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„Aus dem Gemurmel der Gebete löste sich ein ganz ungebührlicher Unmut der Menge. Und die entsetzten Ausrufe waren jetzt auch bis ganz oben zu hören: ‚Der Reliquienschrein! Er ist geöffnet! Die Kreuzesreliquie ist gestohlen!‘“ Ein Splitter vom Kreuz Christi – das ist der größte Schatz der bretonischen Stadt Quimper und der Garant für die Einnahmen aus der Wallfahrt. Doch jetzt ist er verschwunden. Während die Bürger ihre Wut auf die unliebsame Stadt Tréguier lenken, versucht der schottische Tempelritter Henri de Roslin alles, um den Verbleib des Heiligtums zu klären. Doch hinter dem Diebstahl steckt mehr, als Henri zunächst vermutet; plötzlich geraten seine Gefährten Joshua und Uthman in tödliche Gefahr. Kann Henri das Rätsel um die verschwundene Reliquie lösen und das Leben seiner Freunde retten? Die Tempelritter, der mächtigste Orden des Mittelalters: Eine packende Abenteuer-Saga, die mehrere Kontinente und Jahrzehnte umspannt!
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Seitenzahl: 383
Über dieses Buch:
Ein Splitter vom Kreuz Christi – das ist der größte Schatz der bretonischen Stadt Quimper und der Garant für die Einnahmen aus der Wallfahrt. Doch jetzt ist er verschwunden. Während die Bürger ihre Wut auf die unliebsame Stadt Tréguier lenken, versucht der schottische Tempelritter Henri de Roslin alles, um den Verbleib des Heiligtums zu klären. Doch hinter dem Diebstahl steckt mehr, als Henri zunächst vermutet; plötzlich geraten seine Gefährten Joshua und Uthman in tödliche Gefahr. Kann Henri das Rätsel um die verschwundene Reliquie lösen und das Leben seiner Freunde retten?
Die Tempelritter, der mächtigste Orden des Mittelalters: Eine packende Abenteuer-Saga, die mehrere Kontinente und Jahrzehnte umspannt!
Über den Autor:
Der französische Autor Clemens Albon ist ein Experte für die Geschichte der Provence als Wiege der europäischen Dichtkunst. Nicht nur die Zeugnisse der mittelalterlichen Minnesänger, auch die Artus-Epik mit ihren Legenden der Gralssucher boten ihm einen breiten Fundus, aus dem er sich für die Tempelritter-Saga geschickt bediente. Clemens Albon lebt und arbeitet im französischen Lirey, nahe Troyes in der Champagne, wo der Tempelritterorden Anfang des 12. Jahrhunderts gegründet wurde.
Für die Tempelritter-Saga schrieb Clemens Albon auch folgende Bände:
»Die Tempelritter-Saga – Band 10: Das Reich der Khasaren«
»Die Tempelritter-Saga – Band 11: Die Macht der Worte«
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eBook-Neuausgabe Februar 2015
Copyright © der Originalausgabe 2005 bei Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt
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Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
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ISBN 978-3-95520-784-7
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Clemens Albon
Die gestohlene Reliquie
Die Tempelritter-Saga
Band 7
dotbooks.
Spätsommer 1316, die Pilger
Die Stadt brodelte. Und sie täuschte ihn.
Als Sean of Ardchatten am strahlenden Morgen des 1. September in Quimper einritt, war er blind für die düstere Gegenwart des Todes. Und doch folgte er ihm.
Seine jungen Augen waren noch geblendet von den leuchtenden Farben der Bilder, dem festlichen Feuerwerk in Farbe und Gold, den Akanthusranken mit Goldpollen, den glänzenden Miniaturen auf rotem und blauem Grund. Die Werkstatt der Buchmaler quoll von diesen Bildern über. Und Sean war noch erfüllt von den Tagen, die er unterwegs zugebracht hatte, seit er im Hafen von Brest an Land gegangen war.
Sein Herr Henri war nicht eingetroffen, und nach einiger Wartezeit hatte Sean beschlossen, nach Quimper zu reiten, um Angelique zu treffen. Er hatte die junge Frau in Brest kennen gelernt, sie betrieb eine Herberge in Quimper und pflegte ihren kranken Vater. Die Tage im kunstsinnigen Großelternhaus von Angelique in Brest, in dem Bücher in den schönsten Farben ausgemalt und Bild um Bild betrachtet, in dem geliebt, gelacht und getrunken wurde, standen ihm lebendig vor Augen. Er wäre gern in Brest geblieben und musste auch auf seinen Herrn Henri warten – aber die Sehnsucht nach Angelique trieb ihn nach Quimper. Er musste sie einfach sehen! So hatte er am vereinbarten Ort eine Nachricht für Henri de Roslin und dessen Gefährten hinterlassen.
Sean traute seinen Augen nicht. Er kam in der kleinen, überquellenden Stadt kaum vorwärts. Aber die Gedanken an Angelique, die er auf der Schiffsreise vom flandrischen Damme in die Bretagne kennen gelernt hatte, stimmten ihn so heiter, dass selbst die aufdringliche Menschenmenge ihn zum Lächeln brachte. Auch eine andere Erinnerung stieg in ihm auf, die an Guinivevre, seine ehemalige Geliebte, die er nach langer Prüfung in Damme zurückgelassen hatte. Die Welt ist doch ein Narrenkäfig, dachte der junge Knappe Henri de Roslins. Vor kurzer Zeit noch wollte er für Guinivevre sterben – und jetzt hatte er das übermächtige Gefühl, ohne Angelique nicht leben zu können. War die Liebe so? Oder musste er sich über seine Unstetigkeit ernste Gedanken machen?
Sean hatte Zeit, seinen Gefühlen nachzuhängen, er konnte sich nicht erinnern, jemals so lange vom Schanzentor einer Stadt zur Kathedrale gebraucht zu haben. Sein Pferd kam kaum voran, wurde unruhig, und er musste den Falben kräftig zügeln.
Ganz Quimper schien ausgerechnet an diesem Morgen auf den Beinen zu sein, und das verhinderte, dass er schnell zum kranken Vater seiner Angelique kam. Sean hoffte, dass sein Herr Henri es ihm verzeihen würde, dass er nicht in Brest auf seine Ankunft wartete. Immerhin hatte er die Mahnung des Ritters pünktlich befolgt und sich von Guinivevre getrennt. Er hatte noch Henris Worte im Ohr, dass er sich selbst prüfen und dann eine Entscheidung treffen müsse. Dass er sich nicht zum Sklaven seiner Liebessehnsucht machen durfte und zum Mann werden müsse.
Sean bemühte sich, sein Pferd elegant, ohne Passanten zu verletzen, durch die holprigen und engen Straßen zu lenken, die trotz der gerade verlegten und festgestampften Flusskiesel von heftigen Gewitterregen aufgeweicht waren. Er fragte sich, was alle diese Menschen heute miteinander zu schaffen hatten? Natürlich, sie versuchten, ihr Brot zu verdienen. Aber an diesem Morgen schienen alle gleichzeitig auf den schlammigen Straßen zu sein.
