieß, er habe damals im Garten seines Hauses in Dzaoudzi immer einen kleinen Schnapsvorrat vergraben gehabt. Für schlechte Zeiten.

Das Haus war jetzt im Besitz der Familie jener Lehrerin, mit der er bis zu ihrem gewaltsamen Ende zusammen gelebt hatte; eines der typischen kleinen gelbgestrichenen Häuser mit umbautem Innenhof und einem hübschen Garten darin. Sie war einmal dort gewesen, weil sie sich ein Bild von Karlsbecks Vergangenheit machen wollte.

Die Lehrerin war bei Gefechten im Gebirge umgekommen, sie hatte Schulkindern über einen Bachlauf geholfen, um sie aus der Gefahrenzone zu bringen.

Eine Kugel aus den Läufen jener Partisanen, so hieß es, die später die verbotene Partei MMM – marx. Mouvement Militant de Mayotte – gegründet hatten.

Doch es gab Gründe für die Annahme, dass es in Wirklichkeit Burundis Leute gewesen waren, die den Sozialismus bei den Einheimischen in Verrufbringen wollten. Sie würde aber nicht so dumm sein, Karlsbeck das jetzt auf die Nase zu binden – es hätte Verdacht erregen können.

In jenen Jahren hatten sich die Komoren noch nicht vom französischen Mutterland losgesagt.

Jedermann ahnte oder wusste, dass es bald geschehen würde und traf Vorkehrungen für die wirtschaftliche Depression, die in aller Regel eintritt, wenn eine kleine Inselgruppe selbständig wird.

Wie erwartet, hatten sich diese Schwierigkeiten noch verschärft, weil Mayotte anders als die übrigen Komoreninseln den Status eines französischen Departements anstrebte und deshalb mit seinen Nachbarn im Streit lebte. Erst seit Burundis Amtsantritt – und gegen sein Wahlversprechen – war dieser Plan nach und nach aufgegeben worden – man hatte ihn sich sozusagen im heißen Klima der Insel totlaufen lassen.

Kaum eine Idee und schon gar nicht der Anschluss an ein fernes Mutterland, war der Trägheit gewachsen, die sich fast zwangsläufig in diesem heißen und feuchten Klima einstellte, wenn man nicht gerade wie Burundi in einer Villa mit Klimaanlage oder im kühlen Präsidentenpalast residierte.

Sie blickte wieder durch die Scheibe. Karlsbeck war erst neunundfünfzig. Im Schein der trüben Lampe sah er aus, als sei er weit in den Sechzigern. Gewiss lag es am Schnaps. Seine Miene wirkte hölzern und unbeteiligt, wie ein alter morscher Baum, der des Lebens überdrüssig war, dachte sie. Ein Baum, der kein Wasser mehr zog, keine Blätter mehr trieb und nur noch darauf wartete, von Ameisen und Käfern ausgehöhlt, in sich zusammenzustürzen. Langeweile stand ihm im Gesicht.

Es hieß, die Arbeit auf Mayotte sei sein letzter Auftrag gewesen. Sein unförmiger Bauch hing in Hosenträgern aus maisgelbem Gurtband in einer zu weiten grauen Hose; er trug ein kurzärmeliges, kariertes Flanellhemd. Sein dichtes graues Haar über der niedrigen Stirn – dicht wie ein Affenpelz – war kurz geschnitten.

An seinem Kinn, das zur Schwammigkeit neigte, glänzten weißgraue Bartstoppeln. Nur seine scharfe Nase, wie ein Widerhaken oder der Schnabel eines Papageis, ragte als Fremdkörper aus dem gedunsenen Gesicht.

Seine Hose ist fleckig ... dachte sie voller Abscheu. Herrgott noch mal, er braucht jemanden, der für ihn sorgt … Und sie verspürte nicht die geringste Lust, dieser jemand zu sein.

Er schien etwas zu grunzen. Durch die verschmierte Scheibe sah sie, dass sich seine Lippen wie das Maul eines Wasser schöpfenden Fisches bewegten; endlich kratzte er sich unschlüssig an der Wange und legte die gefüllte Flasche auf den hohen, altmodischen Schrank, an dem auch seine Jacke hing.

Dann nahm er eine Zeitung aus der Innentasche, betrachtete kopfschüttelnd das Foto auf der Titelseite und ging damit zur Zimmertür.

Er schaltete das Licht aus. Sie beobachtete, wie er eine steile, finstere Treppe hinaufstieg. Als er an ihrem oberen Ende verschwunden war und die Tür hinter sich geschlossen hatte, wandte sie sich ab.

Der Mond stand jetzt hoch über dem Fluss mit den alten Eichen und Ulmen und warf sein kühles Silberlicht auf die Veranda mit dem durchbrochenen Geländer, den abgetretenen, unlackierten Brettern, die ihren Boden bildeten und einen ebenso abgegriffenen Mahagoni-Schaukelstuhl, der dem Wasser zugekehrt stand. Der Fluss war kaum mehr als fünfzehn oder zwanzig Schritte entfernt.

