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Die Taufe ist eines der ältesten und bis heute wirkungsvollsten Rituale des Christentums. Mit dieser Studie liegt nun die erste dezidiert ritualwissenschaftliche Untersuchung zu den neutestamentlichen Tauftexten vor. Auf der Grundlage klassisch-exegetischer Vorüberlegungen werden verschiedene Ritualaspekte der Taufe in Ritualvergleichen und mit Hilfe weiterer ritualwissenschaftlicher Methoden herausgearbeitet und interpretiert. Die Frage nach der Entwicklung der christlichen Taufe aus der Johannestaufe heraus wird dabei ebenso gestellt wie die Frage nach Gründen und Wegen ihrer schnellen Etablierung in den christlichen Gemeinden. Ein besonderes Augenmerk liegt auf der Vielfalt der paulinischen Taufmotivik, welche eingehend auf ihre möglichen Bezugnahmen auf den Ritualablauf hin untersucht wird. Die Arbeit endet mit einer umfassenden Darstellung und Interpretation des Rituals Taufe in neutestamentlicher Zeit, von der aus Anfragen an die heutige Deutung und Praxis der Taufe in der evangelischen Kirche abgeleitet werden.
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Claudia Matthes
Die Taufe auf den tod Christi
Eine ritualwissenschaftliche Untersuchung zur christlichen Taufe dargestellt anhand der paulinischen Tauftexte
Narr Francke Attempto Verlag Tübingen
© 2017 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen www.francke.de • [email protected]
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E-Book-Produktion: pagina GmbH, Tübingen
ePub-ISBN 978-3-7720-0044-7
Die vorliegende Studie wurde im Sommersemester 2016 von der Theologischen Fakultät der Universität Leipzig unter dem Titel „Auf seinen Tod getauft (Röm 6,3). Eine ritualwissenschaftliche Untersuchung zur christlichen Taufe dargestellt anhand der paulinischen Tauftexte“ als Dissertation angenommen und für den Druck leicht überarbeitet.
Für die jahrelange Unterstützung, jedes Mitdenken und viele anregende und reflektierende Gespräche danke ich meinem Doktorvater Herr Prof. Dr. Jens Herzer. Dankbar bin ich auch Prof. Dr. Marco Frenschkowski für das Zweitgutachten sowie vielfältige religionsgeschichtliche Hinweise. Die Diskussionen im Institutskolloquium haben mir immer wieder geholfen, Aufbau und Teilergebnisse des Projektes zu hinterfragen und mich zur richtigen Zeit motiviert. In besonderer Weise möchte ich an dieser Stelle Dr. Martin Hüneburg danken. Außerdem bin ich dankbar, dass das Projekt in der Reihe „Neutestamentliche Entwürfe zur Theologie“ aufgenommen wurde.
Viele, viele Familienmitglieder und Freunde wissen nach diesen Jahren mehr Details und Kuriosa über die Taufe als sie vermutlich jemals wissen wollten. Einige von ihnen haben mich zusätzlich bei der Korrektur unterstützt. Vielen Dank für jedes offene Ohr, jede Minute und sonstige Unterstützung, mit denen ihr einen erheblichen Anteil an diesem Buch habt! V.a. den Theolog(inn)en unter euch wünsche ich, dass ihr das immer wieder Gehörte nutzen könnt, um im besten Sinne „gelingende Taufen“ zu spenden und zu feiern! Ich weiß, ihr seid für die Wichtigkeit und die Chance lebendiger Rituale in unserem Alltag wie in unseren Gemeinden sensibilisiert.
Abschließend und besonders herzlich möchte ich meinem Mann Clemens Matthes danken, der mich bisher nur mit diesem Projekt kennt. Ich freue mich auf unser gemeinsames Leben und mit dir gemeinsam Rituale für unsere Familie zu finden und zu gestalten. Und ganz besonders freue ich mich darauf, dass unsere liebe Clara an diesem Sonntag getauft wird.
Halbau, Pfingsten 2016 Claudia Matthes
Zu keiner Zeit und in keiner exegetischen Veröffentlichung wird der Ritualcharakter der christlichen Taufe in Frage gestellt. Dass sich bisher nur wenige Studien dessen wissenschaftlicher Erfassung und Interpretation widmen, scheint eine Reihe an Gründen zu haben.1 Im Folgenden sei ein Überblick gegeben über diejenigen Beiträge, welche sich – wenn auch zum Teil nur ansatzweise – mit der Taufe als Ritual auseinandersetzen.
Die beiden umfassendsten Veröffentlichungen der letzten Jahre zur Taufe sprechen Ritualsapekte insofern an, dass sie die (vermeintlichen) Vorgängerrituale und „Parallelen“ phänomenologisch darstellen und ansatzweise Vergleiche und Überlegungen zu deren Verhältnis mit der christlichen Taufe anstellen:
Everett Ferguson, Baptism in the Early Church. History, Theology, and Liturgy in the First Five Centuries:2 Ferguson geht einerseits auf die Verwendung von Wasser zur Reinigung in der Ritualwelt des griechisch-römischen Kontextes ein3 und verhandelt andererseits über Johannes den Täufer,4 Jüdische Waschungen, Täuferbewegungen und die sog. Proselytentaufe.5 Diese Rituale identifiziert er als „a more likely immediate context for Christian baptism than any other antecedents“.
Hellholm, David/Vegge, Tor/Norderval, Oyvind/Hellholm, Christer (Hg.), Ablution, Initiation, and Baptism. Late Antiquity, Early Judaism, and Early Christianity, Bd. I–III:6 Die methodische Grundlage legt Petersen, Anders Klostergaard, Rituals of Purification, Rituals of Initiation. Phenomenological, Taxonomical and Culturally Evolutionary Reflections.7
Eine Reihe an Aufsätzen widmet sich Wasser- und teilweise auch Initiationsritualen in vorangehenden und umliegenden Kulturen: Assmann, Jan/Kucharek, Andrea, Wasserriten im Alten Ägypten;8 Hultgård, Anders, The Mandean Water Ritual in Late Antiquity;9 Graf, Fritz, Baptism and Graeco-Roman Mystery Cults;10 Pearson, Birger A., Baptism in Sethian Gnostic Texts;11 Wurst, Gregor, Initiationsriten im Manichäismus;12 Labahn, Antje, Aus dem Wasser kommt das Leben. Waschungen und Reinigungsriten in frühjüdischen Texten;13 Freyne, Sean, Jewish Immersion and Christian Baptism. Continuity on the Margins?;14 Sänger, Dieter, „Ist er hinaufgestiegen gilt er in jeder Hinsicht als ein Israelit“ (bYev 47b). Das Proselytenbad im frühen Judentum.15
Weitere Beiträge betrachten die christliche Taufe nach Einzelmotiven und in verschiedenen ntl.en Schriften(-gruppen): Labahn, Michael, Kreative Erinnerung als nachösterliche Nachschöpfung. Der Ursprung der christlichen Taufe;16 Hartman, Lars, Usages – Some Notes on the Baptismal Name-Formulae;17 Hellholm, David, Vorgeformte Tauftraditionen und deren Benutzung in den Paulusbriefen;18 Vegge, Tor, Baptismal Phrases in the Deuteropauline Epistles;19 Schröter; Jens, Die Taufe in der Apostelgeschichte;20 Byrskog, Samuel, Baptism in the Letter to the Hebrews;21 Moxnes, Halvor, Because of “The Name of Christ“. Baptism and the Location of Identity in 1 Peter;22 Schnelle, Udo, Salbung, Geist und Taufe im 1. Johannesbrief;23 Hartvigsen, Kirsten Marie, Matthew 28:9–20 and Mark 16:9–20. Different Ways of Relating Baptism to the Joint Mission of God, John the Baptist, Jesus, and their Adherents;24 Seim, Turid Karlsen, Baptismal Reflections in the Fourth Gospel;25 Wischmeyer, Oda, Hermeneutische Aspekte der Taufe im Neuen Testament.26 Die weiteren Beiträge erstrecken sich auf die patristische Periode.
Der Aufsatzband deckt eine beeindruckende Breite an Themen und Ritualen ab, welche mit der christlichen Taufe in ihren Anfängen in Verbindung stehen. Die Vielzahl der Autoren birgt zugleich (natürlicherweise) die Schwierigkeit, dass das methodische Vorgehen des Erfassens und Darstellens der Rituale unterschiedlich und damit wenig vergleichbar vonstattengeht. Eine Monographie muss den Anspruch haben, nicht allein ritualwissenschaftlich zu arbeiten, sondern sich auch der Herausforderung stellen, die sehr unterschiedlichen Quellen und Aspekte in einer einheitlichen und darin vergleichbaren Weise zu erfassen.