Vielleicht witterten sie etwas. Sean wusste aus den zurückliegenden Tagen in Brest, dass es solche Momente gab, wo etwas wie Blutgeruch in der Luft lag. Und alle rochen es und wurden davon angestachelt, nicht nur der Pöbel war dafür anfällig. Vielleicht behinderten sie sich auch deshalb so eifrig, stießen sich und schimpften, besonders wenn sie an einem der unzähligen Laufbrunnen aus Holzröhren Halt machen wollten, um sich zu erfrischen, und die anderen dabei aufhielten. So manche Hand griff drohend zum Degen, den beinahe jeder männliche Einwohner der bretonischen Stadt Quimper an der Seite trug.
Während Sean of Ardchatten weiterritt, begriff er allmählich, was die Stadt aufwühlte.
Die einen kamen mit Banner und großem Gefolge, um in dieser Stadt das baldige Eintreffen des neuen Königs vorzubereiten. König Ludwig, den man den Zänker nannte, war vor drei Monaten gestorben. Jetzt konnte das Volk seinen baldigen Nachfolger feiern, denn es war in diesen Tagen durch Herolde im ganzen Land bekannt gemacht worden, dass die Gattin Clementia von Ungarn ein Kind des Königs austrug. Es würde im Herbst geboren werden, Johann oder Johanna heißen und noch als Kind den Thron besteigen. Die anderen begannen, ebenso wie Sean es in Brest gesehen hatte, in langen Gebetszügen mit den Kirchenfeiern zur Kreuzeserhöhung und führten auf dem Weg zur Kathedrale Weihestatuen aus Kalkstein mit sich. Die Handelshäuser wollten eine neue, breitere Straße durch die Stadt treiben, ließen unförmige Baufahrzeuge auf hohen Speichenrädern auffahren und riegelten einen ganzen Bezirk ab. Und aufgeregte Pilger unter schwarzen, schief sitzenden Kappen zogen vom Karmeliterkloster her eine gestikulierende Menschenmenge mit sich, die den Platz vor St. Corentin gänzlich verstopfte.
Sean zügelte seine Ungeduld. Er ließ sich den Weg zum Vaterhaus von Angelique beschreiben und erfuhr nebenbei von einem Einwohner, der trotz der Hitze eine teure Pelzkappe trug, dass die Kapelle mit dem Reliquiar darin heute geweiht werden sollte. Er sah, wie Prediger unter Gejohle einer Schülerschar in der blaugelben Kleidung der Höheren Schule bei der Kathedrale Papiere an die Kirchentür anschlugen.
Und inmitten des Trubels ergossen sich die langen Pilgerströme in die Stadt wie Flüsse in ein neues Flussbett. Sean sah, dass sich zusammengehörende Pilgergruppen aneinander hingen und ihre Führer mit einem roten Tuch wie eine Fahne hoch am Stock voranschritten. Sie trugen Filzhut, Stab, Pilgertasche und Reisesack, in dem bestimmt ihr Geleitbrief steckte, und alle kamen, um dem neuen Reliquiar zu huldigen. Es handelte sich um einen Splitter des Heiligen Kreuzes, der sich bisher in der Kapelle des benediktinischen Nonnenklosters Notre-Dame de Locmaria, am anderen Ufer des Flusses Odet, befunden hatte. Nun sollte das gefasste Kreuz mit dem Splitter im silbernen Reliquiar die Kathedrale schmücken und würde auch sie zu einem Wallfahrtsort der Pilger und Seefahrer machen.
Sean schaute in die Höhe. Selbst auf den hölzernen Hofgalerien der Häuser und hinter den Zinnen der Anwesen mit Grabendächern standen noch Neugierige und schauten herunter. In Kirchennähe war es besonders voll, denn hier befanden sich in Reih und Glied die aufklappbaren Verkaufsläden.
Sean glaubte, einen Weinhändler zu erkennen, den er im Großelternhaus seiner Angelique in Brest gesehen hatte. Konnte er sich täuschen? Er erhob sich im Sattel. Bevor er sich jedoch bemerkbar machen konnte, musste er, eingekeilt am Rand des Kirchenvorplatzes, junge Händlerinnen abwehren, die ihm schöne Augen machten, weil sie ihm dampfende Marienküchlein und Hippocraswein verkaufen wollten. Sean errötete schnell, und die Mädchen kicherten über den schüchtern wirkenden jungen Mann mit den langen blonden Locken.
Sean of Ardchatten verspürte jetzt doch Hunger nach dem langen Ritt, kaufte schließlich einen der leckeren Hefekuchen und biss herzhaft hinein.
Er spürte deutlich, wie lange er nicht in einer so lebendigen Stadt wie Quimper gewesen war. Sie wirkte wie eine Hafenstadt, obwohl das offene Meer ein paar Meilen entfernt lag und nur über den sich öffnenden Fluss Odet zu erreichen war. Dagegen wirkte auch Brest verschlafen, obwohl es viel größer war. Sean hatte das auf dem Ritt über einsames Land hierher vermisst – der Duft der Stadt, der vielen Menschen auf engem Raum, vor allem der Mädchen und jungen Frauen, zusammen mit verdampfendem Regen im Straßenstaub stieg ihm erregend in die Nase.
Er versuchte, sein Ziel nicht aus den Augen zu verlieren, wurde aber von der wogenden Menge abgedrängt. Der Weinmarkt am Rathaus war ebenso verstopft wie der Platz vor der Kathedrale. Widerstrebend schlug Sean eine andere Richtung ein. Wenn nur der Vater Angeliques noch warten konnte! Und würde sie auch anwesend sein, damit er ihren göttlichen Leib umarmen, ihren Geruch nach frischen Karotten einatmen durfte? Sean hatte Sehnsucht nach Angelique, er träumte jede Nacht von ihr.
Aber bisher hatte er nur minniglich geliebt, ihr Verse geschrieben, zu ihren Füßen gesungen oder auf der Flöte gespielt. Und er hatte ihre Hände geküsst.
An der Fürstbischöflichen Residenz bemerkte Sean mit Erstaunen, dass zerlumpte Tagelöhner unter Anleitung städtischer Zunftarbeiter noch immer mit dem Abriss der Zuschauertribünen von den Hochzeitsfeiern beschäftigt waren. Er hatte unterwegs von Angelique gehört, Cousin und Cousine des Herrschergeschlechtes der Adriennes hatten sich vermählt. Dreitausend königliche und bretonische Reiter hatten sie zu St. Corentin geleitet, wo der Fürstbischof von Quimper sie verband.
Sean war jetzt völlig eingekeilt. Er blickte um sich, es war hoffnungslos. So hatte er sich den Einzug von Pilgern nicht vorgestellt. Sie pilgerten nicht, sie standen! Sean stieg vom Pferd und versuchte, es am Zügel durch die Menge zu führen, aber auch das war kaum möglich.
Die Pilger waren anscheinend aus allen Himmelsrichtungen gekommen. Die Seeleute waren in der Mehrheit, aber Sean sah auch andere Berufsgruppen und ständische Abgesandte unter gelben Sonnensegeln, Menschen aller Altersgruppen, Männer und Frauen, die hofften, auf der Wallfahrt geheilt oder von Dämonen befreit zu werden.
Aber gehörten auch Ausschweifungen und Völlerei zu solchen Pilgerzügen? Sean konnte sich nicht erinnern, je davon gehört zu haben.