Sie versuchte sich vorzustellen, wie Karlsbeck an warmen Sommerabenden in diesem Schaukelstuhl saß, verloren über die träge Strömung mit der Einmündung der verkrauteten Altarme fern am anderen Ufer starrte und den alten Geschichten nachhing … diesen Geschichten, die ein Geheimnis bewahrten, das Ahmed Abdallah Burundi für immer bei den Inselbewohnern in Verruf bringen würde (so glaubte sie zumindest).

Dass das Gedächtnis dieses Mannes – so weit entfernt von Mayotte, beinahe auf der entgegengesetzten Seite des Planeten – vielleicht als einziges die volle, die ganze niederträchtige Wahrheit, wie auch immer sie aussehen mochte, bewahrte, erschien ihr mit einemmal äußerst seltsam.

Es gab eine Wahrheit; aber nicht einmal Gott – der sich schließlich noch um andere Dinge als um eine unter zahllosen Wahlbetrügereien oder einen fingierten Selbstmord zu kümmern hatte – würde sie unbedingt der Aufbewahrung in seinem Gedächtnis für wert erachtet haben – Karlsbeck dagegen ganz gewiss.

Wenn es nicht nur ein Gerücht war, das die Kreolen mit ihrem unaufhörlichen Hang zur Übertreibung in die Welt gesetzt hatten, dann verfügte er über eines jener seltenen Gedächtnisse, die nichts von dem, was sie behalten wollen, jemals wieder vergessen.

Sie fröstelte, obwohl es Sommer war, was man hier Sommer nannte ... der kalte Dunst vom Flussufer kroch ihr die Beine hinauf. Und sie fröstelte um so mehr bei dem Gedanken, nun die Gefangene ihres Vorsatzes zu sein.

Ich muss hinein, überlegte sie. Es nutzte gar nichts, ihre erste Begegnung noch länger hinauszuzögern.

Fremden gegenüber hatte sie immer eine gewisse Scheu besessen. Ihr Bruder Marcel witzelte darüber.

Er sagte: «Geh und sprich ein paar Leute auf dem Markt an, Araber und Inder, keine Mulatten oder schwarze Kreolen, weil sie zu gesellig sind – das wird dir helfen. Wenn du alle Fremden im Ort angesprochen hast, ist deine Schüchternheit verflogen – dann gibt es niemanden mehr, dem du unbekannt bist …»

Dieses Scheusal, dieser kleine Witzbold! dachte sie.

Doch sie hätte einiges darum gegeben, jetzt seine Stimme zu hören.

Er war einen guten Kopf kleiner und sehr zierlich, mit viel dunklerer Haut. Insgeheim vermutete sie, dass gar kein weißes Blut in seinen Adern floss, dass er kein Mulatte war, sondern einen schwarzen Vater besaß. Doch darüber wurde in der Familie nie gesprochen; jedenfalls kein Kerl, der ein schweres Gewehr tragen und damit zielen konnte, ohne zu zittern: Sein Ehrgeiz war stärker als seine Arme.

Sie hätte etwas darum gegeben, ihn jetzt zu sehen ... oder vielleicht doch nicht? Es hing davon ab, wie er zugerichtet worden war.

Obwohl es ihr selbst lächerlich erschien, ging sie noch einmal die Veranda entlang. Unter ihren Schritten federten die dünnen, abgetretenen Bretter. Es war ausgetrocknetes Holz, auf das lange die Sonne geschienen haben musste.

Sie lehnte sich über das Geländer auf der anderen Seite und sah an der Hauswand entlang: zwischen den beiden verwaschenen Schuppen und dem mit einem geteilten Holzdeckel verschlossenen Brunnen hindurch und dann den Wiesenpfad hinauf bis zum Tor, das nur noch an einer Angel hing – schräg und halb offenstehend.

Der Dorfkirchturm hob sich jetzt im Osten als kaum merkliche Silhouette vom grauschwarzen Himmel ab.

Nicht weit von ihm lag das Gasthaus, in dem sie ihr Zimmer genommen hatte. Ein schmales, schlauchartiges Zimmer mit einer hohen Decke, dem Geruch von Scheuermitteln und alten Möbeln und mit einem bauschigen Federbett in dem hölzernen Bettgestell, das aussah, als stände es in einer Puppenstube. Sie versuchte sich an den Namen des Dorfes zu erinnern …

Geeste – merkwürdigerweise entfiel er ihr immer wieder. Ihr Vater hatte fast nur Deutsch mit ihr gesprochen. Einiges blieb so ungewohnt, dass sie es trotzdem wieder vergaß. Es waren fremde Laute, obwohl sie es beinahe ebenso gut wie Kisuaheli und Französisch sprach. Der lebendige Atem fehlte.

Dann wandte sie sich ab, die kleinen Fäuste geballt. Man muss gemein sein können, um das Gute zu erreichen, dachte sie entschlossen, ging zum Eingang hinüber – und stieß prompt eine leere Flasche um …

Sie hatte im Schatten des Schaukelstuhls gestanden. Daneben lag eine jener überlangen Lesepfeifen mit gebogenem Mundstück, die ihr früher oft bei den durchreisenden englischen Händlern der Inseln aufgefallen waren und eine Dose Tabak. Als die Flasche über das Holz rollte und von der Kante auf die Steinplatten des Weges fiel, der zum Flussufer führte, war deutlich zu hören, dass ihr Glas zersprang …

Sie hielt den Atem an und kam sich vor wie eine Einbrecherin. Aber im Haus rührte sich nichts, die dicken alten Mauern verschluckten den Lärm.