Theißen, Gerd, Die Religion der ersten Christen. Eine Theorie des Urchristentums, 171–224:27 Theißen widmet der „rituellen Zeichensprache des Urchristentums“ ein eigenes Kapitel, denn „Religionen sind Zeichensysteme, die auf eine letztgültige Wirklichkeit verweisen“.28 Die rituelle Zeichensprache stehe dabei neben der narrativen (Mythos und Geschichte) und der präskriptiven (Imperative und wertende Sätze).29 Aus der Vielfalt und Breite der urchristlichen Riten heben sich die beiden Sakramente Taufe und Abendmahl in besonderer Weise hervor. Theißen beschreibt ihr Entstehen als Transformation ursprünglicher, prophetischer Symbolhandlungen: Beide bezögen sich nur sekundär auf den Tod Jesu, wodurch es zu einer „Spannung zwischen äußerem Vollzug und religiösem Sinn“ käme.30 Letztlich überschreiten beide Sakramente „in rituell geschützter Form Tabuschwellen“, indem sie harmlose Handlungen („Essen und Trinken, Waschen und Begießen“) in religiöser Imagination mit Menschenopfer und Begrabenwerden gleichsetzen.31
In seiner verhältnismäßig ausführlichen Darlegung zu den urchristlichen Ritualen arbeitet Theißen in Ansätzen ritualwissenschaftlich. Seinem inhaltlich ähnlich ausgerichteten Buch „La dinamica rituale di sacramenti nel christianesimo primitivo. Da azioni simbolico-profetiche a riti misterici“32 stellt er gar dezidiert „ritualtheoretische Vorüberlegungen“ voran. Jedoch liegt seiner Untersuchung ein in der ritualwissenschaftlichen Forschung nicht mehr konsenesfähiger Ritualbegriff zu Grunde: „Riten sind Handlungen, die sich durch strenge Regelbefolgung selbst zum Zweck werden.“33 Diese Definition beeinflusst sodann nicht allein das Verständnis, sondern auch seine Überlegungen zur Entstehung von Taufe und Abendmahl. Ob seine Thesen zur Symbolhaftigkeit der Taufhandlung und ihrer Bezugnahme auf das Begräbnis Jesu34 tatsächlich zutreffen, wäre ebenfalls zu prüfen.35
Schließlich gibt es eine Reihe an ntl.en ritualwissenschaftlichen Studien, welche hier nicht in ihrer Breite dargestellt werden können. Der Fokus soll auf denjenigen liegen, welche mindestens ansatzweise die christliche Taufe als Ritual behandeln:
Strecker, Christian, Liminale Theologie des Paulus. Zugänge zur paulinischen Theologie aus kulturanthropologischer Perspektive:36 Strecker untersucht die urchristlichen Ritual- und Gemeinschaftsstrukturen und deutet sie unter grundlegender Inanspruchnahme der Ritual- und Gesellschaftstheorie Victor Turners. Die Anwendung von etablierten Ritualtheorien zur Deutung ritueller Zusammenhänge ist einerseits ein dezidiert ritualwissenschaftliches Vorgehen, anderseits bleibt zu fragen, inwieweit eine unter Beobachtung von Ureinwohnervölkern wie modernen Gruppierungen entwickelte Theorie „anwendbar“ auf die urchristliche Gemeinschaft ist – selbst dann, wenn Turner diese als Beispiel seiner Theorie benennt.37
In weiteren Veröffentlichungen v.a. zur Taufe verfolgt Strecker sodann auch andere ritualwissenschaftliche Ansätze, indem er der ntl. mit der Taufe in Verbindung gebrachten Motivik ritualwissenschaftlich nachspürt: Strecker, Christian, Taufrituale im frühen Christentum und in der Alten Kirche. Historische und ritualwissenschaftliche Perspektiven;38 ders., Auf den Tod getauft – ein Leben im Übergang. Erläuterungen zur lebenstransformierenden Kraft des Todes bei Paulus im Kontext antiker Thanatologien und Thanatopolitiken;39 ders., Macht – Tod – Leben – Körper. Koordination einer Verortung der frühchristlichen Rituale Taufe und Abendmahl.40
Jensen, Robin M., Baptismal Imagery in Early Christianity. Ritual, Visual and Theological Dimensions:41 Jensen untersucht und interpretiert die vielfältige Taufmotivik vom Neuen Testament bis in die Patristik u.a. unter ritologischen Gesichtspunkten, indem sie etwa andere Reinigungsrituale oder Inkorporationsrituale vergleichend heranzieht. Die von ihr untersuchten Motive sind „Baptism as Cleansing from Sin and Sickness“,42 „Incorporation into the Community“,43 “Baptism as Sanctifying and Illuminative”, “Baptism as Dying and Rising”44 sowie “Baptism as the Beginning of the New Creation”.45 Mit ihrer inhaltlichen Herangehensweise verfolgt sie die Deutungsmotive durch die Entwicklungsgeschichte der Taufe hindurch. Andere ritualwissenschaftliche Ansätze, wie etwa der Vergleich mit funktional ähnlichen Ritualen, werden dieser Prämisse untergeordnet und treten dadurch nur am Rande auf.
DeMaris, Richard E., The New Testament in its Ritual World:46 Nach einer Einführung in „Ritual Studies and the New Testament“ unterteilt DeMaris seine Ausführungen in „Entry Rites“ und „Exit Rites“ und geht innerhalb dessen sowohl Ritualelementen als auch -motiven nach. Er legt damit eine inhaltlich wie methodisch dezidiert ritualwissenschaftliche Studie vor. Die christliche Taufe stellt dabei eines der untersuchten Rituale dar.47
Eine Reihe von Studien und Aufsätzen beschäftigt sich allgemein mit der Ritualwelt des Neuen Testaments oder auch konkret mit Ritualaspekten und -elementen der christlichen Taufe in ihren Anfängen. Wenn daraus auch einzelne inhaltliche wie methodische Anstöße hervorgehen, so fehlt es dennoch an einer umfassenden Erfassung des Rituals Taufe. Die nachfolgende Arbeit stellt sich der Herausforderung, dies erstmalig durchgehend und dezidiert unter Zuhilfenahme ritualwissenschaftlicher Methodik zu vollziehen. Den Weg dahin wird das nachfolgende Methodenkapitel aufzeigen.
Es galt lange Zeit als Gemeinplatz innerhalb der Sozialforschung, „daß Rituale in modernen Gesellschaften an Bedeutung verloren haben – als Ergebnis des Siegeszuges des Rationalismus oder der Technik, oder weil man den Individualismus, die Spontaneität, Authentizität und Aufrichtigkeit zunehmend höher bewertete“.1 Max Weber etwa assoziierte Ritual mit Magie und konstatiert, „daß alle beide in der modernen, ‚entzauberten‘, rationalen Welt an Bedeutung verlieren“.2 Max Gluckman spricht gar von einem allgemeinen Rückgang der Ritualisierung sozialer Beziehungen.3
Doch die Tendenz zur Marginalisierung von Ritualen ist erheblich älter als Weber und Gluckman. Wesentlich geprägt und mitbegründet wird sie bereits seit dem 16. Jh. von der evangelischen Theologie in ihrer gesamtgesellschaftlichen Wirkung: „The Protestant Reformation produced an ideological stance that was openly hostile toward ritual.“4
In seiner (theologie-)geschichtlich angelegten Ursachenforschung macht Gorman drei Aspekte evangelischer Theologie aus, welche zu einer Abwertung von Ritualen führten: 1) „the emphasis on inner experience as central to the authentic Christian existence“; 2) „a Christocentric and Christological interpretation of the Bible and history“ und 3) „anti-Judaistic and anti-Catholic biases and polemics“.5 Einige dieser (Über-)Interpretationen sind als direkte Reaktion auf das teilweise magische Ritualverständnis und -praxis der vortridentinischen katholischen Kirche zu verstehen und führen zu einer allgemeinen Distanzierung von ritualisierten, körperlichen Formen der Glaubensausübung.
Später verstärken nach der Meinung von Douglas antiritualistische Thesen tradierende, religiöse Erweckungsbewegungen, welche das Ritual stets als „leeren Konformismus“ kritisieren, die Marginalisierung des Rituals v.a. im evangelischen Bereich und davon geprägten Gesellschaften.6
Dass nun in den vergangenen 30 Jahren gehäuft die Beobachtung gemacht wird, Rituale seien wieder „in“ bzw. „schön“,7 hat m.E. zwei miteinander korrespondierende Ursachen:
1) Es ist ein erweiterter, nicht allein auf religiöse Rituale und den Ritualablauf fokussierender Ritualbegriff wahrzunehmen. Rituale werden (wieder-)entdeckt in sämtlichen Gesellschafts- und Lebensbereichen.