Obwohl es früher Morgen war, tranken die Pilger Wein, der von den Theken der Weinstände ausgeschenkt wurde. Brauer in fleckigen Lederschürzen rührten daneben in großen Holzbottichen Bier an, das in großen Krügen an den Mann kam. Überall brannten Holzkohlenfeuer, auf denen Fische gebraten wurden. Ein geschlachteter Ochse drehte sich am Spieß über lodernden Flammen. Frauen rupften Federvieh und legten es in Töpfe über offenes Feuer. Man trieb Schweine aus einem Stall zum Metzger. Über allem hing der Geruch von Vergorenem, von Vieh, von Ausdünstungen, von Gebratenem.
Sean erblickte sogar Kupplerinnen, die durch die Menschenmenge gingen. Sie sahen sich die Männer genau an, in denen sie Kunden witterten. Sie versuchten, die müden Pilger zu bestimmten Herbergen zu locken, schließlich mussten ja alle irgendwo unterkommen und ernährt werden. Und die Arkadengänge auf den Emporen der Kirchen, auf denen die Pilger während der großen Wallfahrten übernachteten, waren schon überbelegt. Ja, selbst auf öffentlichen Plätzen lagerten Pilger. Aber die Kupplerinnen waren vor allem unterwegs, um junge, willige Mädchen anzubieten, Hübschlerinnen, die in den Frauenhäusern arbeiteten oder beaufsichtigt von ihren Zuhältern in gewissen Herbergen auf Besucher warteten.
Auch Sean wurde von einer Kupplerin angesprochen, einem verlebten Weib in einer Marktschürze mit Zahnlücken und krausen Haaren. Sie musterte ihn von oben bis unten und sagte: »Mein junger Mensch, du brauchst etwas zum Anschmiegen, das sehe ich. Ich habe was für dich. Komm mit!«
Sean wehrte die Frau ab. Er war unempfänglich gegen solche Angebote. Mein Gott, er war unsterblich verliebt in eine sechs Jahre ältere Frau! Und in seinem Hinterköpf spukte noch das andere Mädchen herum, Guinivevre, die er in Damme verlassen hatte – aber auch sie liebte er noch!
Zum Glück verblasste ihr Bild langsam in seinem Gedächtnis, das er bisher bewahrt hatte. Seit Damme war ihr Bild von der lebendigen, frechen Angelique mit den wirren, blonden Haaren überdeckt worden. Sean war froh darüber. Angelique war als ein inneres Bild vor ihm erschienen, das ihn beflügelte – nicht auf so leidenschaftlichem Grund wie Guinivevre, die ihn einst in die Liebe eingeführt hatte, aber dafür inniger und zärtlicher.
Sollte er Angelique in ihrem Gasthof, den sie an der großen Ausfallstraße nach Brest hin betrieb, nicht doch sogleich aufsuchen? Er stellte sie sich vor, wie sie bei der Arbeit wie eine junge Löwin umherging, obwohl sie sonst sehr sanft war. Er konnte ihr einen Kuss rauben, das Glück in ihren Augen mitnehmen.
Aber er wies sich im gleichen Moment zurecht. Die Angebetete musste warten, so schwer ihm das auch fiel. Ihr kranker Vater war wichtiger. Sie hatte ihn ja so darum gebeten, ihn aufzusuchen und um ihre Hand anzuhalten! Und vielleicht war sie ja sogar an seinem Krankenbett.
Sean suchte Schleichwege und bog gleich hinter St. Corentin in stillere Gassen ab. Er musste die Stadt ganz durchqueren, passierte das schmucke neue Viertel der Töpfer und Keramiker und gab dem Pferd unwillkürlich die Hacken.
Es war viel, was im Moment auf ihn einstürmte. Der junge Knappe musste alles erst einordnen. Er musste die Erwartungen seines Herrn Henri de Roslin endlich erfüllen. Und er musste seine Liebesgefühle bändigen. Wie sollte er das alles schaffen? Die Mädchen waren sein Verhängnis. Aber sie waren so süß, so göttlich! Und wieder einmal hatte eine von ihnen den Sieg davongetragen über seinen verehrungswürdigen Herrn und Ritter. Sean blieb einen Moment lang wie angewurzelt stehen.
Er war sich seines Ungehorsams bewusst. Und schließlich stand sein leuchtendes Vorbild vor seinem geistigen Auge. Der Mann, dem er nacheiferte, den er verehrte wie keinen anderen. Henri de Roslin.
Sean of Ardchatten kam jetzt überhaupt nicht mehr weiter. Am Eingang zum Viertel, in dem das Elternhaus von Angelique stand, war eine Barrikade aus Balken und Karren errichtet worden. Sean begann leise zu fluchen, obwohl das nicht seine Art war. Maurer waren mit Kellen und Spitzeisen beschäftigt, rührten in Mörtelbottichen, und über Seilwinden zog man Gerüsthölzer an Häuserfronten empor. Dahinter war die Straße aufgerissen, Erdarbeiter mit groben Kapuzen stapelten Kopfsteine und Quadersteine.
»Lasst mich durch bis zum Haus des Buchmalers! Ich muss zum kranken Vater von Angelique Maxime! Er stirbt sonst, bevor ich ihm die Hand auf die Stirn legen und ihn um die Hand seiner Tochter bitten kann.«
Ein Arbeiter, dem Schmutz und Schweiß tiefe Furchen in das magere Gesicht gezogen hatten, sagte: »Ritterchen, das ist traurig, aber nimm einen Umweg. Hier geht es nicht weiter, das seht Ihr ja.«
»Sag mir, von wo aus ich in die Gasse der Buchmaler einreiten kann.«
»Überhaupt nicht, mein bester Knappe. Ihr müsst absteigen und dem Viertel zu Fuß die Ehre geben. Und das geht auch nur, wenn Ihr von Süden kommt.«
»Aber bei dem Menschengewimmel dauert das eine geschlagene Stunde!«
Der Mann wischte sich mit dem Handrücken über das Gesicht. »Sicher. Das ganze Leben ist in Stunden geteilt. Wir feiern bald die Tage der Kreuzerhöhung. Und das neue Reliquiar wird eingeweiht. Und meine Frau kommt zum achten Mal in die Wehen. Und bis es so weit ist, müssen wir uns eben durch die Stunden quälen, jeder von uns, einerlei womit.«
»Dank für deine kuriose Predigt! Wenn Angeliques Vater stirbt, bevor ich um die Hand meiner Liebsten angehalten habe, komme ich zurück und werde dich mit meiner Art der Predigt bekannt machen.«
Der Arbeiter musterte den vorwitzigen Knappen von oben bis unten, machte eine abfällige Geste und wandte sich wieder den Steinen zu. Sean überlegte. Was sollte er tun? Wenn er die Gasse, in der Angeliques Vater wohnte, wirklich nur von Süden her erreichen konnte, dann war auch ein Abstecher an den Stadtrand möglich, den er zur Linken sah. Dort begann die Fernstraße nach Brest.
Der Gedanke beflügelte ihn. Er war jetzt sicher, dass er zu dieser Mittagszeit Angelique in ihrer Herberge antreffen würde. Durch den kleinen Abstecher verlor er nicht übermäßig viel Zeit. Kurz entschlossen lenkte er sein Pferd aus dem Gewirr der holprigen Straßen heraus, jetzt konnte es sogar in Trab verfallen.