Oh Gott, es wird schrecklich! dachte sie. Ich bin dem allen nicht gewachsen …

Sie musste es einfach nur als das sehen, was es war: ein Vorsatz – nein, ein Auftrag, den man erledigte wie andere schmutzige Arbeiten auch – wie der Händler auf dem Markt von Dzaoudzi, der den Fischen den Bauch aufschnitt und mit bloßen Händen ihre Innereien ausnahm, während auf den umliegenden Dächern schon geduldig die Reiher darauf warteten.

Sie schlug mit dem altmodischen Eisenklopfer gegen die Tür – Rost, Staub und abgesplitterter brauner Lack blieben in ihrer Hand zurück. Angewidert streifte sie ihre schmutzigen Finger am Kleid ab. Der Klopfer musste seit undenklichen Zeiten nicht mehr benutzt worden sein. Nachdem sie ihn fallen gelassen hatte, horchte sie seinem Klang nach: wie Glockenklänge schienen die Schläge im Haus nachzuhallen, so als verwöben sie unwiderruflich die zwar noch unwirkliche, aber schon nicht mehr umkehrbare Zukunft mit dieser Gegenwart … wie eine Spinne, die mit «Schallfäden» ihr Opfer umspann, dachte sie voller Unbehagen.

Von drinnen war endlich eine Antwort zu hören: eine tiefe Stimme, die sich unwirsch meldete, als sie die Türklinke niederdrückte.

Schwere Schritte erklangen auf der Treppe; dann das Geräusch des Schlüssels in der Tür, und noch einmal ein Schleifen von Metall – ein Riegel offenbar, der zurückgezogen wurde, aber nur widerwillig nachgab.

Dabei war es, als unterhalte sich Karlsbeck immerzu mit sich selbst, als suche er vergeblich nach etwas und sei verärgert darüber, wobei er anscheinend mehr stolperte als ging, denn der mürrische Klang seiner Stimme, der jedem Poltern folgte, riss nicht ab.

«Es ist das verdammte Licht im Treppenhaus», erklärte er, nachdem er geöffnet hatte und hob eine Petroleumlampe so hoch über seinen Kopf, dass der Schein ihr ins Gesicht fiel. «Die Leitung ist durchgebrannt, sie konnten den Fehler noch nicht finden – müsste alles aufgerissen werden», fügte er hinzu.

Dabei zeigte er mit dem Daumen auf die dunklen Wände hinter sich im Treppenhaus.

«Diana Hirsch», sagte sie und streckte zögernd ihre kleine Hand aus. «Von Mayotte. – Amals Brief … Sie haben ihn doch erhalten?», fragte sie ein wenig ängstlich wegen seines erstaunten Gesichts.

«Richtig, der Brief. Ich erinnere mich – von Amal Majunga, dem immer wachsamen und allgegenwärtigen Sekretär und Berater des Präsidenten», erwiderte er spöttisch. «Kümmert sich noch immer um jeden Reiher, der auf den Inseln vom Dach fällt – oder?«

«Und schießt auf jeden Maki im Gebirge, der ihm vor den Gewehrlauf kommt», nickte sie; dabei versuchte sie zu lächeln.

«Diana Hirsch – was für ein Name …!»

Ein breites Grinsen überzog sein stoppeliges Gesicht.

«Sind Sie deutscher Abstammung?», meinte er mit einem nachdenklichen Blick auf ihre dunkle Hautfarbe. «Ich erinnere mich da an einen ‚Hirsch’, der im Hafen von Mamutzu einen winzigen Laden für Schiffsausrüstungen betrieb. Er war mit einer Negerin verheiratet.»

«Mein Vater …», bestätigte sie.

Wind war aufgekommen und fegte durch die Sprossen des Geländers und über die Veranda. Sie drückte sich mit ihrem dünnen Kattunkleid fröstelnd in den Türrahmen.

«Aber kommen Sie doch herein …»

Karlsbeck trat beiseite und senkte die Petroleumlampe. «Vorsicht, Stufe …»

Er ist nicht so unsympathisch, wie ich geglaubt hatte, dachte sie erleichtert.

Während sie in den großen ebenerdigen Raum mit einer Kaminstelle gingen, der den Grundriss eines Winkels hatte und einmal das Wohnzimmer des Gehöfts gewesen sein musste, sagte sie:

«Den Vornamen hat meine Mutter ausgesucht.»

«Natürlich, wer sonst?», lachte er.

«Er klingt ein wenig komisch, nicht wahr?»

«Die schwarzen Kreolinnen haben eine Vorliebe für solche Namen», lenkte er ein. «’Diana’ ist römisch, nach der griechischen Göttin Artemis, Tochter des Zeus und der Leto. Es bedeutet ‚Mondgöttin und Göttin der Jagd’.