2) Es entstehen tatsächlich viele neue Rituale bzw. werden bewusst gesucht und entwickelt. Diese „neuen“ Rituale unterscheiden sich jedoch teilweise erheblich in Art, Intension wie gesellschaftlicher bzw. privater Verortung von bisherigen Ritualen und deren Funktionen. Als Anlass vieler der v.a. privaten Rituale muss die sich so schnell wie nie verändernde, verkomplizierende und ständige Entscheidungen, Flexibilität und Erreichbarkeit fordernde Lebenswelt eines Menschen des digitalen Zeitalters gelten. Entsprechend werden Rituale zum Arbeiten im homeoffice, zur Ehescheidung,8 zum Umgang in Patchworkfamilien9 sowie zu individuellen oder auch gemeinschaftlichen Offline-Zeiten entwickelt: „Die ‚neuen Rituale‘, so darf man aus all dem schließen, sind Handlungen, die vornehmlich der Psychohygiene dienen und darin ihren Sinn wie ihre Rechtfertigung – ihre raison d’etre – finden.“10 Selbst wenn dazu auf ältere Ritualformen zurückgegriffen wird, „werden sie nicht als Selbstverständlichkeiten des gesellschaftlich-religiösen Lebens fraglos wahr- und hingenommen, sondern in einer Art ‚Kaufentscheidung‘ bewußt gewählt, häufig auch erst in einem kreativen Prozeß hergestellt, um- und ausgestaltet. Immer weniger wird ihre Plausibilität durch kulturelle Gewohnheiten bzw. durch religiöse und gesellschaftliche Institutionen garantiert.“11
Daneben werden aber auch im öffentlichen Raum – in Politik, Sport, Musik oder auch an Universitäten – Rituale vermehrt entwickelt bzw. werden (wieder) als solche erkannt. Diesbezüglich ist gelegentlich die These zu hören, alle Gesellschaften seien gleichermaßen ritualisiert, sie würden lediglich unterschiedliche Rituale praktizieren. Burke mahnt diesbezüglich an, dass es wesentlich schwieriger sei, eigene Rituale zu erkennen als die der anderen, und empfiehlt daher, lediglich die Einstellung gegenüber Ritualen in der eigenen Gesellschaft zu beschreiben.12 Er kommt dabei zu dem Schluss: „Selbst wenn viele Menschen Rituale weiterhin ernst nehmen und es möglich ist, daß neue Medien […] auf ihre Art zur Mystifikation von Autoritäten beitragen, so steht dennoch fest, daß eine distanzierte, ja ablehnende Einstellung zu ‚bloßen‘ Ritualen in der westlichen Kultur feste und tiefe Wurzeln geschlagen hat.“13
Als aktuelle Grundtendenzen moderner Gesellschaften – ob evangelisch geprägt oder nicht – lässt sich dennoch festhalten: 1) Es entsteht eine Vielzahl neuer Rituale, sowohl im privaten wie im öffentlichen Raum. 2) Teilweise wird dazu auf alte Ritualformen und -abläufe zurückgegriffen. 3) Die privaten Rituale, sowohl von einzelnen, als auch Familien und kleineren Gruppen reagieren dabei häufig auf veränderte gesellschaftliche Herausforderungen und versuchen, diese mit Hilfe von Ritualen zu bewältigen. 4) Neuere Rituale in Politik, Medien oder auch Sport scheinen ebenfalls auf die sich verändernde Gesellschaft, ggf. den Rückgang allgemeingültiger und allgemein praktizierter Rituale zu reagieren. Dass die Trauerzeremonien am Ground Zero wesentliche Elemente kirchlicher Trauerfeiern oder auch das allsamstagliche Fangebaren in deutschen Fußballstadien auffällige Ähnlichkeiten mit einer Gottesdienstliturgie hat, mag als Indiz dafür gelten.
Mit dieser kontroversen gesellschaftlichen Entwicklung geht seit einigen Jahrzehnten die zunehmend systematisierte wissenschaftliche Erforschung von Ritualen einerseits innerhalb unterschiedlicher Forschungsgebiete14 und andererseits als eigenständiges und doch stets interdisziplinäres Forschungsgebiet, den sog. „Ritual Studies“ bzw. „Ritualwissenschaften“, einher.15 Als maßgebliche Protagonisten seien hier nur exemplarisch genannt Catherine Bell,16 Mary Douglas,17 Roy Rappaport,18 Jonathan Z. Smith,19 Victor W. Turner20 und Arnold van Gennep.21 Gesondert ist auf Ronald L. Grimes22 zu verweisen, welcher 2005–2010 den weltweit ersten Lehrstuhl für Ritual Studies an der Radboud University Nijmegen (Niederlanden) innehatte.
Wie diese vielfältigen modernen Ansätze so können auch die antiken Ritualtheorien hier nicht ausführlich dargestellt werden. Genannt werden sollen aber immerhin die bekanntesten Protagonisten in diesem Bereich: Philon und Plutarch, v.a. Αἰτίαι Ῥωμαϊκαί, Αἰτίαι Ἑλλήνων. Anders als in den eher schlichten neutestamentlichen Paränesen spielen bei ihnen umfangreiche ethische und moralphilosophische Kultdeutungen eine wesentliche Rolle.23
Viele Kontroversen wie auch die Vielfalt der Theorien innerhalb der Ritualwissenschaften gründen im Fehlen einer konsensfähigen Definition für den Untersuchungsgegenstand „Ritual“. Einen ersten Hinweis auf der Suche nach dem „Wesen“ eines Rituals bietet die Begriffsgeschichte.
Die Bezeichnungen, welche sich in den europäischen Sprachen finden, gehen beinahe alle auf das lateinische Adjektiv ritualis bzw. das Nomen ritus zurück, welches „Brauch, Sitte, Gewohnheit“ meint.1 Eine rite vollzogene Handlung wurde in der festgelegten Form ausgeführt. Die etymologische Wurzel ist nicht eindeutig: Die zwei gemeinhin angeführten Möglichkeiten betonen entweder die „auf Regelmäßigkeit beruhende Struktur“ (von sanskrit. r̥ta) oder, etwas neutraler, den Verlauf einer Handlungsabfolge (von indogerm. ri).2 Die regelmäßige wie die prozessuale Charakteristik scheinen zwei Elemente zu sein, die sich bis in den heutigen Sprachgebrauch des „Rituals“ durchziehen. Bei der Übernahme in die modernen indogermanischen Sprachen entwickelt sich der Begriff jedoch sehr schnell zum terminus technicus und Schlüsselbegriff in verschiedenen Zusammenhängen, so etwa im Deutschen3 oder auch Englischen.4
Die zunächst scheinbar verheißungsvolle Feststellung, dass die einschlägigen Begrifflichkeiten in so vielen der europäischen Sprachen sich auf eine gemeinsame Wurzel, nämlich das lateinische ritus zurückführen lassen, „does not imply semantic and pragmatic continuity“.5 Will man dem ursprünglichen Sinn des Begriffes auf die Spur kommen, ist vielmehr nach semantisch-pragmatischen Synonymen zum heutigen Ritualbegriff zu fragen – mit Blick auf den Gegenstand der Arbeit – über das Lateinische ritus hinausgehend speziell im (neutestamentlichen) Griechischen: „The (ancient) Greek language does not have a word that corresponds to the modern notion of a ‚ritual‘.“6 Chanoitis meint vielmehr, verschiedene Arten von Entsprechungen für „Ritual/ritual” ausmachen zu können: zum einen Wörter, welche einzelne Rituale bezeichnen (θυσία, ἐναγισμός, σπονδή), zum anderen Begriffe, die – aus dem semantischen Feld „to act“ / „action“ stammend – in einem allgemeineren Sinne Rituale bezeichnen können (ἱερὰ ποιεῖν, θεραπεύειν τοὺς θεούς), und davon wiederum abgegrenzt weitere Begriffe, welche beinahe ausschließlich im Zusammenhang mit Mysterienreligionen und Initiationen belegt sind (τελεῖν, δρόμενα, ὄργια). „Instead of using a word that corresponds to our notion of a ritual, the Greeks often use the general term tà nomizómena (‚the actions prescribed by custom‘) in order to refer to ritual actions, not only of a religious nature.“7
Wie das Griechische unterschiedliche Termini verwendet und das lateinische ritus bereits zwei grundlegende Bedeutungstendenzen beinhaltet, so lassen sich auch in den heutigen Ritualwissenschaften nicht allein unterschiedliche Ritualdefinitionen, sondern kategorial verschiedene Ansätze, ein Ritual zu definieren, ausmachen, welche hier lediglich in einer kleinen Auswahl dargeboten werden können:11) Einige Ritualdefinitionen beschreiben in Form von Nominalsätzen das Wesen von Ritualen.22) Andere Ritualdefinitionen sind von Negativbestimmungen geprägt.33) Wieder andere heben auf den Handlungsaspekt eines Rituals ab.44) Das Ritual wird selbst als Handlungsweise verstanden.55) Externe Intentionen haben Einfluss auf die Definition, wie etwa die Absicht rituelle Phänomene maximal zu erfassen6 oder auch die Abwehr dessen.7
Die Problematik führt einige Forscher schließlich dazu, „not to define ‚ritual‘ explicitely (forgetting that they do have some idea of what a ‚ritual‘ is anyway), or to argue against the use of the term altogether!“8 Stollberg-Rilinger hält solchen Tendenzen wiederum entgegen: „Es ist aber weder möglich noch notwendig, ja nicht einmal wünschenswert, sich auf eine einzige, ‚richtige‘ und ‚endgültige‘ Definition zu einigen. Deshalb ist die Geschichte der Ritualforschung immer zugleich eine Geschichte unterschiedlicher Ritualdefinitionen.“9 In diesem Sinne sollen die verschiedenen Ritualdefinitionen in ihrer Weite und Vielfalt an dieser Stelle stehen bleiben, und „Ritual“ mit Grimes grundsätzlich verstanden werden als ritualisiertes Handeln, dessen Ritualisierungsgrad unterschiedlich hoch sein kann.
Diese recht allgemeine Definition genügt an dieser Stelle, insofern bei keinem der in dieser Arbeit untersuchten Rituale ein Zweifel daran besteht, dass sie tatsächlich als Rituale gelten können. Sowohl die besprochenen Taufen, als auch die zum Vergleich herangezogenen sonstigen Wasserrituale, die Beschneidung wie auch die gelegentlich thematisierten Mysterieneinweihungen stellen Rituale dar. Zu diskutieren sind vielmehr ritologische Sachfragen, wie Möglichkeit und Umstände von Ritualentwicklungen oder auch Ritualkritik sowie die Ritualkategorie. Dort hat auch der methodische Fokus bezüglich zu befürchtender Engführungen zu liegen, nicht aber auf der Ritualdefinition im Allgemeinen. Daher werden im Folgenden nach einer Übersicht über mögliche Ritualklassifikationen mit Blick auf die christliche Taufe und ihre Entstehung offensichtlich relevante Sonderfragen der Ritualwissenschaften dargestellt.