Gleich darauf hatte er schon das Nordtor erreicht. Er konnte es passieren, weil gleichzeitig ein neuer Wagen mit fahrenden Hübschlerinnen einzog, die vom städtischen Frauenmeister in Empfang genommen wurden. Sie trugen die Schleier mit dem zwei Finger breiten grünen Strich, der sie als Dirnen für die Frauenhäuser Quimpers auswies. Einer der schwer bewaffneten Zollsoldaten des Kardinals grüßte den Knappen viel sagend. Sean, der nur so lange in sich gekehrt wirkte, wie man ihn ließ, schwenkte die Arme und grüßte munter zurück.
Sean of Ardchatten ritt voller Vorfreude im kräftigen Galopp ein Stück an den drei nebeneinander verlaufenden Bächen entlang, die sich dort, wo sich Walkmühlen und Papiermühlen drängten, als Stadtbach vereinten, dann ritt er am Flüsschen Steir entlang. Hier stank es nach dem Geschäft der Gerber, und die schräg gestellten Schabbäume standen in Reihen am Ufer.
Ein Anblick nahm ihn einen Moment lang gefangen. Pferdekarren lehrten an einer vorgeschriebenen Stelle, wo das Wasser in Strudeln stärker strömte, menschlichen Unrat, Mist, Fischreste und Trester in den Fluss. Einer der Karrentreiber war in den Fluss gefallen und wurde gerade mit Stangen herausgezogen.
Wo die Rue de Brest mit der von Norden kommenden Straße zusammentraf, kam die Herberge in Sicht.
Der Reiter band sein Pferd an. Der Gasthof war trotz der frühen Tageszeit schon gut gefüllt. Es mussten Pilger sein, die auf das erste Essen warteten, darunter bemerkte er drei Ritter in einer schwarzweißen Tracht mit schwerer Halskette, wie er sie schon als Schutzherren des Domes in Brest gesehen hatte.
Aber Sean wusste inzwischen, dass die Herberge seiner Angebeteten immer gut ging – tagaus, tagein, zu jeder Jahreszeit. Sie hatte ihm davon ausführlich erzählt, und Sean fand es aufregend und abenteuerlich, mit einer jungen Frau zusammen zu sein, die nicht standesgemäß war. Ihre Familie war ein Handwerkergeschlecht, das Buchmaler hervorgebracht hatte. Zugegeben, großartige Buchausmaler, die Ersten, die sich außerhalb der Klöster niedergelassen hatten. Aber Angeliques Mutter war eine wohlhabende Dame aus Griechenland gewesen. Die Herberge lag an der verkehrsreichen Fernstraße, besaß eine wunderbare Küche und ein paar Geheimnisse, die Angelique sorgfältig hütete.
Wo war sie überhaupt? Sean ging quer durch den Schankraum, dessen getäfelte Decke halbmondförmig gewölbt war, in Richtung Küche. Die Bedienung begrüßte ihn laut. Er winkte zurück. Es roch nach Fischen, Gewürzen, vergorenen Früchten, Fenchel und geschmortem Fleisch. Die drei Köche und ihre Gehilfen waren mit den Kesseln im Glutstock, hängenden Eisentöpfen an der qualmenden Feuerstelle und dem Bratenwender beschäftigt und beachteten den Fremden nicht. Sean ging in den Hof. Angelique war nirgendwo zu sehen.
Dann hörte er ihre helle Stimme mit dem fröhlichen Unterton in seinem Rücken.
»Mein junger Herr! Schon hier?«
Sean wirbelte herum. »Ich hätte in Brest warten müssen, aber ich konnte es einfach nicht mehr aushalten, ohne dich zu sein!«
Angelique umarmte ihn. »Ich nahm felsenfest an, dass deine schöne Guinivevre sich zwischen uns drängt. Einer solchen Frau kann kein Mann widerstehen.«
»Wenn du das wirklich glaubst, dann komme ich wohl im falschen Moment.« Sean war gekränkt. »Ich habe mich ein für alle Mal von Guinivevre getrennt! Und das nicht nur, weil mein Herr es mir befahl, sondern weil ich ...«
»Aaach ...«, sagte sie zärtlich schnurrend wie eine Katze. »Sei nicht dumm! Ich drücke nur meine Sorge um den Geliebten aus.«
»Aber du brauchst dich nicht zu sorgen.«
Sean fasste seine Angebetete an den Armen und sah sie an. Sie schien seit den Tagen in Brest schmaler geworden zu sein, vielleicht machte das auch nur ihre legere Kleidung, blasser war sie auf jeden Fall, sah ihn aus lichtbraunen Augen prüfend an. Aber ihr Mund mit den schönen Lippen war unverändert frech, und ihr blondes Haar stand widerspenstig wie Sonnenstrahlen um ihren jugendlich wirkenden Kopf. Er küsste ihre beiden Hände.
»Ich habe ein Lied für dich geschrieben, willst du es hören? Meine Laute hängt am Mantelsack. Ich kann dir auch auf der Flöte spielen!«
»Später, Sean! Ich muss viel arbeiten. Und ich muss es schnell tun, denn mein Vater wartet auf mich.«
»Ich wollte zu ihm, aber die Straßen sind von den Pilgern verstopft. Ich habe gehört, um sie zu zählen, wirft man an den Stadttoren für jeden Fremden eine Erbse in einen Topf. Es sind so viele!«
»Mein Herz! Das tut mir Leid! Ja, die Pilger werden langsam zu einer Plage. Willst du etwas essen? Rosa hat eine Fischpfanne gekocht! Und das ist nicht irgendeine Fischpfanne!«
»Wunderbar!« Erschrocken hielt Sean inne. »Nein, ich wollte ja nur guten Tag sagen.«
Angelique sagte: »Willst du gleich wieder zum Vater reiten? Das würde mich trösten! Frage ihn – du weißt schon! Warte dort am Krankenlager auf mich! Ich komme nach, so schnell ich kann! Oder nein, lass dir von Maufra die Mansarde zeigen, die sie für dich hergerichtet hat. Warte dort nach dem Besuch beim Vater auf mich. Schlag vier werde ich bei dir sein.«
»Gut. Ich suche erst deinen Vater auf, Angelique! Es ist schön, einen Vater zu haben, dem man zu Lebzeiten Liebe zurückzahlen kann. Ich hab mir immer gewünscht, einen zu haben. Aber man hat mich zu früh in den Tempel gesteckt. Allerdings habe ich dort Ersatzväter erhalten, die wunderbare Menschen sind.«
Angelique streichelte sein Gesicht.
Sean sagte: »Meine kleine Angelique! Ich verehre dich so sehr!«
Angelique lächelte. »Nun geh schon! Viel größer bist du auch nicht. Es ist schön, dass du hier bist.«
Sean löste sich vom Anblick der jungen Frau und verließ die Herberge. Er bestieg voller Glücksgefühle sein Pferd, hätte laut singen können und spürte die Hitze jetzt noch stärker. Er schwitzte unter seinem Knappenrock aus roter Scharlachwolle, den er trug, seit er in Brest losgeritten war. Auf der Seereise hatte er nur den braunen Leinenkittel der Adepten getragen.