Ein englischer Kranführer, ein verkommener Säufer übrigens, mit dem ich damals auf dem Staudamm arbeitete, hat mir diese Weisheiten anvertraut – für eine halbe Flasche Schnaps, versteht sich. Er kannte sich in der Mythologie aus, weil er glaubte, es gehöre zur europäischen Allgemeinbildung und darauf hielt er etwas.»

Karlsbeck lachte verächtlich.

«Die Alten auf Mayotte erhoffen sich von ihren Kindern wahre Wunder. ’Göttin der Jagd’ kann natürlich alles mögliche bedeuten – wen jagen Sie denn?», fragte er anzüglich. «Gewöhnlich sind es die weißen Kolonialherren, die aus dem Land gejagt werden sollen ...»

«Ich glaube nicht, dass es etwas damit zu tun hat», wehrte sie ab. «Mein Vater kam übrigens im Sturm mit seinem Segelboot um, draußen vor der Küste von Anjouhan – vor einem halben Jahr.»

«Wie traurig», meinte er, ohne dass sich seine Miene sonderlich änderte. Sie ahnte, was er dachte: Diese dicken, gutmütigen, ja mütterlichen Negerweiber fanden rasch einen neuen Mann. Meistens dauerte die Trauerzeit nicht sehr lange.

Der nächste Sturm blies den Geist des Toten vom Benara, dem höchsten Gipfel der Insel, wo er dem Mythos nach eigentlich drei Jahre lang auf der Lauer zu liegen hatte, um über die Treue der Witwen zu wachen. In dieser Region der Erde bliesen oft starke Winde und die Geister der Verstorbenen konnten sich nicht so lange auf den Berggipfeln halten, wie es ihnen dem Brauch nach aufgetragen war.

Sie schwiegen.

«Mein jüngerer Bruder heißt Marcel», sagte sie etwas linkisch in die Pause, weil sein Schweigen sie irritierte.

Karlsbeck zeigte auf einen Korbsessel neben einer Ablage, auf der ein Blumentopf stand, in dem sich merkwürdigerweise nichts als Erde befand. «Sie sind also über die Wiesen gekommen?», stellte er fest.

«Ich … über – wieso?»

«Wegen Ihrer Schuhe. Sie sind feucht und lehmig.»

Offenbar war es seine langjährige Übung, auf solche Kleinigkeiten zu achten und daraus seine Schlüsse zu ziehen – er besaß den Spürsinn eines Polizeihundes … Ich muss mich vor ihm in Acht nehmen!, ermahnte sie sich.

«Man sagte mir im Gasthaus, es sei eine Abkürzung.»

«Sie haben dort ein Zimmer genommen?»

«Leider ist es nur für eine Nacht frei.»

«Die Zimmer in dieser Gegend sind fast immer von durchreisenden Vertretern belegt, wegen der Romantik der Dörfer im flachen Emsland», sagte er mit merkwürdiger Betonung. «Deshalb meiden sie die Hotels der großen Städte.»

Ein abfälliges und zugleich gelangweiltes Lächeln zog über sein Gesicht. Er machte sich wohl nichts aus Romantik.

«Wenn man länger hier lebt, bleibt nicht viel davon übrig.»

Sie nickte, als sei das von irgendeinem Interesse für sie.

«Ein wenig Tee?», erkundigte er sich. «Ich habe leider nichts anderes im Haus.»

Das war offensichtlich eine dumme Lüge. Warum sagte er so etwas?

Schließlich hatte sie ihn beim Umfüllen der Flasche beobachtet. Möglich, dass er es von den Kreolen auf Mayotte gelernt hatte, diesen großen Geschichtenerzählern, denen die Wahrheit nicht mehr bedeutete als ein lästiges Hindernis auf den verschlungenen Wegen ihrer Phantasie.

«Ja, Tee. Gern.»

Er erhob sich und ging schräg durch das Zimmer. Ihr Blick folgte seinem Gang, der ein wenig schlurfend war. Die Küche befand sich nebenan. Sie war allein, aber sie sah das Lichtviereck aus der Tür in den Korridor fallen und hörte Karlsbeck mit dem Geschirr hantieren. Der Raum machte einen eigentümlich kahlen Eindruck, obwohl er vollständig möbliert war.

Es hing sogar ein Bild an der Wand: ein Gemälde in einem prunkvollen Goldrahmen, das eine strahlend gelbe Sonnenblume zeigte. Etwas kitschig … dachte sie. Es dauerte eine Weile, bis sie darauf kam, was das Zimmer so kahl machte … die Bücher fehlten!

Es war auch nirgends eine Zeitung oder Zeitschrift zu entdecken, nicht einmal eines dieser billigen pornographischen Magazine, die allein lebende Kerle seines Alters gewöhnlich irgendwo herumliegen hatten.

Die zusammengefaltete Zeitung in der Innentasche seiner Jacke fiel ihr ein. Ihr eigenes Zimmer in Dzaoudzi war vollgestopft mit Büchern, obwohl es nur wenige Schritte von der Universitätsbibliothek entfernt lag. Sie bezog auch regelmäßig die historischen Fachzeitschriften aus Paris und London; sogar jene, die sich kaum mit Entkolonialisierungspolitik oder den Problemen befassten, die der Kapitalismus und die unvermeidliche Korruption in seinem Gefolge nach sich zog.