Ebenso verschieden und vielfältig wie die Ritualdefinitionen gestalten sich auch die Ansätze, Rituale zu klassifizieren. Neben binären Grundunterscheidungen, etwa in religiöse und säkulare Rituale1 oder in Hauptrituale und Teilrituale/-riten,2 werden auch immer wieder mehrgliedrige Modelle vorgeschlagen. Die meisten Kategorisierungen unterscheiden dabei nach inhaltlich-funktionalen Aspekten, wobei auch bei den von etablierten Ritualwissenschaftlern vorgeschlagenen Modellen sich Beschreibungsschwierigkeiten auftun und reflektiert werden,3 welche entweder zu Mischkategorisierungen oder aber dazu führen, dass Rituale in mehrere der Kategorien eingeordnet werden können.4 Als klassische Modelle können gelten die sechs Kategorien Bells,5 die 16 Kategorien Grimes,6 aber auch Grimes’ Katalog an typischen Ritualeigenschaften, nach welchem der Grad an Ritualisierung gemessen werden kann.7
Die Zuordnung eines Rituals zu einer der Kategorien kann je nach Art des Rituals einen einfachen Schritt im Rahmen der Analyse darstellen oder aber eine wesentliche Entscheidung im Interpretationsprozess, welche ggf. an dessen Ende erneut zu prüfen ist. Die Taufe wird gemeinhin zur Kategorie der Reinigungsrituale8 und/oder zur Kategorie der Initiationsrituale gerechnet. Letztere bedürfen auf Grund ihrer Geschichte wie auch Vielfalt einer kurzen Darstellung.
Exkurs: Initiationsrituale
1. Begriffsgeschichte
Das Spannungsfeld der verschiedenen Vorstellungen und Assoziationen zur Initiation liegt bereits im Begriff begründet, denn in ihm „kreuzt sich ein antiker, an den ‚Mysterien‘ orientierter Begriff mit einem modernen, der auf Entwicklungspsychologie und Gesellschaftstheorie ausgerichtet ist“.9 Insofern ist im Folgenden zwischen dem griech.-lat. Ursprung des Begriffes und dessen heutiger Verwendung als Kategoriebezeichnung innerhalb von Anthropologie, Ethnologie und den Ritualwissenschaften zu unterscheiden.
Der heutige Fachbegriff leitet sich vom Lateinischen initia / initio bzw. initiare ab, was zunächst „Anfang / anfangen“ bedeutet, hierbei allerdings als Übersetzung für die griechischen Begriffe μύησις, μυστήρια, ὄργιον und τελεθή verwendet wird, auch wenn sich „keines dieser griech. Substantiva […] auch nur annähernd mit dem lat. Wort“ deckt.10 Die Rekonstruktionsversuche zur ursprünglichen Bedeutung von dem Wortfeld um μύησις bleiben spekulativ,11 sicher scheint allein, dass sich die griechischen Begriffe zunächst auf die Geheimkulte von Eleusis und Samothrake – später auch auf andere – beziehen,12 und seit der hellenistischen Zeit im Lateinischen durch initia oder auch das Lehnwort mysteria „jeder etwas geheimnisumwitterte Kult“13 bezeichnet werden kann.
2. Definition(en)
In der Moderne wird der Begriff initiation als Ritualkategorie wieder aufgegriffen bzw. neu bestimmt,14 wobei bisher – wie bereits beim Begriff „Ritual“ – keine einheitliche Definition und mit ihr eine entsprechende Abgrenzung und Beschreibung dieser Kategorie gefunden werden konnte. Es lässt sich jedoch feststellen, dass die begriffliche wie inhaltliche Grundorientierung zumeist auf die von van Gennep beschriebenen Passageriten,15 welche „nahezu gleichbedeutend mit ‚Initiation‘“16 verwendet werden, zurückgeht. Drei solcher Definitionen seien im Folgenden zitiert und sollen in ihren Übereinstimmungen, aber auch in ihrer gegenseitigen Weite die Grundlage für das Begriffsverständnis in dieser Arbeit darstellen:
Mircea Eliade: „Im allgemeinen versteht man unter Initiation eine Gesamtheit von Riten und mündlichen Unterweisungen, die die grundlegende Änderung des religiösen und gesellschaftlichen Status des Einzuweihenden zum Ziel haben. Philosophisch gesagt entspricht die Initiation einer ontologischen Veränderung der existentiellen Ordnung. Am Ende seiner Prüfungen erfreut sich der Neophyt einer ganz anderen Seinsweise als vor der Initiation: er ist ein anderer geworden.“17
Jan A.M. Snoek: „Initiations are all those, and only those, rites de passage, limited in time, and involving at least one subject participant, which are nonrecurrent transitions in time for their individual objects (the candidates).“18
Anders Klostergaard Petersen: „A ritual of initiation represents a sub-class of the category ritual. The class covers three different types of rituals that mutually differ from each other by the subject of doing of the ritual, as well as the state into which the ritual participant through the ritual is incorporated. Rituals of initiation effectuate an irreversible transfer of individual persons into a higher state of being than the one they had prior to the ritual act.“19
3. Beschreibung
Konsensfähig bestimmt die Forschung drei Grundarten von Initiationsritualen: Initiation in ein bestimmtes Alter, in eine Gemeinschaft oder einen Kult und schließlich in das Schamane- bzw. Priestersein.20 Da es als nahezu unbestritten gilt, dass Initiationsrituale eine Unterkategorie der sog. Passagerituale darstellen,21 wird für eine erste Beschreibung zumeist auf Beobachtungen von van Gennep zurückgegriffen, welcher für sämtliche Passagerituale drei Teilrituale und damit verbunden drei Phasen postuliert:221) „rites de séparation“ / „Trennungsriten“ – die Phase der Trennung bzw. Ablösung, welche oft als Prozess des Sterbens beschrieben wird; 2) „rites de marge“ / „Schwellen- bzw. Umwandlungsriten“ – die Phase der Umwandlung bzw. Schwelle, welcher zumeist ein Status der Heiligkeit zuerkannt wird;23 und 3) „rites d‘agrégation“ / „Angliederungsriten“ – die Phase der Integration, welche oft als Geburt oder auch Auferstehung gedeutet wird.24 Van Gennep weist jedoch darauf hin, dass die Ausprägung der einzelnen Phasen abhängig sein kann einerseits von der jeweiligen Kultur und andererseits von der Art des Passagerituals: „Trennungsriten kommen vor allem bei Bestattungs-, Angliederungsriten bei Hochzeitszeremonien vor. Umwandlungsriten können bei Schwangerschaft, Verlobung und Initiation eine wichtige Rolle spielen oder aber auf ein Minimum reduziert sein wie im Falle der Adoption, der Geburt des zweiten Kindes, der Wiederverheiratung, dem Übergang von der zweiten zur dritten Altersklasse usw.“25
Daneben finden sich bei verschiedenen Forschern Beschreibungs- und Eigenschaftenkataloge, welche angesichts der Fülle und Vielfalt an Initiationsritualen das Verbindende und darin auch das Spezifische gegenüber anderen Ritualen herauszustellen:
Arnold van Gennep weist darauf hin, dass Passagerituale normalerweise ein Erkennungszeichen haben, welches allerdings nicht von permanenter Qualität sein muss, sondern z.B. auch in Kleidung, Masken oder Körperbemalung bestehen kann.26
Jan A.M. Snoek bietet eine Aufzählung von Eigenschaften, die Initationsritualen zueigen sind: „Initiations may be preceded by preparatory rites. […] The object of a rite de passage, and thus of an initiation, must fulfill certain predefined conditions in order to qualify for its role in the ritual. […] the object of an initiation is an individual person: the candidate.”27 Ein Ritual kann nicht lebenslang andauern und „one initiator should take part in the ritual, which renders ‚self-initiation‘ a contradiction in terms.”28 „Initiations are first-time-rituals which cannot be repeated (are nonrecurrent) for the same candidate. […] Through an initiation, one usually becomes a member of a group. In that case it is also the only means to become a member. […] As a rule, a candidate cannot have a stand-in, but must go through the ritual him/herself. […] Usually, taboos or instructions are supposed to help a candidate to avoid dangerous influences of the sacred during the liminal phase of ritual. […] Usually, the candidate is conducted by one or two guides or instructors. […] Usually, the initiated can be recognized by (permanent or removable) badges, obtained during their initiation.”29
Anders Klostergaard Petersen ergänzt diese Beobachtungen: „The ritual participants in the ritual of initiation consist of one or, at the very maximum, a few individuals. It never includes an entire community or society. […] The qualitative changes acquired by the ritual participants through the completion of the ritual are of an irreversible nature, i.e. they cannot be lost unless, and very seldom, a new narratively staged ritual process is initiated.“30
Mircea Eliade listet in ihren elaborierten Werk „Rites and Symbols of Initiation“31 eine Vielzahl an Elementen und Charakteristika auf, welche häufig bei Initiationsritualen anzutreffen sind: Bezugnahme auf frühere und kommende Zeiten und eine Verhältnisbestimmung zum Moment der Initiation, Bezugnahme auf mythische Gründungserzählungen, ggf. mit Wiederholung derer während der Initiation, Thematisierung der Gemeinschaft und der Stellung der Neophyten in ihr, dazu sind Prüfungen zu bestehen und sehr oft ein ritueller Tod zu erleiden, um danach ganz neu zu den Lebenden zurückzukehren oder auch ganz neu geboren zu werden.32