Ganz in Gedanken ritt Sean wieder in die Stadt ein. Am Zolltor musste er diesmal warten, bis zwei Händler mit voll gepackten Fleischkarren abgefertigt waren. Wieder traten ihm die gemalten Bilder vor Augen, die er im Großelternhaus von Angelique in Brest gesehen hatte. Diese wunderbaren Farben! Diese Einfälle! Sollte er nicht auch Buchmaler werden? Erschrocken hielt er inne. Er war Knappe eines verehrungswürdigen Tempelritters! Sean schalt sich. Und er versuchte sich schnell vorzustellen, wie seine beiden angebeteten Mädchen aussahen.
Als Sean weiterreiten konnte, gab er dem Pferd die Zügel frei. Eine innere Unruhe sagte ihm, dass er sich beeilen musste. Mit Erleichterung erblickte er bald die Buchmalergasse. Er musste einen weiteren kleinen Umweg in Kauf nehmen, konnte von einer Nebengasse aus einreiten und pflockte sein Pferd an der Ecke an. Ein alter Mann, der vor seinem Schusterladen saß, versprach, auf seine Sachen aufzupassen. Sean betrat das Haus auf der anderen Straßenseite.
Als er in die Stube eintrat, spürte er zum ersten Mal die Anwesenheit des Todes. Die drei Pflegerinnen erhoben sich im Halbdunkel.
Angeliques Schwester Maufra, die er auch in Brest kennen gelernt hatte, rannte auf ihn zu und umarmte ihn. Sie begann sofort zu weinen. Ihr ganzes Gesicht, das dem ihrer Schwester sehr ähnlich war, lag wie unter einem feuchten Schleier. Seit die Mutter der beiden Schwestern vor zwei Jahren an einem Schlaganfall gestorben war, stand sie dem Handwerkerhaus der Maximes vor. Sie nahm Sean an die Hand und führte ihn zum Krankenlager.
Vater Maxime lag bewegungslos in den Kissen. Sein Gesicht war gelb und spitz. Die Ärzte wussten nicht, woran er litt, deshalb ließen sie ihn zur Ader. Und die Pflegerinnen wischten ihm die heiße Stirn mit kalten, in Essigwasser getränkten Tüchern ab, beteten viel und kauerten sich jetzt im Hintergrund des Zimmers zusammen.
Sean kniete am Krankenlager nieder. »Verehrter Herr Maxime. Angelique schickt mich. Kannst du mich hören?«
Der alte Buchmaler drehte langsam den Kopf. Über seine Züge quälte sich ein Lächeln. Es vertrieb den Tod nicht, der hartnäckig lauerte. Der alte Buchkünstler und Handwerkermeister setzte ein paar Mal an, dann sagte er mit einer atemlosen Stimme, die seine trockenen Lippen kaum verließ: »Ich habe es von Angelique gehört. Du willst bei mir um ihre Hand anhalten, nicht wahr? Warte lieber noch, mein Sohn. Du bist noch nicht so weit. Warte noch!«
Sean wollte aufbrausen. Aber er bezähmte sich und senkte den Kopf. Er sagte: »Ja, Herr Maxime.«
Der Alte versuchte, sich aufzurichten, war aber um einiges zu schwach. Als Sean ihm unter den Nacken greifen wollte, winkte er mit Spinnenfingern ab. Er ergriff die Hand des Knappen und hielt sie fest. Dann führte er sie langsam an seine Lippen. Sean spürte die heiße, fiebernde Berührung. So kommt der Tod, dachte er mit Schaudern, gemein und unversöhnlich. Was haben die Menschen ihm getan?
Der alte Buchmaler schloss erschöpft die Augen. Sean blickte ihn nur unverwandt an.
Nach einer Weile, in der Angeliques Vater sich nicht gerührt hatte, trat Maufra an die andere Bettseite. Sie brachte eine Schnabeltasse und flößte dem Vater eine warme Fettbrühe ein. Der Kranke trank mit schmatzenden Geräuschen, seine Zunge leckte gierig über die Lippen, saugte jeden Tropfen auf. Dann begann er zu husten und konnte nichts mehr zu sich nehmen.
Er wandte den Kopf und blickte Sean an. Sean sah in seinen Augen den Schmerz darüber, dass er der Trauung noch nicht zustimmen konnte, dass er ihm nicht näher kommen konnte.
Kurze Zeit später war er mit rasselndem Atem eingeschlafen.
»Er ist alt«, sagte Maufra zu Sean. »Er wird sich nicht mehr wehren können.«
»Aber welche Krankheit«, wollte Sean wissen, »sitzt um Gottes willen in ihm und zehrt ihn aus?«
»Vielleicht keine. Er hat einfach keinen Grund mehr, weiterzuleben. Und Gevatter Tod hat das erkannt, gewinnt den Kampf und saugt seine erschlafften Lebenskräfte aus ihm heraus. So ist das in unseren Kreisen. Irgendwann ist unser Leben einfach nichts mehr wert, und dann gehen wir. An den großen Höfen und beim Adel dagegen klammert sich jeder, sei er noch so hinfällig, an das letzte bisschen Atem und Glanz. Dort ist die Angst vor dem Sterben riesengroß. Bei unserem Vater sehe ich keine Angst.«
»Wie klug du daherredest, Maufra. Als ich mit dir und Angelique in Brest zusammentraf, kamst du mir nicht so weise vor.«
»Du hattest nur Augen für die Schwester! Und sie war so beschäftigt mit ihren Messegeschäften. Ich hatte mir schon ein paar Hoffnungen gemacht. Aber dann hat sie dich plötzlich angeblickt ...«
»Kleine, kluge Maufra! Ich wollte dich in Brest nicht kränken! Mir gefiel gerade, dass Angelique so geschäftstüchtig war und mit den Händlern umsprang und außerdem so hübsch war. Aber auch du bist sehr hübsch und wirklich klug, Maufra!«
»Angelique ist klüger. Du hast Recht, wenn du sie hochzeiten willst, Sean.«
»Aber euer Vater stimmt nicht zu.«
»Bleib dennoch mit Angelique zusammen! Sie ist so – irdisch. In ihrer Nähe habe ich das Gefühl, sie hat schon alles erlebt und sieht die Dinge ganz gelassen. Aber sie ist ja auch schon uralt.«
»Sie ist dreiundzwanzig!«
»Nun gut – das ist kein Alter. Aber erlebt hat sie schon viel, seit sie von unserer Mutter die Herberge übernehmen musste, das ist wahr. Was sich dort für seltsame Gestalten treffen! Und sie muss mit ihnen zurechtkommen. Manchmal frage ich mich, woher sie diese Fähigkeit hat ...«
»Eure Mutter muss eine großartige Person gewesen sein ...«
»... Selbst Ritter vom Orden zum Schutze Mariens aus Tréguier habe ich dort schon gesehen, und Kirchenfürsten steigen auch regelmäßig ab, ist das nicht seltsam? Ich konnte es kaum glauben, dass selbst der Kardinal schon einmal in der Herberge übernachtet hat. Wenn auch natürlich inkognito.«
»Die Herberge soll viele geheime Zimmer haben.«
»Das glaube ich nicht, ich kenne alle Zimmer.«
»Man munkelt es, wenn wieder hohe Herrschaften dort gesehen werden und erst nach Tagen wieder auftauchen.«
»Ach, das ist Gerede. Wie lange bleibst du, Sean?«
»Ich weiß es nicht. Das hängt von meinem Herrn ab. Kommt er nach Quimper, dann bleibe ich länger. Wenn er mich nach Brest zurückruft, dann muss ich bald reiten.«
»Ich habe in der Mansarde über unserem Werkstatthaus alles hergerichtet. Du findest es aufgeräumt und sauber. In der Werkstatt wird ja nicht mehr gearbeitet, seit Vater krank ist und unser Geselle verschwunden. Dort kannst du wohnen, solange du willst.«
»Euer Geselle ist verschwunden?«
»Plourivo Flaubert, ein sehr begabter Geselle. Er hatte einen Auftrag in Tréguier, den er überstürzt beendete. Seit vier Wochen ist er nicht mehr aufgetaucht. Jemand sagte, er habe seit der Krankheit des Vaters beschlossen, sich die Welt anzuschauen, bevor der Tod auch ihn ereilt.«
»Ein unzuverlässiger Geselle! Jedenfalls danke ich dir, Maufra. Jetzt mache ich mich auf den Weg. Wenn ich meine Sachen ausgepackt habe, warte ich auf Angelique. Sie kommt beim Glockenschlag um vier. Sie holt mich ab, dann kommen wir gemeinsam wieder her und bewachen den Schlaf eures Vaters – ist dir das recht?«
»Du weißt, ich bin froh, wenn wir zusammen sind. Bald werde ich sowieso allein sein.«
Maufra erklärte ihm, wie er zur Werkstatt des Buchmalers finden konnte. Der Hausbesorger würde ihm alles zeigen. Sean sah noch einmal nach dem alten Buchmaler. Er lag auf dem Rücken und schnarchte, eine eingefallene Hülle, die einmal die Kraft besessen hatte, zwei starke junge Frauen zu zeugen.