Es war natürlich die Aufgabe der historischen Abteilung, sich nicht nur mit den eigenen Problemen zu beschäftigen. Allerdings gab es ein erschreckendes Übergewicht der europäischen Geschichte und die wenigen zumeist farbigen Studenten, die sich bisher immatrikuliert hatten, sahen das sogar als ganz natürlich an.

Ihr historisches Verständnis der eigenen Probleme musste erst noch geweckt werden.

Dr. Husain Atasi, ein Araber syrischer Herkunft und der einzige Dozent der Abteilung, schien ihr dazu kaum der geeignete Mann:

Sein Verständnis der Geschichte der Inseln im Indischen Ozean war eher konservativ.

Obwohl man an der Pariser Universität sogar erwogen hatte, ihm den Doktorgrad abzuerkennen – wie gemunkelt wurde, wegen einer zweifelhaften Publikation, die verdächtig nach geistigem Diebstahl aussah – ‚ sympathisierte er noch immer stark mit dem französischen Mutterland.

Er war einer der treuesten Anhänger des Volksentscheids von 1976, wonach sich die Bevölkerung von Mayotte – anders als auf den übrigen Komoreninseln – für den Verbleib bei Frankreich ausgesprochen hatte.

Seit damals gab es jene Bestrebungen, die jetzt offenbar im Sande verliefen, den Status eines französischen Departements anzunehmen. Atasi verehrte Frankreich, als sei es die Wiege der Zivilisation. Es war fast peinlich, das mit anzuhören. Er verstand sich besser auf französisch als in Kisuaheli auszudrücken, der Umgangssprache.

Er übersah geflissentlich die Korruption der ehemaligen französischen Verwaltungsbeamten und die Vetternwirtschaft der kreolischen Oberschicht. Und er schien nichts von Schweige- und Handgeldern und von der Ungerechtigkeit der Landverteilung oder der Manipulation der Preise für Reis, Vanille und Ylang-Ylang zu bemerken.

In dieser Beziehung stellte er sich blind und taub. Alles war gut, wenn es nur blieb, wie es war. Die Geschäfte mit amerikanischen und europäischen Hotelkonzernen, denen zur Förderung des Fremdenverkehrs Land zu Schleuderpreisen überlassen worden war – über entsprechende Schmiergelder, versteht sich –, ließen ihn kalt.

Dabei würde die Insel niemals erfolgreich dem Vorbild der Seychellen nacheifern können, denn deren Vorsprung im Touristikgeschäft war zu groß, außerdem boten sie bessere Voraussetzungen. Alles, was Atasi interessierte, schien der erste Lehrstuhl für Geschichte der Universität zu sein und dabei hoffte er auf die Unterstützung Präsident Burundis.

Sie mochte Atasi nicht sonderlich, aber er war ihr Chef: Sie verhielt sich ihm gegenüber loyal, soweit sich das unter den gegebenen Umständen bewerkstelligen ließ.

Doch er wusste, dass es eine Loyalität ohne die geringste Überzeugung war und dass sie nur gute Miene zum bösen Spiel machte. Er gab ohne Umschweife zu, dass er Ideale «lächerlich» fand und sich im Zweifelsfalle immer für den – wie er es nannte – pragmatischen Weg» oder «die Position des neutralen Wissenschaftlers» entschied.

«Diana», hatte er einmal mit spitzer Zunge bemerkt, «Sie und Ihr Bruder passen nicht auf diese Inseln, die von Hitze und schwerem Blut geprägt sind. Es ist Ihre deutsche Abstammung, die Sie so rastlos macht. Promovieren Sie in Ruhe! Stecken Sie Ihre Nase in Fachzeitschriften und Geschichtswerke, setzen Sie sich für die Wissenschaft ein, das bekommt Ihnen besser als revolutionäres Gerede. Ihre Ideen werden hier niemals eine Mehrheit finden.»

Doch darin irrte er. Sie war sicher, dass er sich irrte.

Während er so sprach, saß er in dem kleinen, weißgekalkten Zimmer, das man über die hölzerne Außentreppe und das Flachdach der ehemaligen Schule erreichte, vor seiner altmodischen hohen Schreibmaschine und sah sie aus seinen leicht schielenden, schrägen Augen an wie die Schlange vor dem Biss.

Sein Mund war ein wenig geöffnet – und sie hätte sich nicht gewundert, in der Schwärze seiner Mundhöhle ein Züngeln zu bemerken …

Er hatte nie Grund gehabt, sie als Rivalin zu betrachten. Ganz im Gegenteil: Sie nahm ihm einen guten Teil unangenehmer Arbeiten ab. Trotzdem bestand eine eigentümliche Unaufrichtigkeit zwischen ihnen. Der Raum diente zugleich als das Dekanat der drei Abteilungen.

Atasi war Dozent, Dekan und sein eigener Sekretär in einem – neben zwei ausgemusterten Gymnasialprofessoren für französische Literatur und Wirtschaftswissenschaften, die in den ehemaligen Schulräumen Vorlesungen und Seminare abhielten.