Aus dieser Fülle an Elementen und Deutungen stechen Eliade zufolge bei religiösen Initiationen zwei Motive heraus:
1) Religiöse (Initiations-)Rituale stellen die Wiederholung des Schicksals einer Gottheit oder aber der Schöpfung als Ganzes dar,33 „[d]enn die symbolische Wiederholung der Schöpfung impliziert eine Reaktualisierung des ursprünglichen Ereignisses und damit die Gegenwart der Götter und ihrer schöpferischen Energien.“34 Dabei kommt es zu einer Vereinigung zwischen der Gottheit und demjenigen, der im Ritual ihre Rolle spielt bzw. nachahmt.35
2) Doch „[j]eder rituellen Wiederholung der Kosmogonie geht eine symbolische Regression zum ‚Chaos‘ voraus. Damit die alte Welt von neuem erschaffen werden kann, muß sie zuerst vernichtet werden. […] Im Szenarium der Initiationsriten entspricht der ‚Tod‘ der vorübergehenden Rückkehr zum ‚Chaos‘“.36 Dies zeige sich in folgender Weise: „Die meisten Initiationsprüfungen enthalten in mehr oder weniger erkennbarer Form einen rituellen Tod, dem eine Auferstehung oder eine Wiedergeburt folgt. Das zentrale Moment jeder Initiation wird durch die Zeremonie dargestellt, die den Tod des Neophyten und seine Rückkehr zu den Lebenden symbolisiert. Aber es kommt ein neuer Mensch ins Leben zurück, der eine andere Seinsweise auf sich genommen hat. Der Initiationstod bedeutet gleichzeitig das Ende der Kindheit, der Unwissenheit und des profanen Zustands.“37 Petersen formuliert diesbezüglich vorsichtiger: „The relationship between the two non-liminal phases and the liminal one is expressed through the use of analogical, binary contrasts.“38 Der von Eliade beschriebene Initiationstod mit folgender Neu- bzw. Wiedergeburt ist aus anthropologischer Sicht der deutlichste und augenfälligste Ausdruck eines solchen Kontrastes.39
Die Veränderung oder gar Neuentwicklung1 von Ritualen scheint deren ureigenem Wesen zunächst zu widersprechen, denn „rituals tend to present themselves as the unchanging, time-honored customs of an enduring community.“2 Entsprechend scheinen Beobachtungen zu bestätigen, dass „ritual activities generally tend to resist change and often do so more effectively than other forms of social custom.“3 Gleichzeitig zeigen genauere Untersuchungen, dass dies keinesfalls selbstverständlich ist: „Es kostet Mühe und ist aufwendig zu verhindern, dass Rituale sich verändern; formale Konstanz ist keineswegs selbstverständlich.“4
Und so hat sich in den vergangenen Jahren innerhalb der Ritualwissenschaften ein eigener Forschungsschwerpunkt herausgebildet, welcher unter den Stichworten „ritual dynamic“5 und „ritual design“6 Anlässe und Prozesse von Ritualveränderung, -weiterentwicklung und -neuentwicklung untersucht und interpretiert. Im Folgenden kann und soll es nicht um eine ausführliche Darstellung des Phänomens, sondern lediglich um einen kleinen Einblick in die Problematik gehen.
Die Hauptursache von Ritualveränderungen liegt in ihrer starken Kontextabhängigkeit begründet. Jede Art von Veränderung einer Gruppe bzw. des Umfeldes eines Rituals tritt in eine Wechselwirkung mit diesem. Konkret kann dies geschehen „[…] aufgrund interner oder externer Faktoren, von oben gesteuert, von unten erzwungen oder zwischen den Beteiligten ausgehandelt.“1 Zwei Sonderfälle sind zu beachten: 1) der Ritualtransfer und 2) die Neuentstehung bzw. -entwicklung von Ritualen.
Ein Ritualtransfer stellt eine Übertragung von Ritualen in andere Kontexte und Gesellschaften dar, bei welchem das Ritual zwar im Ganzen fortbesteht, jedoch normalerweise „seine Form, Funktion und Bedeutung im Laufe des Transferprozesses veränd[ert].“1 Widengren betont zwar einerseits das teilweise hohe Alter von Ritualen trotz derartiger Transfers, hält aber andererseits eine völlig unveränderte Übernahme eines Rituals samt des daran gebundenen Mythos in eine andere Religion für unmöglich.2 Für die Neukontextualisierung ganzer Kulte samt deren Ritualinventars prägte Schmidt den Begriff der „Kultübertragung“.3 Werden hingegen lediglich einzelne Ritualelemente in einen anderen Kontext transferiert, spricht man heute eher von „Interritualität“:4 „Der springende Punkt dabei ist, dass diese Elemente als ‚Zitate‘ erkennbar sind und auf ihren Herkunftskontext verweisen; dadurch werden die verschiedenen Rituale untereinander symbolisch verknüpft.“5
„The tendency to think of ritual as essentially unchanging has gone hand in hand with the equally common assumption that effective rituals cannot be invented.“1 Entsprechend werden offensichtlich neue Rituale gelegentlich abgewertet,2 durch die Forschung ignoriert oder aber ihnen wird mit einer hohen Erwartungshaltung begegnet: „There is increasing pressure for the invented rite to show that it ‚works‘; this is what legitimates the rite since there is no tradition to do this.“3
Myerhoff sieht den Grund dafür im Ritual selbst: „the invisibility of ritual’s origins and its inventors is intrinsic to what ritual is all about“.4 Bell widerspricht ihr darin, dass dies für alle Rituale zutreffen würde.5 Zudem betont sie, dass es sich bei der Ritualentwicklung keineswegs um ein ausschließlich modernes Phänomen handelt.6 Auch Stollberg-Rilinger verweist darauf, durch die Geschichte seien gerade in Umbruchssituationen Rituale erfunden worden, um etwa Brüche zu überbrücken.7 Zumeist handelt es sich dennoch nicht um eine „[…] creation ex nihilo. Various familiar symbols and traditions were evocative while still espousing sentiments in keeping with official directives.“8
„Doch Rituale wandeln sich nicht zwangsläufig, wenn sich die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen verändern. Einige Rituale werden mit neuen gesellschaftlichen Erfordernissen obsolet. Andere funktionieren als Folie, an der sich gesellschaftliche Debatten und Kämpfe entzünden.“1 Die Art und Weise, in der sich Rituale verändern bzw. aktiv umgestaltet werden, kann sehr vielfältig sein.
1) Rituale reagieren in unterschiedlicher Weise auf Veränderungen ihres Bezugskontextes:2 a) Sie passen ihre Form an. b) Sie bleiben in ihrer Form gleich und werden neu gedeutet. c) Rituale werden in neue Kontexte transferiert. d) „Die Rituale bleiben äußerlich unverändert, geraten in ein Spannungsverhältnis zu ihrer Umwelt und erstarren zum ‚leeren Ritualismus‘.“3 Stollberg-Rilinger stellt zu Recht fest, dass sich die einzelnen Varianten nicht immer klar trennen lassen.4
2) Selten geht die Ritualveränderung offen und für alle erkennbar vonstatten. Dies hat seine Ursache entweder darin, dass sich ein Ritual unmerklich nach und nach verändert oder aber darin, dass die Veränderung gezielt verschleiert wird: „Neues wird als Altes, Innovation als Tradition ausgegeben.“5 Für religiöse Rituale begründet dies Schwedler folgendermaßen: „Ein von höherer Macht bestätigter und gewollter Kult kann nicht so einfach ‚erneuert‘ werden, ohne in den Verdacht zu geraten, etwas Ursprüngliches und damit Legitimierendes zu verfälschen.“6 Dahingehend stellt sich auch die Frage, inwieweit Neuerungen von allen als solche erkannt und empfunden werden.7
3) Die jeweilige Beschaffenheit eines Rituals hat Einfluss auf dessen Veränderungsprozess. „Dabei spielen etwa ihre Sakralität, ihre zeitliche Frequenz, die Handlungsmacht ihrer Regisseure und vor allem die Art und Weise der Weitergabe eine zentrale Rolle.“8 Während eine rein individuelle mündliche Weitergabe sowie große Zeitspannen zwischen den Ritualvollzügen eine schleichende Veränderung begünstigen, kann die Veränderung eines schriftlich fixierten und von Spezialisten archivierten Rituals nur herbeigeführt werden.9
4) Nicht allein Ritualneuentwicklungen, sondern auch Ritualveränderungen greifen in einem gewissen Maße auf bereits bekannte Ritualelemente bzw. Ritualbausteine zurück. Stollberg-Rilinger betont gar die Notwendigkeit dessen: „Nur so erfüllt sie die Funktion, in Umbruchssituationen, etwa bei der Etablierung eines neuen Regimes, eines neuen Amtes, eines neuen Kultes, eines neuen politischen Programmes usw., von der Legitimität der Tradition zu profitieren und das Neue als weniger neu, gefährlich, beunruhigend und irritierend erscheinen zu lassen.“10 Dies ist dahingehend anzufragen, ob Ritualinnovationen und -veränderungen tatsächlich allein durch die Bewältigungsnotwendigkeit von veränderten Kontexten motiviert sind oder nicht gerade neue Situationen durch Ritualveränderungen geschaffen und gedeutet werden können.