Als er auf die Gasse trat, zogen dunkle Wolken auf. Ein neues Gewitter kündigte sich in der Sommerhitze an. Es würde manche gewundene, abfallende Gasse bald in Sturzbäche verwandeln. Sean hörte die Schmiedglocken läuten, die den Kupferschmieden beim herannahenden Regen jetzt wieder erlaubten, ihr Feuer in der Esse zu entfachen.
Die Menschen schienen nun noch schneller zu hasten, um vor dem Gewitter irgendwo anzukommen. Sean führte seinen Falben am Zügel weiter. Kurze Zeit darauf erreichte er das Buchmalerhaus. Die Mansarde lag im überstehenden Obergeschoss eines dreistöckigen Ständerbaus mit roten Gerüsthölzern und hellgrünem Fachwerk. Über dem Eingang hing das Wappen der Buchmaler.
Der Hausbesorger schloss ihm die Eingangstür auf. Der ehrerbietige kleine André dessen Frau ihn um Kopflänge überragte, war bereits informiert und händigte ihm den Schlüssel für das Haus aus. Er weilte nur in den beiden Räumen zu ebener Erde, wenn die Familie Maxime anwesend war oder ihn wie jetzt brauchte. Im ersten Stock lag die Werkstatt des Buchmalers. Die Arbeit ruhte, vielleicht für immer, das Haus war wochenlang verwaist gewesen, machte aber einen sauberen Eindruck.
Unter dem Dach war es warm. André hatte die Fenster nicht geöffnet. Sean stellte seine beiden Säcke ab, in denen sich Kleider und die Bücher befanden, die er auf der langen Reise aus Uzés bis nach Damme und Brest mitgebracht hatte, und hängte seine Mütze an einen hölzernen Wandzapfen. Sean atmete den Geruch nach Holz und Honigwachs ein, aus der Werkstatt drang auch ein feiner Geruch nach Öl, Leim und Farbe, nach gestärkten Bütten und Schwarzpulver herauf.
Sean öffnete die drei Fenster, die nur hölzerne Klappläden hatten, durch das bretonische Marienglas der drei übrigen kleinen Fenster fiel von draußen warmes, gedämpftes Licht. Er blickte über die Dächer der Stadt bis zu den beiden schlanken, hoch aufragenden Türmen der Kathedrale, ein Vogelzug nahm einen hohen Weg. In der Ferne, dort, wo der immer breiter werdende Fluss Odet mündete, schimmerte das Meer.
Sean sah sich in der Wohnung um.
Die Küche mit dem vertäfelten Einbauschrank und die Schlafkammer mit Strohsack, steifem Leinenzeug und Kissen wirkten aufgeräumt, irgendwie abwartend, so wie Katzen manchmal schauten. Die karge Inneneinrichtung der ganz aus Holz gezimmerten Wohnstube mit ihren aufgemalten Bildern gefiel ihm sofort. Obwohl er zum ersten Mal hier weilte, schien ihm alles vertraut. Die Möblierung bestand aus einem runden Eichentisch, über dem sich ein hübscher Hängeleuchter befand, drei Faltstühlen mit Armlehnen und einem Sitz aus grünem Samt, einer abgetragenen Truhe mit Eisenbändern, einem Waschkästchen auf vier dünnen Beinen und einem schmucklosen, zweigeschossigen Kastenschrank. An einem Fenster stand ein Lesepult.
Sean dachte nicht an seine Pflichten und nicht an seinen Herrn Henri de Roslin.
Es war das erste Mal, dass er sich in einem bürgerlichen Haus aufgenommen fühlte. Wie herrlich wäre es, hier mit Angelique zu wohnen! Eine Reihe Schlagholz war aufgeschichtet am Ofen mit grünlasierten Reliefkacheln, um den die Bank mit umlegbarer Lehne lief. Sean setzte sich darauf. Hier also war das Zuhause von Angelique und ihrer Familie. Sean sah, dass auf die Bohlenbalken zweier Wände Naturszenen gemalt waren – Vögel und fantasierte Blumen, eine Paradiesszene in leuchtenden Farben.
Nach einer Weile überlegte er, wie es wohl in der Werkstatt aussehen mochte. Er hatte den Platz der Buchmaler in Brest gesehen und sich nur schwer davon verabschieden können. Bislang hatte es eine solche Pracht der Buchmalerei nur in den Klöstern gegeben, jetzt entwickelten sie sich in den reichen Städten. Sean brannte darauf, die Werkstätten zu vergleichen.
Sean stand auf und ging hinaus. Im Flur war es dunkel und stickig. Er stieg auf ausgetretenen Stiegen in die Werkstatt hinunter, die das ganze erste Stockwerk einnahm.
Auch hier umfing ihn der Eindruck, alles warte auf ihn und schaue ihn an. Es roch wunderbar. Wie alles der Offizin des Großvaters von Angelique ähnelte!
Sean blieb unwillkürlich stehen. In der Erinnerung sah er das spöttische Lächeln im Gesicht von Angelique. Hatte sie ihm etwas sagen wollen und es nicht getan? Wusste sie schon, dass ihr Vater niemals die Zustimmung zu ihrer Verbindung geben würde? Und war er, Sean of Ardchatten, nicht wirklich noch viel zu jung? Was hatte er ihr schon zu bieten – außer seiner übergroßen Verehrung?