Als sie nicht antwortete und ihn nur zornig ansah, wandte er sich achselzuckend ab und drehte ihr den Rücken zu – den breiten, gutgebauten Rücken eines jungen Arabers, dessen trainierte Muskeln sich, nicht ohne Reiz unter dem weißen Hemdenstoff abzeichneten.

Trotz seiner schielenden Augen liefen ihm die Mädchen nach.

Seine wissenschaftliche «Neutralität» ließ sich leicht als Gleichgültigkeit durchschauen. Diese Gleichgültigkeit war es, die von den Reichen und Mächtigen noch bestärkt wurde und alles im alten Zustand beließ, der dann auch – schon durch seine bloße Existenz – die Rechtfertigung für immer neue Gleichgültigkeiten war – und so fort bis in alle Ewigkeit.

Nicht die Hitze und das träge Blut erstickten jeden Fortschritt, sondern wie überall waren es die Interessen der Oberschicht, die sich Parasiten gleich an die bestehenden Verhältnisse klammerte.

Karlsbeck schreckte sie aus ihren Gedanken auf … er kam mit dem Tablett in den Händen herein, auf dem die Teekanne, Sahne, ein Töpfchen mit braunem Kandis und zwei Tassen standen. Es war hauchdünnes Porzellan, das von allen Seiten, wie ohne größere Sorgfalt mit leichtem Pinsel hingemalt, bunte Blumenmuster zeigte.

Er kam schlurfenden Schritts – ein wenig vorgebeugt in seiner etwas zu weiten Hose mit den maisgelben Hosenträgern – und lächelte freundlich.

«Dies ist Tee, wie man ihn in unserer Gegend zubereitet, auf den ostfriesischen Inseln und im Küstenbereich. Sie haben sicher niemals so guten Tee getrunken. Probieren Sie ihn!»

Er goss aus der Kanne ein, wobei sein unförmiger Bauch gegen das Tischchen stieß, gab von dem braunen Kandis und der Sahne hinzu und reichte ihr die Tasse mit der Gebärde eines Mannes, der stolz ist auf seine Kochkunst.

Sie hatte den Eindruck, dass er sehr einsam und sehr gelangweilt war – und dass ihre Ankunft vielleicht ein wenig Abwechslung in seinen grauen Alltag brachte.

Er wirkte auch jetzt noch alt und gelangweilt, aber für einen Augenblick – als er sie mit anzüglichem Blick streifte, während sie sich vorbeugte und ihr Kleid zurechtstrich, auf das etwas Wasser vom Boden der Tasse getropft war, flackerte so etwas wie Interesse in seinen Pupillen auf.

Es hatte kaum mehr als eine Sekunde gedauert, doch die Erinnerung an «vergangene Scharmützel» war darin aufgeblitzt: Eroberungen, Siege, Bestätigungen, deren sich ein alter General voller Wehmut erinnerte, der seine Schlachten längst geschlagen hatte … alte Neger und erst recht Mulatten, waren manchmal verrückter als junge Kerle, ihre Torschlusspanik ließ sie gelegentlich den Verstand verlieren.

Die Gier alter Männer hörte oft erst auf, wenn sie starben: wie flügellahme Vögel flatterten sie mit jedem Tage ihrer Ohnmacht wilder umher; selbst wenn sie physisch nicht mehr dazu in der Lage waren, überdauerte die Gier bei den alten Männern, jedenfalls auf den Inseln, und äußerte sich in vielfältigem Ersatz: in Niedertracht, Anzüglichkeiten, schmutzigen Witzen, zweideutigem Gerede.

Ihre Mutter hatte sie davor gewarnt …

Es war eine Kraft, die so wenig erlosch wie jede andere Energie im Universum, nur dass sie in ihren Erscheinungsformen nicht immer wiedererkannt wurde.

Ob es sich mit den Weißen in den kalten Ländern ebenso verhielt, das wusste sie nicht.

«Wird Ihre Arbeit länger dauern?», erkundigte er sich.

«Oh, ich denke, eher zwei, drei Wochen als acht Tage – weil ich es gleich in die Maschine tippen und Ihnen die Endfassung vorlegen möchte. Und weil es so authentisch wie möglich sein soll. Es ist der erste wahrheitsgemäße Bericht über die Entstehung unserer Republik – und über Präsident Burundis historische Rolle beim Befreiungskampf», fügte sie rasch hinzu.

«Zugleich ist es die erste Arbeit unserer Universität. Sie wird einmal als ein Dokument der Geschichte Mayottes herangezogen werden, deshalb muss sie wissenschaftlichen Anforderungen genügen.

Schließlich dient sie nicht ausschließlich dazu, Präsident Burundi zu glorifizieren! Gewiss besteht sein persönliches Interesse hauptsächlich darin, als leuchtende Gestalt eines legendären Staatsgründers aufzutreten und sein Sekretär Amal Majunga hat natürlich die Absicht, unsere Arbeit in den kommenden Präsidentschaftswahlen einzusetzen – wir können ihn nicht daran hindern …»

«Er hat in seinem Brief so etwas Ähnliches angedeutet», bestätigte Karlsbeck.