5) Die Bedeutung desjenigen, der ein Ritual verändert, in einen neuen Kontext transferiert, umdeutet oder gar neu entwickelt, ist kaum zu unterschätzen. Bell fasst diejenigen, welche die Autorität haben, Rituale zu leiten, aber auch zu verändern, unter dem Begriff „agency“ zusammen.11 Eine solche Autorität kann abgeleitet sein „[a]us einer göttlichen Quelle, aus institutioneller Autorität, aus gemeinschaftlicher Übereinkunft aufgrund von Aushandlung, aus einer Kombination von all dem“.12 Eine Unterkategorie davon stellen die sog. „founder figures“, wie sie Betz nennt, dar, welche im Zuge von Ritualtransfers Rituale in ihren neuen Kontext einführen, begründen und ggf. die Anpassungen sowie Neuinterpretationen vornehmen.13
Blickt man unter diesen Voraussetzungen auf die christliche Taufe, ergeben sich eine Reihe an Fragen: Handelt es sich dabei tatsächlich um ein neues Ritual, um einen Ritualtransfer oder aber um eine bloße Weiterentwicklung der Johannestaufe? Welche konkreten Kontextveränderungen führen zur Entstehung und Deutung der christlichen Taufe. In welcher Weise reagiert das Ritual auf diese Veränderungen? So fällt etwa die sehr rasche Entwicklung, Verbreitung und Etablierung der christlichen Taufe mit den Entstehungsjahren der ersten christlichen Gemeinden zusammen, deren zwei größten hermeneutischen Herausforderungen die Deutung des gewaltsamen Leidens und Sterbens Jesu Christi sowie der Umgang mit der einsetzenden Heidenmission und damit nichtjüdischen Christusgläubigen sind – zwei Aspekte, welche in grundlegender Weise die christliche Taufe wie auch die ältesten Tauftexte bestimmen. Geradezu ein Paradebeispiel für einen Ritualtransfer stellt später die Verbreitung der christlichen Taufe in der hellenistischen Welt im Rahmen der heidenchristlichen Mission v.a. durch Paulus dar. Betz leitet daraus die These ab: „We are suggesting that the apostle Paul should be viewed as analogous to these Hellenistic founder figures […] The transferral and concomitant re-interpretation of baptism provide us with a classical example of this process.“14 Dies wäre ebenso zu untersuchen wie auch die Frage, auf welche ggf. bereits bekannten Ritualelemente und -deutungen Paulus für seine (Neu-)Interpretation zurückgreift und mit welcher Intention.
Der Ritualablauf kann allerdings auch durch bewusste Verletzungen oder Fehler eine Veränderung erfahren.1 Rehberg spricht sogar davon, es seien wie bei allen Normen erst „die Verletzungen, die Nichtbefolgung, durch welche ihre normative Struktur sichtbar wird.“2 Dies gilt einerseits für die Beteiligten am Ritual: „Oft veranlassen erst Regelverstöße die Akteure dazu, die zugrundeliegende Regel zu thematisieren, die sonst unausgesprochen und selbstverständlich gilt. Erst ein Fehler bringt die Akteure dazu zu reflektieren, inwiefern dadurch die Wirkung des Rituals gefährdet oder zunichte gemacht worden sein könnte.“3 Dabei können über Fehler beim eigentlichen Ritualvollzug hinaus auch Missverständnisse, Unwissen und Fehlverhalten in mit dem Ritual in enger Verbindung stehenden Bereichen oder auch bei korrespondierenden Ritualen zu Beeinträchtigungen oder gar dem Misslingen des ursprünglichen Rituals führen. Gedacht sei etwa an den Vollzug der Beschneidung an Heidenchristen in Galatien, welche für Paulus in direktem Verhältnis bzw. Missverhältnis zu deren christlicher Taufe steht. Andererseits gibt die Analyse derartiger Fehler sowie v.a. des Umgangs mit ihnen Ritualwissenschaftlern ritologische Einsichten in Rituale und deren intendierter Wirkung, welche nicht direkt in den überlieferten Quellen thematisiert und dokumentiert sind. Stollberg-Rilinger weist dabei mit Recht darauf hin, dass die Beurteilung eines möglichen Fehlers zwischen Ritualleiter und Ritualadressaten durchaus unterschiedlich ausfallen kann,4 z.B. abhängig von der jeweils intendierten Ritualwirkung, wie nicht zuletzt die galatische Auseinandersetzung zeigt.
Stollberg-Rilinger listet insgesamt acht verschiedene Arten der Abweichungen bzw. Fehler bei Ritualen5 und Lösungsmöglichkeiten dazu auf:61) Das Missgeschick,7 welches entweder taktvoll übersehen; mit einer rituellen Gegenmaßnahme korrigiert oder auch als übernatürlicher Eingriff ausgelegt werden kann; 2) der Konflikt (über den richtigen Ablauf) im Ritual bes. bezüglich Darstellung und damit Herstellung der sozialen Rangordnung der Teilnehmer,8 auf welchen mit Abreise, Protest oder einer Ausnahmeregelung reagiert werden kann; 3) die Abwesenheit von Ritualteilnehmern;94) die ironische Distanz von Ritualteilnehmern,10 was die Frage nach dem Verhältnis von äußerlichem Vollzug und innerer Akzeptanz stellt; 5) die Verweigerung der erwarteten Reaktion v.a. in dialogisch angelegten Ritualen;116) Entgleisungen durch emotionale Überreaktionen;127) die Usurpation oder der Missbrauch als die Störung von außen bzw. die „rituelle Lüge“ eines der Ritualteilnehmer;13 sowie 8) der demonstrative Ritualbruch, der „darauf zielt, die Institution, die das Ritual repräsentiert, grundsätzlich anzugreifen“.14 Stollberg-Rilinger leitet daraus ab: „Wird ein traditionelles Ritual ungestraft entweder ignoriert oder demonstrativ verletzt, dann wird vor aller Augen sichtbar, dass seine performative Kraft […] allein von der Anerkennung der Beteiligten abhängt und dass diese ihm auch entzogen werden kann.“15
Es ist bereits erwähnt worden, dass Ritualkritik einer der wesentlichsten Motoren für die (Weiter-)Entwicklung von Ritualen ist und auch einige der Fehler und Störungen innerhalb von Ritualen – von ironischer Distanz über Verweigerung bis hin zum offenen Ritualbruch – aus der Kritik am Ritual oder seiner Umsetzung entspringen können. Entgegen der landläufigen Meinung, Kritik und Ablehnung von Ritualen seien ein modernes Phänomen,1 lassen sich verschiedene Arten von Kritik und deren Auswirkungen bereits für die Antike belegen,2 was zu der These führt, dass mit jedem Ritual mindestens das Potential zur Ritualkritik gegeben ist.3
Hotz beschreibt in seinem einführenden Artikel drei zu unterscheidende Arten der Ritualkritik: 1) die „Skepsis und offene Kritik an der Wirksamkeit von Ritualen“4 allgemein, welche das Ziel hat, das bzw. die Rituale abzuschaffen; 2) die Kritik „gegen einzelne Elemente der rituellen Praxis, ohne dabei grundsätzlich die Wirksamkeit von Ritualen in Zweifel zu ziehen“,5 sondern auf die Reform des Rituals in dem kritisierten Ritualaspekt drängt;6 und 3) die Ersetzung oder Ergänzung der „als unzureichend empfunden rituellen Handlungen“ um „eine verinnerlichte und ethische Frömmigkeit“.7 Ob dies zur kompletten Abschaffung,8 Ersetzung9 oder möglicherweise zu einer besseren Bezugnahme und Integration von Ritual und innerer Haltung führt, hängt – wie bei sämtlichen Kritikformen – wesentlich davon ab, ob die Kritik als legitim wahrgenommen und aufgenommen wird oder ob von Anfang an Strategien vorhanden sind, mögliche Kritik zu vermeiden bzw. zu unterbinden.10
Der letzteren Art der Kritik ist die Äußerung des Paulus zuzuordnen, dass nicht der ein Jude sei, der es äußerlich ist, sondern derjenige, der es innerlich sei (Röm 2,28f). Die argumentative Struktur der paulinischen Tauftexte lässt vermuten, dass sie teilweise als Ritualkritik des Apostels am Tauf-, aber eben auch Beschneidungsverständnis der Adressaten oder bestimmter Gegner des Paulus zu verstehen sind. Da weder Beschneidung noch Taufe als Ritual an sich zur Diskussion stehen, dürfte es sich entweder um Kritik an Einzelaspekten, z.B. dem Bedeutungsumfang und der Wirkung des Rituals oder aber am Fehlen einer inneren Entsprechung im Lebensalltag handeln. Die Auseinandersetzung um Taufe und Beschneidung, aber auch die Selbstaussagen Johannes des Täufers über seine Taufe und diejenige dessen, der nach ihm kommen wird, sind Beispiele für die besondere Art der Ritualkritik über einen Ritualvergleich.