Plötzlich hörte Sean auf dem Bretterboden über sich ein Geräusch. Es klang wie Schritte. Er schaute unwillkürlich auf, als könnte er die Decke mit Blicken durchdringen.
War jemand in der Wohnung? Er trat auf den Flur und lauschte nach oben.
Von unten hörte er die Stimme des Hausbesorgers, der mit seiner Frau schimpfte. Dann rief André empor, ob er jetzt gehen könne, der junge Herr habe ja wohl alles und solle die Türen beim Weggehen zusperren.
Sean bejahte und dankte ihm. Er hörte, wie das Ehepaar die Eingangstür zuschlug und seine Schritte auf der Straße leiser wurden.
Sean ging in die Werkstatt zurück. Das Geräusch von oben hatte sicher der zunehmende Gewitterwind verursacht, der die Fensterläden klappern ließ. Sean blickte nach draußen, es hatte angefangen, aus einem dunklen Himmel zu tröpfeln.
Er nahm ein Buch aus dem Regal, das vor kurzem frisch ausgemalt worden sein musste. Die Farbe roch noch. Es war ein Liebesbrevier, das ein Handelsherr für seine jüngste Tochter in Auftrag gegeben hatte. Sean wusste seit den Tagen in Brest, dass Handelsherren solche Aufträge oft vergaben, um den Künsten und vor allem den Künstlern einer Stadt zu helfen.
Ein Liebesbrevier! Wenn er Angelique doch auch eines ausmalen könnte! Aber er konnte nur dichten und singen.
Sean blätterte in dem handgeschriebenen Buch und bestaunte die wunderbaren Miniaturen. Szenen des Alltags, der Frömmigkeit, der Lustbarkeit. Gerahmt von Akanthusblättern und Blumen auf Goldgrund. Wer auch immer dieses Buch ausgemalt hatte, wahrscheinlich Vater Maxime, vielleicht auch der verschwundene Geselle, dieser Plourivo Flaubert, er war ein Meister!
Sean drückte das Brevier an seine Brust. Eines Tages würde er Angelique ein Buch widmen. Er würde es bei dem größten Ausmaler in Auftrag geben, es würde schöner sein als alle anderen.
Mitten in diesen verträumten Gedanken hinein, der ihn ganz packte, spürte Sean of Ardchatten einen jäh entfachten Luftzug. Es war, als würde irgendwo im Hintergrund mit einer schnellen Bewegung eine Tür geöffnet.
Es beunruhigte ihn noch nicht. Das Buch nahm ihn noch zu sehr gefangen. Aber er roch jetzt etwas Fremdes, etwas, das nicht hierher gehörte.
Als er sich unwillkürlich umwandte, um nach der Eingangstür der Werkstatt zu sehen, erschrak er heftig. Dort lag der Grund. Jemand sprang auf ihn zu.
Sean war zu einer Abwehrbewegung nicht fähig. Er sah im Halbdunkel der Werkstatt nur die Umrisse, so als würden die Konturen des Zimmers mit seinen Gegenständen und Möbeln zu einem einzigen Körper verwachsen, der etwas Gewalttätiges in sich vereinte.
Er hörte zuerst einen knurrenden Laut und einen weichen hinterher, so wie ein Ausatmen oder ein Seufzen. Danach durchschnitt etwas die Luft. Dann nahm er ein Blitzen wahr.
Und mit dem Blitzen kam der scharfe, weiß glühende Schmerz.
Sean schnappte nach Luft. Der Schmerz fuhr von der linken in die rechte Hand und dann in seine Brust. Er setzte sich als Feuerwerk aus Lichtpunkten in seinem Kopf fort und explodierte in seinen Augen.
In seinem Verstand bildete sich plötzlich ein glasklarer Gedanke. Jetzt hat er mich gekriegt!
Aber wer war es?
Wer?
Und was hatte er dem Unbekannten getan?
Er sah das Auf und Ab des Armes, der auf ihn einstach. Dann versagten seine Beine ihm den Dienst.
Als er auf dem gefliesten Boden der Werkstatt aufschlug, fiel ihm das Buch aus der Hand, das er noch immer an sich gepresst hatte. Und noch etwas anderes fiel herunter und blieb auf dem Umhang des regungslosen Sean liegen. Es war ein kleines Kreuz aus hellem, weichem Holz. Die Hand, die ein Blatt handgemaltes Papier aus dem Umhang gezogen hatte, riss dabei das Kreuz unbemerkt mit heraus. Auf dem Papier befand sich eine bunte Szene an einem Wasser. Sie zeigte eine Jagdszene mit vielen Zuschauern.
Das Papier wurde verächtlich weggeworfen und segelte auf den Liegenden herab.
Eine Stimme keuchte: »Du verfluchter Hund!«
Ein Fußtritt traf den schon Bewusstlosen. Deshalb hörte er auch die Stimme nicht mehr, die sagte: »Endlich hast du deinen Teil, du Lump.«
Dann verließ eine Gestalt, deren Konturen längst wieder in einen menschlichen Umriss zurückgeflossen waren, den Raum. Es war eine mächtige und dennoch geschmeidige Gestalt, die sich schnell bewegte. Sie verschwand so plötzlich, wie sie gekommen war.
Im nächsten Moment war alles im Raum ruhig und friedlich.
Sean lag verkrümmt in einer Blutlache, die sich langsam ausbreitete.
Das kleine, unscheinbare Kreuz wurde von den Falten seines Umhanges umrahmt und halb verdeckt. Das herabgesegelte Bild bedeckte das Liebesbrevier für die Tochter des Handelsherrn. Das Buch war nach dem Angriff aus den kraftlosen Händen des Verletzten zu Bodengefallen. Das bunt bemalte Blatt wurde von seinem austretenden Blut wie von einer herankriechenden Zunge geleckt.
Spätsommer 1316, Tage der Kreuzerhöhung
Henri de Roslin, Uthman ibn Umar und Joshua ben Shimon hatten die erste Nacht auf dem Festland tief geschlafen. Sie hatten sich ein Quartier gesucht, das gleich zwischen dem Hafen und dem trapezförmigen Schloss des Herzogs der Bretagne in einer Schiffergasse lag, die Rue Traverse hieß. Es war ein Segen, auf Strohmatten zu liegen, die nicht im Wellengang schwankten. Jetzt waren sie schon wieder voller Tatendrang. Aber sie mussten warten, bis Sean of Ardchatten aus Damme eintraf.
Henri begriff erst, als er einen Boten zu der verabredeten Poststelle im Rathaus schickte, dass der Knappe erneut ungehorsam gewesen war. Er war schon vor Tagen in Brest eingetroffen, wartete jedoch nicht, wie verabredet, auf sie. Er hinterließ einen Brief, in dem er schrieb, dass er Angelique nach Quimper folgen müsse. Durch sie allein könne er Guinivevre vergessen.
Wer, um des Himmels willen, war Angelique?
Henri war verärgert. Er überlegte ernsthaft, ob er den Knappen aus seinen Diensten entlassen sollte. Einen Knappen, der nicht folgte, konnte sich kein Ritter leisten. Im Kampf konnte das tödliche Folgen haben. Henri mietete einen reitenden Boten und schickte ihn nach Quimper. Er sollte Sean auf der Stelle nach Brest beordern.