«Majunga hofft, dass Burundis Position durch die Darstellung seiner führenden Rolle noch weiter gefestigt wird. Von uns aus soll es natürlich keine Wahlkampfbroschüre werden – obwohl sie dazu missbraucht werden wird –‚ sondern eine ernste wissenschaftliche Arbeit», betonte sie.

«So so, eine ernste wissenschaftliche Arbeit?» Er kratzte sich unbehaglich – als seien ihm mit dieser Angelegenheit Höhe in den Pelz gesetzt worden. «Der Präsident wird jetzt direkt gewählt, nicht wahr?»

«Für sechs Jahre. Man könnte natürlich darüber streiten, ob es in einem Einparteiensystem noch eine gerechte Wahl geben kann: Die Kandidaten haben keine Möglichkeit, sich innerhalb ihres Parteiprogramms zu profilieren.»

«Wer ist sein diesjähriger Gegenkandidat?»

«Kutubus, ein Fabrik- und Hotelbesitzer. Er gehört dem konservativen Flügel an und vertritt weiterhin den Anschluss an Frankreich, damit und mit dem Wahlversprechen einer radikalen Liberalisierung, glaubt er die Wahl gewinnen zu können. Ihm gehören Teile des neuen Touristenzentrums nördlich von Chingoni.»

«Diese Gegend, wo die Engländer ursprünglich ihren Militärstützpunkt bauen wollten, nachdem der andere Platz wegen des Staudammprojekts oberhalb der Ebene aufgegeben werden musste, nicht wahr?»

«Kutubus setzt vor allem auf sein wirtschaftliches Ansehen. Er hat der Insel einen gewissen Wohlstand gebracht.»

«Außer ihm tritt niemand gegen Burundi an?»

«Die MMM mit ihrem Führer Ah Uluguru.» Sie schwieg. «Da seine Partei verboten wurde, müsste er als ‚parteiloser’ Kandidat auftreten. Das ist möglich.»

«Ja, ja, Burundi war schon immer ein gewitzter Bursche», lachte Karlsbeck. «Er versteht es meisterhaft, das Parlament einzuwickeln. Er hat die Engländer mit ihrem Luftstützpunkt hingehalten, dann die Amerikaner und die Zentralregierung auf Groß-Komoro eingewickelt, und nun wickelt er die einheimische Bevölkerung mit seiner Wahl ein.

Eine wissenschaftliche Arbeit über Ahmeds Verdienste: dass ich nicht lache! – Mein lieber alter Freund Ahmed Abdallah Burundi, Abkömmling tansanischer Tagelöhner, dem ich so viel verdanke.

Verschwinden immer noch spurlos Menschen unter seinem Regime? Das ist ja neuerdings zu einer Art Seuche in der Welt geworden.

Den Ultrarechten beliebt es jetzt immer öfter, ihre Gegner verschwinden zu lassen, Lateinamerika ist das beste Beispiel dafür: wie im Zauberhut, allerdings leugnen die Zauberer, daran beteiligt zu sein

Ich hatte nicht erwartet, dass Sie so lange bleiben», fügte er nachdenklich hinzu, ohne eine Antwort auf seine Frage abzuwarten, wobei er mit langsamen Schritten zum Fenster ging, die Arme hinter sich verschränkt und ihr den Rücken zuwandte. «Ich nahm an, es würde nicht länger als ein oder zwei Tage dauern.»

Er zog mit beiden Armen die Vorhänge auseinander, blickte eine Weile schweigend in die Dunkelheit hinaus – kopfschüttelnd, als halte er vergeblich nach jemandem Ausschau – und murmelte etwas, das wie «verdammtes Vieh . . .» klang. Sie hätte schwören können, dass sie sich nicht verhört hatte.

«Leider ist mein Zimmer im Gasthaus nur für eine Nacht frei. Aber vielleicht wäre es möglich, dass ich hier im Haus …»

«Ausgeschlossen», sagte er abweisend.

«Es wäre nur für…»

«Sie sehen ja selbst, wie es um das Haus bestellt ist. Es ist feucht und dunkel – baufällig. Hier gibt es keinerlei Komfort. Überall rascheln Mäuse und die Wasserleitung funktioniert nur, wenn sie will.»

«Nun ist es wohl auch schon zu spät», lenkte sie rasch ein. «Ich werde mich jetzt besser auf den Rückweg machen. Wäre es Ihnen morgen Nachmittag gegen drei Uhr recht? Wir könnten dann bis zum Abendessen arbeiten.»

«Drei wäre mir recht», nickte er.

Er ging zum Schrank und kramte nacheinander in den Schubladen, bis er einen Zettel gefunden hatte. Dann beleckte er die Spitze des Bleistiftstummels und schrieb mit unbeholfenen Fingern. Sie folgte neugierig den Schnörkeln und Arkadenbögen seiner Handschrift – der Bogen des g‘s war wie eine unförmige Seifenblase.