Am Ende dieser allgemeinen methodischen Einführung ist festzuhalten, dass der Untersuchungsgegenstand „Ritual“ ein komplexes und in der Forschung kontrovers diskutiertes Feld eröffnet. Dennoch konnten erste Kategorien und methodische Ansätze ausgemacht werden, mit Hilfe deren die christliche Taufe in ihrem Entstehungsstadium grundsätzlich einzuordnen und zu interretieren sein wird. Offen ist dabei bisher geblieben, welche Methodik dem Gegenstand und der Quellenlage am besten gerecht wird.
Obwohl sich in den biblischen Texten vielerlei Rituale in ganz unterschiedlichen Kontexten ausmachen lassen, blieb die Anzahl der Studien zu Ritualen oder gar dezidierte ritologische Untersuchungen in der Exegese lange Zeit überschaubar. Gorman sieht die Ursache allgemein für die Theologie in einem von der Aufklärung geprägten Bild einer „reasonable and rational religion“,1 welches zu einer regelrechten Abwertung von Ritualen beigetragen habe. In der Exegese erschwere die historisch-kritische Methode ein ritologisches Arbeiten zusätzlich durch „its efforts to be objective and reasonable“2, „its focus on texts“3, „its basic understanding of the nature of historical analysis and historical thinking“.4
„Recognition of the distance between biblical texts and contemporary readers began to grow, and the ‚alien‘ nature of the texts, their ‚otherness,‘ was emphasized. It becomes common to separate the historical settings and cultural trappings of texts from their ‚true‘ meaning. The ‚meaning‘ of texts came to be located either ‚behind‘ or ‚above‘ them.“5 Gormans Meinung nach führe diese Suche nach “ewiger Wahrheit” zu einem Abtun von Ritualtexten, da diese als lokal, kulturell spezifisch und zeitgebunden keine universell gültigen Äußerungen von Religion wären und damit zur „Wahrheitssuche“ nichts beizutragen hätten.
Beiden ist insofern zuzustimmen, als dass mangelndes und fehlgehendes Wissen um die Vielfalt, Wirkmacht sowie möglichen Funktionen ritualisierten Handelns zur Zurückhaltung gegenüber ritualfokussierten Untersuchungen beigetragen haben. Andererseits scheint die schwierige Quellenlage, wie etwa das fast vollständige Fehlen von Ritualbeschreibungen im NT, mindestens in gleicher Weise Ursache zu sein. Die aus der Anthropologie und Ethnologie hervorgehenden Ritualwissenschaften bieten originär kaum Anhaltspunkte, wie dem methodisch in angemessener Weise zu begegnen ist. Dass wiederum die historisch-kritische Methodik einer angemessenen Ritualanalyse und -interpretation grundsätzlich entgegensteht, scheint ebenso fraglich.6
Seit einigen Jahrzehnten lässt sich, allerdings hauptsächlich in der alttestamentlichen Exegese, eine ganz neue Hinwendung zu rituellen Themen feststellen.7 Klingbeil macht dafür zwei allgemeine Tendenzen innerhalb der Exegese verantwortlich: 1) „There is a shift from text-oriented analysis to meaning-oriented interpretation.“82) Es gäbe kategoriale Neubewertungen von Ritualfunktionen, welche bis in die Exegese hineinwirken. Beispielhaft dafür wäre etwa die These Bells, dass Rituale keineswegs nur für politische und soziale Machtausübung instrumentalisiert würden, „rather, ritual practices are themselves the very production of power relations.“9
Wenn auch die neutestamentlichen Schriften den detailreichen Kultanweisungen des Pentateuchs entsprechenden Ritualbeschreibungen ermangeln, so begegnen doch in den heilenden, segnenden und provozierenden Handlungen und Gesten Jesu oder den Beschreibungen und Problematisierungen von gottesdienstlichen und anderen Gemeindezusammenkünften in Apg und den Briefen eine erstaunliche Fülle an neu entwickelten oder auch lang tradierten, möglicherweise aktualisierten Ritualen und ritualisierten Handlungen. Neben diesen deskriptiven Texten finden sich solche, welche selbst rituelle Funktionen wahrnehmen, so zum Beispiel die Gruß- und Segenswünsche zu Beginn und Schluss der paulinischen Briefe – Texte, welche bisher kaum unter ritologischen Gesichtspunkten wahrgenommen wurden.
Der einzige methodische Entwurf zum ritologischen Arbeiten in der biblischen Exegese stammt nun aber dennoch von einem Alttestamentler: Gerald A. Klingbeil, Bridging the Gap. Ritual and Ritual Texts in the Bible. Entsprechend gehen die von ihm formulierten fünf Herausforderungen jeder biblisch begründeten Ritualuntersuchung zwar erkennbar von der besonderen Quellensituation der Hebräischen Bibel aus, sie sollen im Folgenden aber dennoch der Ausgangspunkt für die Überlegungen bezüglich der neutestamentlichen Tauftexte bilden, da sie den wohl profiliertesten Versuch zu diesem Thema darstellen:
1) „[…], biblical ritual must be studied nearly exclusively from texts.“1 Eine erste Kategorisierung dieser Texte könnte man mit Klingbeil in der Unterscheidung zwischen deskriptiven und preskriptiven Ritualtexten vornehmen,2 wobei sich allerdings die sechs Text-Ritual-Kategorien Streckers als wesentlich differenzierter erweisen.
Die Kategorien richten sich auf die jeweilige Art und Funktion des Rituals in einem Text und lauten: 1. Texte, die zur Ausführung eines Rituals anweisen; 2. Texte, die den Vollzug einer rituellen Handlung schildern bzw. konstatieren; 3. Texte, die sich mit der Bedeutung, Funktion oder rechten Durchführung rituellen Handelns auseinandersetzen; 4. Texte, die direkt rituellen Gebrauch entstammen; 5. Texte, die eine unmittelbare rituelle Funktion besitzen; 6. Texte, die synekdochisch mit einem Ritual vernetzt sind.3
Für die neutestamentlichen Tauftexte ist dabei weniger die Befürchtung einer teilweisen Fiktionalität von Relevanz, wie sie Klingbeil für viele alttestamentliche Ritualtexte konstatiert.4 Wohl aber ist zu erwarten, dass theologische Implikationen in die Darstellung eingeflossen sind. Die Vielfalt an Deutungsmotiven und Kontextualisierungen der Taufe allein in den paulinischen Texten kontrastiert diese allgemeine Annahme jedoch bereits insofern, als sie weniger eine unterschiedliche theologische Instrumentalisierung der Taufe als vielmehr eine Breite in Deutung und Funktion des Rituals vermuten lässt. Eine regelrecht tendenzielle Darstellung eines Rituals wird neutestamentlich lediglich für die Johannestaufe diskutiert.
2) „[…] most of the texts containing rituals are not easily dated, a fact that obviously has repercussions if one attempts the historical reconstruction of the Religion of Ancient Israel or early Christianity.“5 Während die Datierung der neutestamentlichen Tauftexte weniger ein Problem darstellt, insofern sie sich mindestens in eine wahrscheinliche relative Reihenfolge bringen lassen,6 enthält die Frage der sicheren zeitlichen Verortung des Proselytentauchbades durchaus eine Brisanz, welche sich in der Unterschiedlichkeit der daraus abgeleiteten Thesen in der Verhältnis- und ggf. Abhängigkeitsbestimmung zur christlichen Taufe widerspiegelt.
3) „[…] rituals in themselves are rather empty containers and need to be understood in their specific cultural, historical, and religious context, often requiring advanced studies and skills.“7 Um seine auf die Vorstellung hinauslaufende These „The actions that constitute a ritual do not have inherent meanings …“8 zu veranschaulichen, führt Klingbeil interessanterweise an dieser Stelle eines seiner wenigen neutestamentlichen Beispiele an: Bei dem (einen) Taufritual des NT würden erhebliche Bedeutungsunterschiede zwischen der Johannestaufe und der christlichen Taufe gemacht werden.9 Wenn seine These auch hauptsächlich auf die Warnung davor hinauszulaufen scheint, heutige Deutung in die antiken Texte einzutragen, so tritt die dahinterstehende Ritualdefinition von einer zunächst an sich „meaningless“ bzw. auch „mit Bedeutung frei zu füllenden“ Handlung deutlich hervor. Es ist bereits dargestellt worden, dass diese Auffassung keineswegs konsensfähig ist.10 Bezüglich der Taufe würde sie gegen jede symbolische Implikation des Taufvollzuges und damit auch gegen jede Erwartung einer Wirkung der Taufe sprechen, welche oft mit dem sensitiven Gedächtnis der Ritualteilnehmer in Verbindung gebracht wird. Diese hinge sodann allein an der vorherigen (!) Taufkatechese – eine Vorstellung, die modernen Ritualdefinitionen eher fremd ist und wofür m.E. in den neutestamentlichen Tauftexten auch nicht ausreichend Indizien vorhanden sind. Zu prüfen wäre vielmehr, ob die unterschiedlichen Deutungen des Taufaktes, sowohl der Johannestaufe als auch der christlichen Taufe, nicht eher auf eine (schrittweise) Veränderung bzw. Entwicklung im Taufverständnis zurückzuführen sind. Erkennt man Ritualabläufen in diesem Sinne ein Mindestmaß an inhärenter Bedeutung – neben und mit den je abhängigen Bedeutungszuschreibungen – zu, ist dies für die Interpretation der Weiterentwicklung der Johannestaufe zur christlichen Taufe zu bedenken, bei welcher der Ritualablauf trotz eines Wechsels von Ritualleiter, Zielgruppe und Funktion gleich bleibt.11
4) „[…] one has to deal with the often abbreviated nature of ritual in the Bible.“12 Klingbeil bringt dafür zwei mögliche Gründe vor: „Writing, for the professional ritual specialist, did not require all the minute details but rather focused on the larger picture. If a general audience was envisioned, it could be argued that this group also understood intuitively most basic elements […] or ritual building blocks.“13 Diese beiden Begründungen finden sich – neben der These über die allgemeine Nichtbedeutsamkeit des Ritualablaufes – gemeinhin auch für das Fehlen von Ablaufbeschreibungen für die Taufe im NT. Die folgende Untersuchung hat jedoch genau zu ergründen, ob die neutestamentlichen Tauftexte tatsächlich jeder Beschreibung eines Ritualablaufes ermangeln – v.a. angesichts der Entstehungssituation, in welche mindestens die paulinischen Texte noch zu rechnen sind und für welche im Gegensatz zu ausdifferenzierten alttestamentlichen Festritualen noch kein umfangreiches Gesamtritual mit vielfältigen Teilritualen zu erwarten ist. Gleichzeitig stellt sich die Frage, ob die vielseitigen Deutungsmotive und Kontextualisierungen der Tauftexte nicht auch ein aussagekräftiger Hinweis bezüglich des Fokus dieser Texte sind: Strittig, mindestens diskutabel sind demnach nicht Details eines komplizierten, möglicherweise symbolischen Ritualablaufes, sondern die Funktionen und Deutungen der christlichen Taufe in ihren rituellen Relationen.