Unterdessen sahen sich die Gefährten die Hafenstadt Brest an. In einer Schänke, in der sie zu Mittag aßen, erfuhren sie von einem Buchmaler, dass der junge Sean im Haus des alten, ehemaligen Gildeführers der Buchmaler gewesen war, dort hatte er eine Zeit lang mit Angelique Maxime verbracht. Der Knappe habe sich in Angelique und die Bilder des alten Buchmalers verliebt. Die beiden jungen Leute hätten sich auf der Schiffsreise von Damme nach Brest kennen gelernt.
Henri musste innerlich den Kopf schütteln, er argwöhnte, die ritterlichen Erziehungsideale bedeuteten für Sean nichts mehr. Hatte er den Knappen an das weltliche Leben verloren?
Die Gefährten waren zur Tatenlosigkeit verdammt. Nur langsam gewöhnten sie sich an den Gedanken, dass auch eine kampflose Zeit wichtig war. Von ihrem Wirt ließen sie sich über die gegenwärtigen Herrschaftsverhältnisse im Land aufklären. Nach dem gewaltsamen Tod Philipps des Schönen hatte Ludwig der Zänker auf dem Thron gesessen. Aber er war drei Monate zuvor gestorben. Jetzt hatte Frankreich nur einen Regenten der Übergangszeit, die Thronfolge musste vorbereitet werden. Das Kind Ludwigs und Clementias sollte im November gekrönt werden.
»Vielleicht können wir in der Bretagne bleiben?«, meinte Henri. »Der Regent Philipp von Poitiers ist ein friedlicher Mann. Und wenn wir ein minderjähriges Kind auf dem Thron haben, müssen wir dann Verfolgung fürchten? Das Kind wird in den nächsten zehn Jahren genug damit zu tun haben, die Regeln zu erlernen. Er stellt keine Gefahr dar.«
Joshua wiegte den Kopf. »Seine Ratgeber werden die alten sein, die schon bei Philipp dem Schönen in Diensten waren. Ihr Hass auf die Templer dürfte ungebrochen sein.«
»Ich glaube nicht, dass sie den Ton angeben«, meinte Henri. »Lasst uns in der Bretagne verweilen. Die Luft ist gut. Der Glaube stark. Der Fisch schmeckt herrlich.«
»Wir müssen nur Sean holen«, sagte Uthman. »Dieser Knappe wird langsam allzu flügge. Ein Dickschädel und Eigenbrötler. Du solltest ihn dir vorknöpfen.«
»Das muss ich«, sagte Henri. »Sonst verlieren wir ihn an die Mädchen.«
Sie lachten, aber im Herzen verspürten sie auch ihr eigenes Versagen. Sie hatten dem Jungen offenbar nicht genug Vorbild sein können. Vor allem Henri war traurig darüber. Aber auch Joshua, der Sean wie seinen eigenen, verlorenen Sohn liebte, spürte den Verlust. Aber er wollte auf Sean einwirken.
Der Tag der Kreuzerhöhung rückte näher, und weil der Bote aus Quimper nicht kam, beschloss Henri, diesen Tag in der Kathedrale zu feiern. Uthman und Joshua verabredeten, sich währenddessen in der Stadt umzusehen und frische, starke Reitpferde aus dem besten Stall zu kaufen.
Henri liebte das christliche Fest der Kreuzerhöhung besonders. Am Vorabend feierte er die Weihe der Auferstehungskirche mit, und er wachte die Nacht mit den anderen Gläubigen in der Kathedrale. Die Empore mit ihren ausladenden Arkaden war voll besetzt mit Pilgern, darunter befanden sich auch Frauen.
Henri erinnerte sich an die Überlieferungen zu diesem Fest. Einst hatte die Kaisermutter Helena im Jahr der Fleischwerdung des Herrn 320 in Jerusalem das Kreuz Christi aufgefunden und daraufhin die Doppelkirche auf dem Hügel Golgatha errichten, lassen. Allen Christen im Abendland wurde zu diesem Anlass das Kreuz feierlich gezeigt und zur Verehrung dargeboten. Jede Kirche im Land erhielt an diesem Tag die Weihe einer Martyriumskirche.
Henri wusste auch, dass die Kunde von der Existenz einer Kreuzesreliquie in Jerusalem in das Abendland erst durch Kyrill von Jerusalem im Jahr des Herrn 348 bezeugt worden war. Die Pilgerin Egeria berichtete später von den Feiern zur Erinnerung an die Weihe der Martyriumskirche und der Auferstehungskirche und erwähnte das Kreuz. In Henri Gedanken drangen jetzt die Worte des Priesters. Er versank im Gebet. »Denn du hast das Heil der Welt auf das Holz des Kreuzes gegründet. Vom Baum des Paradieses kam der Tod, vom Baum des Kreuzes erstand das Leben.«
Der Priester las danach mit schöner, schwungvoller Stimme die Erzählung von der ehernen Schlange. Dann setzte der Gesang aus hellen Frauenstimmen ein.
Henri blickte hinüber zum Altar. Dort lag der heilige Schrein. Ein echter Splitter des Kreuzes von Golgatha. Er lag in einer Monstranz aus Silber und war geschmückt mit Elfenbein und Edelsteinen. Darauf war diese Kirche gebaut. Ein wohliger Schauer erfasste Henri. Er fühlte sich der Gemeinde dieser Kirche und seines Herrn Jesu ganz nahe.
Wenn diese innigen Feiern nicht wären, in denen das Herz sich überschlägt vor gläubiger Freude, dachte Henri, ginge die Welt bald aus den Fugen. Wie stark wurde man in einem solchen Fest!
Als er später Uthman und Joshua traf, zeigten sie ihm die neuen Reittiere. Es waren kräftige, nervöse Rappen, gut geeignet für lange, ausdauernde Ritte.
Die beiden Gefährten feierten in ihrer Religion den Tag der Kreuzerhöhung nicht. Auch die Abneigung gegen Reliquien war ihnen anzusehen. Besonders Uthman, der Sarazene, verabscheute sie als billigen Tand, der die Gläubigen narrte. Joshua stimmte ihm zu. Der Theaterpomp der Papstkirche war dem Juden, der selbst Musik in der Kirche ablehnte, ein Gräuel.
Während sie auf den Boten aus Quimper warteten, grübelte Henri, wie er es anfangen sollte, nach versprengten Templern zu suchen. In Brest befanden sich sicher viele. Aber wie sollte er sie ausfindig machen? Der Ordenssitz des Tempels war geschlossen und mit Brettern vernagelt.
Auch die Gefährten konnten ihm nicht raten. Nach zwei Tagen beschlossen sie, das Großelternhaus der Buchmaler aufzusuchen. Sie wollten dort nach den Tagen des Aufenthaltes von Sean und Angelique fragen.
Man empfing sie freundlich. Die alten Buchmaler wohnten in einem alten Haus mit Steinfundament. In ihren Räumen atmete der Geist der Schönheit, der Farben, der Fantasie. Der alte Maxime führte die Besucher durch sein Atelier, zeigte ihm alles und berichtete, wie wohl sich Sean of Ardchatten hier gefühlt hatte. Der Buchmaler hatte nicht unterscheiden können, ob Sean sich mehr in die Bilder, die er ihm zeigte, oder in Angelique verliebt hatte.