«Ich schreibe Ihnen hier einige Adressen auf, wo Sie vielleicht unterkommen können, wenn im Gasthaus kein Zimmer mehr frei ist. Es sind ehemalige Mitarbeiter …»

Plötzlich hellte sich seine abweisende Miene auf und ein Grinsen zog über sein Gesicht. Er legte verschwörerisch den Zeigefinger vor die Lippen.

«Abgehalfterte, ausgediente Agenten wie ich! Man überlässt ihnen ein Häuschen, je nachdem auch eine kleine Gastwirtschaft, eine Gärtnerei oder Pension, wo sie ihren Lebensabend zubringen können, ohne an Langeweile zu sterben oder auf abwegige Gedanken zu kommen.

Haben Sie sich schon einmal gefragt, was mit Leuten unseres Schlages passiert, wenn sie das Pensionsalter erreichen? Wenn ihre alten Knochen lahm und müde geworden sind und sie anfangen, schwerer zu begreifen, oder wenn Gedächtnis und Gehör nachlassen? Nein, natürlich haben Sie noch nicht darüber nachgedacht!

Warum sollten Sie auch? Ich kenne einige, die mittlerweile fast taub sind, man könnte neben ihrem Ohr eine Achtunddreißiger entsichern, ohne dass sie herumfahren.

Dies ist einer der merkwürdigen Orte, an denen wir ausruhen können. Sie werden noch ein paar andere üble Gesellen kennenlernen, wenn Sie länger bleiben. Es gibt nicht viele solcher Dörfer – in jedem Land vielleicht eines oder zwei. Natürlich dürfte ich gar nicht darüber reden – aber anscheinend neigen alte Kerle in Gegenwart eines hübschen Mädchens zur Geschwätzigkeit. Da Sie von so weit her kommen, werden Sie wohl nicht gleich mit Ihrem Wissen hausieren gehen, oder?»

Sie schüttelte nur stumm den Kopf.

«Man lässt uns also hier das Gnadenbrot essen. Ein ausgezeichneter Platz, weil wir auf kleinem Raum unter Kontrolle bleiben!

Im Prinzip sind wir natürlich frei und können gehen, wohin wir wollen. Man ködert uns mit gewissen Vorteilen, finanziellen und anderen. Land ist sehr billig, Grundsteuern entfallen. Dieser ehemalige Hof hier hat mich kaum zwei Drittel seines tatsächlichen Wertes gekostet – mit Speck fängt man Mäuse. Außerdem ist es sicherer.

Wir sind ja alle mehr oder weniger Geheimnisträger. Ich bin der einzige in der Gegend, der so weit draußen wohnt. Für den Verfassungsschutz ist das Gelände ideal.

Auf der einen Seite befindet sich der Fluss und im Norden und Süden gibt es nichts als Weiden, von den paar Gehölzen, die man kaum Wäldchen nennen würde, einmal abgesehen. Die nächste größere Stadt ist zwanzig Kilometer entfernt, so kann man mysteriöse Figuren leicht unter Beobachtung halten.

Sie finden sich von Zeit zu Zeit hier ein wie die Geier beim Aas, um abzuwerben, oder weil sie hinter alten, aber immer noch wertvollen Informationen her sind. Auf dem Land fällt jeder Fremde sofort auf. Aber machen Sie sich nicht zuviel Sorgen deswegen. Ihrem Wirt zum Beispiel können Sie durchaus vertrauen, er sieht zwar aus wie ein Meuchelmörder, hat aber niemals in Staatsdiensten gestanden.»

Karlsbeck schwieg und musterte sie amüsiert.

«Das hätten Sie nicht für möglich gehalten, hab ich recht? So ungläubig, wie Sie dreinschauen …!»

Er betrachtete lächelnd seine Hände. «Ich denke, selbst Majunga, der allwissende Sekretär des Präsidenten, wusste nicht, wohin er Sie schickte. Auch drüben im Dorf geht natürlich niemand mit diesen Dingen hausieren, es sind überwiegend ehrsame und arglose Bürger, die nichts von uns ahnen. – Deshalb sollten Sie auch darüber schweigen und nicht versuchen, ihnen die Nachtruhe zu rauben … es würde mich sonst in Schwierigkeiten bringen.

Der Polizeiposten gegenüber der Bank hat immer ein wachsames Auge auf die Durchreisenden.

Wussten Sie, dass echte Touristen kaum zu verwechseln sind? Sie haben eine Art, den Altar der Dorfkirche anzugaffen oder über die Treppchen der Weidenzäune zu klettern, die kaum zu imitieren ist. Nach zwei, drei Tagen wird man auch Sie argwöhnisch beäugen, womöglich folgt Ihnen hier und da eine dieser allzu unauffällig gekleideten Gestalten im Trenchcoat. Lassen Sie sich dadurch nicht aus der Ruhe bringen.

Ihre Arbeit ist ja ganz legitim. Dies hier ist schließlich nicht Mayotte.»

Er reichte ihr den Zettel …

Verknöcherter alter Junggeselle! Elegant hinausbefördert – wahrscheinlich, weil er mit seiner Äffin allein sein will, dachte sie wütend, nachdem sich die Haustür hinter ihr geschlossen hatte.

Sie machte sich auf den Weg zurück ins Dorf. Diesmal ging sie die asphaltierte Straße entlang.