5) „[…] comparative material is generally helpful and beneficial […]“14 Der methodische Ansatz Klingbeils, den Herausforderungen zu begegnen, sieht eine vergleichende Arbeitsweise vor, bei welcher er schriftlichen Texten grundsätzlich den Vorzug vor anderen Quellen gibt und dabei sowohl „historical comparison“15 als auch „typological comparison“16 grundsätzlich für potentiell aussagekräftig hält. Mit Blick auf die Taufe wären demnach Wasser-Ritual(text)e im Allgemeinen und solche mit einem ähnlichen geographischen und zeitlichen Hintergrund im Besonderen vergleichend heranzuziehen und diesen jederzeit den Vorzug gegenüber sämtlichen sonstigen Quellen,17 aber auch modernen Ritualinterpretationsmodellen18 zu geben.19
In welcher Weise den gerade beschriebenen Herausforderungen und Rahmenbedingungen in dieser Arbeit methodisch begegnet werden soll, ist im Folgenden zu bedenken.
Dafür, dass theologische Studien „have been slow to attend to nonverbal, nontextual phenomena“1 sieht Grimes den Hauptgrund in deren Textzentrierung. Ritualwissenschaften hingegen versteht er als „a movement away from the dominance of these verbally oriented conceptions of religion“.2 Dennoch stellen die neutestamentlichen Texte die Primär- und zugleich Hauptquellen für die christliche Taufe und ihre Entstehung dar und keine ritologische Arbeit kann an einer eingehenden Textexegese vorbei. Eine Berücksichtigung sowohl diachroner als auch synchroner Aspekte legt dabei nicht nur die spezifische Kontextualisierung und Argumentation mit und zur Taufe offen, sondern bildet in der Zusammenschau mehrerer Texte auch die unverzichtbare Grundlage für eine Erfassung in ihren rituellen Spezifika.
Die Vielfalt und Vielheit von Ritualen bedarf vor jeder Interpretation einer einheitlichen Analyse- und Darstellungsmethode. Grimes verspricht sich von einer so umfangreich wie möglichen Beschreibung folgende vier Aspekte: 1) „[to] enable ritual to speak most fully for itself“,12) „ [to] aid interpreters in discerning the continuities and discontinuities between their symbols and those of participants in a ritual“,23) „[to] generate helpful theories of ritual “3 und 4) „[to] precipitate a sense of the living quality of ritual in written accounts of them“.4
Neben der umfangreichen Erfassung jedes einzelnen Rituals bildet eine einheitliche Beschreibung zugleich die Grundlage für eine Vergleichbarkeit und damit Verhältnisbestimmung von Ritualen unterschiedlichen Vollzuges und Bedeutung in Ritualeinzelaspekten.5 Will man die christliche Taufe in sämtlichen ihrer rituellen Relationen erfassen, bedarf es Beschreibungs- und Argumentationsmuster, welche neben der Taufe etwa auch auf die Beschneidung anwendbar sind.
Grimes bietet dazu einen sehr breit angelegten Fragenkatalog, an Hand dessen Rituale nach fünf Aspekten, welche typisch und aussagekräftig für nahezu alle Rituale sind, analysiert und beschrieben werden können: Ritual Space, Ritual Objects, Ritual Time, Ritual Sound and Language, Ritual Identity, Ritual Action.6 Im Sinne von Grimes ist der Katalog nicht als Frage-Antwort-Quiz zu verwenden, sondern themen- und quellenbezogen zu erweitern und anzupassen.7 Für eine Beschreibung der christlichen Taufe auf der Grundlage der biblischen Quellen sowie für eine Erfassung sämtlicher mit der Taufe in Relation stehenden Rituale erweisen sich m.E. die folgenden sieben Ritualaspekte als aussagekräftig: 1) die Ritualbezeichnung, 2) der Ritualursprung, 3) der Ritualleiter, 4) die Ritualteilnehmer, 5) der Ritualort und die Ritualzeit, 6) der Ritualablauf und schließlich 7) die Ritualfunktion und –deutung. Sie seien in ihrem Umfang und den für die Taufe zu erwartenden Fragen kurz expliziert.
Ritualbezeichnungen können sich auf sämtliche Ritualaspekte beziehen. Gelegentlich besteht der Name – vermutlich mit der Absicht einer erhöhten Differenzierungsmöglichkeit – auch aus einer Kombination mehrerer Merkmale des Rituals, wie etwa bei τὸ βάπτισμα Ἰωάννου.
So finden sich Ritualbezeichnungen 1) nach dem Ritualvollzug bzw. einer Teilhandlung während des Rituals, was vermutlich die typischste Variante ist, ein Ritual zu benennen, z.B. die Beschneidung; 2) nach dem Gründungsereignis bzw. Ursprung des Rituals, welches ggf. zu dessen Erinnerung bzw. als dessen Vergegenwärtigung begangen wird, z.B. das Pessachfest oder auch die christliche Abendmahlsfeier; 3) nach der Funktion, Bedeutung oder auch Anlass des Rituals, z.B. das Erntedankfest; 4) nach einer göttlichen Identität, der zu ehren bzw. auf die hin das Ritual vollzogen wird, z.B. Isisweihe oder auch Jahwe-Feste; 5) nach einem Menschen, zu dessen Erinnerung das Ritual gefeiert wird, z.B. sämtliche Heiligenfeiertage; weniger häufig sind Ritualbezeichnungen nach dem Ritualleiter oder auch Ritualentwickler, wie z.B. bei Johannestaufe; 6) nach dem Ritualort, an dem das Ritual selbst oder auch sein Gründungsereignis stattgefunden hat, z.B. Tempelbaufest, und schließlich; 7) nach der Ritualzeit, zu der das Ritual stattfindet oder auf die es sich bezieht, z.B. das Neujahrsfest.
Da demnach sämtliche Ritualaspekte Ausgangspunkt für eine Ritualbezeichnung werden können, ist demjenigen, auf den sie letztlich Bezug nimmt, in der Analyse besondere Aufmerksamkeit zu widmen. Mit Blick auf die Übernahme und Weiterentwicklung von Ritualabläufen und -bedeutungen ist die Weiterführung, aber auch die Abänderung der Ritualbezeichnung ein besonderes Indiz, da sie z.B. ein Hinweis auf eine entsprechende Bedeutungsverschiebung unter Beibehaltung des Ritualablaufes sein kann.
Der „Ursprung“ eines Rituals kann und soll im Folgenden unter zwei unterschiedlichen Aspekten verhandelt werden, welche zunächst nichts miteinander zu tun zu haben scheinen, aber spätestens in der Interpretation des Rituals in eine Relation zu setzen sind:
1) Der ritologische Ursprung – das Vorgängerritual: Zu erheben ist, in welcher Weise das untersuchte Ritual auf andere Rituale zurückgeht, worin die Abänderung oder auch die Weiterentwicklung besteht und ggf. was der Anlass dafür gewesen ist.1
2) Der inhaltliche Ursprung bzw. Bezugspunkt – das Gründungsereignis: Ein Ereignis, an welches das Ritual erinnert, kann ein historisches Geschehen oder auch ein Mythos sein. Der zeitliche Abstand zwischen diesem Ereignis und dem ersten Vollzug des Rituals kann nur wenige Wochen (so vermutlich bei der ersten christlichen Abendmahlsfeier), ein Jahr (aus Anlass des 1. Jahrestages) oder auch wesentlich länger betragen.2 Unter Ritualursprung sind auch Ereignisse und Erzählungen zu rechnen, welche die Durchführung des Rituals in grundlegender Weise ermöglichen, wie z.B. das Schicksal der Göttin bei der Einweihung in die Isismysterien.